Chili out

Mein Mondbein stirbt. Vor drei Tagen habe ich nicht gewusst, dass ich ein Mondbein habe. Man hat es mir auf den Bildern gezeigt und dann mitgeteilt, dass es sterben wird. Absterben. Das Mondbein ist der dunkle, sichelförmige Fleck auf dem Röntgenbild oberhalb des Handgelenks. Der Fleck sollte hell sein. Er sitzt auch nicht mehr richtig. Die letzten Monate wurde ich auf Sehnenscheidenentzündung behandelt. Jetzt heißt es Mondbeintod. Sie fragen mich, warum ich nicht früher gekommen bin.

In mein eigenes Leben bin ich noch nie rechtzeitig gekommen. Ich bin immer zu spät dran. Als ich auf die Welt kam, war der Vater schon weg. So ging es weiter. Eine ehemalige Zeichenlehrerin, die ich zufällig im Autobus getroffen habe, schwärmte, dass ich eine ihrer Besten war und unbedingt etwas machen muss aus meinem Talent. Da habe ich längst in der Brillenfabrik gearbeitet und nicht mehr nachgedacht über Farbgestaltung, Pinselstrich und räumliche Darstellung, sondern Brillenfassungen zusammengeschraubt. Ich habe mich abgefunden damit, dass ich bei den Männern keine gute Hand habe und immer den Kürzeren ziehe. Beim Zigarettenholen lerne ich einen Mann kennen, und ich weiß sofort, der ist es. Drei Tage kommen wir nicht aus dem Bett heraus, dann schlägt er eine Fahrt auf den Pöstlingberg vor. Oben lädt er mich ein zu einer Runde Grottenbahn. Wir gehen zuerst zur Aussichtsrampe. Die Berge sind ganz nah. Es ist föhnig und die Stadt unter uns wie aus dem Baukasten. Ich suche das Haus in der Berggasse. Wo wohnst du?, frage ich ihn.

Er sagt mir, wir hätten uns früher kennen lernen sollen, seine Freundin ist schwanger. Es hängt viel dran an dem Mondbein. Das Mondbein überträgt die Kraft von der Hand auf den Unterarm, auf Elle und Speiche. Bei mir ist statt der Kraft ein Schmerz, als ob die Sehnen über blanke Knochen scheuern.

Dabei hätten wir Grund zum Feiern. Die Straße ist gesperrt. Wir können uns zwar nicht hinuntersetzen, weil es regnet. Es regnet schon die zweite Woche. Aber es ist ruhig. Ich öffne die Fenster und höre nichts anderes als das Rauschen. Der Regen rauscht, die nassen Blätter im Nussbaum rauschen, die Donau rauscht. Die Schiffe fahren seit Tagen nicht mehr. Im Frühjahr ist die Straße gesperrt, wenn die Frostschäden beseitigt werden. Das Eis im Winter frisst sich in die Urfahrwand, und wenn es taut, sitzen die Felsbrocken locker. Eine Katastrophe, wenn sie auf die Straße poltern. Deshalb wird die Straße gesperrt und die Felswand ausgeputzt. Der Schneckenkönig und ich stellen den Campingtisch auf die Straße, zwei Klappsessel, wir machen uns Musik, trinken Bier, hören den Stromgitarren zu und strecken die Füße aus. Die Straße gehört uns. Das Jahr über nimmt sie uns alles. Die Ruhe, die Luft, den Schlaf. Es beginnt gegen vier in der Früh und hört in der Nacht auch nicht richtig auf. Oft stehe ich am Gehsteig, weil ich nicht über die Straße komme, und schaue, wer da hinter den Windschutzscheiben sitzt. Abwesende Gesichter, stumpfe Augen. Sie haben ein anderes Ziel und nehmen nichts wahr außer den Bremslichtern vor ihnen und ein paar Verkehrszeichen. So rollen sie durch die Rudolfstraße und ärgern sich, wenn die Ampel auf rot schaltet und sie zum Stehen kommen in einer Straße, von der sie sagen, da möchte ich nicht wohnen. Oder sie fahren gleich die Donau entlang, ein gelber Glühfaden fädelt sich morgens unter der Nibelungenbrücke durch zum Abstellplatz auf dem Jahrmarktsgelände. Zurück bleibt der Blechpanzer, und am Abend kriecht die Schlange wieder durch die Rudolfstraße stadtauswärts. Schon lange wird von einer weiteren Donaubrücke geredet. Wenn die Brücke gebaut ist, führen die Zubringer an Schlafzimmerfenstern von Leuten wie mir vorbei. Nie staut sich der Verkehr durch ein Villenviertel.

