Winterkönig
 
(Ursula K. Le Guin)

 

 

Wenn Strudel auf dem vorwärtsdrängenden Strom der Zeit erscheinen und die Geschichte Haken schlägt, wie in der Nachfolge von Karhide, dann sind plötzlich Bilder zur Hand: Schnappschüsse, die vielleicht wirklich einmal aufgenommen wurden und nun dazu beitragen sollen, den jungen König mit dem alten, den Vater mit dem Sohn zu vergleichen, und die dazu vielleicht auch umgeordnet und hin und her geschoben werden, bis die Jahre wieder in der richtigen Reihenfolge laufen. Denn trotz der Tricks, die eine augenblickliche interplanetare Kommunikation und eine fast Lichtgeschwindigkeit erreichende Raumfahrt vorgaukeln, läßt sich Zeit (wie der Gesandte Axt bemerkte) nicht einfach umstoßen; noch läßt der Tod mit sich scherzen.

Wenn also das bekannteste Bild das jenes dunklen Gesichts eines jungen Mannes ist, der über dem alten steht, welcher tot in einem Raum am Boden liegt, nur erleuchtet von der sich in schummerigen Alkoven widerspiegelnden Stadt, leg es für eine Weile beiseite. Sieh dir zuerst den jungen König an, Stolz seines Volkes, strahlend und glückverheißend wie nur je ein Mann mit zweiundzwanzig; doch als dieses Bild aufgenommen wurde, lehnte er sich gegen eine Wand. Er war schmutzig, er zitterte, sein Gesicht war bleich und irr, denn er hatte jenes minimale Vertrauen in die Welt verloren, das man gemeinhin gesunden Menschenverstand nennt. Er wiederholte wieder und wieder in seinem Herzen, was er sich seit Stunden oder Jahren immer wieder gesagt hatte: »Ich will abdanken. Ich will abdanken. Ich will abdanken.« Vor seinem inneren Auge sah er die rot verkleideten Räume des Palastes, die Türme und Straßen von Ehrenrang im Schneefall, die lieblichen Ebenen am Westhang, die weißen Bergspitzen von Kargav, und er nannte sie alle. »Ich will abdanken«, sagte er leise und dann laut, schrie er, als sich ihm wieder jener in Rot und Weiß gekleidete Mann näherte und mitteilte: »Sir! Ein Attentat auf Ihr Leben wurde in der Artisan-Schule entdeckt«, und wieder setzten die brummenden Geräusche sanft ein. »Macht Schluß, macht Schluß«, flüsterte er, während er seinen Kopf in seinen Armen verbarg, doch das summende Gewinsel wurde höher und lauter und näher, bis es in sein Fleisch eindrang, an seinen Nerven bis zur Wurzel zerrte und seine Knochen tanzten und rasselten und nach seiner Melodie zuckten. Er zuckte und wand sich, nackte Knochen an dünnen weißen Fäden aufgereiht – und weinte trockene Tränen und rief: »Faßt sie – Faßt sie – Sie müssen – Hingerichtet – Aufhören – Aufhören!«

Es hörte auf.

Klatschend fiel er auf den Flur. Welcher Flur? Keine roten Ziegelsteine, kein Parkettboden, kein uringefärbter Zement, sondern der Holzboden im Zimmer im Turm, dem Turmzimmer, wo er sicher war, sicher vor dem alten verrückten, fürchterlichen Mann, dem König, seinem Vater. Dort im Schatten verbarg er sich vor der Stimme und der großen zupackenden Hand, die den Siegelring trug. Doch dort gab es kein Versteck, keine Sicherheit, keinen Schatten. Der schwarzgekleidete Mann kam sogar hierher und nahm seinen Kopf, hob ihn hoch, schob seine Augenlider hoch, die er zu schließen versuchte.

»Wer bin ich? Wer bin ich?«

Die leere schwarze Maske starrte auf ihn nieder, und der junge König kämpfte, stöhnte, denn nun würde er ersticken: er würde nicht armen können, bis er den Namen gehaucht hatte, den richtigen Namen – »Gerer!« – Er konnte atmen. Er durfte atmen, er hatte den Schwarzen rechtzeitig erkannt. »Wer bin ich?« fragte eine andere Stimme freundlich, und der junge König tastete nach der starken Gegenwart, die ihm stets Schlaf brachte, Trost und Frieden. »Rebade«, flüsterte er, »mein Gott, sag mir, was tun …«

»Schlafen.«

Er gehorchte. Tief und traumlos, denn das war wirklich: in Wirklichkeit war er tot. Nur im Traum brannte das fürchterlich trockene rote Licht der Sonne in seine offenen Augen, und er stand abermals auf dem Balkon des Palastes und starrte hinunter auf die Hölle von fünfzigtausend Menschen. Aus der Hölle ertönte ein krampfhafter Aufschrei wieder und wieder, ein schriller rhythmischer Aufschlag: sein Name. Sein Name klang in seinen Ohren wie Hohn und Schmach. Er schlug seine Hände auf das schmale Kupfergitter und brüllte zu ihnen ‘runter: »Ich werde euch zum Schweigen bringen!«

Er konnte seine Stimme nicht hören, nur ihre Stimmen, der verpestete Atem des Mobs, der ihn fürchtete und haßte, indem er seinen Namen schrie. »Kommen Sie fort, mein Fürst«, sagte die einzig freundliche Stimme, und Rebade zog ihn vom Balkon in den großen ruhigen Audienzsaal mit den roten Wänden. Das Geschrei verstummte, als habe man eine Maschine ausgeschaltet. Rebade wirkte wie immer ruhig und mitleidig. »Was werdet Ihr jetzt tun?« fragte er.

»Ich werde – ich werde ab – abdanken –«

»Nein«, sagte Rebade ruhig. »Das ist nicht richtig. Was werdet Ihr tun?«

Stumm und zitternd stand der junge König da. Rebade half ihm, sich auf sein Eisenbett niederzusetzen, denn die Wände hatten sich verdunkelt, wie sie es so oft taten, wenn sie sich um ihn zu einer schmalen Zelle zusammengezogen. »Rufen –?«

»Ruft die Palastwache. Laßt sie in die Menge schießen. Sie töten. Sie müssen eine Lektion haben.« Der junge König sprach rasch und entschieden, mit lauter hoher Stimme. Rebade sagte: »Gut, mein Fürst, eine weise Entscheidung. Richtig. Wir werden schon herauskommen: Ihr werdet es sehen. Vertraut mir, mein Fürst.«

»Ja. Ich vertraue Euch. Holt mich hier heraus«, flüsterte der junge König und ergriff Rebades Arm: aber sein Freund runzelte die Stirn. Das war nicht richtig. Er hatte Rebade und die Hoffnung vertrieben. Rebade ging nun, ruhig und traurig, obwohl der junge König ihn bat zu bleiben, zurückzukommen, denn wieder setzte das Geräusch langsam ein, das wimmernde Dröhnen, das sein Bewußtsein in Stücke zerriß, und schon näherte sich ihm der Mann in Rot und Weiß über einen roten, nicht enden wollenden Flur. »Sir! Ein Attentat auf Ihr Leben wurde in der Artisan-Schule entdeckt –«

 

