Der Böse
(This corruptible)
 

Jacob Transue

 

 

Und so würden sie sich nach fünfunddreißig Jahren wieder Angesicht in Angesicht gegenüberstehen.

Andrew stellte sein Auto unter eine große weiße Kiefer und stellte den Motor ab. Das sah ja hier nicht gerade nach viel aus. Ein alter Förderwagen stand zwischen den beiden Bergwerkshütten herum, eine Scheune lehnte sich gegen den Waldrand, nach Süden hin eine ungemähte Wiese voller Gänseblümchen und schwarzäugiger Margeriten.

Andrew stieg aus dem Auto und stand im Schatten der Kiefer. Ein Gefühl des Unbehagens steigerte sich in ihm jählings. Natürlich, er war allein hier draußen. Er war nicht mehr gewohnt, allein zu sein. Er pflegte immer mit einem Schwarm von Sekretärinnen, Dienstboten und verschiedenen ausgewählten Speichelleckern zu reisen. Er fühlte sich nackt.

Es hätte eigentlich erfrischend wirken müssen. Keine Flugzeuge, keine Autos, keinerlei Maschinen irgendwelcher Art. Nichts als das Surren der Sommerinsekten. Eine Wildnis. Alles könnte hier draußen geschehen, und niemand würde es je erfahren.

Unsinn. Paul war ein Wissenschaftler. Menschen wie er waren zu selbstsüchtig, zu eindimensional, als daß sie wegen etwas derartig Sterilem wie einer Rache ihre Arbeit zu unterbrechen riskierten. Paul war immer schon ein Geheimniskrämer gewesen. Es war typisch für ihn, darauf zu bestehen, daß Andrew allein kommen sollte.

Andrew ging auf dem mit braunen, vertrockneten Kiefernadeln bedeckten Boden hinüber zu den Hütten.

»Hallo!« rief er.

Ein langbeiniges, braunhaariges Mädchen in Hosen spähte durch die Tür und verschwand so lautlos wie ein Reh.

»Paul?«

Und da, plötzlich war Paul an dem abgeschirmten Guckfenster. »Hallo, Andrew.«

Das Nylonnetz flimmerte weiß zwischen ihren Gesichtern, es blendete zu sehr, als daß man hätte wirklich hindurchschauen können. Dann wurde die Tür geöffnet, und Andrew trat ein, seine Hand zum Gruß ausgestreckt. Aber Paul hatte sich schon umgewandt, um ihn hineinzuführen.

Es war kühl und düster, und die langen Reihen von Versuchsröhrchen und Glasgehäusen glitzerten matt; zwei große Glasschränke waren inwendig so mit Feuchtigkeit beschlagen, daß ihr Inhalt nicht zu erkennen war. Ein langer Experimentiertisch erstreckte sich quer durch das ganze Gebäude; daran waren Abflußrohre angeschlossen, und Haltegestelle, Brenner, Zentrifugen und anderes Gerät, das er nicht kannte, standen darauf. Abseits in einer Ecke befand sich, eingezwängt zwischen zwei riesigen Aktenschränken, ein alter grauer Schreibtisch aus Metall.

»Setz dich«, sagte Paul, sich selbst hinter dem Schreibtisch niederlassend. »Es tut mir leid, wir sind hier ziemlich primitiv eingerichtet. Nimm die Kiste da.«

Andrew setzte sich und fühlte sich unbehaglich. Es war Jahre her, daß seine Sitzpartie sich mit solchen Notbehelfen hatte abfinden müssen.

»Na«, sagte Paul, »es ist ja eine ganze Weile her.«

Jetzt endlich in der Lage, Paul deutlich zu sehen, preßte Andrew die Kiefer zusammen. Es schien wirklich wahr zu sein, was ihm da seine Agenten an unglaublichen Gerüchten zugetragen hatten. Paul hatte sich überhaupt nicht verändert. Das dünne, dunkle Haar, fortwährend an der Kippe zur Glatze, war dasselbe. Das runde Kindergesicht hatte weder Falten noch Runzeln. Der bohnenstängendürre Körper war noch immer straff und hager. Andrews Hand schlüpfte verstohlen unter das Jackett. Der Schneider in London hatte vor zwei Monaten wieder einmal seine Anzüge erweitert.