Selbst bei Sonnenschein könnten wir den Tisch nicht hinunter auf die Straße stellen, weil das Wasser kommt. Die Straße ist bereits stellenweise überschwemmt. Das Wasser steigt. Nichts geht mehr. Keine Eisenbahn, keine Autobusse, keine Autos. Jetzt bleiben die Häuselbauer und Reihenhausbesitzer daheim in ihren schmucken Häusern mit den geschorenen Rasen und dornigen Hecken. Auch im Mühlviertel sind die Flüsse und Bäche über die Ufer getreten. Überschwemmung überall. Wer unbedingt in die Stadt fahren muss, kommt nur von hinten über den Berg herein. Die Rudolfstraße ist verändert. Sie wirkt breit und stattlich. Man sieht es ihr an, dass sie einmal eine Prachtstraße war, bevor sie zum Korridor für Pendler und Schwerverkehr verkommen ist. Da und dort ist ein schmiedeeiserner Balkon zu sehen, eine Geschäftsaufschrift, die Einfahrt zu einer Werkstatt. Aber niemand stellt Pflanzen auf den Balkon, die Geschäftsaufschrift ist verblasst, die Einfahrt zur aufgelassenen Werkstatt zugeparkt. Das letzte Lebensmittelgeschäft betreibt ein Türke, und sogar er stellt seine Orangenpyramiden und Melanzanikisten hinten im Hof aus. Hier, in diesem Abschnitt der Straße, wohnen viele, denen keine andere Wahl bleibt. Sie wohnen im Frauenhaus, im Flüchtlingsheim, in der Startwohnung für Obdachlose, und sind ebenfalls nur auf Durchzug.

Auch der Schneckenkönig will weg. Er möchte mit mir um eine Gemeindewohnung ansuchen. Ich will nicht weg. Ich wohne schon zu lange hier. Viele meiner Träume und Wünsche habe ich hier abgelegt oder in den Wind geblasen wie die weißen Fallschirme des Löwenzahns. Wenn ich durch die Gassen zur Donau hinuntergehe, habe ich das Gefühl, sie schweben neben mir, sie begleiten mich ein Stück, und es liegt nur an mir, dass ich nach ihnen greife und sie wieder einen festen Platz haben. Meine Zeit mit dem Indienreisenden habe ich in der Fischergasse zurückgelassen. Eine kleine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoß. Die Hüllen der Schallplatten quollen auf, wenn sie länger an der Mauer lehnten. Ein Maler hat die Räume vor mir als Atelier, besser gesagt, als Lagerraum benutzt. Viel Tageslicht war da nicht zum Malen. Die Wohnung war eine Höhle mit Polstern und Matratzen auf dem Teppich, einer lackierten Obstkiste als Tisch, kein Sessel, in einer Ecke die Wasserpfeife, in einer anderen die Gitarre. Ich bin unterwegs nach Süden und will weiter bis ans Meer. Der Indienreisende hatte mir von seinen Reisen einen Wolfspelz mitgebracht, eine Schakaljacke mit räudigem Ärmel und einem Loch im Fell. Ein Bauer aus dem Kaschmir habe den angreifenden Wolf mit einer Mistgabel abgewehrt, bis sein Sohn mit dem Gewehr gekommen sei. Deshalb das Loch, erzählte der Indienreisende, und ich war stolz auf die Jacke. In ihr fühlte ich mich wild und frei wie der Schakal aus dem fernen Land. Mit breiten Schultern lief ich durch die Landstraße und wusste, dass ich stark bin. Der Indienreisende wollte, dass ich mit ihm auf dem Landweg nach Indien trampe. Ich blieb und wartete nicht auf ihn. Er blieb auf der Fährte seiner Freiheit, bis er nicht mehr weiter konnte. Die Route über den Iran und Afghanistan war gesperrt. Der Zoll behielt seine Teppiche ein, an den Seidentüchern, Stoffen, Silberringen und indischen Röcken war in Linz niemand mehr interessiert. Es gab inzwischen genug Geschäfte. Hier war die Zeit schneller geworden. Die Daheimgebliebenen hatten sich arrangiert. Wir gingen längst einer geregelten Arbeit nach oder auf die Universität. Boom Shankar war nicht mehr so wichtig. Bier tat es auch. Als dem Indienreisenden bewusst geworden war, dass er den Absprung aus Linz nicht mehr schaffen würde, brachte er sich um. Der Wolf ist mein einziger Pelz geblieben. Und wenn der Wind mir fetzenweise meine alte, tote Haut vom Rücken fegt, als weiße Asche steh ich auf und bin gesund. Die Schallplatten aus der Fischergassenzeit sind schon lange verloren gegangen. Aus einem Winkel der Erinnerung tauchen manchmal Lieder mit einem vergessenen Traum auf und verschwinden wieder.