Die Old Harbor Street hinab bis zur Wasserkante brannten hohläugig die Straßenlaternen. Wächter Pepenerer starrte während seiner Runde auf diese Leere hinab, auf das Licht, das nichts erwartete, und erblickte ein Wesen, das zu ihm heraufgestolpert kam. Pepenerer glaubte nicht an Klabautermänner, doch nun sah er einen, vom Meer durchnäßt, zitternd auf dünnen spinnenhaften Füßen, nach Luft japsend – er konnte das Japsen hören … Alte Seemannsmärchen entglitten seinem Bewußtsein, und er sah einen Mann, krank oder betrunken oder rauschgiftsüchtig, und er lief die Old Harbor Street hinab zwischen den leeren grauen Lagerhäusern und rief: »Nun denn! Bleibt sofort stehen!« Es war ein junger großer Bursche, halb nackt und irr dreinblickend. Selbst als er »Helft mir« keuchte und der Wächter ihm eine Hand hinstreckte, verlor er die Nerven, wich in plötzlicher Panik zurück und lief davon. Er lief ein paar Schritte, stolperte und fiel auf die vereisten Steine der Straße. Peperener zog seinen Revolver heraus und gab ihm 14 Sekunden der Betäubung, gerade genug, um ihn davon abzuhalten, wild um sich zu schlagen; dann kniete er sich neben ihn, stellte das Radio an und rief die Westwache, ihm ein Auto zu besorgen. Der Bursche lag bewegungslos wie ein Leichnam da, Augen und Mund halb geöffnet, die Arme von sich gestreckt, so wie er hingefallen war. Beide Arme am Bizeps und innen an den Unterarmen waren von Einspritzungen gezeichnet. Pepenerer machte eine kurze Atemprobe, doch konnte er nichts feststellen; wahrscheinlich befand er sich nicht auf einem Stadtbummel, sondern war zusammengeschlagen worden. Diebe oder eine rituelle Clan-Rache. Diebe hätten nicht den goldenen Ring an seinem Zeigefinger gelassen: ein massives, verziertes Ding, das fast bis zur Krümmung des Fingers reichte. Pepenerer kroch näher, um es anzusehen, dann wandte er den Kopf und betrachtete das geschlagene nackte Gesicht, das sich im Profil von den Pflastersteinen abhob und von den Straßenlaternen grell beschienen wurde. Pepenerer zog ein neues Kronenstück aus seiner Tasche und betrachtete das linke Profil, das in das glänzende Metall gegossen war, und dann wieder das rechte Profil, gegossen in Licht und Schatten und kalte Steine; dann hörte er das Summen des Wagens, der von dem Longway in die Old Harbor Street bog, steckte hastig die Münze fort und murmelte: »Verdammter Narr.«

König Argaven war jedoch zu jener Zeit in den Bergen zur Jagd und wollte dort ein paar Wochen bleiben; so stand es in allen Bulletins zu lesen.

 

»Sehen Sie«, sagte Hoge, der Arzt, »wir können davon ausgehen, daß sein Verstand deformiert wurde; doch hilft uns das nicht im geringsten weiter. In Karhide und Orgoreyn gibt es zu viele Leute, die im Deformieren des Verstandes Experten sind. Keine Verbrecher, die die Polizei vielleicht aufspüren könnte, sondern anerkannte Lehrer oder Ärzte. Und die Drogen sind für jeden Arzt erhältlich. Wenn sie irgend etwas aus ihm herausholen wollten, und wenn sie nur etwas Geschick besaßen, werden sie all das, was sie taten, dem rationalen Zugang versperrt haben. Alle Schlüssel werden zerstört, die auslösenden Suggestionen verborgen sein, und wir können einfach nicht erraten, welche Fragen zu stellen sind. Ohne Hirnzerstörung gibt es keinen Weg, alles in seinem Bewußtsein durchzugehen, und selbst unter Hypnose oder starkem Drogeneinfluß, was beides gefährlich ist, gibt es keine Möglichkeit, die eingepflanzten Ideen und Gefühle von seinen eigenen autonomen zu unterscheiden. Vielleicht könnten die Ausländer etwas tun, obwohl ich befürchte, daß sie mit ihrem Wissen über den Verstand eher angeben; doch wie dem auch sei, das liegt außer Reichweite. Wir haben nur eine wirkliche Hoffnung.«

»Welche wäre?« fragte Lord Gerer dumpf.

»Der König ist ein rascher und resoluter Mann. Am Anfang, bevor sie ihn fertig machten, mag er gewußt haben, was sie mit ihm vorhatten, und irgendeine Blockierung oder einen Widerstand errichtet haben, einen Fluchtweg …«

Hoges leise Stimme verlor an Vertrauen, während er sprach, und verflüchtigte sich in der Stille des hohen, roten, düsteren Raumes. Er erhielt keine Antwort von dem alten Mann, der schwarzgekleidet vor dem Feuer stand.

Die Temperatur in dem Königspalast von Ehrenrang betrug dort, wo Lord Gerer stand, 10 Grad, während sie zwischen den beiden großen Feuerplätzen nur 4 Grad betrug; draußen schneite es sacht, milde, –5 Grad. Frühling war dem Winter gefolgt. Die Feuer zu beiden Enden des Raumes glühten rot und golden und verzehrten die dicken Holzscheite. Pracht, ein herber Luxus, ein wüster Glanz, Feuerstätten, Feuerwerke, Blitze, Meteore, Vulkane, derartige Dinge befriedigten die Leute von Karhide auf der Winterwelt. Doch nur in den arktischen Kolonien oberhalb des 35. Breitengrades hatten sie Zentralheizungen während der fünfzehnhundert Jahre ihrer Herrschaft installiert. Komfort war selten, willkommen, aber ungesucht: ein glücklicher Zufall.

Korgry, der neben dem Bett saß, sah einen Moment lang den Arzt und den Lordkanzler an, doch sagte er nichts. Beide kamen gleichzeitig auf ihn zu. Das breite harte Bett, das hochbeinig auf vergoldeten Sockeln stand und mit schweren roten Decken und Kissen beladen war, präsentierte den Körper des Königs in ihrer Augenhöhe. Gerer erschien es wie ein regungslos schwimmendes Schiff, eine schnelle, unermeßliche Flut aus Dunkelheit, die den jungen König in Schatten, Ängste, Jahre davontrug. Dann stellte der alte Lord mit Entsetzen fest, daß Argavens Augen geöffnet waren und durch ein schmales Fenster zu den Sternen hinausblickten.

Gerer fürchtete Wahnsinn; Schwachsinn; er wußte nicht, was er fürchtete. Hoge hatte ihn gewarnt: »Er wird nicht ›er selbst sein‹, Lord Gerer. Er hat dreizehn Tage der Marter, der Einschüchterung, der Erschöpfung und der Bewußtseinsmanipulation hinter sich. Vielleicht hat er Hirnschäden zurückbehalten, sicherlich werden sich Neben- und Nachwirkungen der verschiedenen Drogen zeigen.« Weder Furcht noch Warnung vermochten den Schock aufzufangen. Argavens strahlende müde Augen wandten sich Gerer zu und ruhten einen Augenblick ahnungslos auf ihm: dann erkannten sie ihn. Und Gerer, wenn er auch nicht die schwarze Maske sich widerspiegeln zu sehen vermochte, sah den Haß, das Entsetzen, sah den jungen, unendlich geliebten König in tierischem Entsetzen keuchen und mit Korgry, mit Hoge, mit seiner eigenen Schwäche kämpfen, um wegzukommen, wegzukommen von Gerer.

Während er in der kalten Mitte des Raumes stand, wo das große bugartige Ende der Bettstätte ihn vor dem König verbarg, hörte der alte Lord, wie sie Argaven beruhigten und ihn wieder hinlegten. Argavens Stimme klang piepsig, kindlich anklagend. Auch der alte König, Emran, hatte während seines Wahnsinns mit der Stimme eines Kindes gesprochen. Dann trat Schweigen ein, und die großen Feuer brannten.