»Ja, eine ganze Weile«, sagte Andrew. »Was machst du denn hier so weit draußen?«

»Billiges Grundstück. Billiges Labor. Ich habe hier ein Mädchen im Labor und einen Mann draußen in den Ställen für die Schwerarbeit. Leute aus der Umgebung. Ich hatte ja nie viel Geld an der Hand, wie du weißt.«

War das eine Spitze gegen ihn? Andrew tastete nach seinem Zigarrenetui, zog es hervor, und als Paul den Kopf schüttelte, fingerte er eine für sich selbst heraus.

Paul beobachtete ihn beim Anzünden. »Wie ich sehe, sind deine Hände ja wieder recht ordentlich hergestellt. Ich hätte nicht gedacht, daß du sie je wieder benutzen könntest.«

Andrew streckte sie ihm hin, so daß er sie anschauen konnte. Die Handteller und Finger bis hinauf zu den Spitzen waren mit Narbengewebe überzogen, hart und weiß. Das war das eine Andenken an den letzten Tag ihrer Partnerschaft. Narben an seinen Händen und Glück bei seinen Unternehmungen.

»Ein ganzes Becherglas voll Säure«, sagte Paul. »Es ist erstaunlich, daß du überhaupt noch Hände hast.«

»Ich war an diesem Tag gedankenverloren.«

»Aber es hat dir auch ganz gut gepaßt, nicht wahr. Es verhalf deiner Abreise zu solch logischer Dringlichkeit.«

»Ich konnte von da an nicht mehr mit den Händen arbeiten«, sagte Andrew. Er krümmte seine Hände, steif, schwerfällig.

»Glücklicherweise hast du sie zum Arbeiten auch nicht mehr gebraucht«, sagte Paul und lächelte dünn. »Sag mir doch, wie hast du es angestellt, mich zu finden?«

»Ich habe drei Jahre gebraucht.«

»Du scheinst was ziemlich Schlimmes zu wollen.«

»Du weißt, was ich will«, sagte Andrew.

Paul schwieg und starrte auf die Schreibtischplatte. Andrew beobachtete ihn haargenau. Was ging in seinem Gehirn vor? War es Genugtuung, daß er erleben konnte, wie er schließlich von Andrew aufgesucht worden war? Oder war es vielleicht Vorsicht, nach dem, was vor langer Zeit geschehen?

»Schau her«, sagte Andrew unverblümt. »Ich habe kein Geschick, Leute herumzukriegen. Die Möglichkeit, Macht auszuüben, wird dich locken, vermute ich. Du wirst dich daran gewöhnen, Anweisungen zu geben.«

»Du hast eine ganze Menge Macht, nicht wahr?«

»Ja. Nun, ich bedaure jetzt, daß fünfunddreißig Jahre vergangen sind, seit wir zusammenarbeiteten. Aber ich versuche nicht, mich zu entschuldigen. Du und ich, wir waren eine verschiedene Sorte Mensch. Du warst auf Wissen aus. Du hast es erlangt. Ich war auf Macht aus. Ich habe sie erlangt. Du wirst selbst wissen, daß du, um zu erreichen, was du wolltest, auf etliche Dinge im Leben verzichten mußtest. Ich kann mir vorstellen, daß du deine ethischen Auffassungen gelegentlich ganz schön zurückstutzen mußtest. So ist es mir auch gegangen.«

»Was haben ethische Probleme damit zu tun?« fragte Paul.