Das Wasser kam in der Fischergasse bis zum Fensterbrett. Im Keller hatten wir es oft. Die Wände sogen die Nässe auf wie ein Schwamm. Nichts half. Im Sommer heizen, lüften, Teebaumöl oder Chemie, die Schimmelflecken blieben mir und der Geruch nach feuchtem Verputz. Er kroch in die Kleider, in die Bettwäsche und ins Haar, auch Sandelholz und Patschuli kamen dagegen nicht an. Ich konnte mich nicht mehr riechen. Der Geruch der Armut hat Nuancen. Kalter Rauch kann dabei sein, ein schlechter Zahn, ungelüftete Räume, Kleiderschweiß, Haarfett, aber Basisnote bleibt für mich der Geruch nach feuchter Mauer. Dunkel erinnere ich mich, dass ich als Kind mit meiner Großmutter manchmal eine Großtante besucht habe. Sie wohnte in einem baufälligen Haus im Zentrum, über das sich längst die Spitzhacke hergemacht hat. Der Mauergeruch hing in der Wohnküche, und in den Ecken lauerten gesprenkelte Schimmelflecken. Die Tante trug ein blauschwarz glänzendes Hauskleid aus dickem Stoff und sah mit ihrem hochgesteckten weißen Haarzopf vornehm aus. Sie kochte uns einen Linde-Kaffee, ich bekam den weißen Plastikindianer, der in der Packung steckte. Meine Großmutter hatte Kuchen mitgebracht. Ich saß auf der Bettbank, und die Tischplatte war in Nasenhöhe. Mich irritierte ein merkwürdiges Fiepen, hoch und aufgeregt und mehrstimmig, das draußen vom Gang kam. Was ist das, fragte ich die Großmutter, die mein hartnäckiges Fragen gerne überhören wollte.

Sie fühlte sich unbehaglich und sah Hilfe suchend zu ihrer Schwester. Die Tante schaute mich an, ich weiß noch, dass sie mir den Kragen richtete, während sie mit mir redete.

– Das sind Ratten. Sie pfeifen auf dem Abort. So ist das bei den armen Leuten.

Meine Großtante war eine Waschfrau und hatte in ihrer Jugend noch im Bach geschwemmt. Geblieben waren ihr davon aufgesprungene, rote Hände mit Knotenfingern und entzündete Eierstöcke. Durch das kalte Wasser war alles chronisch geworden. Mit vierundzwanzig wusste sie, dass es für sie kein Kinderkriegen gab. Das war den Bach hinunter.