Korgry, der Leibdiener des Königs, seufzte und rieb sich die Augen. Hoge zog eine Spritze auf. Gerer stand verzweifelt da. Mein Sohn, mein Sohn, mein König, was haben sie mit dir gemacht? Eine so große Hoffnung, ein so süßes Versprechen, verloren, verloren … So stöhnte jener, der wie ein ungeschliffener schwarzer Felsblock, wie ein schwerer, unzivilisierter alter Mann aussah, und verging vor Leidenschaft, denn seine Liebe und Aufopferung für den jungen König waren ihm das einzig Wertvolle auf der Welt gewesen.

Argaven sprach laut: »Mein Sohn –«

Gerer schrak zusammen, denn er fühlte, wie die Worte aus seinem eigenen Bewußtsein stammten; doch Hoge, unbelastet von Liebe, begriff und antwortete Argaven leise: »Dem Prinzen geht es gut, Sir. Er und seine Mutter sind auf dem Schloß von Warlever. Wir stehen mit ihnen über Funk in ständiger Verbindung. Das letzte Mal war es vor ein paar Stunden. Alles ist in Ordnung.«

Gerer hörte, wie der König heftig atmete, und näherte sich ein wenig dem Bett, wenn er auch immer noch von dem rotdrapierten Kopfende verborgen war.

»War ich krank?«

»Ihnen geht es nicht gut, Sir«, sagte der Arzt höflich.

»Wo –«

»Sie sind in Ihrem eigenen Zimmer, im Palast von Ehrenrang.«

Doch Gerer kam näher, wenngleich Argaven sein Gesicht nicht sehen konnte, und sagte: »Ihr seid jetzt zu Hause. Wir wissen nicht, wo Ihr gewesen seid.«

Hoges glattes Gesicht zog sich in Falten, wenngleich er, Arzt, der er war und damit in gewisser Weise Meister von ihnen allen, es nicht wagte, die Falten direkt dem Lordkanzler zu zeigen. Gerers Stimme schien den König nicht zu beunruhigen, der ein paar weitere kurze und klare Fragen stellte, und dann wieder still dalag. Korgry, der die ganze Zeit bei ihm gesessen hatte, seitdem man ihn in den Palast gebracht hatte, vergaß in diesem Augenblick die Gegenwart Seiner Majestät: er rutschte von seinem hohen Stuhl herunter und ließ den Kopf seitwärts auf das Bett fallen und schlief ein. An der Tür fand flüsternd die Wachablösung statt. Beamte kamen und erhielten ein neues Bulletin über die Gesundheit des Königs zur öffentlichen Beruhigung, gleichfalls flüsternd. Der König, der während der Jagd im Kargav-Gebirge von heftigem Fieber überfallen worden war, wurde in einem Privatwagen nach Ehrenrang gefahren, wo er nun zufriedenstellend auf die Behandlung reagierte etc. Der Arzt, Herr Hoge rem ir Hoeremme, im Palast hat folgende Erklärung abzugeben, etc. etc. »Gott erhalte ihn«, sagten die Männer in den Hütten, während sie das Altarfeuer erneuerten; alte Frauen sagten: »Das kommt davon, wenn man sich des Nachts außerhalb der Stadt herumtreibt und in den verschneiten Abgründen jagt und solch verrückte Dinge macht«, doch sie ließen das Radio an, um das nächste Bulletin zu empfangen. Unzählige Menschen waren heute auf den großen Platz vor dem Palast gekommen und gegangen, hatten herumgestanden und geschwatzt und jene beobachtet, die ein und aus gingen, und den leeren Balkon; selbst jetzt noch warteten Hunderte von Menschen geduldig dort unten im Schnee. Argaven XVII. wurde in seinem Reich geliebt. Nach der dumpfen, brutalen Herrschaft seines Vaters Emran, die in den Schatten des Wahnsinns und dem Bankrott des Staates endete, war er gekommen: unerwartet, tapfer, jung, alles verändernd; gesund und klug, doch stets mit einem Anstrich von Großmut in allen seinen Handlungen. Er hatte das Feuer, den Glanz, seinen Leuten zu gefallen. Er war Kraft und Mittelpunkt eines neuen Zeitalters, der geborene König für das wahre Königtum.

»Gerer.«

Es war die Stimme des Königs, und Gerer eilte rasch und steif herbei, durch die Hitze und Kälte des großen Raumes, durch Feuerlicht und Dunkelheit. »Mein Herr?«

Argaven hatte sich selbst aufgerichtet. Seine Arme zitterten, und sein Atem ging schwer; seine Augen brannten sich durch die Dunkelheit auf Gerer. Seine linke Hand, die den Siegelring der Harge-Dynastie trug, ruhte neben dem schlafenden Gesicht seines Dieners, friedlich und gelassen. »Gerer«, sagte der König mit Anstrengung, aber bestimmt, »rufe den Rat zusammen. Sage ihnen, daß ich abdanken will.«

So roh, so einfach? All die Drogen, Terrorisierungen, die Hypnosen, Parahypnosen, Neuronenstimulationen, Elektroschocks, die Hoge beschrieben hatte, für dieses schlichte Ergebnis. Doch mußte man mit der Diskussion warten. Sie mußten Zeit gewinnen. »Sobald Sie wieder bei Kräften sind, Sir.«

»Nein. Jetzt! Ruf den Rat, Gerer!«

Dann schnellte er wie eine gespannte Bogensehne zurück und verfiel in eine Raserei aus Wut und Angst, die weder Sinn noch Kraft fand, sich ihrer selbst zu entledigen; und immer noch schlief sein treuer Diener neben ihm, taub für seine Höllenqualen.

Im nächsten Bild scheint es um die Dinge besser bestellt zu sein: hier erscheint König Argaven XVII. bei guter Gesundheit und in guter Kleidung, ein hübscher junger Mann, der gerade ein ausgiebiges Frühstück beendet. Er redet mit dem engeren Dutzend der vierzig oder fünfzig Mann, die mit ihm das Mahl teilen oder es ihm servieren (Einzigartigkeit gehört zu den königlichen Hoheitsrechten, doch selten Privatsphäre), und bezieht den Rest in die Größe seines Blickes und seiner Liebenswürdigkeit ein. Er sieht wieder, wie alle sagen, ganz wie er selbst aus. Doch vielleicht ist er nicht ganz derselbe mehr; etwas fehlt, eine gewisse jungenhafte Heiterkeit, die nun durch eine ähnliche, wenn auch weniger überzeugende Eigenschaft ersetzt worden ist, eine Art Unachtsamkeit. Davon abgesehen zeigt er sich geistreich und warm, doch immer wieder überkommt sie ihn, diese Dunkelheit, die ihn absorbiert und unachtsam macht: Angst, Schmerz, Auflösung?

Mr. Mobile Axt, bevollmächtigter Botschafter in Winter aus Ekumen in der Bekannten Welt, der die letzten sechs Tage auf der Straße verbracht hat, indem er versuchte, einen elektrischen Wagen von Mishnory in Orgoreyn nach Ehrenrang in Karhide schneller als fünfzig Kilometer zu fahren, hat das Frühstück verschlafen und erscheint jetzt in der Empfangshalle, pünktlich, doch hungrig. Der König ist noch nicht da. Der alte Vorsitzende der Ratsversammlung, des Königs Vetter Lord Gerer rem ir Verhen, trifft den Fremden an der Tür zur großen Halle und grüßt ihn mit der vielsilbigen Freundlichkeit von Karhide. Der Botschafter antwortet, so er es vermag, denn er erkennt unter der Beredsamkeit Gerers Wunsch, ihm etwas zu erzählen.

