Feuerbrand
Schwarze Blätter. Gekrümmte Jungtriebe. Sie hatte die Veränderung bemerkt. Auf einen Insektenschädling hatte sie gehofft, auf die größere Erfahrung der alten Nachbarn, die unterscheiden konnten. Ein Spinner, ein Sauger, ein Stecher. Aber deren müde, trübe Augen wollten nicht sehen. Jetzt glänzten Tropfen an den verdorrten Trieben. Honiggelb. Es bestand Meldepflicht. Feuerbrand.
Sie würde Abschied nehmen müssen von dieser Landschaft und nach ihrer Reise zurückkehren an einen Ort, den es nicht mehr gab. Eine Bakterie, Erwinia Amylovora, lichtete das Land. Den Kindern hatte sie neue Gegenden zeigen wollen. Daheim wurde die Landschaft fremd. Sie hatte sich den Aufbruch in die Zukunft anders vorgestellt. Diese Zukunft war wieder vorhersehbar und versprach keine Überraschungen. Ein Frühling ohne Blütenwolken über hügeligem Land, im Sommer keine Schatten, der Herbst ohne Apfelrot und im Winter nur mehr die Erinnerung an schwarze Krähenbäume auf gleißenden Wellen des Schnees.
Es gab Vorschriften, was zu tun war. Die Bäume umschneiden. Die Säge desinfizieren. Das kontaminierte Holz an Ort und Stelle verbrennen. Im Haus war sie nie warm geworden. Oft hatte sie sich vorgestellt, dass eine Abrissbirne in seine Mauern krachte. Mit einem Schulterzucken wäre sie daneben gestanden. Sie verstand sich nicht mehr aufs Wohnen. Wenn Wind aufkam, zog es sie hinaus auf die Streuobstwiesen. Unter den Mostbirnbäumen lauschte sie den Flüsterliedern der Blätter und wurde ruhig. Sie glaubte, die Botschaft zu verstehen. In jeder Himmelsrichtung brandete das Meer.
Die Motorsäge schnitt ins Holz.
Die Motorsäge schnitt in das ächzende Holz des Apfelbaums, den sie zur Geburt des Sohnes gesetzt hatte. Cox Orange, kleine Äpfel mit geflammten Wangen, saftig, würzig mit schwacher Säure, zu schwach, um im Kellerregal den Winter zu überdauern.
Die Motorsäge schnitt in das splitternde Holz des Quittenbaumes. Der Baum der Tochter. Feste rosa Blüten im Frühjahr, leuchtend gelbe Früchte im Herbst, mit feinem Duft, aber ungenießbar in ihrer Wolle. Erst gekocht erzählte ihr Geschmack vom Licht der weiten Steppe.
Das Haus war die Gegenwart mit ihren Bleigewichten, die sich auf die Brust senkten und das Atmen schwer machten und verzögerten. Dem hatte sie etwas entgegengesetzt und Bäume gepflanzt. Die knospenden Zweige versprachen Zuversicht, die Kronen sollten die Nebeldecke durchstoßen und die Ferne sehen.
Die Motorsäge schnitt in Stämme, die mit zwei Händen zu umfassen waren. Die Motorsäge schnitt in Stämme, die sich umarmen ließen. Mostbirnbäume, Edelobst, Sträucher, plötzlich wurden sie alle zur Gefahr, unheilbringend wie Vögel und Bienen, die auf ihrem Flug die Seuche verbreiteten. Das Vergehen einer Landschaft: Verändert, verstummt, verschwunden.
Tout complet. Es war, wie man ihr versicherte, für die Bretagne ein bemerkenswerter Sommer. Vierzig Grad, sogar unten am Strand im Schatten der Stadtmauer. Die Kinder waren müde und hungrig und hatten keinen Blick für das Meer. Sie hatte nicht an den Marienfeiertag gedacht, und daran, dass ihr Ziel ein beliebter Urlaubsort war. Es schien, als wären alle französischen Familien zur selben Zeit en vacances gefahren und genau an diesen einen Ort, wo es deshalb für eine Mutter mit zwei Kindern keinen Platz mehr gab. Sie war mit den Kindern an den Strand gegangen, hatte die Koffer abgesetzt und sich in den Sand fallen lassen.
Das Meer war gerade dabei, sich zurückzuziehen, und gab Muschelbänke und Seegraswiesen preis. Vom roten Sprungturm und den Betonmauern des Schwimmbeckens hatte es sich bereits abgewandt, und in einer halben Stunde würde es auch die vorgelagerten Inseln als Hügelkette zurückgelassen haben. Tief und blau lag der Himmel über dem Meeresrand. Nach achtzehn Stunden Bahnfahrt hatte sie keinen größeren Wunsch, als die brennenden Schuhe auszuziehen und den feuchten Findlingen entlang auf den Horizont zuzulaufen.
– Woran erkennt ihr eine Meerjungfrau?, fragte sie die Kinder.
– An den Brüsten, sagte der Knabe.
– Am Schuppenschwanz, sagte das Mädchen.
– Am nassen Kleidersaum, sagte sie. Manchmal tropft auch Wasser aus dem Ärmel. Es gibt mehr Meerjungfrauen und Wassermänner, als wir denken. Wir könnten jetzt zum Wasser laufen und das Meer begrüßen. Wir holen uns nasse Füße und gehören dazu.
– Ich bin müde und habe Durst, maulte der Bub.
– Ich will ein Eis, forderte das Mädchen.
Am Strand zurückbleiben wollten beide nicht.
Bei jedem Schritt wichen die Schatten des Wassers aus dem Sand. Hier blieb nichts, wie es gerade war. Am Abend würde das Meer wieder gegen die Mauern der steinernen Stadt branden. Die vorgelagerten Inseln würden unerreichbar sein, Muschelbänke und Seegraswiesen verschwunden in der anderen Welt, zu der auch der Sprungturm keinen Weg durch die Gischt wies.
Madame? Der Mann hinter der Rezeption des Hotels, das Zum goldenen Ginster hieß, taxierte die Kinder, das Gepäck und die nasse Spur, die sie quer über die blau-weißen Fliesen zu ihm gezogen hatten. Oui madame. Ein Zimmer war frei. Sie hatten Glück. Zu ihrem Glück gehörte ein türkises Mosaikbad mit goldenen Armaturen, ein dicker, grüner Teppichboden, gediegene Möbel aus dunklem, glänzendem Holz.
Die Kinder stritten sich, wer bei ihr im Ehebett liegen durfte, sie versuchten es mit Stein, Schere, Papier, Auszählreimen und Münzenwerfen. Nichts aber brachte das für sie erwünschte Ergebnis. Beide wollten sie bei ihr und neben ihr liegen. Da gab es nur eine Lösung. Sie musste vom Rand in die Mitte und sich schmal machen. Die körperliche Nähe zu den Kindern, die sie bereits verloren geglaubt, nach der sie sich gesehnt hatte, war ihr in diesem Bett nicht angenehm. Die Matratze war zu weich. Wie Fässer rollten die Kinder auf sie. Das Mädchen mit entspannt ausgebreiteten Armen, der Bub eingeigelt, auch im Schlaf die Fäuste geballt, bereit zur Attacke und auf den Hinterhalt vorbereitet. Laut schnaufend suchten sie Halt an ihr, während das Bett mit ihnen durch eine unruhige Nacht schlingerte. Draußen vor dem Fenster die Rufe der Nachtschwärmer und das gelbe Licht einer Straßenlaterne, die eine hohe Granitfassade gegenüber ausleuchtete und scharfe Schatten ins Zimmer warf. Um sie herum die Nachtfahrt des Hotels. Gedämpfte Stimmen am Gang, eine rauschende Spülung, gurgelnde Abflüsse, knarrendes Holz. An der Tür hing die Preisliste. Sie besagte, dass ihre Tage in diesem Zimmer gezählt sein sollten. In diesem Hotel nächtigten Menschen einer anderen Kategorie. Sie waren noch nicht einmal richtig angekommen und schon wieder hieß es, Groschen zählen, kalkulieren, sparen, streichen, einschränken. Sie verstand sich nicht mehr aufs Haushalten. Keine halben Sachen. Den Kindern wollte sie das Meer zeigen. Und Ar Mor. Das Land am Meer. An ihrem Meer. Das Meer, das glucksend in die Nacht glitt und brüllend aus ihr herausbrach. Das Meer, das die Schenkel leckte und gegen die Brust sprang. Das Meer mit seiner ständig wechselnden Landschaft. Wellentäler, Wasserberge und Schaumkämme. Das Meer, das ruhig wie ein Spiegel lag. Das Meer, über das der Wind Schafe blies. Das Meer, das sie trug. Das Meer, das das Land formte und den Himmel färbte. Türkis, tintig, bleifarben, meergrün – glauque. Das Meer. Mit jeder Bewegung erzählte es von der Sehnsucht, von der Unendlichkeit, von anderen Welten. Das Meer, das sich breit machte, seinen Platz beanspruchte, einfach da war. Das Meer, das Ruhe gab. Und Kraft.