Das Haus in der Fischergasse wurde renoviert, bis sogar der Grundriss verändert war. Dachbodenausbau, Wohnungszusammenlegung, Trockenlegung, Wärmedämmung, Lift, Garage. Sie machten mit dem Haus, was man mit einem Haus machen kann, wenn Geld da ist. Und Geld war da. Es gab genug Leute, die sich das Wohnen an der Donau etwas kosten lassen wollten, wenn die Rattenburgen verschwanden. Jetzt stellen Hausparteien in meiner ehemaligen Wohnung, in der wir mit der Gitarre unterwegs nach Süden waren, Fahrräder und Kinderwägen ab.

Im Tal war es weniger feucht. Die schmale Gasse stößt auf die höher gelegene Rudolfstraße. Der Verkehr donnerte an den Fenstern im ersten Stockwerk vorbei. Bei schweren LKWs sprang die Nadel des Plattenspielers, sonst klirrten Gläser und Bierflaschen, und die Fensterbank war trotz geschlossener Fenster immer rußig. Der Lärm hatte auch Vorteile. Im Schlafzimmer stand ein Schlagzeug der Marke Ludwig mit Becken und Fußtrommel, und der Schlagzeuger übte verbissen mit einem Metronom und mit offenem Mund. Einmal in der Woche stellte sich der Schlagzeuger den Wecker, um im Morgengrauen mit dem Fahrrad zum Versandhaus zu fahren. Dort verteilte er Flugblätter. Die Arbeiterinnen, die meisten kamen mit Bussen aus dem Mühlviertel, machten einen Bogen um ihn, wenn sie ihn stehen sahen. Der Schlagzeuger gab schließlich auf. Mit mir sprach er wenig über Politik, dazu ging er in seine Sektion. Was willst du?, hätte ich ihm gesagt, weil ich es gewusst habe. Die Leute wollen sich nicht befreien lassen und auch nicht mit Bewusstsein erfüllen. Die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, und dafür der eine oder andere Krümel abfällt. Alles andere irritiert. Außerdem: Wer ist schon gerne Proletariat, vor allem, wenn er aus dem Mühlviertel mit dem Bus zur Arbeit muss? Nach der Politik gab der Schlagzeuger das Schlagzeugspielen auf. Er kam nur mehr selten zu mir und blieb schließlich ganz aus. Das Schlagzeug ließ er abholen, und wenn wir uns über den Weg liefen, grüßte er flüchtig, als hätten wir nie eine gemeinsame Zeit gehabt.

Auch der Schneckenkönig hat seine Meinung von der Politik. Manchmal achten wir nicht darauf und sind plötzlich in einer Nachrichtensendung. Es dauert nicht lange, und ein Politikerkopf kommt ins Bild. Auch ich habe mir angewöhnt zu zielen. Der Schneckenkönig schießt mit einem Maschinengewehr aus der Hüfte. Ich drücke mit dem Revolver ab. Peng, peng. Wir wollen nicht hören, was da gesprochen wird, über uns sprechen sie nicht. Wir schießen und bleiben schussbereit, auch beim nächsten Beitrag.

Ich gewöhne mich nicht an den Verkehr. Immer ist da das Gefühl, das nächste Auto bricht durch die Wand. Das Quietschen der Eisenbahn, die sich auf den Schienen Richtung Donau in die Kurve legt, ist erträglicher, aha, jetzt ist es halb acht. Man braucht keinen Wecker. Für den Sprung über die Straße in die Berggasse musste ich nicht lange überlegen. Ich wohne wieder im letzten Haus, jetzt ein paar Meter oberhalb der Straße auf dem Fels, die Gasse ist auf dieser Seite eine Sackgasse, hinter dem Haus beginnt der Wald, nur ein Fußgängerweg führt hinunter zur Straße, die die gewachsene Fortsetzung der Talgasse auf der anderen Seite gekappt hat. Das Haus ist weniger feucht und weniger laut, ein Zimmer, auf dem Gang der Kühlschrank, Sub-Standard, aber mit Blick auf die Donau. Das Haus ist ein Durchzugshaus. Der Vermieter hat mich gefragt, warum ich so lange bleibe. Ich habe keine Familie in der Türkei, die wartet, dass sie kommen darf. Im Zimmer neben mir wohnt seit einigen Monaten der Schneckenkönig. Manchmal bin ich bei ihm, oft ist er bei mir. Der Donau möchte ich nahe bleiben. Sie gibt mir die Sicherheit, dass es weitergeht. Als Kind ließ ich kein Schiff vorbeiziehen, ohne ihm zu winken. Natürlich haben die Passagiere vom Ausflugsdampfer als Antwort wild und übermütig gestikuliert und auch gerufen. Aber lieber waren mir die Matrosen auf den Lastkähnen mit den fremden Flaggen. Ihr stiller Gruß war nicht flüchtig. Sie hoben die Hand, und ich verstand ihre Sprache. Die Matrosen auf dem Schiff nahmen mich ernst, und ich wusste, dass ich jemand bin. Am Ufer der Donau, Auge in Auge mit den schwarzen Schiffen, bekam ich eine Ahnung davon, dass jeder Mensch Bedeutung hat.