»Man sagte mir, daß der König wieder vollkommen von seiner Krankheit genesen ist«, sagt er, »und ich hoffe von Herzen, daß es wahr ist.«

»Nein, es ist nicht wahr«, sagt der alte Mann, und seine Stimme ist jetzt dumpf und tonlos. »Lieber Lord Axt, ich sage Ihnen das, weil ich Ihnen vertraue; nicht einmal zehn Mann in Karhide kennen die Wahrheit. Er ist nicht genesen. Er war nicht krank.«

Axt nickt. Natürlich, es hat Gerüchte gegeben.

»Manchmal möchte er allein in die Stadt gehen. Er entflieht seinen Begleitern und Wachen. Vor sechs Wochen kam er eines Nachts nicht zurück. Drohungen und Versprechen trafen noch dieselbe Nacht bei mir und dem zweiten Ratsvorsitzenden ein. Wenn wir sein Verschwinden bekanntgeben würden, würde er ermordet werden; wenn wir zwei Wochen schweigend abwarten würden, käme er zurück. Wir schwiegen, wir belogen seine Gattin, die in Warlever war, gaben falsche Nachrichten heraus. Dreizehn Nächte später fand man ihn am Wasser auf. Man hatte ihn Drogen und Hirnmanipulationen ausgesetzt. Welcher Feind oder welche Fraktion dahintersteht, wissen wir immer noch nicht, wir müssen vollkommen geheim arbeiten, wir dürfen das Vertrauen der Leute in ihn nicht zerstören – es ist schwer: Wir besitzen keinen Schlüssel, und er erinnert sich an nichts, was mit seiner Abwesenheit zusammenhängt. Doch warum sie es taten, ist klar. Sie zerstörten seinen Willen und pflanzten in sein Bewußtsein vor allem eine Sache ein: er glaubt, er müsse abdanken.«

Der Ton blieb leise und klar; die Augen verrieten Angst. Und der Botschafter, der sich plötzlich umdrehte, sah das Echo, die Entsprechung dieser Angst, in den Augen des jungen Königs.

»Halten Sie für mich Audienz, Cousin?«

Argaven lächelte, doch das Lächeln war von einem Messer durchschnitten. Der alte Kanzler entschuldigte sich schwerfällig, verbeugte sich, ging; ein alter linkischer Mann, der über einen langen roten Korridor eilte.

Argaven streckte dem Botschafter beide Hände entgegen als Gruß unter Gleichen, denn in Karhide wurde Ekumen als ein Bruderkönigtum anerkannt, obwohl noch nie ein Mensch dort gewesen war. Doch seine Worte waren nicht die höfliche Rede, die Axt erwartete. »Gott sei gedankt, daß Sie hier sind.«

»Ich fuhr fort, sobald ich Ihre Nachricht erhalten hatte. Die Straßen waren in Ost-Orgoreyn noch vereist und auch in West-Fall meilenweit hinter der Grenze; ich kam nicht sehr schnell voran. Doch war ich sehr erfreut zu kommen. Und gleichfalls sehr glücklich, fortzureisen.« Axt lächelte, während er das sagte, denn er und der junge König befanden sich in dem, was man ein intimes diplomatisches Gespräch nennen könnte. Was Argavens unerwartet persönliches Willkommen bedeutete, das zu erfahren, würde er abwarten.

»Orgoreyn ist ein Land, das Fanatiker ausbrütet, wie ein Leichnam Würmer ausbrütet, wie einer meiner Vorfahren einmal bemerkte. Ich freue mich, wenn Sie hier etwas Erholung finden. Obwohl auch wir unsere eigenen Fanatiker haben. Gerer erzählte Ihnen, daß ich entführt worden bin und so weiter? Ja. Ich würde gerne wissen, ob sie zu unseren eigenen Anti-Ausländer-Fanatikern gehören, die glauben, daß ihr Ekumen beabsichtigt, die ganze Erde zu versklaven. Doch wahrscheinlich gehören sie eher zu der alten Clan-Fraktion, die hoffen, durch mich neuen Einfluß zu gewinnen. Oder zu der Adeligen-Fraktion. In den letzten Jahren meines Vaters hatten sie fast die totale Kontrolle gewonnen; ich bin bei den Adeligen nicht sehr beliebt … Doch reden wir jetzt nicht davon. Es ist merkwürdig zu wissen, daß ich diese Männer von Angesicht zu Angesicht gesehen habe und sie doch nicht wiedererkenne. Wer weiß, ob ich diesen Gesichtern nicht täglich begegne? Doch was nützen derartige Gedanken. Sie haben alle ihre Spuren ausgewischt. Nur einer Sache bin ich mir sicher. Sie sagten mir nicht, daß ich abdanken muß.«

Er ging neben dem Botschafter durch den langen, enorm hohen Raum zu dem Podium und den Sitzen am anderen Ende. Die Fenster waren nicht viel mehr als schmale Schlitze, wie überall auf dieser kalten Welt; rötlichgoldene Sonnenstrahlen fielen diagonal durch sie auf den rotgepflasterten Boden und tanzten und schwirrten in Axts Augen. Er blickte auf in das Gesicht des jungen Königs, das sich in diesem düsteren, unruhigen Kreis befand. »Wer dann?«

»Ich war es.«

»Wann, mein Herr, und warum?«

»Als sie mich hatten, als sie mich ummodelten, damit ich mich ihrer Form anpassen und ihr Spiel spielen würde. Warum? Damit ich mich nicht ihrer Form anpassen und ihr Spiel spielen kann. Hören Sie, Lord Axt, wenn sie mich tot wünschten, hätten sie mich getötet: sie wollten, daß ich lebe, regiere, herrsche, König bin. Als solcher muß ich den Befehlen folgen, nach denen mein Hirn programmiert wurde, ihre Ziele für sie erreichen. Ich bin ihr Werkzeug: unwissend, doch bereit zum Gebrauch. Warum sonst hätten sie mich am Leben gelassen?«

All das kam hart und sehr rasch für Axt, doch er verstand schnell, eine der minimalen Qualifikationen eines Mobile der Ekumen; außerdem waren ihm die Affären von Karhide, die Belastungen und Unruhen dieses lebhaften Königtums wohl bekannt. So abgelegen und provinziell auch Winter war, so war doch seine dominierende Nation, Karhide, so weit wie irgendeine Bundesnation in Ekumen in dieser aus den Fugen geratenen Zeit, und stärker als viele. Axts Berichte wurden vor der Zentralversammlung in Ekumen achtzig Lichtjahre entfernt diskutiert; das Gleichgewicht des Ganzen ruhte in all seinen Teilen. Daher verstand Axt und dachte rasch, und er sagte, als sie sich auf den großen steifen Stühlen auf dem Podium niederließen: »Vielleicht – damit – Sie abdanken?«

»Und einen Sohn als Erben zurücklasse und einen Regenten meiner eigenen Wahl? Dadurch würden sie nicht viel erreichen.«

»Ihr Sohn ist ein Kind, und Sie sind ein sehr starker König … Wen würden Sie zum Regenten ernennen?«

Des Königs Stirn zog sich in Falten. Mit ziemlich rauher Stimme sagte er: »Gerer.«

Axt nickte. »Gewiß ist er nicht das Werkzeug irgendeiner Fraktion.«

»Nein. Er ist es nicht«, antwortete Argaven, doch ohne Wärme. Eine Pause folgte. »Ist es wahr, daß die … Wissenschaft auf Ihrer Welt das rückgängig machen könnte, was man mir angetan hat, Lord Axt?«