Was war den Kindern zuzumuten? Sie wussten nicht, was auf sie zukam. Sie hatte ihnen nicht alles gesagt. Natürlich machen wir auch zu dritt Ferien. Natürlich fahren wir auch zu dritt ans Meer. An den Ozean. Ich zeige euch eine andere Welt. Algenwälder, Meerwölfe, Seespinnen. Muschelfelder. Salzgärten. Wolkenbänke. Ebbe. Springflut. Sturmwind. Es wird schön. Ihr werdet sehen. Die Kinder hatten, ohne zu murren, ein jedes einen Koffer hinter sich hergezogen, während sie die Reisetaschen schleppte. Mit diesem Gepäck würde es schwierig sein voranzukommen. Von einer Pension zur nächsten. Tout complet. Die ganze Küste ist voll. Es sind Ferien, Madame. Sie haben nicht gebucht? Das ist ein Problem. Es tut uns Leid. Alles war ein Problem und nichts tat ihnen Leid. Mit aller Kraft ruderte sie durch diese Sprache, die es ihr nicht verzeihen wollte, dass sie sich seit Jahren nicht mehr in ihr verständigt hatte. Habe ich mich richtig ausgedrückt? Sie verstehen mich? Wir fahren nicht zurück. Wir bleiben hier.
Die Sache war klar. Er zog aus. Sie und die Kinder blieben im Haus. Sie hatten keine andere Wahl. Er zahlte Unterhalt. Solange sie keine Arbeit gefunden hatte oder keinen neuen Mann. Man nannte es Wiedereinstieg. Wohin hatte sie sich gehen lassen, die letzten zehn Jahre? Sie bot sich an. Halbherzig. Das, was sie zu bieten hatte, war nicht gefragt. Was gefragt war, konnte sie sich nicht bieten lassen. Mit zwei schulpflichtigen Kindern war ihr Wert nicht gestiegen. Nicht am Arbeitsmarkt, und auch nicht bei den Männern. Damit hatte sie gerechnet, nicht aber damit, dass man sie sofort als Außenstehende erkannte und ihren Versuch, wieder Fuß zu fassen in der Welt, als Anmaßung empfand.
Die Jahre im Haus hatten das Denken verändert. Kleinigkeiten waren wichtig geworden. Die Beschaffenheit der Jausenbrote, die Tischdekoration bei Familienfeiern. An den Details hatte sie sich abgenutzt. Langsam war sie geworden in ihrem Streben nach Perfektion, und umständlich. Die Zukunft war zum überschaubaren Zeitraum geschrumpft. Die nächsten sieben Stunden, die nächsten sechs Tage. Wann sind die Kinder außer Haus, wann kommt er von der Arbeit heim? Die Werbepost, die der Briefträger zu den Häusern schleppte, waren Nachrichten von draußen. Wort für Wort studierte sie die Aussagen, Bild für Bild verschlang sie die Botschaften. Sie, die in anderen Zeiten die Kulturseiten fremdsprachiger Zeitungen gelesen hatte, überflog jetzt Sonderangebote und Aktionen, analysierte, was wo wie viel kostete, während sie bei der Zeitung nur mehr den Regionalteil aufschlug und gleich wieder weg legte. Eine Schnäppchenjägerin war sie geworden. Das Jahr über Weihnachtsgeschenke im Kopf, das Ausrichten von Geburtstagsfesten, das Einkochen und Ansetzen. Sie hatte sich alles selbst beigebracht, Lehrgeld gezahlt, und sie war doch keine Meisterin geworden. Im Keller stapelten sich Marmeladegläser, Saftflaschen und Gurkentöpfe, die niemand wollte, an die niemand dachte. Sie verzettelte sich beim Kochen und verrannte sich beim Erzählen. Wo war ich stehen geblieben? Um den Anschluss an die Welt draußen nicht ganz zu verlieren, rasierte sie sich die Beine und sparte für den Friseur und eine neue Haarfarbe. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sie ans Haus gebunden war. Man setzt keine Kinder in die Welt, um sie dann anderen zu überlassen. So waren sie sich alle selbst überlassen geblieben, und sie hatte es nicht bemerkt, weil sie zu tun hatte mit Schlieren an den Fenstern, widerborstigen Kinderhaaren, mit dem Haushaltsbuch und dem selbstreinigenden Backrohr.
Schwer und heiß lagen die Köpfe der Kinder auf ihr. Ihre Kinder, die jetzt, erschöpft von der Reise, in unruhigen Träumen trieben. Sie hatte gehofft, endlich wieder Weite zu finden und durchzuatmen, aber vorerst blieb es eng. Auf dem Rücken lag sie mit absterbenden Gliedern, nach Luft ringend und nach Schlaf. Ein gestrandetes Muttertier.
Mit den Koffern würde es schwierig sein, am Strand zu übernachten. Schwerer Fehler in der Planung, gleich zu Beginn. Schlimmer noch. Sie war ohne Plan weggefahren. Zu viel Gepäck, zu wenig Geld. Bei den Mahlzeiten ließ sich sparen. Sie würden sich von Baguettes ernähren, von Crepês und Galettes, und am Abend zum Meer gehen. Sie wollte es den Kindern erklären. Immerhin. Sie waren angekommen. Der Zugang zum Meer war gefunden. Der Ausgangspunkt war gut. Eine befestigte Stadt, erbaut von Korsaren, die sich immer geholt hatten, was ihnen gefiel. Das Mosaikbad war ein Luxus. Warum sollte der Neuanfang in einer Absteige beginnen?
Die Motorsäge schnitt ins Holz. Sie schnitt in das harte Holz der Mostbirnbäume, die den Weg zum Haus wiesen. Saftige Birnen. Eine alte Sorte, im Herbst mit wildem Geschmack und leichtem Honiggeruch. Prickelnder Most nährte den Sturm im Gemüt. Das Holz leuchtete rötlich und frisch. Die Wachstumsringe erzählten von harten Zeiten, von Dürrejahren und von den Hochwassern.