Wenn im Radio nach langen Frosttagen gemeldet wurde, dass die Bayrischen Krapfen kommen, sind wir Kinder losgezogen auf die Eisenbahnbrücke, unter uns dicke Eisschollen, die sich an den Brückenpfeilern aufstellten, übereinander legten und verkeilten. Dabei krachte und knirschte und stöhnte das Eis. Ein kleiner Schrecken blieb immer, denn wir hatten in Heimatkunde gelernt, dass vor den Regulierungen und Stauwerken Eisstöße Brücken mitgerissen und die Ufer abrasiert hatten. Jetzt treiben nur vereinzelt träge, wasserhelle Schollen in der Donau. Es gibt keinen Eisstoß mehr.

Aber sie haben die Donau nicht ganz im Griff. Das beruhigt mich. Der Pegelstand geht auf die 800er Marke zu. Das Wasser steigt und leckt über die Straße unter mir. Hier haben wir gelernt, mit dem Wasser zu leben. Die Sandsäcke sind gestapelt als Damm, vor den Türschwellen und Fensterbrettern, die Keller sind ausgeräumt, die Möbel vom Erdgeschoß auf den Dachboden geschafft.

Der Handchirurg möchte operieren. Das Mondbein weist mich hinein in eine neue Welt. Vor drei Tagen habe ich noch nicht gewusst, dass es Chirurgen gibt, die sich auf Sehnen, Muskeln und Knöchelchen der Hand spezialisiert haben. Sie nähen Daumen und ganze Hände wieder an. Mir steht eine Reihe von Untersuchungen bevor. Es gibt einen Plan. Ein Stück vom Hüftknochen kommt an Stelle des Mondbeines in die Hand, die Speiche wird gekürzt und dann wird geschraubt und geschient. Aber es gibt keine Erfolgsgarantie. Die Hand kann steif werden, der Schmerz bleiben. Was mache ich mit einer steifen rechten Hand? Was mache ich, wenn die Schmerzen nach der Operation nicht nachlassen?