»Vielleicht. In dem Institut von Ollul. Doch wenn ich heute abend bei einem Spezialisten anfrage, wird er in vierundzwanzig Jahren hier sein … Ihnen ist nicht irgendeine spezifische Veränderung in Ihrem Verhalten bewußt –« Doch ein Junge näherte sich ihnen von hinten, setzte einen kleinen Tisch neben des Botschafters Stuhl und belud ihn mit Obstschalen, glacierten Bratäpfeln, einem Silberkrug mit Ale. Argaven hatte bemerkt, daß sein Gast das Frühstück versäumt hatte. Und obwohl das Essen in Winter, zumeist Gemüse und zumeist ungekocht, für Axts Geschmack langweiliges Zeug war, griff er dankbar zu. Da ein ernsthaftes Gespräch beim Essen unangebracht war, ging Argaven zu Allgemeinheiten über: »Sie sagten einmal etwas, Lord Axt, das zu implizieren schien, daß alle Menschen auf allen Welten Blutsbrüder sind. Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Nun, soweit wir wissen – was unter dem Raster des Universums soviel wie das Tausendstel eines Staubkörnchens bedeutet –, waren alle Wesen, denen wir begegneten, in der Tat Menschen. Doch die Blutsbrüderschaft geht auf einige fünfhundert oder fünftausend Jahre zurück, auf die Vor-Ära der Hain. Die alten Hains ließen sich auf hundert Welten nieder.«

Argaven lachte amüsiert. »Meine Harge-Dynastie regiert nun Karhide seit siebenhundert Jahren. Wir nennen die Zeit davor ›alt‹.«

»So nennen wir das Zeitalter des Feindes ›alt‹, und das liegt weniger als sechshundert Jahre zurück. Zeit dehnt sich und schrumpft zusammen, ändert sich mit den Augen, dem Alter, den Sternen, sie tut alles, nur daß sie selbst nicht wiederkehrt oder sich wiederholt.«

»Die Mächtigen der Ekumen träumen also davon, das wirklich alte Reich der Hain wiederherzustellen oder all die Welten der Menschen, all die verlorenen Welten um sich zu sammeln?«

Axt nickte und kaute an seinem Bratapfel. »Zumindest eine gewisse Harmonie zwischen ihnen herzustellen. Das Leben liebt, sich selbst zu kennen bis in seine entferntesten Grenzen. Die Komplexität zu umarmen, ist sein Entzücken. All diese Welten und die verschiedenen Arten und Wege von Bewußtsein und Leben auf ihnen: zusammen würden sie eine wirklich hinreißende Harmonie ergeben.«

»Keine Harmonie hält an«, sagte der junge König.

»Niemand hat es bislang erreicht«, sagte der Botschafter. »Das Vergnügen liegt im Versuch.« Er leerte seinen Becher und wischte sich seine Finger an der grasgewebten Serviette ab.

»Das war mein Vergnügen als König«, sagte Argaven. »Es ist vorbei.«

»Sir –«

»Es ist aus. Glauben Sie mir. Ich werde Sie so lange hierbehalten, Lord Axt, bis Sie mir glauben. Ich brauche Ihre Hilfe. Ich muß nicht über dieses Land herrschen. Ich kann nicht gegen den Willen des Rates abdanken. Sie werden gegen mich stimmen. Wenn Sie mir nicht helfen können, werde ich mich selber töten.«

Er sagte es gelassen, doch Axt wußte gut, daß Selbstmord in Karhide die letzte verachtungswürdige Tat war, unentschuldbar, jenseits von Mitleid.

»Das eine oder das andere«, sagte der junge König.

Der Botschafter zog seinen schweren Mantel fester um sich; ihn fror, er fror seit sieben Jahren, seit er nach Winter gekommen war. »Mein Herr«, sagte er, »ich bin ein Fremder auf Ihrer Welt, mit ein paar Hilfsmitteln und etwas Phantasie, dank deren ich mich mit anderen Fremden in den entlegenen Welten unterhalten kann. Ich repräsentiere Macht, aber ich habe keine, trotz meines Titels. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Sie haben ein Schiff auf der Horden-Insel.«

»Ach, das habe ich befürchtet«, sagte der Botschafter gelassen. »Mein Herr, das Schiff liegt startbereit für Ollul, vierundzwanzig Lichtjahre von hier entfernt. Wissen Sie, was das bedeutet?«

»Meine Flucht aus der Zeit, in welcher ich zu einem Instrument des Bösen geworden bin.«

»Flucht – es gibt keine Flucht«, sagte Axt, nicht mehr ganz so gelassen. »Nein, mein Herr. Verzeihen Sie mir. Absolut nicht – ich kann dem nicht zustimmen –«

Eisiger Regen schlug gegen die Steine des Turms, der Wind heulte in den Winkeln und Turmspitzen des Daches. Drinnen war es ruhig und schattig. Ein Windlicht brannte draußen an der Tür. Die Amme lag leise schnarchend in ihrem Bett, während das Baby in seiner Krippe schlief. Der Vater stand neben der Krippe. Er sah sich im Raum um, oder vielmehr nahm er den Raum wahr, ohne eigentlich hinzusehen, denn er kannte ihn selbst im Dunkeln; auch er hatte hier als kleines Kind geschlafen, hier war seine erste Domäne gewesen. Dann schlüpfte er mit seiner breiten Hand unter den kleinen herabhängenden Kopf und hob ihn vorsichtig hoch und hängte ihm eine Kette um, an der ein massiver Ring mit den Zeichen und Siegeln der Lords von Harge baumelte. Die Kette war viel zu lang, und Argaven band sie kürzer, denn er fürchtete, sie könnte das Baby verletzen. Während er dieser kleinen Angst nachgab, versuchte er, die große Furcht und Sorge, die ihn erfüllte, zu verdrängen. Er legte sein Gesicht gegen die Wange des Babys und flüsterte: »Oh, mein Sohn, lebe lang, regiere gut …« Dann drehte er sich um und verließ schweigend das Turmzimmer, Herz eines verlorenen Königtums.

Er kannte mehrere Wege, um unbemerkt aus dem Palast zu gelangen. Er nahm den sichersten und begab sich zum Neuen Hafen durch die hellerleuchteten, schneefreien Straßen, allein.

Nun existiert keine Möglichkeit mehr, ihn zu sehen. Mit welchen Augen will man einen Prozeß beobachten, der ein Hundertmillionstel langsamer ist als die Lichtgeschwindigkeit? Nun ist er weder König noch Mensch; man kann kaum jemanden als Sterblichen bezeichnen, dessen Zeit um siebzigtausend Zeiten langsamer verstreicht als die unsere. Er ist unberechenbar isoliert. Er scheint nicht viel mehr als ein unausgesprochener Gedanke zu sein; er geht nirgendwohin, so wie ein Gedanke nirgendwohin geht. Und dennoch reist er beinahe mit Lichtgeschwindigkeit. Er ist die Reise. Schnell wie ein Gedanke. Er hat sein Alter verdoppelt, wenn er in weniger als einem Tag jenen Teil erreicht hat, der sich über ein Staubkörnchen, Ollul genannt, wölbt, den vierten Planeten einer gelblichen Sonne. Und all dies geschieht in vollkommenem Schweigen.

Doch nun macht sich mit Lärm und Feuer und meteorischer Raserei, die eines Karhiders Lust an Glanz befriedigt hätte, das kluge Schiff bereit zum Erdfall und flammt genau an der Stelle auf, die es vor einigen fünfundfünfzig Jahren verließ; und sichtbar, schwerelos, unsicher tritt er hervor und bleibt einen Augenblick lang am Ausgang stehen, während er seine Augen vor einer heißen, fremden Sonne schützt.