Die Kinder waren erschöpft eingeschlafen. Es war heiß und stickig im Zimmer. Lorient hieß die neue Stadt. Eine Stadt vom Reißbrett. Einst reich geworden durch sogenannten »Elfenbeinhandel«. Ein Dreieckshandel: Tausche Perlen und Tand gegen Sklaven in Afrika, Sklaven gegen Gewürze, Porzellan und Seide in den Kolonien. Wieder in Lorient zurück, wurden Anteilsscheine fällig. Nach dem Verlust der Kolonien wurde die Stadt zum Waffenlager. Den Bomben des letzten Krieges widerstanden nur die Befestigungsanlagen der deutschen Besatzer. Die Stadt erstand wieder am Reißbrett. Die Klimaanlage funktionierte nicht. Vor den Fenstern war über die gesamte Vorderfront des Hotels eine zusätzliche Glaswand angebracht worden. In der Nacht schien es ruhig zu sein bis auf ein dumpfes Grollen und Stampfen, das aus einer der großen, hell erleuchteten Hallen auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam. Durch das geöffnete Fenster drang statt frischer Luft der säuerlich-stechende Geruch von verrottendem Fisch. Sie waren im Port de Pêche, im Fischereihafen, abgestiegen. Das grüne Hotelzimmer in der Korsarenstadt hatte den Großteil ihres Reisebudgets verschlungen. Sie hatte sich entschlossen, trotzdem länger zu bleiben. Es war ein guter Ort, um den Atem des Ozeans zu spüren. Sie tauchte ein in die andere Welt, streifte durch Gärten fein gewirkter Rotalgen, bestaunte die knotigen Büschel des Blasentangs und die braun wogenden breiten Bänder des Fingertangs, die sich, vom Meeresboden losgerissen, Schwimmenden um die Knöchel schlangen oder auf die Schulter legten. Die Kinder waren enttäuscht. Sie kannten nur die kroatische Adria. Dieses Meer mit seinem ständigen Wandel war ihnen unheimlich. Trotz der Hitze entfachte das Wasser Gänsehaut. Am Abend am Strand knirschte Sand zwischen den Zähnen, und der Wind zerrte an Haaren und Kleidern, dass sie sich hin- und hergetrieben fühlten wie Algen in der Strömung. Es brauchte Zeit, bis sich die Kinder auf diesen neuen Rhythmus einstimmten. Diese Zeit musste sie ihnen geben. Es war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte.
In die fremde Sprache hatte sie sich soweit hineingefunden, dass nicht mehr alles ein Problem war. Aber beim Gehen fand sie oft keinen Halt. Etwas war mit ihren Beinen. Auch in flachen Schuhen stolperte sie und fiel. Aufgeschlagene Knie, geschwollene Knöchel, schmerzende Zehen. Die Kinder lachten, wenn sie taumelte. Die Kinder machten es ihr nicht leicht. Jedes Essen war ein Aufruhr. Die Hummer mit den zusammengebundenen Scheren in den Aquarien der Restaurants taten ihnen Leid. Sie verachteten die Menschen auf den umliegenden Tischen, die Schnecken und Seespinnen verzehrten und auf deren Tellern sich Berge von Krabben-, Garnelen- und Muschelschalen türmten. Crêpes schmeckten nicht wie die Palatschinken daheim, und Teller mit aus Buch-Weizenmehl hergestellten Galettes mit pikanter Füllung schoben sie ungestüm weg. Die Kinder meinten es ernst. Es ging ihnen nicht um das Essen. Es ging um sie, ihre Mutter. Vor den Augen der Kinder schälte sich eine neue Mutter aus dem alten Leben. Sie aber wollten sie, wie sie immer gewesen war, wenigstens die Mutter sollte ihnen vertraut bleiben, etwas unbeholfen in ihrer Liebe, leicht in der Ecke zu halten und grenzenlos für sie da.
Sie versuchte, sich den Kindern über das Meer und seine Küsten zu erklären. Sie fuhr mit ihnen zu schroff ins Meer abstürzenden roten Klippen. Sie wanderten auf Zöllnerwegen zwischen von Meer und Wind geformten Granitblöcken, die die Abendsonne zum Glühen brachte und Gestalt annehmen ließ. Sie lief mit ihnen über weite Strände und ließ sich fallen bei einem aufs Meer hinausblickenden Menhir. Sie trieb die Kinder durch steinerne Dörfer an blauen Hortensienbüschen vorbei zu den Fratzen der Wasserspeier an grauen Kirchtürmen und zu geheimnisvollen Brunnen. Aber je mehr sie den Kindern zeigte, je mehr sie ihnen erzählte, je mehr sie auf die satten Farben, die Leuchtkraft der Luft hinwies, je mehr sie versuchte, ihnen wieder nahe zu kommen, umso verschlossener wurden sie. Die Kinder wehrten sich gegen den Aufbruch. Die Kinder verbündeten sich gegen sie. Eng umschlungen schliefen sie auf dem Sofa. Seit einigen Tagen beanspruchte niemand mehr den Platz im französischen Bett.
Es war ein bemerkenswerter Sommer. Im Fernsehen standen Reporter mit ernsten Gesichtern vor aufblasbaren Kühlhallen. Drinnen stapelten sich Särge. Rund 3000 alte Menschen waren in der Hitze der Großstadt Paris umgekommen. Es war kein natürlicher Abgang. Verdurstet, ausgetrocknet, sich selbst überlassen, füllten sie die Leichenhallen, überforderten die Bestattungsunternehmen. Wie konnte es soweit kommen?, fragte eine Frau ihr Mikrofon. Weil die Krankenhäuser voll waren. Weil keine Krankentransporte mehr durchgeführt wurden. Weil sich im Altenheim, wie eine Frau im weißen Kittel erklärte, eine Schwester um 72 Kranke kümmern musste. Weil die Leute in die Ferien gefahren waren, ohne sich um ihre Angehörigen zu kümmern, wie ein Mann, der als Regierungschef ausgewiesen war, beklagte. Es gebe keinen Familienzusammenhalt mehr, bedauerte er, und ein Insert wies darauf hin, dass der Mann wegen der Katastrophe seinen Urlaub abgebrochen hatte. Deswegen haben wir gestreikt, nicht nur einmal, sagte ein anderer Mann in weißem Kittel, die Kamera folgte ihm ins Innere eines Krankenhauses, und der Mann zählte auf: Einsparungen, Personalreduktion, Gesundheitsreform. Auf den Gängen standen die Notbetten in Zweierreihen, und die Kamera stoppte bei einer an mehrere Infusionsflaschen angeschlossenen, heftig atmenden Greisin und wechselte von der Totalen zur Großaufnahme eines zuckenden, zahnlosen Mundes.
Das Hotel im Fischereihafen hatte sich auf durchreisende Geschäftsleute spezialisiert. Es war zweckmäßig eingerichtet für Menschen, die reisen mussten und deshalb nie lange blieben. Madame hatte sich wieder belehren lassen müssen. Die Hitze, die Urlaubszeit, das keltische Festival. Warum haben sie nicht gebucht? Die Gepäcksaufbewahrung am Bahnhof war wie in allen größeren Städten aufgelassen worden. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen befürchteter Bombenanschläge. Aber der Fahrdienstleiter sprach deutsch und trug eine Armbanduhr mit dem alten Flügelrad der Bundesbahn. Die Eisenbahner waren vernetzt. Madame, ich habe Freunde in ihrer Heimat, versuchen sie es mit dieser Adresse. Der Zahnputzbecher taugte auch als Weinglas, und das Fernsehprogramm wurde von Satelliten gespeist. Vom Greisinnenmund drückte sie sich weg zu einem Übergrößenkanal. XL-Channel. Amateurfilme für Erwachsene. Am Ufer eines zugefrorenen Waldsees lag eine Frau nackt im Schnee. Ihre Hände und Füße waren an den Knöcheln mit einem roten Band zusammengebunden. Ein Mann mit einem langen Mantel und einer Pelzmütze stiefelte um die nackte Frau herum. Die Frau wand sich im Schnee. Der Mann öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Dann wälzte er die Frau auf den Bauch und brachte sie auf die Knie. Ihre Brüste rieb er mit Schnee ein. Die Kamera zeigte steife Brustwarzen. Der Mann bearbeitete die Hinterbacken der Frau. Die Kamera schwenkte von den nackten Fußsohlen und gefesselten Gelenken zu den Händen des Mannes, die die Frau für das Objektiv breit machten. Der Mann streifte seine Lederhandschuhe ab und schlug die Frau damit. Er ließ Schnee auf ihre Körperöffnungen rieseln. Die Kamera sah zu, wie der Schnee schmolz und der Mann in einer grotesk gebeugten Haltung in die Frau eindrang. Ruckartige Bewegungen. Verzerrte Gesichter. Der Mann spritzte. Die Frau rollte auf die Eisdecke des Sees. Der Mann folgte ihr. Ein jäher Schnitt, ein kurzer Nachspann. Rusalka hieß der Film. Amateurfilmer wurden aufgefordert, ihre Beiträge ebenfalls an den Kanal zu schicken. Dann die Ansage verschiedener Sex-Hotlines. 24 Programme waren gespeichert. Mit der Fernbedienung glitt sie durch die Kanäle, und als sie wieder beim XL-Channel ankam, stand ein nackter Mann in Kochschürze über eine auf einem gedeckten Tisch liegende Frau gebeugt. Draußen rollten Kühlwagen mit dem frischen Fang der Nacht aus dem Hafen.