»Du hast schon recht«, sagte Andrew. Eine wohlduftende Wolke von Zigarrenqualm trieb zwischen die beiden. »Männer wie du und ich sind anders programmiert. Wir haben keine Familien, kein Privatleben. Wir hatten jeder ein Ziel, und dafür wurde alles andere geopfert.«

»Du willst also sagen, daß, als du mich geopfert hast, das in dein Programm gepaßt hat.«

»In gewisser Hinsicht, ja. Denn du hattest ja, was du wolltest, als du diese Formel entdeckt hattest. Sie war von keinem weiteren Nutzen für dich. Andererseits war sie von großem Nutzen für mich. Ich habe mir damit ein Imperium geschaffen. Zu dieser Zeit hatte ich weder das Geld, diese Formel von dir zu kaufen, noch sie zu pachten. Immerhin, jetzt ist das eine andere Geschichte. Vielleicht kann ich meine Schuld dir gegenüber etwas abzahlen.«

Pauls Brillengläser blitzten, als er seinen Kopf wegdrehte. »Deswegen bist du doch nicht hergekommen.«

Andrew nahm die Zigarre für einen Augenblick schweigend zwischen die Lippen. »Na schön«, sagte er schließlich. »Meine Agenten haben Gerüchte über deine Arbeit aufgeschnappt. Zuerst habe ich die ganze Geschichte bezweifelt. Dann habe ich meinen Sekretär darangesetzt, und sein Bericht schien die Gerüchte zu bestätigen. Jetzt, wo ich selber dich sehe, muß ich sie glauben.«

»Was willst du?«

»Schau mich an. Und schau dich an. Wir sind beide achtundsechzig Jahre alt.«

»Schön, die Ausübung von Macht zehrt eben mehr am Organismus, möchte ich meinen. Ich führe ein ruhiges Leben.«

Was wollte er? Den reichen Mann zu Kreuze kriechen sehen? Andrew musterte ihn einen Moment lang schweigend. »Meine Detektive sagen mir, daß du ein Mittel gefunden hast, die Lebensspanne aufs Unendliche zu verlängern. Die Alterungsprozesse aufzuheben.«

»Die Naturwissenschaft ist immer das Thema haltloser Gerüchte. Das weißt du doch.«

»Sie haben deinen acht Jahre alten Schmetterling, einen Monarch, gesehen und deine zehnjährige Spitzmaus.«

Das saß. Die Pause dehnte sich, als Paul an seiner Unterlippe fummelte. Schließlich sagte er: »Welcher von meinen Assistenten hat es verraten?«

Andrew schnurpste vor Vergnügen. »Geld spricht. Ich habe es von meinem Scheckbuch erfahren.«

Paul stand auf und ging zum Fenster. Draußen fieberte die Wiese im Sonnenlicht, die Insekten surrten und brummten.

Andrew beugte sich auf der Kiste nach vorne. »Ich bin bereit, dir die Hälfte von allem zu geben, was ich besitze.«

Paul lächelte. »Du hast selbst gesagt, daß Geld nicht mein Ziel war.«

»Nein, aber Wissen ist Macht, sagt man. Mag sein, daß wir im Grunde genommen gar nicht so verschieden sind.«

Paul wandte sich ihm zu. Es war nicht möglich, sein Gesicht gegen das durchs Fenster einströmende Licht zu sehen. »Wir sind ganz und gar verschieden«, sagte er. »Ich hätte es nie zugegeben, daß die Formel in andere Hände geriete. Ich wußte von Anfang an, daß sie zu tödlichem Gebrauch verwendet werden würde –«

»Aber das hier ist nicht tödlich!«

»Oh, denk doch nach, Mensch! Der Planet schwankt schon jetzt unter seiner überströmenden Bevölkerung. Niemand verdient es, unbegrenzt lange zu leben. Warum auch, der Tod ist das einzige, was uns von verwöhnten Diktatoren in allen Lebensbereichen befreit – von denen du einer bist, jedenfalls mehr als wahrscheinlich. Was bringt dich darauf, daß du für immer leben solltest? Trägst du etwas derartig Wertvolles zu dieser Welt bei?«

»Du etwa?«

»Sicherlich nicht.«

»Was hat das dann für einen Sinn? Warum hast du dich damit beschäftigt?«

»Neugierde.« Er konnte das Lächeln in Pauls Stimme hören.