Krankenstand, so etwas gibt es bei uns nicht, das weißt du, ja?, sagte der Jasager, und schon hatte ich den Brief. Ich bin draußen. Der Arbeit hänge ich nicht nach. Jetzt kann ich ausschlafen. Ausrasten. Und dem Wasser zuschauen, wie es steigt. Immer die Hände im Eiswasser. Immer die kalte, zugige Halle. Immer der Fischgeruch. Der Arzt sagt, mein Mondbein stirbt, weil es zu wenig durchblutet ist. Es wird zu wenig durchblutet, weil ich meine Hände nicht geschont habe. Das kann passieren, wenn man als Einlegerin arbeitet. Auch Kassiererinnen trifft der Mondbeintod und Arbeiter, die mit dem Presslufthammer arbeiten. Aber unmittelbare Zusammenhänge können nur schwer nachgewiesen werden. Da werde ich laufen müssen. Für die Anerkennung einer Berufskrankheit gibt es klare Bestimmungen. Mindestens zwei Jahre dieselbe Tätigkeit. Das geht sich knapp nicht aus. Vor zwei Jahren habe ich für eine andere Firma Bananen verpackt und Bananenkisten geschleppt. Dann kam ich in die Firma zum Jasager. Er zahlte meiner Verleihfirma Ablöse und übernahm mich als Einlegerin in die Stammbelegschaft. Es war ein beruflicher Fortschritt. Endlich längere Zeit in ein und derselben Firma arbeiten. Kolleginnen kennen lernen. Mit dem Geld etwas mehr Spielraum haben. Ich war die einzige Österreicherin. Neben mir und mir gegenüber Türkinnen, Afrikanerinnen, eine Vietnamesin, eine Bulgarin, eine Ukrainerin. Manche Frauen sprachen gut Deutsch, manche gar nicht. Mich schienen alle zu verstehen, und sofort war ich die Vorarbeiterin. Die Frauen hatten Respekt vor mir und dachten mir einen Einfluss zu, den ich nie besaß. Eine Zulage gab es nicht. Der Jasager war der Ansicht, es genügt, wenn ich die Österreicherin herauskehre, und das sei ja noch keine Leistung, ja? Mit der Ukrainerin bin ich schnell warm geworden. Ludmilla hat sich durchschlagen müssen. Sie spricht gut Deutsch. Auch sie kann in Wirklichkeit viel mehr als Fische wickeln, wie die meisten hier. Eine Afrikanerin hat Wasserbau studiert, die Bulgarin war Lehrerin. Im Sommer legen wir Sauergemüse ein. Gurken, Kraut, Paprika, Zwiebel. Über den Winter werden Saisonarbeiterinnen hereingenommen, denn der Winter ist die Saison der Garnelen und Heringe. Die Garnelen kommen in großen, gefrorenen Blöcken zu uns. Wir legen die Eisblöcke in Wasser, bis sich die Garnelen voneinander lösen. Die Garnelen werden von weit hergebracht, aus Thailand und aus Grönland. Manche tragen noch ein Stück Schale am Schwanz, es gibt Riesengarnelen, außerdem Flusskrebse und Muscheln. Nach dem Eisbad schöpfen wir die Garnelen in den Sud und lassen sie ziehen. Schwimmen die Garnelen abgefüllt in ihren Bechern, sind die Heringe an der Reihe. Zwei Finger breit Zwiebeln und eine Essiggurke in das Filet gewickelt oder Bismarckheringe zerstückelt, mit sauren Zwiebeln in ein Glas gestopft und Marinade dazu. Gewickelt nach traditioneller Art steht auf dem Etikett der Rollmopsgläser, in Handarbeit gewickelt auf dem Etikett der Teufelsroller. Wir arbeiten in einer zugigen Halle, die wegen der Fische und Garnelen nicht beheizt wird. Die meisten von uns sehen im Winter bei der Arbeit verwegen aus. Lange Hosen unter dem Kleid, dicke Westen über dem Arbeitsmantel, Kopftücher, Hauben, Pulswärmer, rote Nasen. Und immer der Fischgeruch in der Nase, in den Haaren, auf der Haut.

Vor fünf Monaten begannen die Schmerzen in der Wanne mit dem Eiswasser. Ein unsichtbares Messer schabte mein Handgelenk blank. Spitz und scharf verbiss sich der Schmerz im Arm. Sehnenscheidenentzündung, sagte der Hausarzt. Daraufhin schmierte ich Salben, trug bei der Arbeit einen Verband unter den Handschuhen und schluckte Schmerztabletten. Daheim legte mir der Schneckenkönig Packungen auf. Der Schneckenkönig kennt sich aus mit Kräutern. Das ist keine Sehnenscheidenentzündung, sagte er nach zwei Wochen. Kranksein gibt es nicht in der Firma, das wusste ich, da sind sie schnell, es gibt auch keine kranken Kinder, das muss geregelt sein, der Jasager nimmt lieber Ältere und Kinderlose, nur bei den Saisonarbeiterinnen ist er nicht wählerisch, die sind schnell ausgetauscht.