Andere hatten es von Anfang an gewusst. Sie war gewarnt worden. Sie hatte nicht hören wollen. Sie hatte die Bedenken verlacht. Sie war dem Mann in eine andere Stadt und aufs Land gefolgt, hatte ihre Ausbildung und den Kontakt zu Studienkollegen und Freundinnen abgebrochen. Sie hatte die Unterstützung ihrer Eltern abgelehnt. Ein Nest braucht keinen Notausgang. Er hatte sie nicht einmal besonders überreden müssen. Sein verlegenes Lächeln genügte. Sie wollte es so. Sie wollte mit diesem Mann gehen, sie wollte diesen Mann haben, sie wollte nicht mehr sein ohne ihn. Ob das die Liebe gewesen war? Die freudigen Schauer, die anfangs bei jeder Berührung, bei jedem Blick ihren Körper zum Fließen brachten, waren bereits vor den Kindern verebbt. Geblieben war eine harte Lust. Regelmäßig und gewissenhaft kümmerte er sich darum, und sie hielt es für angebracht, sich mit dieser Entwicklung der Liebe zu einer Art Kameradschaft abzufinden und glücklich zu bleiben. Von Anfang an hatte sie zu wenig auf die Gespräche geachtet. Wenn das nur gut geht, hatte die Freundin gesagt, ihr habt doch keine gemeinsamen Interessen. Sie hatte der Freundin verboten weiterzusprechen. Weil sich die Freundin das Wort nicht verbieten ließ, hatte sie sich von ihr zurückgezogen. Sie war freiwillig verstummt. Warum hatten alle Angst, vertrautes Terrain zu verlassen? Wo es keine gemeinsamen Interessen gab, konnten neue entstehen. Wo eine Sprache nicht ausreichte, konnten neue Worte erfunden werden. Aber der Mann sprach nicht viel. Von Anfang an. Hinter seinem Schweigen steckte kein Geheimnis. Er hatte ihr wirklich nichts zu sagen. Sie hatte neben ihm ihre Sprache verloren, ohne dass es besonders aufgefallen war. Als er ihr zu verstehen gab, dass es ihm ernst sei mit der Trennung, fehlten die Worte. Wie nach einem Schlaganfall musste sie das Sprechen wieder lernen. Es war mühselig und schmerzhaft. Sie hasste ihr Gestammel, an dem kein Fortschritt zu erkennen war. Erst am wachsenden Unmut der Kinder spürte sie, dass sich doch etwas änderte.
Die Motorsäge schnitt ins Holz. Sie schnitt in die wegspritzenden Zweige des Weißdorns. Freundliche weiße Blütendolden im Frühling, rote mehlige Beeren im Herbst. Eine Futterhecke für Bienen. Unter dichtem Blattwerk versteckte Dornen und zähes Holz. Ein verlässlicher Zaun rund ums Haus.
Die Kinder hatten sich abgesprochen. Sie gehorchten nicht und liefen ausgelassen davon. Sie ließ sie ziehen, stapelte das Gepäck alleine in der Nähe des Ausgangs und humpelte an die Reling der Fähre. Die Dieselschwaden des Schornsteins und das Dröhnen der Maschine machten sie benommen und schläfrig. Auf den Bugwellen des Schiffes schaukelten unruhige Möwen. Vorbei am Beton der Kriegsbunker und dem stechenden Geruch des Fischereihafens steuerten sie aufs Meer hinaus. Das Wetter versprach unverändert strahlend zu bleiben. Am Oberdeck drängten sich die Tagesausflügler, während sich im Salon die Pendler niedergelassen hatten, um noch etwas zu dösen. Im Meer vor ihr nahm eine Insel Konturen an. Qui voit Groix, voit sa joie, wer Groix sieht, sieht seine Freude, besagte ein bretonisches Sprichwort, im Gegensatz zur Charakterisierung der von starken Strömungen umfassten Ile d’Ouessant im Westen: Qui voit d’Ouessant, voit son sang – Wer Ouessant sieht, sieht sein Blut. Die Kinder teilten ihre Freude nicht. Die Reise bot keine Überraschungen für sie. Ein ständiges Aufbrechen, ein hastiges Ankommen und keine außerordentlichen Erfreulichkeiten, weil bereits mit jedem Cent gerechnet werden musste. Das kannten sie von daheim. Müssen wir auf die Insel auch noch? Warum fahren wir nicht früher nach Hause? Ich will …, ich möchte …, warum hast du nicht …, warum dürfen wir nicht? Beide Kinder hatten sehr viel von ihrem Vater. Als sie noch auf ihre Brust angewiesen waren, forschte sie oft stundenlang in den vom Schlaf entspannten Gesichtszügen. Nach wem würden die Kinder kommen?
Hier die Nasenflügel und das Grübchen, dort die hohe Stirn, die Stellung der Brauen, der vertraute Zug um den Mund. Die Entwicklung, die Veränderung in den Gesichtern hatte sie in ihrem Tagebuch festgehalten, auch Mutmaßungen darüber, welche Wesenszüge die Kinder annehmen würden. Jetzt erschrak sie manchmal. Über die Ähnlichkeit der Kinder mit ihrem Vater, noch mehr aber über die Ähnlichkeit, die die Kinder mit ihr hatten. Der Bub hatte die Neigung zur Ungeduld und zum unüberlegten Handeln. Das Mädchen scheute Konflikte und gab schnell auf, wenn es sich einer Herausforderung stellen sollte. Wenn das Mädchen mit den Schultern zuckte, spürte sie kalte Wut aufsteigen. Auf das Kind, auf sich selbst und auf ihre Mutter, die immer betonte, dass sie eben das Pech gepachtet hätten im Leben. Als junge Frau hatte sie sich vorgenommen, mit beiden Händen nach dem Glück zu greifen, sobald es sich zu erkennen gab, und das Leben anders zu nehmen als die Mutter. Inzwischen war auch sie davon überzeugt, dass in ihrer Familie den Frauen das Glück versagt blieb. Sie spürte, wie sich diese Einstellung auf die Tochter übertrug, und sie war wütend auf das Kind, weil es diese Haltung nicht in Frage stellte. Sie musste am Aufbruch festhalten, um dem Kind Alternativen aufzuzeigen – auch wenn sie selbst am Gelingen zweifelte.
Die Insel hatte sich zur Gänze aus dem Bereich der Unschärfe geschoben und lag wie ein funkelnder Edelstein vor ihnen. Helle Sandbuchten waren zu erkennen, grün bewachsene Felshänge, hier und da der getünchte Rauchfang eines Hauses, davor das Meer in einer blauen Schuppenhaut, über allem ein satter Himmel und eine weiße Wolkenherde. Sie nahm sich vor, Kurs zu halten. Trotz der Verluste und Veränderungen war der Neubeginn ein Gewinn für alle. Die Fähre stieß einen heiseren Signalton aus, änderte den Kurs und fuhr die Küste entlang auf die Hafeneinfahrt zu. Vielleicht sollten sie sich zur Erkundung der Insel doch Fahrräder ausleihen. Eine Abwechslung für die Kinder. Der Überziehungsrahmen ließ wahrscheinlich auch noch ein paar bessere Mahlzeiten im Restaurant zu. Daheim würden sie schon irgendwie zurechtkommen, bis sich eine Lösung fand. Unmittelbar neben ihrem Kopf explodierte etwas mit lautem Knall, und ein dumpfer Schmerz schoss ihr in die Seiten. In Panik schrie sie auf. Ausgelassenes Gelächter. Die Kinder hatten sie nicht vergessen. Und weil er es lustig fand, stieß ihr der Sohn noch einmal seine Karatehände in die Flanken, während das Mädchen neben sie an die Reling gesprungen war, »huhu« schrie und die geplatzte Hülle eines Luftballons schwenkte. Sie wirbelte herum und erwischte den Sohn gerade noch am Handgelenk.