»Das ist doch witzlos!«

Pauls schmale Schultern hoben sich zu einem Zucken. »Letztlich ist alles witzlos. Alles Endliche ist endliches Nichts aus menschlicher Sicht. Wir durchlaufen unsere winzige Spanne mit irrelevanten Spielen – Bridge oder Biologie, das macht kaum einen Unterschied.«

»Trotzdem«, sagte Andrew, »ich glaube nicht, daß du es so sehen würdest, wie du es jetzt tust, wenn du dich nicht der Zeit entzogen hättest.«

»Wie schon gesagt, ich führe ein ruhiges, regelmäßiges Leben. Ich werde dich wahrscheinlich um eine ganze Reihe von Jahren überleben.«

Andrew verfiel wieder in Schweigen, und ein merkwürdig flaues Gefühl überkam ihn. Er hatte es schon früher mal gespürt. Kurzlebig wie ein Spinnweb schloß es sich über ihm und hinterließ eine schale Klebrigkeit, einen unfaßbaren Ekel.

Es war das Gefühl des nahenden Todes. Er fühlte sich wie ein Kind, wollte wild losschreien vor Wut und innerem Aufstand. Das war nicht fair. Da stand er jetzt mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten. Es brauchte Jahre, um eine solche Stellung zu erreichen, und wozu war die nun gut, wenn die Uhr drauf und dran war abzulaufen. Es war so unsinnig, so mies eingerichtet, so widersprüchlich. Warum sollte das Leben so idiotisch pervers sein? Und da stand dieser eigensinnige Obertrottel mit dem Geheimnis in seinem Schädel, der sich anmaßen wollte, es ihm vorzuenthalten.

»Du bist ein ganz schöner Moralist geworden, nicht wahr?« sagte er ironisch. »Bereit, die ganze Welt zu richten!«

»Ich richte dich nicht, Andrew.«

»Wenn du über die Mittel verfügst, mich am Leben zu erhalten, und sie nicht anwendest, dann beinhaltet das ein Urteil.«

»Warum soll ich es gerade dir geben, und nicht irgend jemand anderem?«

»Weil ich dich kenne.«

»Ich kenne eine Menge Leute.«

»Weil ich weiß, daß du es kannst.«

»Jetzt führst du mich in Versuchung, Andrew.« Paul saß wieder an seinem Schreibtisch, preßte die Hände flach auf die Tischplatte. »Meine zwei wunden Punkte. Neugierde und ein begründeter Widerwille gegen dich.«

Geschickterweise verhielt sich Andrew schweigend. Es kam immer eine Zeit, wo man zu schweigen hatte und sich von einem Menschen sagen lassen mußte, das zu tun, was man selber wollte.

»Mit Tieren habe ich Erfolg gehabt, aber ein menschliches Wesen – mit dem unberechenbaren menschlichen Geist. Ich müßte eigentlich willens sein, dich zu opfern, da du mich ja auch schon entbehrlich fandst. Jetzt drängst du mich sogar, bietest dich selber an. Ich weiß nicht, warum ich zögere.«

»Lügner«, sagte Andrew ruhig und betrachtete das offensichtlich jugendliche Gesicht.

Für einen Moment waren beide still, beäugten einander mit gegenseitigem Mißtrauen.