Axt hat natürlich eine Nachricht von seinem Kommen über einen sofort wirkenden Sendeapparat geschickt, vor vierundzwanzig Jahren oder siebzehn Stunden, je nachdem, von wo aus man es betrachtet. Bauern bewegen sich nicht unbemerkt von den Spielern des großen Spiels, und dieser Mann, der ihnen in die Hände gefallen war, war kein Bauer. Einer von ihnen hatte ein paar Monate der vierundzwanzig Jahre damit verbracht, Karhidisch zu lernen, so daß Argaven mit jemandem sprechen konnte. Seine ersten Worte war die Frage:

»Neuigkeiten von Karhide?«

»Mr. Mobile Axt und sein Nachfolger habe regelmäßig Zusammenfassungen der Ereignisse und private Botschaften für Sie übersandt; Sie werden das gesamte Material in Ihrem Quartier finden, Mr. Harge. Um es kurz zusammenzufassen, die Regentschaft verlief ohne besondere Ereignisse, abgesehen von einer Depression in den ersten Jahren. Ihre arktischen Niederlassungen waren zu der Zeit abtrünnig geworden, aber Orgoreyn hat erst vor kurzem ein ähnliches Experiment mit dem südpolaren Kontinent hinter sich. Ihr Sohn wurde mit achtzehn Jahren auf den Thron gesetzt, er regiert also jetzt seit sieben Jahren.«

»Ja, ich sehe«, sagte der Mann, der letzte Nacht diesen einjährigen Sohn geküßt hatte.

»Ich möchte Ihnen sagen, Mr. Harge, daß, wann immer Sie dazu in der Lage sind, die Spezialisten an unserem Institut in Belixt –«

»Wie Sie wünschen«, sagte Mr. Harge.

Sie drangen sehr vorsichtig und behutsam in sein Bewußtsein ein, um die Türen zu öffnen. Für verschlossene Türen hatten sie delikate Maschinen, die stets die Kombination herausfanden. Sie fanden den Mann in Schwarz, der nicht Gerer war, und den mitleidigen Rebade, der nicht mitleidig war; sie standen mit ihm auf dem Balkon des Palastes und erstiegen mit ihm durch die Abgründe des Alptraums das Zimmer im Turm; und schließlich näherte sich jener, der der erste zu sein hatte, jener Mann in Rot und Weiß mit den Worten: »Sir! Ein Attentat auf Ihr Leben –« Und Mr. Harge schrie in tiefstem Entsetzen auf und erwachte.

»Gut! Ich denke, das war der Auslöser. Das Signal, das die anderen Instruktionen nach sich zog und den Verlauf Ihrer Phobie bestimmte. Eine induzierte Paranoia. Wirklich wundervoll induziert, muß ich sagen. Hier, trinken Sie das, Mr. Harge. Nein, es ist nur Wasser. Sie hätten sehr gut ein ausgesprochen bösartiger Herrscher werden können, mehr und mehr von der Furcht vor Plots und Verschwörungen besessen und mehr und mehr Ihrem Volke abgeneigt. Natürlich nicht über Nacht. Es hätte mehrerer Jahre bedurft, bis Sie ein wirklich unduldsamer Tyrann geworden wären; also planten sie zweifellos ein paar Verstärker für den Weg. Nun, ich verstehe, warum Karhide einen so guten Ruf genießt, bis nach Clearinghouse. Wenn Sie meine Objektivität verzeihen, diese Art von Geschicklichkeit und Geduld ist sehr selten …« Und so schwatzte der Doktor, der Bewußtseinsverbesserer, der haarige grünlichschwarze Mann von irgendeiner Cetian-Welt, weiter, während der Patient sich erholte.

»Dann habe ich richtig gehandelt«, sagte Mr. Harge schließlich.

»Ja. Selbstmord, Abdankung oder Flucht waren die einzigen konsequenten Täten, die Sie mit eigenem Willen begehen konnten. Sie rechneten mit Ihrem moralischen Veto, das Selbstmord verbietet, und mit dem Veto des Rates, das Abdankung verbietet. Doch selbst von Ehrgeiz besessen, rechneten sie nicht mit der Möglichkeit der Selbstverleugnung und ließen eine Tür für Sie offen. Nur ein Mann von sehr starkem Bewußtsein (wenn Sie mir das Wortspiel erlauben) konnte sich dieser einen Alternative bedienen, wie Sie es taten … Nun, ich glaube, man wünscht Sie im Clearinghouse zu sehen, um Ihre Zukunft zu besprechen, nun, da wir Ihre Vergangenheit wieder dahin gerückt haben, wohin sie gehört – äh?«

»Wie Sie wünschen«, sagte Mr. Harge.

Er sprach mit bestimmten Persönlichkeiten dort im Clearinghouse der Ekumen für die Westlichen Welten; und als sie ihm vorschlugen, zur Schule zu gehen, stimmte er sofort zu. Denn unter diesen sanften Personen, deren wesentliche Eigenschaft eine kühle, tiefe Traurigkeit, ununterscheidbar von einer warmen, tiefen Heiterkeit war – unter ihnen sah sich der Exkönig von Karhide selber wie ein ungebildeter und unwissender Barbar.

Er besuchte die Ekumenische Schule. Er lebte mit anderen Außenweltlern und Fremden in Baracken nahe dem Clearinghouse in Vaxtsit-City. Da er nie viel für sich selber besessen und irgendeine Art von Privatleben überhaupt nicht gekannt hatte, störte ihn das Barackenleben nicht. Auch störte ihn sonst kaum etwas, während er seine Arbeiten und Tage mit Energie und Kompetenz, doch stets mit einer gewissen Kopflosigkeit verbrachte. Die einzige Unbequemlichkeit, die er als solche wahrnahm, war die Hitze, die fürchterliche Hitze von Ollul, die manchmal während jener sengenden, nicht enden wollenden Zeiten bis zu 30 Grad erreichte, wenn über zweihundert Tage lang kein Schnee fiel. Selbst wenn der Winter kam, schwitzte er, denn draußen sank die Temperatur niemals unter –5 Grad, und die Baracken wurden immer warm gehalten. Er schlief auf seinem Bett, nackt und zerschlagen, und träumte vom Schnee in Kargav, dem Eis in Old Harbor, dem Eis, das das Ale an kalten Morgen im Palast zum Schäumen brachte, der Kälte, der lieben und bitteren Kälte von Winter.

Er lernte eine ganze Menge. In seinen allerersten Tagen auf Ollul hatte er bereits gelernt, daß die Erde hier Winter genannt wurde, und Ollul war die Erde: eine jener Tatsachen, die das Universum von innen nach außen kehrte wie einen Socken. Er hatte gelernt, daß Fische nicht notgedrungen Warmblütler sein mußten, daß es besser ist, die Leihgabe eines perifthenianischen Gatten nicht anzunehmen, daß Fleischkost in einem nicht daran gewöhnten Magen Durchfall verursacht und daß, wenn er Ollul wie Orrur aussprach, einige Leute lachten. Auch versuchte er zu verlernen, daß er ein König war. Sobald ihn die Herrschenden von Ekumen in der Hand hatten, lernte und verlernte er sehr viel.