– Mach das nie wieder, herrschte sie ihn an und drückte seine Hand eine Spur fester als notwendig.
– Warum müsst ihr mich immer erschrecken?
– Weil du nie da bist, weil du immer woanders bist mit dem Kopf, zeterte der Bub, erschrocken über ihren groben Griff. Mit der anderen Hand hatte sie das Mädchen zu fassen bekommen.
– Runter vom Geländer, sofort. Das Mädchen lachte.
– Mama, jetzt müsstest du dich sehen. Du hast ein Ameisengesicht. Ein zorniges Ameisengesicht. Du siehst nicht gut aus.
Der Bub entwand sich ihrer Hand und spottete: Ameisengesicht, Ameisengesicht. Sie wusste nicht, wie sie auf die Attacke der Kinder reagieren sollte. Sie überlegte kurz, mit dem unverzüglichen Abbruch der Reise zu drohen. Sie befürchtete, nicht überzeugend zu wirken.
Die Touristeninformation war im ersten Stock eines neuen Zweckbaus untergebracht und hatte geschlossen. Die Sperre richtete sich nach dem Sonnenstand. Laut Anschlag würde die Tür erst am späten Nachmittag wieder offen stehen. Die Passagiere der Fähre waren schnell verschwunden. Sie wurden erwartet. Alle waren abgeholt worden oder wussten, wohin sie gehen mussten. Familienangehörige hatten am Kai gewartet, Nachbarn, Geliebte, Ehefrauen, Freunde. Sie hatten jemanden in die Arme geschlossen oder ein Paket übernommen. Alle hatten ein Ziel. Nur sie und die Kinder standen in der Mittagshitze mit dem Gepäck. Es sah nicht gut aus. Die Herbergssuche schien wieder aufreibend zu werden.
– Kann ich Ihnen helfen, Madame?
Der Mann, der sie angesprochen hatte, trug weiße Turnschuhe, blau-türkis karierte Bermudashorts, ein kurzärmeliges Polohemd und war zwei Köpfe größer als sie. Er war schwarz und lächelte. Was will der uns helfen, schoss es ihr durch den Kopf.
– Nein danke, wir benötigen keine Hilfe, sagte sie.
Der Mann schien irritiert vom gereizten Klang ihrer Stimme. Er suchte ihren Blick. Sie sind zum ersten Mal hier? Sie werden abgeholt? Nein? Sie suchen eine Unterkunft? Sie werden kein Zimmer bekommen. Es ist sehr schwierig. Die Ferien. Und nächste Woche das Festival. Das internationale Festival der Inselfilme. Das sollten Sie sich ansehen. Aber Sie müssen reservieren. Wenn Sie erlauben, helfe ich Ihnen mit dem Gepäck. Sie haben sehr viel Gepäck.
– Nein, danke, wir benötigen keine Hilfe, sagte sie auf Französisch, bitte lassen sie unser Gepäck stehen, und auf Deutsch fügte sie hinzu: Überall dasselbe, in Österreich und auf einer kleinen bretonischen Insel. Könnt ihr einen nicht in Ruhe lassen? Wenn ich sage, wir brauchen keine Hilfe, dann brauchen wir auch keine.
– Pardon, Madame, sagte der Schwarze förmlich, ich habe gesehen, dass Sie fremd sind. Ich dachte, Sie benötigen Hilfe. Wenn ich Ihnen trotzdem helfen kann, voilà.
Er kritzelte etwas auf eine Visitenkarte. Dem Papier zufolge, hieß der Mann Maurice Soukop und war Pulmologe in Montpellier, auf die Rückseite hatte er eine Adresse und eine Telefonnummer notiert und eine Skizze beigefügt. Eine Straßenkreuzung, ein Kirchturm, ein Platz, eine weitere Kreuzung, an der die Straßen sternförmig auseinander liefen, ein Pfeil und ungefähr in der Mitte einer zwei Ortschaften verbindenden Straße ein zweiter Pfeil auf einen Kreis. Ici.
Die Straße vom Hafen zum Hauptort der Insel zog sich vorbei am Heimatmuseum, einer Brandruine, dem hellblau verputzten Cinéma des familles und einer Buchhandlung einen Hügel hinauf. An einem Stein hatte sie sich die große Zehe gestoßen. Die Zehe blutete. Die Griffe der Reisetaschen schnitten in die Handflächen. Die Kinder plagten sich mit den Koffern, die auf der Straße nicht rollen wollten. Um sie abzulenken, begann sie von den Thunfischen zu erzählen. Der Thunfisch ist ein Wanderfisch. Er hat Silberaugen und die Form einer Spindel. Das macht ihn pfeilschnell. Im Frühjahr schwimmen die Schwärme ins Mittelmeer, um zu laichen. Vor der sizilianischen Küste warten die Fischer mit der Mattanza, einem Schlachtfest. Im Juni sind die Schwärme im Ärmelkanal. Sie ziehen bis nach Norwegen, bis zur irischen Küste, bis zu den Azoren. Früher hatten auch die Menschen von Groix vom Fischfang gelebt. Zuerst von den Sardinenschwärmen. Als die eines Tages, man weiß nicht, ob es wegen einer Klimaveränderung war oder wegen Überfischung, ausblieben, mussten sie sich etwas einfallen lassen, wenn sie auf der Insel überleben wollten. Die Groisillons spezialisierten sich auf den Fang des Germons, des weißen Thunfischs. Sein helles Fleisch ist begehrt und teuer. Der Germon bevorzugt eine Wassertemperatur von siebzehn Grad. Das Blut des Thunfisches ist warm. Achtzehn Jahre alt könnte er werden. Bei Tagesanbruch kommt der Fisch zur Wasseroberfläche, um zu jagen. Das war die Stunde der Fischer. Für den Thunfischfang bauten sie eigene Segelschiffe. Elegant wirkende, wendige und schnelle Zweimaster mit großen Segeln und breiten Stangen für die Netze. Gleichzeitig wurden Konservenfabriken errichtet, um das Fleisch des Thon zu konservieren. Das Meer forderte seine Opfer. Viele Fischer kehrten vom Fischfang nicht zurück. Auf dem Friedhof steht ein Gedenkstein für sie. Nach dem Krieg war die Thunfischzeit vorbei. Andere hatten bereits motorisierte Flotten. Die Achtung vor den Fischen blieb. Auf dem Kirchturm schwimmt noch immer ein Thunfisch statt des Wetterhahns im Wind. Heuer kommen die Thunfische gar nicht zur bretonischen Küste. Das Wasser ist zu warm.
– Es ist nicht warm. Es ist heiß, sagte der Bub. Es ist so heiß, dass ich fast keinen Schatten mehr habe.
– Am Nachmittag wird dein Schatten wieder wachsen, sagte sie.
– Ich sehe gar keinen Schatten, maulte das Mädchen, warum müssen wir bei der größten Hitze diese steile Straße hinaufgehen, warum haben wir das Gepäck nicht im Hafen gelassen? Wohin gehen wir eigentlich?
– Wir haben keinen Schatten, weil die Sonne bei dieser Hitze nicht arbeiten will, sagte der Bub, ich will auch nicht mehr arbeiten.
Er setzte sich auf seinen Koffer.
– Oben bei der Kirche gibt es bestimmt ein Café, sagte sie, dort rasten wir.
– Ich geh nicht weiter, sagte der Bub.
– Ich auch nicht, sagte das Mädchen.
– Ich möchte nicht in der prallen Sonne stehen bleiben, sagte sie, kommt jetzt endlich. Wenn euch die Ferien mit mir zu anstrengend sind, fahrt ihr im nächsten Sommer ins Ferienlager.
– Warum ins Ferienlager, sagte der Bub, mit dem Papa fahren wir in die Ferien, wir fahren nur mehr mit dem Papa fort, ich sag es ihm, dass wir die ganzen Ferien Koffer schleppen mussten, dass wir kein Eis bekommen, dass du Zeitungen liest und Wein trinkst.