»Du hast keine Ahnung, was damit verbunden ist, Andrew«, sagte Paul schließlich. »Schau, deine Detektive haben es nicht ganz richtig ‘rausgekriegt. Ich verlängere nicht das Leben deines Organismus. Ich habe ein Verfahren, bei dem du dich selbst reproduzierst.«

Andrew paffte seine Zigarre. »Was ist der Unterschied?«

»Das psychologische Risiko. Es ist beängstigend.«

»Du kannst es also machen!«

»Es ist auch sehr schmerzhaft.«

»Schlimmer als Sterben?«

»Es würde ein Jahr dauern.«

»Laß mir sechs Wochen, um meine Geschäfte zu ordnen.«

»Du bist also entschlossen?«

Andrew streifte sorgfältig seine Zigarrenasche auf dem Unterteller ab, der auf dem Tisch stand. Warum eigentlich entledigte sich der Mann da vor ihm so sorgfältig jeglicher Spur von Verantwortung? War da noch etwas Unklares im Spiel, was er nicht aufgedeckt hatte? Oder war es ein letzter Versuch, ihn abzuschrecken? Oh, ich kenne dich, Paul. Du würdest jedes Experiment zu Ende führen, selbst wenn es dein Leben kostete, viel weniger würdest du meines schonen. »Ja.«

 

Als Andrew zum Labor zurückkehrte, hatten sich die Eichen verfärbt, und die Laubheuschrecken hatten die Zikaden ersetzt. Er brachte einen Bericht über eine ärztliche Untersuchung mit, in dem die Gesundheit seines Herzens, der Lungen, Leber und Nieren bestätigt wurde.

Im Labor hatten in der Zwischenzeit einige Veränderungen stattgefunden. An einem Ende der Hütte war ein weiterer aschgrauer Flügel angebaut worden. Darin befand sich ein kleiner Operationsraum und die Kammer, die Andrew für ein Jahr bewohnen sollte.

»Ich muß erst selbst noch einige Versuche anstellen«, sagte ihm Paul, und für zwei Wochen unterwarf sich Andrew kurzen qualvollen Konfrontationen mit Röhrchen, Nadeln und dem übrigen widerwärtigen Instrumentarium der Forschung. Das Erlebnis des Leidens war neu für ihn. Nicht einmal die Verletzung seiner Hände hatte sehr weh getan – zu viele Nervenfasern waren zerstört worden. Heute zum erstenmal in seinem gesunden Leben erlitt er das Eindringen der Realität in seinen intellektuellen Horizont, eine Wirklichkeit, die tiefer und tiefer in die Festung seines Verstandes glitt und ganze Vorstellungswelten durch die überraschende Blendung des Schmerzes und durch die Widerspiegelungen der Erlösung verwüstete. Er war erstaunt und verärgert über die Leichtigkeit, mit der sein Körper sein Bewußtsein beherrschen konnte. Auch sein niedergeworfenes Ego würgte, als er nach einer besonders harten Untersuchung dalag und sich erbrach. Er hätte den ganzen Versuch dann und da abbrechen können, hätte er nicht die alten kalten Gewohnheiten seiner Jahre in der chemischen Industrie beibehalten. So leicht gab man das Ergebnis einer dreijährigen Suche nicht auf. Jede neue Unternehmung war wie ein Kochen, verdichtete sich und wurde immer schmerzvoller, bis endlich schlagartig der Erfolg durchbrach.

Das eigentliche Experiment begann mit einer kleinen Operation. Die große Arterie in Andrews Leistengegend mußte auf die Außenseite des Oberschenkels verlegt werden. Das sei zur technischen Erleichterung, erklärte Paul.

»Ich verstehe nicht allzuviel vom Arzthandwerk, aber kein anständiger Doktor würde eine solche Operation ausführen, du hast also keine Wahl. Bist du noch interessiert?«

»Ja.«

»Wenn wir einmal so weit gegangen sind, wird es keine Umkehr mehr geben.«

Andrew nickte schroff, nahm die Beruhigungstabletten, die Paul ihm gab und stieg ins Bett. Paul knipste das Licht aus, die Tür schloß sich, alles war ruhig.