Meine Mutter hat in einem Lager gearbeitet. Sie trug einen braunen Arbeitsmantel, schleppte Pakete von einem Regal zum anderen, trug sie hinaus zu den Lastwägen und schleppte andere herein. Sie behielt die Übersicht. Mein Reich, sagte sie, und sie war stolz, dass sie die einzige Frau im Lager war. Bis sie es mit den Bandscheiben zu tun bekam. Mit Korsett und Nierenwärmer schleppte sie sich in die Arbeit. Eine Therapie war notwendig, vor der Arbeit setzte sie sich in Schlammbäder, nach der Arbeit lief sie zur Massage, weil das alles nichts nützte, blieb sie doch ein paar Tage daheim. Die Ärztin riet zu einer Kur. Sie lehnte ab. Du ruinierst dir deine Bandscheiben für die Firma, sagte ich, sei nicht so blöd. Beim nächsten Krankenstand kam der Brief. Kein Abschied. Kein Dank. Und jetzt ich. Das Mondbein kaputt. Und schon ist der Brief da. Körperliche Arbeit macht mir nichts aus, da bleibt der Kopf frei, dachte ich, wenigstens der Kopf. So habe ich mein Leben lang geschleppt, gestemmt, geschoben, gehoben, getragen, getippt, geschraubt, gewickelt. Natürlich ist der Kopf nicht frei geblieben. Nach der Frühschicht zu müde für die Freiheit am Nachmittag, nach der Abendschicht zu erschöpft für die Freiheit am Tag. Zu müde und erschöpft für das Leben. Zu müde, um ein Buch zu lesen oder ins Kino zu gehen. Zu müde, um Leute zu treffen, zu müde, um über die Brücke nach Linz zu gehen. Nur zur Donau hinunter, diesen Weg habe ich nicht aufgegeben. Aber auch da bin ich zu erschöpft, um nach den alten Träumen zu greifen. Dicht umschwirren sie mich, nimm uns, sagen sie, das ist doch nicht dein Leben. Ich verscheuche sie. Soll ich Bilder malen? Soll ich Gitarre spielen?

Bleib daheim, sagte der Schneckenkönig, du ruinierst dir die Hand. In der Firma gibt es keinen Krankenstand. Also doch jeden Tag mit den Schmerzen in der Hand in die Arbeit, jeden Tag mit den Händen ins Eiswasser, die Pulver nützen nichts. Das unsichtbare Messer schabt am Handgelenk, und die Sehnen scheuern über die Knochen. Warum sind sie nicht früher gekommen?, fragt der Arzt. Zu spät. Ohne Mondbein brauche ich die Gitarre gar nicht in die Hand zu nehmen und auch nicht den Pinsel.

