7.
Die Entscheidung war gefallen. Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, daß soeben der 14. August 2010 angebrochen war. Es war wenige Minuten nach Mitternacht.
Reling hatte noch zwei Tage lang gezögert, denn Beschters Plan, den er bereits beim ersten Auftauchen der Mutantin als einzig gangbare Möglichkeit erwogen hatte, war tollkühn.
Beschter hatte nicht mehr und nicht weniger vor, als die Entstehung der Mutanten zu verhindern. Das bedeutete, daß er mit Hilfe des uns aus der Hinterlassenschaft der Marsianer zur Verfügung stehenden Zeitdeformators in die Vergangenheit zurückkehren wollte.
Wir sollten die unwirkliche Reise zusammen mit dem Hyperphysiker, Professor David Goldstein, unternehmen; dem Mann, der uns schon im Juni des Jahres 2005 mit dieser Maschine in das Erdenjahr 1811 transportiert hatte.
Damals war es darum gegangen, den letzten Deneber zu jagen, der mit einer solchen Zeitmaschine das gewaltigste Zeitparadoxum der Weltgeschichte erzeugen wollte. Wäre es ihm gelungen, hätte die geschichtliche Entwicklung einen völlig anderen Verlauf genommen, denn er war ein Wissender aus der Gegenwart gewesen.
Er hätte Napoleons Feldzüge manipulieren und die Gesellschaftsordnung nach seinen Wünschen umformen können. Dazu wäre nur eine geringfügige Steuerung nötig gewesen.
An dieses Unternehmen hatte sich Beschter erinnert. Er meinte, wenn man die Geburt der sibirischen Mutanten erst gar nicht zulassen würde, müßten sich in unserer Gegenwart, also im Jahre 2010, die Verhältnisse ändern.
Dann würde es niemals mehrere Verbrechermutanten gegeben haben.
Beschter hatte Reling überzeugt, aber erst, nachdem wir auf Henderwon eine Niederlage eingesteckt hatten.
Hannibal und ich waren aus allen Wolken gefallen, als wir vor zwei Tagen im Washingtoner Hauptquartier angekommen waren.
Die überall lauernden Posten waren ein relativ normales Bild, nicht aber das Verhalten von Kiny Edwards, die eine knappe Stunde zuvor mit Hilfe des Marskreuzers »1418« vom Roten Planeten angekommen war.
Sie befand sich in ständiger Wachbereitschaft und ortete. Sie war eine natürliche Telepathin und wahrscheinlich ebenso wie wir in der Lage, ankommende Fremdmutanten auszumachen.
Sie war auch persönlich abwehrbereit, aber sie machte sich nicht viel Hoffnungen. Schließlich hatte sie gehört, was Hannibal und ich mit den Eindringlingen erlebt hatten.
In einer Geheimsitzung hatten wir erfahren, daß Gregor Gorsskij nicht nur zum Massenmörder am eigenen Volke geworden war. Er gefährdete mit seiner überhasteten Atomexplosion auch den Einsatz, den Reling ohne unser Wissen vorbereitet hatte.
Bevor wir vor zwei Tagen den Orbitbomber bestiegen hatten, waren im Hauptquartier die wahrscheinlich geheimnisvollsten und am stärksten abgesicherten Vorbereitungen der Geschichte abgewickelt worden. Zu der Zeit waren Hannibal und ich noch auf Henderwon gewesen.
Das marsianische Zeitgerät, äußerlich einem riesigen Metallwürfel mit abgeflachten Ecken und einer Seitenlänge von fünfunddreißig Meter gleichend, hatte jahrelang in den Tiefbunkern der GWA gestanden.
Niemand außer uns, nicht einmal die US-Regierung, hatte gewußt, daß eine solche Maschine zur Überbrückung des physikalischen Phänomens »Zeit« existierte.
Die an dem ersten Einsatz beteiligten Personen hatten absolutes Stillschweigen bewahrt.
Dann aber, noch vor Gorsskijs verwerflichem Vorgehen, hatte Reling das Gerät startklar machen und bei Nacht und Nebel auf den Weg nach Sibirien bringen lassen.
Die Maschine war mit Hilfe ihrer Antigravitationsprojektoren und der eingebauten Marstriebwerke sogar raumflugtauglich.
Reling hatte außerdem einen zweiten Schachzug gestartet! Gorsskij war ihm nicht mehr vertrauenswürdig erschienen. Deshalb hatte er sich mit General Karenin in Verbindung gesetzt, der dem Personal unserer Maschine in der Taiga den Weg geebnet hatte.
Karenins Spezialisten hatten getan, was hinsichtlich der gefahrvollen Verhältnisse möglich war.
Er hatte die kleine Expedition selbst angeführt, war mit den Männern in das Strahlungsgebiet von 1991 vorgedrungen und hatte dort nach einem Landeplatz für unseren Deformator gesucht.
Er hatte ihn auch gefunden und alles bedacht, was bei einer solchen Suche unerläßlich notwendig ist.
Dieser Landeplatz mußte im Jahre 1991 genauso aussehen. Kein Felsblock oder sonstige Hindernisse durften dort vorhanden sein, denn die Marsmaschine überbrückte nur den fünfdimensionalen Raum, nicht aber greifbare Entfernungen.