Sie war wieder gestolpert. Im letzten Moment fand sie die Balance. Jetzt schmerzte auch der Knöchel. Sie biss sich auf die Lippen, um den Ärger und den Schmerz zu unterdrücken.
– Du hast schon wieder ein Ameisengesicht, sagte das Mädchen.
– Ameisengesicht, Ameisengesicht, spottete der Bub.
Die Insel hatte sich gegen sie verschworen. Sie schien sich vorgenommen zu haben, sie bei erster Gelegenheit abzuwerfen. Eine unbarmherzige Sonne verbrannte Schultern und Gesicht. Die Türen vor ihnen öffneten sich nur einen kleinen Spalt, als sollte auch die Luft am Eindringen gehindert werden. Nein leider, wir sind komplett. Nein, ich weiß nicht, ob noch jemand Zimmer vermietet, die sind alle voll, jetzt im Sommer. Auch der Kirchplatz war menschenleer. Das Café der Buchhandlung hatte Mittagspause, die Pizzeria bereits geschlossen, und in die Crêperie, in der noch Gäste bei einer Flasche Cidre saßen, ließ man sie nicht mehr hinein. Die Kellnerin wollte ihnen auch nichts über die Gasse verkaufen. Am Abend kommen Sie, am Abend haben wir wieder geöffnet, sagte das Mädchen und drängte sie höflich, aber bestimmt zur Tür.
– Ah, Madame Autrichienne, sagte Monsieur Maurice. Ich freue mich, dass Sie mich anrufen. Ich kann Ihnen helfen?
– Ja, wir benötigen Hilfe. Könnten wir das Gepäck bei Ihnen einstellen, bis wir ein Zimmer gefunden haben?
– Aber sicherlich, kein Problem, Madame. In unserem Ferienhaus ist Platz genug. Ich habe meiner Frau und den Kindern von Ihnen erzählt.
Die Motorsäge schnitt ins Holz. Sie schnitt in den gekrümmten Stamm der Mispel. Im Frühling Bienentosen in weißer Blütengischt, im Herbst Fruchtregen nach dem Blätterfall. Die runden, prallen Früchte erst genießbar nach dem Frost. Würzige Säure in braunem Fleisch zwischen Lederhaut und großen, harten Kernen.
Die Insel war vor 400 Millionen Jahren aus dem Meer getrieben worden, als zwei Platten der Erdkruste kollidierten. An der Oberfläche der Insel fanden sich Mineralien, die es sonst nur tief im Erdinneren gab. Die Kinder interessierten sich nicht besonders für die schematische Darstellung von erstarrtem Magma, für die Faltung von Gesteinsschichten, für das Entstehen von neuem Gestein unter großem Druck und Hitze. Im maison de la réserve naturelle drückten sie desinteressiert Knöpfe, um rote Lämpchen leuchten zu sehen. Sie waren ungeduldig, wollten sofort hinaus, um den roten Granatsand, die grün-blauen Glaukophanschichten, die glänzenden Quarzadern, die schwarzen Pyriteinlagerungen, Rutilnadeln und silbernen Glimmerplatten mit eigenen Händen zu fühlen. Aber derjenige, der genaue Auskunft über das Naturschutzgebiet hätte geben können, telefonierte und kritzelte blaue Wellen auf die Schreibunterlage. Natürlich möchten wir weitermachen. Es liegt an der Regierung und an der EU. Wir haben noch keine Nachricht. Wir wissen nicht, ob das Forschungsprojekt akzeptiert wird. Nein, wir haben keine Sponsoren … Der Mann hatte feste Oberarme, der Schwung des Bizeps ging über in den sanften Bogen des Schlüsselbeins auf der gebräunten Haut. Er trug ein ärmelloses T-Shirt, das die Wölbung trainierter Brustmuskeln erkennen ließ. Dunkle Haare rollten sich in den Achseln. Die Finger, die mit dem Kugelschreiber spielten, waren schlank und lang. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen Mann auf diese Weise angesehen zu haben. Sie wusste auch nicht mehr, ob sie beim Anblick eines Mannes einmal ein derartig heftiges Verlangen gespürt hatte. Wenn, dann musste es lange vor den Kindern in der anderen Zeit gewesen sein. Der Mann spürte, dass sie ihn betrachtete, und lächelte ihr zu. Als er das Telefongespräch beendet hatte, stand er auf und kam zu ihr.
Bonjour Madame. Bei diesem Wetter nicht im Wasser? Er stand so nah bei ihr, dass sie ihn riechen konnte und seinen Atem spüren. Der Geruch war nicht unangenehm. Sie machen mit mir einen Rundgang durch das Reservat? Sind das Ihre Kinder? Er beobachtete sie, wie sie in Glaskästen gefüllte Sandschichten kommentierten, und lächelte. Morgen, sagte er, morgen wandern wir, morgen Nachmittag ist die Ebbe günstig. Aber meine Führungen sind für Erwachsene, ich bin Geologe. Wir sehen Steine und lesen daraus die Geschichte der Erde. Kindern wird dabei meist langweilig. Wir werden sehen. Ich freue mich, wenn Sie morgen mitkommen.
Er sah sie an und lächelte. Dann nahm er ihre Hand. Seine Hand war so feucht wie die ihre. Es ist zu heiß, hatte der Mann gesagt, das ist nicht gut für unsere palmure. Sie hatte ihm beigepflichtet. Der Mann hieß Raoul. Sie hatten einen Treffpunkt für die Führung vereinbart. Sie hatte ihm einige Ansichtskarten abgekauft. Seltene Möwenarten, Algen im Sand, Heidekraut und Stechginster, Steine. Karten, die sie nicht abschicken würde. Sie blätterte im Wörterbuch. Palmure hieß Schwimmhaut. Sie wusste nicht, ob sie den Mann richtig verstanden hatte.
Vier Kilometer waren es bis zum Naturschutzgebiet an der Küste. Die Kinder wollten die Führung nicht abwarten, sondern sofort losziehen. Einwände ließen sie nicht gelten. Die Begeisterung der Kinder rührte sie. Ein Marsch in erbarmungsloser Hitze stand ihnen bevor. Raoul hatte ihnen eine Karte gegeben und einige Stellen eingezeichnet. Pointe des Chats, Trou de l’Enfer, Höllenloch, Sables Rouges, roter Sand. Sie wanderten über dürre Stoppelfelder. Schlehen mit reifblauen Früchten gaben den weiten braunen Flächen Struktur, und Brombeerhecken mit sonnenwarmen Beeren. Jemand schien Stanniolpapier auf der trockenen Erde verstreut zu haben. Es waren Steine, die in der Sonne glimmerten und glänzten.
– Ist das Silber?
– Nein, das ist Katzengold. Silikat. Die Kinder füllten sich die Taschen.
– Lasst doch die Steine, müsst ihr immer alles einstecken und mitnehmen?
Die Kinder hörten nicht auf sie.
– Es sieht doch niemand, sagte der Bub.
Der Bub hob einen flachen Stein auf, nahm Maß und zielte auf ihr Schienbein.
– Siehst du, es sieht niemand.
– Gehst du morgen mit dem Mann zu den Steinen?, fragte das Mädchen.
– Wir alle gehen mit Raoul zu den Steinen. Und zu den Vögeln. Es gibt hier seltene Möwenarten, Kormorane und große Raben.
– Ich will keine Führung, sagte das Mädchen. Warum gehen wir nicht an den Strand?
– Ich will auch keine Führung, maulte der Bub, Raoul wird es uns nicht erlauben, Steine mitzunehmen.
– Dann geht morgen Nachmittag mit den Kindern von Monsieur Soukop schwimmen, und ich treffe mich allein mit Raoul.
– Das erlaube ich nicht, sagte das Mädchen.