So, hier war er jetzt also. In dieser kleinen Kammer, diesem riesigen Bett gegenüber dem weiten Fenster, das auf die Weide und Teile des Waldes hinausging. Der aufgehende Mond, dreiviertel voll, ergoß sein sanftes Licht auf die Welt. Die Vorhänge wedelten neben dem teilweise geöffneten Fenster, und es war, als ob nichts außer dieser Kammer je existiert hatte. Ich werde diese Kammer nicht auf diesen Beinen verlassen, dachte er, und unvermittelt eröffnete sich vor ihm ein Abgrund von Schwermut und Trübsinn.

Gedanken über Leben und Tod befielen ihn, Gedanken, die ein gesunder Mensch niemals denken sollte. Wie zerbrechlich Leben doch war! Ein Hauch, und es war vorbei. Da lagen dann die Knochen und das Fleisch, aber das Leben war vorbei, ganz schnell und einfach ausgeströmt. Wie verwundbar es war, wie endgültig sein Verlöschen! Wie kurz man es nur zu besitzen schien, selbst im günstigsten Fall. Wenn hier etwas schiefginge, wäre das, als ob er überhaupt nicht gelebt hätte. Bewußtsein war nicht mehr als eine Abstraktion, ein geometrischer Punkt in der Leere, dem bewußtlose Unendlichkeit voranging und folgte. Wie verrückt, daß man sich an diese Abstraktion so klammerte. Zwischen den Unendlichkeiten, was für einen Unterschied machten da ein paar Jahre? Und doch, wie wertvoll schienen sie. Das Leben war wertlos. Ein Mann würde niemals etwas derart Problematisches kaufen, und doch, er hatte es getan.

Das ist nicht die rechte Art zu denken. Man kann sterben, wenn man solchen Gedanken nachhängt. Man muß kämpfen. Auf, dann kämpfe, befahl er sich selbst. Klammere dich fest. Denk ans Weiterleben!

Oh, aber der Schmerz. Das war ein Problem. Diese zusätzlichen Tests, die Paul gemacht hatte. Schmerzhaft. Schmerz erforderte eine gewisse Geisteshaltung. Man hatte sich gegenüber sich selbst zu entfremden, mußte sich aus seinem Körper zurückziehen, sozusagen aussteigen und den Körper betrachten, um zu sehen, daß er nur eine Art Vehikel war. Das machte die Pein erträglich. Sie war aber fürchterlich, wenn man sie mit sich selbst verwechselte, was immer man selber war. Was ist das Ich? Dieser geheimnisvolle Seher, Hörer, Denker, diese immaterielle Ganzheit, die weiterzubestehen sucht, die den zuckenden Leib, von dem sie abhängt, haßt. Widerwärtige, hinfällige, sterbliche Masse. Plötzlich fühlte er sich, als ob er auf Widerruf in ein kleines Boot gesetzt worden wäre, das auf einem wilden Meer von organischer Flüssigkeit hin- und hergeworfen wurde, die ihn ertränken würde, wenn er es zuließ. Aber ich will nicht ertränkt werden, sagte er zu sich selbst. Ich werde mich an dieses Boot klammern, und morgen bei Tageslicht wird es besser gehen.

Als er aufwachte, wirbelten Blätter am Fenster vorbei. Es war ein windiger Oktobertag, und er fühlte sich hungrig. Er drückte den Klingelknopf, und Paul kam herein; er trug ein kleines Tablett, auf dem sterile Instrumente lagen.

»Schön«, sagte Andrew herzhaft. »Ich fühle mich zu allem bereit. Gib mir etwas zum Frühstück und laß es uns dann angehen.«

»Die Operation ist vorbei«, sagte Paul.