Das bedeutete, daß der Deformator bei einer Reise in die Vergangenheit exakt dort materialisieren würde, wo er im Jahre 2010 abgestellt und gestartet worden war.
Karenin hatte an Hand seiner Unterlagen berechnen können, daß unser »Operationsplatz« im Jahre 1991 nicht von den Wachtruppen entdeckt werden konnte. Das wäre äußerst peinlich gewesen, denn diese Männer konnten von dem Wahnsinnsunternehmen nichts wissen.
Nach den harten russischen Gepflogenheiten jener Zeit wären wir fraglos von Maschinengewehrsalven empfangen worden.
Reling kam es aber darauf an, uns unbemerkt einzuschleusen. Wir sollten an Ort und Stelle die erste Explosion miterleben und anschließend sofort auf die Suche nach den wenigen überlebenden Wissenschaftlern und Arbeitern gehen.
Karenin hatte den Standort des Deformators so ausgewählt, daß es bis zu den nachweislich erhaltenen Bunkerbauten des dort installierten Atomkraftwerkes nicht mehr weit war.
Dort sollten wir nach Beschters Plan die Überlebenden der Katastrophe finden und dafür sorgen, daß sie keine Nachkommen mehr zeugen konnten.
Das klang alles recht plausibel, war jedoch kaum durchführbar. Die Unterlagen waren zu dürftig.
Die von mir erschossene Mutantin war nach allen Regeln der neuen Wissenschaft untersucht worden. Reling hatte nicht nur GWA-Kapazitäten eingeschaltet, sondern außerdem russische und westeuropäische Spitzenwissenschaftler nach Washington kommen lassen.
Das Gehirnschwingungsmuster der Mutantin, sogar im Tode noch meßbar, war der beste Wegweiser gewesen. Wir wußten an Hand der neuen Paraphysik, daß ein Elternteil darin verankert sein mußte.
Der russische Geheimdienst besaß die Schwingungsfrequenzen von allen Menschen, die im Jahre 1991 in dem Katastrophengebiet beschäftigt gewesen waren.
Hinzu kam das erste, grobe Aussiebungsverfahren, in dem festgestellt wurde, wer seinerzeit überhaupt hatte überleben können.
Bei diesen Recherchen waren Reling und Karenin, der als Verbindungsmann in Washington geblieben war, auf einen Personenkreis von sechzehn Menschen gestoßen.
Vierzehn davon schieden aus, denn ihre Schwingungsfrequenzen, Blutbilder, Haarschnitte, Zellkulturen und was der Dinge mehr waren, stimmten in keiner Weise mit den Werten des toten Mädchens überein.
Aber zwei Menschen hatten sich herauskristallisiert! Die Frequenzwerte des Mannes waren mit jenen der Mutantin eindeutig verwandt.
Von der Frau hatten sie Zellkernfaktoren übernommen, desgleichen die Blutwerte.
Infolgedessen war Karenin davon überzeugt gewesen, die Eltern der Mutantin gefunden zu haben.
Der Name des in die engste Wahl gezogenen Mannes lautete Dr. Nikolai Orbanow, ein damals neunundzwanzigjähriger Ukrainer und Kernphysiker.
Der Name der Frau war mit Louiza Terkinszen ermittelt worden. Sie stammte aus den finnisch-baltischen Grenzgebieten und war in dem Atomwerk von Jakuttorg als technische Laborantin beschäftigt gewesen.
Aus den Geheimdienstakten ging hervor, daß die beiden Menschen damals verlobt waren. Ferner hatte man ermitteln können, daß sie sich am Tage der Explosion in einem bunkerähnlichen Außenwerk aufhielten, wo unter anderem Kernbrennstoffe gelagert wurden.
Es war alles ziemlich klar. Karenin schien die Eltern gefunden zu haben. Dann aber griff Gregor Gorsskij ein – und davon hatte Karenin keine Ahnung gehabt.
Ich hatte natürlich nach Gorsskijs Grund für das überhastete Experiment gefragt. Er war nicht verwirrt genug gewesen, um völlig planlos und auf gut Glück einen bombentragenden Hubschrauber in die Luft zu sprengen.
Karenin war wenige Stunden nach der zweiten Explosion in Washington angekommen. Er hielt sich noch immer hier auf.
Von ihm hatten wir erfahren, warum Gorsskij so schnell und in aller Heimlichkeit gehandelt hatte.
Ihm waren die Ergebnisse der Ahnenforschung natürlich bekannt gewesen. Daraus hatte er auch ersehen können, daß der vermutliche Vater der Mutanten am 12. August 2010 Geburtstag hatte!
Das war vor zwei Tagen gewesen. Gorsskij hatte sich die Sache überlegt und blitzschnell zugeschlagen, denn er war der Auffassung gewesen, daß die Kinder dieser Leute sicherlich zum Geburtstag des Vaters erscheinen würden.
Der Gedanke war psychologisch nicht abwegig, aber er hatte sich nicht realisiert. Wenige Minuten später hatten wir nämlich von der Entführung des Marsschlachtschiffes erfahren. Also konnten die Kinder des Nikolai Orbanow niemals dort gewesen sein, wo Gorsskij seine Bombe gezündet hatte.
Es war überdies noch fraglich, ob sich die Eltern immer noch in dem Strahlungsgebiet aufgehalten hatten. Es sprach viel dafür, aber auch viel dagegen.