Trotz Karte hatte sie den falschen Weg eingeschlagen. Statt nach Keranpoulo waren sie Richtung Kerrobet unterwegs. Zusätzliche leere Kilometer. Sie ließ sich nichts anmerken. Niemand hatte daran gedacht, Wasser mit auf den Weg zu nehmen. Ihre Füße brannten, die große Zehe tobte und der Knöchel schmerzte. Die Begeisterung der Kinder für seltene Mineralien war verflogen. Sie hatten Durst. Die Brombeeren waren sauer, die Schlehen herb. Sie standen in einer ausgedörrten Landschaft, am Horizont ein kleiner weißer Weiler, und dahinter lag ihr Ziel, das Meer. Die Kinder wussten nicht, dass sie dann vom Naturschutzgebiet noch einige Kilometer Küstenweg trennten. Aber sie wussten, dass sie eine Mutter hatten, die für Abwechslung sorgen würde. Das Mädchen tanzte vor ihren Füßen herum, hinderte sie am Weitergehen und schnitt Grimassen. Der Bub schlich sich von hinten an, stach ihr seine Zeigefinger zwischen die Rippen und wieherte vor Vergnügen, weil sie zusammenzuckte. Dann nahm er Anlauf und versuchte, auf ihren Rücken zu springen. Als er es geschafft hatte, hängte er sich an ihren Hals und schrie: Hü, ich bin dein Reiter, hopp, hopp, hopp.
– Ich will auch, sagte das Mädchen und zerrte am Bruder.
– Schluss jetzt, sagte sie.
Die Kinder hörten nicht. Auf den nächsten Sprung war sie nicht vorbereitet. Sie verlor das Gleichgewicht. Zu dritt gingen sie zu Boden. Die Kinder wälzten sich lachend im Staub.
– Noch einmal!
Sie rieb sich ihren Knöchel. Die Zehe blutete wieder. Die Kinder waren erst zum Weitergehen zu überreden, als sie sich bereit erklärte, die Steine zu tragen. Ihre Badehaube, Schwimmsachen, Portemonnaie, Karten und Fotoapparat schleuderte der Bub auf den Acker und füllte die Umhängtasche mit vielen glänzenden Steinen.
Unter ihnen lag der Plages des Sables Rouges. Der rote Granatsand war an bestimmten Stellen angeschwemmt und zeigte den Verlauf der Strömung, wie sie unentwegt an Land züngelte. Noch war Flut und der Strand nur vom Wasser aus zu erreichen. Zwei junge Männer, die die Klippen entlang zum leeren Strand geschnorchelt waren, gingen an Land. Sie schauten den Hang herauf zu ihnen und riefen etwas, das sie nicht verstand. Die Burschen sahen sich an. Dann begannen sie mit ihren Füßen große Buchstaben in den Sand zu schreiben. Sie arbeiteten synchron. Einer links, einer rechts in einem bestimmten Rhythmus. Als sie fertig waren, blickten sie wieder zu ihr hinauf. PUTE stand im lodernden Sand und SALOPE. Salope kannte das Wörterbuch. Es bedeutete Schlampe. Das Wort Pute kannte sie. Sie trieb die Kinder hastig weiter. Sie protestierten, weil sie ihnen nicht sagen konnte, was da im Sand geschrieben stand.
Endlich waren sie am Wasser. Die Strapazen hatten sich gelohnt. Der Küstenabschnitt des Naturschutzgebietes mit seinen Silikatschichten flirrte im Sonnenlicht. Der Schotter der Bucht bestand aus blauen, grünen und silbernen Steinen mit Einschlüssen von rotem Granat und dunkel glänzendem Pyrit. Ein breites Quarzband mit symmetrischen Linien zog sich über die Bucht. Das Wasser kräuselte sich an den in blauen und grünen Wellen gepressten Schichten des Glaukophans. Die Kinder waren vorausgelaufen. Steinreich sind wir, schrie der Bub. In jeder Bucht wurde der Schotter feiner, bis er im letzten Abschnitt als Sand an den Strand gespült wurde. Schwarze, rote und weiße Flammen. Sie hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein, und ließ sich fallen. Sie spürte, wie der feuchte Sand unter ihr nachgab und sich sanft um die schmerzenden Füße legte. Sie lag gut im Sand und wollte liegen bleiben. Endlich liegen bleiben. Dem Meer zuhören, und eins werden mit ihm.
– Mama, rief das Mädchen aufgeregt, hier ist das Wasser ganz rot. Was ist das?
– Ist ein totes Tier im Wasser?
– Nein!
– Siehst du ein Abflussrohr?
– Nein!
– Siehst du Algen?
– Nein!
– Dann ist es Nixenblut.
– Nixenblut?
– Das wisst ihr nicht?
Es war Herbst, und ein junger Fischer rüstete sein Boot, um als Späher nach den Thunfischschwärmen Ausschau zu halten. Er stieß sich ab vom Ufer. Als er so weit hinausgerudert war, dass die Küste nur mehr ein schwarzer Strich war, hörte er einen seltsamen Gesang. Eine helle Stimme sang ein Lied in einer Sprache, die der Fischer nicht verstand, der Melodie nach war es ein trauriges Lied. Der Fischer folgte dem Klang. Plötzlich tauchte vor ihm ein Riff im Wasser auf. Auf dem Riff saß eine Frau mit wunderschönen langen Haaren. Sie sang. Rund um sie streckten Thunfische ihre silbernen Köpfe aus dem Wasser und wiegten sich mit den Wellen im Takt. Die Fische weinten. Neben der Frau auf dem Felsen lag eine Kappe aus Muscheln und Algen. Da wusste der Fischer, dass er eine Wasserfrau gefunden hatte. Wasserfrauen erkennt ihr daran, dass sie eine Kappe dabei haben. Mit ihr können sie unter Wasser atmen. Manche haben auch rote Schwimmhäute zwischen den Zehen. Als die Fische den Fischer bemerkten, stoben sie davon. Die Wasserfrau blieb sitzen und sah dem Fischer neugierig entgegen. Der Fischer hatte gehört, dass Wasserfrauen tüchtige Ehefrauen sind. Außerdem kennen sie das Meer und können so vor manchem Schiffbruch bewahren. Der Fischer fragte nicht lange. Er packte die Wasserfrau mit ihrer Kappe und brachte sie in sein Haus. Die Kappe versteckte er im Keller. Die Wasserfrau gebar dem Fischer zwei Kinder und führte den Haushalt. Sie war sehr tüchtig. An den Fenstern blitzten selbst gemachte Spitzenvorhänge, die Tür war blau gestrichen, im Haus lagen selbst gewebte blaue Teppiche, aus Algen konnte sie die besten Speisen kochen. Da fiel es nicht sonderlich ins Gewicht, dass sie stumm blieb, dass sie sich weigerte, dem Fischer beim Flicken der Netze zu helfen und dass sie oft schmerzende Beine hatte, so dass sie kaum ins Dorf kam und sehr zurückgezogen lebte. Eines Tages trug es sich zu, dass die Fischer vom Fischfang nicht zur vereinbarten Zeit zurückkehrten. Die Frauen versammelten sich unten am Strand, um Ausschau nach ihren Ehemännern zu halten. Nur die Wasserfrau blieb ruhig und unbesorgt. Aber die Erdäpfel gingen ihr aus. Bisher hatte immer der Mann Nachschub aus dem Keller geholt. Heute ging die Wasserfrau. An einem Haken sah sie ihre Haube hängen. Sie blieb lange im Keller, die Haube zwischen den Händen drehend. Dann setzte sie sich die Haube auf und ging hinauf. Sie küsste die Kinder, die beim Tisch saßen und Seegras für die Suppe schnitten. Sie humpelte zum Strand. Die Kinder spürten, dass mit ihrer Mutter etwas nicht stimmte, und liefen ihr nach. Die Wasserfrau ging an den wartenden Ehefrauen vorbei ins Wasser. Mutter, bleib stehen, schrien die Kinder. Die Wasserfrau stand bereits bis zur Hüfte im Wasser. Sie drehte sich um und schaute die Kinder an. Zuerst sah es aus, als würde sie umkehren. Aber dann fischte sie ein Blatt Fingertang aus dem Wasser, band sich damit die Haube fest und warf den Kindern einen letzten Kuss zu. Sie köpfelte in die Wellen und war weg. Kurze Zeit später kamen die Fischer in ihren Booten. Sie hatten reichen Fang gemacht. Sie wirkten sehr benommen und erzählten, dass sie einen schrecklich traurigen Gesang gehört hatten, als sie sich der Küste näherten. Von diesem Tag an aßen die Kinder keine Fische mehr. Sie hatten Angst, einen ihrer Verwandten zu verspeisen.