Andrew starrte ihn an, und in dieser Stille setzte Paul das Tablett auf den Tisch neben dem Bett ab. Scheren, weißes Leinen, Alkohol, eine kleine Phiole, deren Korken von einer einfachen Stopfnadel durchstoßen war. Andrew wandte sich ab und betrachtete seine Hände. Sie waren wie immer. Und was machte es, wenn sie steif und taub waren? Sie funktionierten, nicht wahr? Er preßte sie langsam zusammen. Gute Hände.

»Schon am Punkt vorbei, von dem an es keine Umkehr mehr gibt, hm?«

»So ist es«, sagte Paul.

Und dann die Reaktion. Das bin nicht ich. Ich bin da drinnen, aber das bin ich nicht. Und dann das wahnsinnige Zurückklettern in das Boot.

Paul hob den Verband an der Stelle an, wo die verpflanzte Arterie pulsierte. Er tupfte einen winzigen Flecken Haut und nahm die Phiole auf.

»Schau her«, sagte er und zog den Stopfen mit der Nadel heraus, »bei diesem Verfahren nutzen wir als Vorteil die Tatsache, daß jede Zelle des Körpers die gesamten genetischen Daten und Anlagen in sich birgt. Wir ermutigen lediglich eine, mit ihrem Wissen herauszurücken.« Und er stach tief in die Haut.

»Ist das alles?«

»Das ist der Anfang.«

Es juckte, aber Andrew klammerte sich an die Herzmuschel seiner Identität und weigerte sich, sich zu kratzen. Der Körper juckte, nicht er.

»Ich werde jetzt dein Frühstück hereinbringen«, sagte Paul und ordnete die Instrumente auf dem Tablett. »Du wirst ganze Mengen essen müssen. Sechs Mahlzeiten am Tag. Und unglücklicherweise spezielle und nicht sonderlich schmackhafte Präparate. Aber es wird in einigen Wochen besser werden. Du wirst dich dann nicht weiter zwingen müssen. Der neue Körper wird schmarotzen.«

Andrew sagte nichts. Statt dessen beobachtete er mit großer Aufmerksamkeit, wie Paul die Phiole wieder verkorkte. Knappes kurzes Klicken von Glas auf Metall, die Bewegungen der Hände, Schritte, als Paul hinausging.

Was macht man eigentlich mit der Seele?

Man hatte die Sinne zu benutzen. Sie waren alles, was man hatte. Aber verflucht, diese schleichenden Seitenblicke auf die Apparatur!

Blätter fielen, purzelnd und gleitend. Wolkenbäusche warfen ihre Schatten über die blaue Hügellandschaft. Eine Schar Krähen lärmte quarrend von Baum zu Baum. Man fragte sich, wozu die ganze Unterhaltung gut war? Warum flogen sie nicht einfach? Es war gerade so, als ob sie sagten, wo ist dieser Bericht von den Labors in Florida? Verdammt, Pete, ich hab dir doch gesagt, daß du darauf achten solltest. Die Kosten dort kommen zu hoch! Wer ist das? Beauftragter von Rupert Chemical? Werft ihn raus hier, den verdammten Spion!

Er verbrachte eine Stunde damit, einen flaumigen Specht zu beobachten, der an der Pechkiefer gerade vor seinem Fenster auf- und abkletterte, klopfend und hackend, leise und unerschütterlich, während die Häher in der Luft umherjagten, aufbockten, rösteten und unverschämt Preise veranschlagten. Dieser Specht war wie Paul. Forschung. Die Häher, Händler, hin und her die ganze Zeit, blankäugig und räuberisch. Die Stare, Spekulanten, immer in Gruppen reisend.

Und schließlich wurde auf einem fahrbaren Serviertischchen das Frühstück von Erna hereingebracht, dem Mädchen aus den Bergen, das ihn weißäugig anblickte und mit einer gewissen Distanziertheit servierte.

Drei Tage später hatte sich eine Pustel auf seinem Bein gebildet. Er war lange genug aus dem Boot draußen, um sie behutsam mit forschendem Zeigefinger zu betasten.