Er wurde durch all die Apparate und Erfindungen und Erfahrungen und Worte, die den Ekumen zur Verfügung standen, mit dem vertraut gemacht, was es bedeutete, Beschaffenheit und Geschichte eines Königtums zu verstehen, das eine Million Jahre alt war und Tausende von Millionen Meilen entfernt war. Als er anfing, die enorme Größe dieses Königtums von Menschen und die beständige Qual und monotone Einöde seiner Geschichte zu erraten, begann er gleichfalls zu sehen, was hinter seinen Grenzen von Raum und Zeit lag, und zwischen den nackten Felsen und schmelzenden Sonnen und der reinigenden Verwüstung, die weiter und weiter um sich griff, erblickte er flüchtig die Ursprünge von Heiterkeit und Gelassenheit, die unerschöpflichen Quellen. Er lernte sehr viele Fakten, Zahlen, Mythen, Epen, Proportionen, Beziehungen und so weiter und sah hinter den Grenzen dessen, was er als das Unbekannte erkannt hatte, eine strahlende Unermeßlichkeit. In dieser Erweiterung seines Bewußtseins und Dortseins lag eine große Befriedigung; dennoch, er war unzufrieden. Auch ließen sie ihn oft in bestimmte Gebiete nicht so weit eindringen, wie er gewünscht hätte, in der Mathematik und Physik zum Beispiel. »Sie begannen spät, Mr. Harge«, sagten sie, »wir müssen zunächst an den Fundamenten bauen. Sie sind nicht dazu erzogen, ein Student zu sein, sondern ein Handelnder, und wir wollen Sie lehren, was Sie einmal gebrauchen können.«

»Wie gebrauchen?«

Sie – der Enthnograph Mr. Mobile Gist repräsentierte Sie in diesem Moment über den Tisch der Bibliothek hinweg – sahen ihn sardonisch an: »Glauben Sie von sich selber, daß Sie nicht mehr zu gebrauchen sind, Mr. Harge?«

Mr. Harge, der im allgemeinen sehr reserviert war, antwortete mit plötzlicher Wut: »Ja, Mr. Gist.«

»Ein König ohne Reich«, sagte Gist in seinem schweren Terran-Akzent, »in freiwilliger Verbannung, von Frau und Sohn und seinem ganzen Volk totgeglaubt, wird sich, wie ich vermute, etwas überflüssig fühlen … Aber warum, glauben Sie, kümmern wir uns um Sie?«

»Aus Nettigkeit«, sagte der junge Mann.

»Oh, Nettigkeit … Wie nett wir auch immer sein mögen, wir können Ihnen nichts geben, das Sie glücklich machen würde, Mr. Harge, außer … Nun, es wäre Zeitverschwendung. Sie wären zweifellos der richtige König für Winter, für Karhide, für die Ziele der Ekumen. Sie haben ein Gespür für Gleichgewicht. Sie hätten wahrscheinlich den Planeten vereinigt und Sie hätten Ihren Staat nicht reglementiert, wie es Ihr Sohn zu tun scheint. Doch läßt das Netz sich nicht entwirren. Aber bedenken Sie unsere Hoffnungen und Nöte, Mr. Harge, und Ihre Qualifikationen, bevor Sie an Ihrem Leben verzweifeln. Fünfzig, sechzig weitere Jahre haben Sie zu durchlaufen …«

 

Ein letzter Schnappschuß, von fremdem Sonnenlicht aufgenommen, aufrecht, in einem grauen Gewand, steht ein hübscher Mann von ungefähr Dreißig, der reichlich schwitzt, auf einem grünen Rasen neben dem Chefregenten der Ekumen in den Westlichen Welten, dem Stabile Mr. Hoalans von Alb, der verändern und, bis zu einem gewissen Maß, das Schicksal von zweiundvierzig Welten kontrollieren kann.

»Ich kann Ihnen nicht befehlen, dorthin zu gehen, Argaven«, sagt der Stabile. »Ihr eigenes Bewußtsein –«

»Ich habe mein Königreich meinem Bewußtsein geopfert, vor zwölf Jahren. Es hat seine Schuldigkeit getan. Genug ist genug«, sagt der junge Mann. Dann lacht er plötzlich, so daß auch der Stabile lacht; und sie scheiden in solcher Harmonie, wie es sich die Herrschenden der Ekumen zwischen Menschen wünschen.

Horden-Insel, an der Südküste von Karhide, war den Ekumen als Freilehen von dem Königreich Karhide unter der Herrschaft von Argaven XV. übergeben worden. Niemand lebte dort. Alljährlich krochen Generationen von Seefüßlern die unfruchtbaren Felsen der Insel hinauf und legten und brüteten ihre Eier aus und nährten ihre Jungen, bis sie sie schließlich im Gänsemarsch in die See zurücktrieben. Aber alle zehn oder zwanzig Jahre brach ein Feuer über der ganzen Insel aus und das Meer brannte an seinen Ufern, und wenn sich irgendwelche Seefüßler an den Stränden befanden, starben sie.

Wenn das Meer den Brand beruhigt hatte, näherte sich das kleine elektrische Schiff des Botschafters. Das Sternenschiff ließ seine Gangway aus hauchdünnem Stahl auf das Schiff herab, und ein Mann näherte sich von oben, während ein anderer von unten kam, so daß sie sich in der Mitte in der Luft zwischen See und Land trafen, ein zwielichtiges Treffen.

»Mr. Ambassador Horrsed? Ich bin Harge«, sagte der Mann aus dem Sternenboot, aber während er sprach, kniete der Mann aus dem Seeboot nieder und sagte laut in Karhidisch: »Willkommen, Argaven von Karhide!«

Als er sich erhob, flüsterte er schnell noch: »Sie sind als Sie selber gekommen – Erkläre alles, sobald ich kann –« Hinter und unter ihm auf dem Deck des Schiffes stand eine große Menschengruppe, die den Neuankömmling mit grimmigen Gesichtern anstarrte. Ihrem Aussehen nach waren es alle Karhiden, manche sehr alt.

Mr. Harge stand ein, zwei, drei Minuten da, aufrecht und völlig bewegungslos, wenn auch sein Gewand in dem Wind wehte und sich bauschte. Er blickte zu der matten, orangefarbenen Sonne im Westen, dann zu dem grauen Land nördlich des Wassers, dann wieder zurück zu den schweigenden Menschen, die ihn beobachteten. Dann trat er so plötzlich vor, daß der Botschafter Horrsed hastig zur Seite treten mußte. Dann ging er auf das Deck zwischen die schweigenden Männer und sprach zu einem der alten. »Bist du Ker rem ir Kerheder?«

»Der bin ich.«

»Ich erkenne dich daran, Ker – dem lahmen Arm.« Er sprach deutlich; man konnte nicht erahnen, welche Gefühle er hatte. »Ich erriet es eigentlich. Sind da noch mehr unter euch, die ich kenne? Ich kann euch nicht wiedererkennen. Sechzig Jahre –«

Sie schwiegen. Er sagte nichts mehr.

Ganz plötzlich kniete einer von ihnen eifrig nieder, ein Mann, vom Alter gemeißelt und gezeichnet wie ein Stück Holz, das im Feuer gelegen hatte. »Mein König, ich bin Bannith von der Königlichen Leibwache, Ihr dientet mit mir, als ich Exerziermeister war und Ihr ein Junge, ein kleiner Junge«, und er senkte sein kahles Haupt nieder in Ehrfurcht, oder um ein paar rasche greisenhafte Tränen zu verbergen. Ein paar andere knieten nieder, steif und schwach, und senkten ihre kahlen und grauen und weißen Köpfe nieder; die Stimmen, die ihn als König grüßten, zitterten vor Erregung und Alter. Einer, Ker mit dem verkrüppelten Arm, hob sein grimmiges, zerfurchtes Gesicht (Argaven hatte ihn als schüchternen Jungen von dreizehn gekannt) und sprach zu jenen, die immer noch bewegungslos Argaven beobachteten: »Er ist es. Ich habe Augen, die ihn gesehen haben und die ihn jetzt sehen. Er ist der König.«

Ein oder zwei der jüngeren Männer knieten ebenfalls nieder. Die meisten taten es nicht. Argaven sah sie an, von Angesicht zu Angesicht, einen nach dem anderen.