– Gehst du auch wieder zurück ins Wasser?, fragte das Mädchen.
– Ihr esst doch schon jetzt keine Fische mehr, sagte sie.
– In dieser Geschichte kommt kein Nixenblut vor, sagte der Bub.
– Da gibt es noch eine zweite Geschichte, sagte sie, und ich habe das Gefühl, da gibt es einen Zusammenhang.
Die Fischer blieben oft tagelang auf dem Meer. Die Arbeit daheim erledigten die Frauen. Sie sorgten für die Kinder und für die Alten, sie bestellten die Felder, versorgten das Vieh, ernteten Tang, um damit die Felder zu düngen, und suchten nach Holz für das Feuer, und wenn sie keines fanden, trockneten sie Kuhfladen, um Brennstoff zu haben. Die Frauen waren gewohnt, selbstständig zu arbeiten, und weil sie den Wert ihrer Arbeit kannten, ließen sie sich von niemandem etwas erzählen. Die Insel wurde deshalb am Festland auch die Insel der Hexen genannt, aber das ist eine andere Geschichte. Uns geht es um Folgendes: Eine Fischersfrau rückte aus, um bei Pen Men Algen zu ernten. Weil alle Familienangehörigen außer Haus waren, nahm sie ihre kleine Tochter in einem Korb zur Arbeit mit. Sie stellte den Korb in sicherem Abstand zum Meer in eine Felsnische und schärfte dem Kind ein, die Nische nicht zu verlassen. Ihr wisst, wie Kinder sind. Sie hören nicht auf die Mutter. Der Kleinen wurde bald langweilig, sie kletterte von der Nische herunter und stapfte zum Strand. Die Mutter stand auf der anderen Seite der Bucht im Wasser und stach Algen aus dem Meeresboden. Plötzlich lag ein sirrender Ton über dem Wasser, als hätte jemand das Meer in klingende Schwingungen versetzt. Eine Wasserfrau tauchte aus dem Wasser auf und planschte am Strand. Da war es schon zu spät. Die Frau sah mit an, wie sich die Sirene eine Muschelkette vom Hals nahm, das Kind mit wasserheller Stimme lockte, ihm die Kette umlegte und mit dem Kind in den Fluten verschwand. Die geschockte Mutter warf sich sofort ins Wasser. Weil aber Fischersleute nicht besonders gut schwimmen konnten, musste sie ihre Suche bald abbrechen. Das Dorf war in Aufruhr. Mehr als zehn Jahre hatte es keine Begegnung mehr mit Wasserwesen aus der anderen Welt gegeben. Zuletzt war die Frau des Fischers ins Meer zurückgekehrt. Auf Groix war noch nie ein Kind von einer Sirene geraubt worden. Aber es gab Erzählungen von fremden Fischern aus weit entlegenen Gebieten, wonach Sirenen unersättlich sein konnten. Bei einer Kanne Kaffee ersannen die Männer einen Plan. Am nächsten Tag kam die Frau hierher, an die Bucht von Locmaria, um Algen zu ernten. Wieder trug sie einen Korb. In dem Korb lag eine Puppe. Den Korb stellte sie auf einen Felsen, ganz nah zum Wasser. Die Puppe lag auf einem Leinensack, in den sie eine Katze gesteckt hatten. Die Katze versuchte verzweifelt, sich aus dem Gefängnis zu befreien. Von außen sah es aus, als würde ein Säugling mit Ärmchen und Beinchen in der Luft rudern. Die Frau entfernte sich vom Korb, um Algen zu sammeln. Es dauerte nicht lange. Wieder tönte das Meer. Die Wasserfrau kam an den Strand geschwommen und steuerte zuerst auf die Fischersfrau zu, als wollte sie ihr etwas sagen. Dann sah sie den Korb und wie es strampelte in ihm. Sie schwamm zum Felsen und stemmte sich hoch. In diesem Augenblick stürzten die Männer hinter den Klippen hervor und stachen zu, mit Harpunen, Spießen und Haken, mit denen sie sonst Thunfische ins Boot zogen. Andere schlugen mit Schaufeln und Stöcken auf die Wasserfrau ein. Nach einer Schrecksekunde stieß sie einen markerschütternden Schrei aus, der das Meer grollen und die Männer erstarren ließ. Dann tauchte sie weg ins Meer, das plötzlich unruhig geworden war. Im aufkeimenden Sturm hörte die Fischersfrau ein Kind weinen, ihr Kind. Die Nixe hatte es draußen, an den äußersten Klippen von Les Saisies, abgesetzt. Diese Felsen waren über das immer wütender werdende Meer nicht mehr zu erreichen. So kletterte sie mit bloßen Füßen auf das Riff hinaus, sie zerschnitt sich die Fußsohlen und stieß sich die Zehen blutig, aber es gelang ihr, das Mädchen vor den tobenden Wellen zu retten. Das Kind trug die Muschelkette um den Hals und dazu noch einige Granat- und Perlenketten. Schweigend kehrten die Fischer heim. Die Wunden an den Füßen der Fischersfrau verheilten nicht. Die Frau wurde schweigsam. Manchmal schleppte sie sich an den Strand, sah hinaus aufs Meer und wartete. Nur das Morgengrauen zeigte sich. Noch immer speien die Wellen hellrotes Nixenblut an den Strand.
Die Motorsäge traf auf Stein. Es war umgeschnitten, was umgeschnitten werden musste. Feuerbusch. Feuerdorn, Weißdorn, Rotdorn, Hahnendorn. Vogelbeere. Mehlbeere. Eisbeere. Speierling. Keine Zierhölzer mehr. Keine Wirtspflanzen für den Feuerbrand. Sperrzonen für Bienen und Vögel. Neubeginn mit resistenten Pflanzen in einem stummen, skalpierten Land.
Raoul legte ihr sonnenwarme Steine auf den Bauch. Sein Geruch hüllte sie ein. Nach Salz roch er, nach Algen und einer Spur Geißblatt. Noch nie hatte ihr jemand die Zehen geküsst. Sie lag gut im Sand. So würde sie liegen bleiben, bis sein Atem sie traf, sein Mund und die Finger. Sie würde sich formen lassen und neu entdecken. Sie würde mit Raoul vordringen in unerforschte Tiefen, bis zum Grund des Meeres und weiter, die Erdkruste durchstoßen und der kochenden Glut nahe sein.
Feuersteine explodierten, die Spritzer trafen sie unvermittelt. Zu schnell war sie zur Oberfläche aufgetaucht. Jetzt raste das Herz. Übermütiges Gelächter. Der Bub hatte sich angeschlichen und ihr eine Badekappenladung Meerwasser ins Gesicht geschüttet. Sie schlug nach dem Sohn.
– Warum tut ihr das, schrie sie die Kinder an, warum erschreckt ihr mich, warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?
– Du warst schon wieder ganz weit weg mit deinem Kopf, sagte der Sohn, noch immer lachend und zufrieden mit der erzielten Reaktion.
– Darf ich das nicht?
– Nein, du musst hier bleiben, bei uns.
Ein sirrender Ton lag in der Luft. Jemand hatte das Meer in klingende Schwingungen versetzt. Sie schrie. Sie schrie. Sie schrie.
Sie schrie sich weg von den Kindern, weg von den nassen Kleidern und brennenden Füßen. Sie schrie sich heraus aus den Ehejahren und fort von der Motorsäge und dem stummen, skalpierten Land. Sie schrie sich hinein in die erstarrten Wellen des blauen Gesteins und hinaus aufs Meer zu den silbernen Thunfischschwärmen. Sie schrie, bis sie ruhig wurde beim Schreien und leicht und das Schreien sie trug. Sie hatte ihre Sprache wieder gefunden. Sie schrie und schrie und hörte auch nicht auf, als das Meer Blütenwolken über den Himmel trieb und aus der Gischt eine Meerfrau neugierig zu ihr herübersah.