Der Schneckenkönig lässt sich von niemandem etwas sagen. Er treibt sich nicht selbst zu einer Arbeit, die er nicht machen will. Er arbeitet, wann es ihm passt. Er zahlt keine Steuern. Der Schneckenkönig hat als Jugendlicher eine Lagerhalle in Brand gesteckt, weil es ihm zu eng geworden ist. Deshalb haben sie ihn eingesperrt und ihm das Kreuz gebrochen. Nicht nur einmal. Ich weiß nicht, was sie sich erwarten vom Einsperren. Da gibt es eine Hierarchie, in der der Neue Freiwild ist für die anderen. Die Wärter schauen weg, jedenfalls sehen sie nichts, wenn sie den Neuen in eine Ecke drängen, ihn zwingen, sich niederzuknien und sich zu bücken. Der Schneckenkönig hat aus der Justizstrafanstalt den bösen Blick mitgebracht. Damit verdient er sich jetzt sein Geld. Er schaut. Als Türsteher. Wenn es kein Gedränge geben soll. Wenn einem nicht zu nahe getreten werden darf. Der Schneckenkönig ist kein Muskelprotz. Er hat die Kraft im Blick. Rotbraune Augen, in denen ein dunkles Feuer brennt. Er hat nichts vergessen und nichts verziehen. Ein Wink mit den Augen, und die Leute treten zurück. Der Schneckenkönig verbringt viel Zeit in der Au und im Wald. Er sammelt Schneckenhäuser. In seinem Zimmer stapeln sich Schachteln auf den Regalen, dazwischen Gläser und Dosen. Er beschriftet sie mit Datum und Fundort. Besonders schöne Exemplare zeigt er mir. Ich ertaste die Rillen, ich folge den Windungen mit den Fingerkuppen von der Spitze und wieder zurück, ich spüre die Zerbrechlichkeit der Gehäuse. Der Schneckenkönig ist auf der Suche. Er ist auf der Suche nach dem Schneckenkönig, einem Gehäuse, das sich von rechts nach links gegen den Uhrzeigersinn dreht. Eine seltene Mutation bei den Weinbergschnecken. Der Schneckenkönig ist seit seiner Kindheit auf der Suche. Unsere einzige gemeinsame Reise führte nach Wien ins Naturhistorische Museum. Die ausgestopften Säugetiere interessierten uns nur am Rande. Wir hasteten vorbei an den Glaskästen. In manche Tiere waren die Motten gekommen. Ein Wolf war an der Seite kahl und erinnerte mich an meinen Schakal. Der Wolf war 1950 in der Steiermark erschossen worden, nachdem er über die Grenze gewandert war. Die Fische blickten uns traurig nach mit offenen Mäulern und gläsernen Augen. Unser Ziel war die Abteilung der wirbellosen Tiere, und dort eine Vitrine mit dunkelbraunem Holzrahmen. Lange standen wir vor dem Glas, hinter dem drei Schneckenkönige ausgestellt waren. Einem Museumswärter kamen wir mit unserer Bewunderung verdächtig vor. Immer enger zog er seine Kreise um uns, bis ihn ein Blick des Schneckenkönigs aus dem Saal wies.

Ob sie mit einer Alarmanlage gesichert sind?, fragte ich den Schneckenkönig.

Willst du sie mitnehmen? Du kennst mich schlecht. Diese Schneckenkönige will ich nicht. Ich finde meinen Schneckenkönig.

Bei dem Regen treibt es auch die Schnecken an die Oberfläche. Im Wald rutschen sie über den aufgeweichten Boden. Die Feuerwehr hat in der Rudolfstraße Aufstellung genommen. Die Männer pumpen Keller aus. Bald werden sie Verstärkung erhalten vom Bundesheer. Wir brauchen mehr Sandsäcke, damit der Donauschlamm nicht in die Häuser dringt. Der Handchirurg will operieren. Wenn die Operation klappt, greife ich nie wieder in den Dreck oder ins Eiswasser. Ich weiß nicht, wann der Schneckenkönig nach Hause kommt. Er weiß noch nicht, dass mein Mondbein stirbt. Auch seine Arnikaumschläge und Kirschkernbeutel werden nichts helfen. Fremd komme ich mir vor, wenn ich meine Röntgenbilder sehe. Was ist meine Hand anderes als ein Haselgestrüpp im Winter. Ich bin froh, dass nicht mein Schädel ausgestrahlt wird. Ich möchte mir nicht in die Augenhöhlen sehen.

Ich war auf dem Arbeitsamt und habe mich erkundigt. Was mache ich mit einer rechten steifen Hand? Mit einem absterbenden Mondbein kann mich die Verleihfirma nicht mehr brauchen. Am Arbeitsamt wollen sie mich auch nicht. Da heißt es entweder – oder. Mein Vermittler hat sich in die Telefonzentrale versetzen lassen. Wahrscheinlich, weil es zu viel gibt zwischen entweder und oder. Es heißt, er hat seine Sprache verloren. Klappt den Mund auf und zu wie ein Karpfen, bevor er zu sprechen beginnt. Am Telefon sieht man das nicht.

Die Donau hat sich unsere Straße genommen. Das Wasser schwappt zu den Sandsäcken. Die Sirenen heulen. Hochwasseralarm. Hier, an meinem Fensterplatz, kann ich nichts tun. Ich werde hinüberwaten zu den Feuerwehrmännern. Jede Hilfe ist gefragt. Ich kann Wasserschöpfen und Schlammschaufeln oder beim Ausräumen helfen. Mein Mondbein soll wissen, dass es mich gibt.