»Ich bin Argaven«, sagte er. »Ich war König. Wer regiert jetzt in Karhide?«

»Emran«, antwortete einer.

»Mein Sohn?«

»Euer Sohn Emran«, sagte der alte Bannith, aber Ker rief wütend: »Argaven, Argaven regiert in Karhide: Ich habe gelebt, um die strahlenden Tage der Rückkehr zu sehen. Lang lebe der König!«

Einer der jüngeren Männer sah die anderen an. »So sei es«, sagte er. »Lang lebe der König!« Er kniete, und sie alle knieten.

Argaven nahm ihre Huldigung gelassen entgegen, doch als sich ihm später die Gelegenheit bot, wandte er sich zu Horrsed, dem Botschafter, und fragte: »Was ist das? Was geschah mit meinem Land? Erwartete der Stabile, daß das geschehen würde, und warnte mich nicht? Ich wurde hierher geschickt, Euch zu assistieren, als ein Gehilfe der Ekumen –«

»Das war vor vierundzwanzig Jahren«, sagte der Botschafter. »Es ist schlecht um Euer Land bestellt, und König Emran hat die Beziehungen zu Ekumen abgebrochen. Ich weiß nicht genau, was die Absicht des Stabiles war, Euch hierher zu schicken, als er es damals tat; aber gegenwärtig sind wir dabei, unser Spiel hier zu verlieren; und so schlugen mir die Herrschenden von Hain vor, daß wir unseren König ausspielen sollten.«

»Aber ich bin tot«, sagte Argaven. »Ich bin seit sechzig Jahren tot, Mann!«

»Der König ist tot«, sagte Horrsed, »lang lebe der König.«

Als sich dann einige der Karhider näherten, wandte sich Argaven von dem Botschafter ab und ging hinüber zur Reling. Graues Wasser blubberte und glitt geschäftig an der Seite des Schiffes ab. Die Küste des Kontinents lag nun zu ihrer Linken, grau und weiß gesprenkelt. Es war kalt: ein früher Wintertag im Eiszeitalter einer öden Welt, wo Menschen nur in den Tropen lebten und die Jahreszeiten von kalt zu kälter wechselten. Die Maschine des Schiffes tuckerte leicht. Argaven hatte das Tuckern einer elektrischen Maschine nun seit einem Dutzend Jahren nicht mehr gehört, die einzige Art von Maschinen, die Karhides langsames und beständiges Zeitalter der Erfindung auserkoren hatte zu verwenden. Das Geräusch war ihm sehr angenehm. Er sprach abrupt, ohne sich umzudrehen, wie einer, der es von Kindheit an gewohnt ist, daß es stets jemanden geben wird, der ihm antwortet. »Warum fahren wir ostwärts?«

»Wir wollen nach Kerm-Land, Sir.«

»Warum Kerm-Land?«

Es war einer von den jüngeren Männern mit leuchtenden Augen, ein kräftiger Bursche, der ihm antwortete. »Weil sich jener Teil des Landes in offener Rebellion gegen den – gegen König Emran befindet, Sir. Ich bin Kermländer; Perreth ner Sode, zu Diensten.«

»Ist der König in Ehrenrang?«

»Ehrenrang wurde vor sechs Jahren von Orgoreyn übernommen. Der König ist in der neuen Hauptstadt – der Alten Kapitale, in Wirklichkeit, Rer.«

»Er verlor West-Fall?« fragte Argaven und wandte sich dann dem kräftigen Edelmann ganz zu. »Er verlor West-Fall? Er verzichtete auf Ehrenrang?«

Perreth wich zurück, doch antwortete er prompt, und in seine Augen trat ein plötzlicher Glanz von Überzeugung. »Wir halten uns seit sechs Jahren hinter den Bergen versteckt.«

»Hält der Aufstand noch an?«

»König Emran unterzeichnete ein Abkommen mit der Konföderation von Orgoreyn vor fünf Jahren und trat an sie die westlichen Provinzen ab.«

»Ein beschämendes Abkommen, Sir!« fiel der alte Ker ein, wütend und stammelnd. »Ein Narrenabkommen! Emran tanzte nach den Trommeln von Orgoreyn. Wir hier sind alles Rebellen und Verbannte – der Botschafter dort ist ein Verbannter, auf den ein Kopf preis ausgesetzt wurde!«

»Er verlor West-Fall«, sagte Argaven. »Wir gewannen West-Fall für Karhide vor siebenhundert Jahren –« Er sah die anderen mit seinem sonderbaren, durchdringenden, ziellosen Blick an. »Wie stark seid ihr in Kerm-Land? Welche Provinzen sind auf eurer Seite? Über welche Kräfte verfügt ihr? Wo steht der Adel?«

»Gegen uns; das Land ist überwiegend mit uns.«

Argaven war eine Weile still.

»Hat er inzwischen einen Sohn?«

»Er hatte. Der Prinz fiel in einer Schlacht im Westen vor sechs Jahren.«

»Er diente bei der Leibwache, wie Ihr es tatet, Sir«, warf der alte Bannith ein. »Er starb auf dem Rückzug aus Ehrenrang, siebzehn Jahre alt –«

»Der Erbe ist Givry Harge rem ir Orek, Sir«, sagte Perreth.

»Wer zum Teufel ist das? – Wie war der Name des Prinzen? Der König hatte keinen Sohn, als ich meine Reise hier begann.«

»Sein Name war Argaven.«

 

Nun, zum Schluß, kommt das dunkle Bild, der Schnappschuß bei Feuerlicht – Feuerlicht, denn die Stromanlagen von Rer sind zerstört, die Fernleitung unterbrochen, und die halbe Stadt steht in Flammen.

Schnee fällt schwer auf die Flammen und glüht einen Moment rot auf, bevor er in der Luft schwach zischend zerschmilzt.

Schnee und Eis und Partisanen hielten Orgoreyn an der Westseite des Kargav-Gebirges in Schach. Niemand kam dem Alten König, Emran, zur Hilfe, als sein Land sich gegen ihn erhob. Seine Armee ist geflohen und seine Stadt brennt, und nun am Ende wird er von Angesicht zu Angesicht mit dem Usurpator konfrontiert. Aber er hat schließlich etwas von der Arroganz seines Vaters: er schenkt den Rebellen keine Achtung. Er starrt auf sie und sieht sie nicht, den Rücken gegen die dunkle Flurwand gelehnt, erleuchtet nur von den Spiegeln, die das entfernte Feuer reflektieren, wo er sich tötet.

Sich über ihn beugend, hebt Argaven seine Hand, die Hand eines alten Mannes, breit und hart, und versucht von dem Zeigefinger den massiven, verzierten Goldring zu ziehen. Aber er tut es nicht. »Mag er ihn behalten«, sagt er, »mag er ihn tragen.« Für einen Moment beugt er sich noch tiefer hinab, als wolle er dem toten Mann etwas ins Ohr flüstern oder seine Wange gegen das rauhe, kalte Gesicht legen. Dann richtet er sich auf und steht eine Weile da und geht nun durch die dunklen Flure – vorbei an Fenstern, in denen entfernt das Chaos des Zusammenbruchs widerscheint –, um sein Haus in Ordnung zu bringen und seine Herrschaft anzutreten: Argaven, Winterkönig.