»Was ist das?«

»So fängt es an«, sagte Paul.

Andrew drehte sich ungeduldig zum Fenster. Der November wurde durch graue Regenschauer angekündigt. »Ich wollte, es wäre Frühling.«

Einen Monat später, als der erste Schnee fiebrig wie ein Heringsschwarm zwischen den braunen Gräsern der Wiesen lag, war die Pustel zu einer riesigen Beule von der Größe einer Grapefruit angewachsen, und die Schmerzen hatten ernstlich begonnen. Es war eine sonderbare Art von Schmerzen, gerade als ob alles in ihm durch ein Nadelöhr gesogen würde.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, würde Paul sagen, jedesmal wenn er die verdrießliche Frage stellte.

Aber sein Verdacht wuchs. Dann wieder gewann das praktische Selbst Oberhand. Er hatte sich an der Überzeugung festzuhalten, daß alles stimmte. Vielleicht war das nicht so, aber wenn schon nicht, dann war es erst recht nicht sinnvoll, sich damit abzugeben. Er hatte sich an die haltgebende Voraussetzung zu klammern.

»Ich muß etwas zu tun haben!«

»Wenn du nichts gegen Erna hast, werde ich sie schicken, daß sie mit dir Karten spielt oder sonst etwas.«

»Alles recht.«

So kam Erna, das sommersprossige, langbeinige Mädchen, stillschweigend mit einem Packen Karten zu ihm, und sie spielten endlose und wortlose Serien von Russian Bank zwischen endlosen, faden Mahlzeiten. Und während der Stunde jeden Morgen, Nachmittag und Abend, wenn Erna draußen bei den Ställen war und Paul bei den Versuchstieren half, spielte Andrew wie ein Besessener alleine.

Im Februar war die Beule auf die Größe eines Scheffelmaßes angeschwollen und hatte sich von ihm getrennt, bis auf einen knorpligdurchsichtigen, hautbedeckten Schlauch, durch den sein Herzschlag pulsierte wie in einer obszönen Nabelschnur.

»Das ist, wie es sein soll«, sagte Paul.

»Deck es zu!« befahl Andrew. »Ich will es nicht sehen!«

Paul und Erna nagelten einen behelfsmäßigen Vorhang an die Decke, der Andrews Betthälfte von der des Klumpens trennte. Aber als die Märzwinde anfingen über die Hütte hinwegzuröhren, konnte er es nicht länger ertragen, in Unwissenheit zu verharren. Er schob den Vorhang beiseite, um nachzuschauen, und auf seinen Aufschrei hin kam Paul gelaufen.

»Mein Gott, so sieht das aus? Was ist danebengegangen?«

Es lag wie eine riesige Larve neben ihm, die Vorderseite des Kopfes war von Hautzipfeln überlappt, die so groß waren, daß sie sich zwischen die schwellenden Knollen falteten, die Augen hätten sein sollen. Die raupenähnlichen Arme waren über der faltigen Brust einwärts zusammengekrümmt.

»Da ist nichts danebengegangen. Es ist genauso weit ausgebildet wie ein Fötus in diesem Stadium.«

»Es sieht scheußlich aus!«

Paul zog den Vorhang entschlossen wieder quer über das Bett und legte ein Beruhigungsmittel auf den Tisch. »Nimm das und hör auf, daran zu denken.«

Andrew schluckte es hinunter und stellte das Wasserglas mit zitternder Hand zurück. »Das bin nicht ich«, sagte er mit belegter Stimme. »Das kann niemals ich sein.«

»Versuch mit Nachdenken aufzuhören.«

»Was hast du mit mir gemacht?«

»Das, worauf du bestanden hast, daß ich tun sollte.«

»Ich will aufhören. Schneid es ab. Töte es. Laß mich davon loskommen!«

»Wenn ich das täte, würdest du sterben.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Du würdest sterben. Deine Körperfunktionen sind jetzt verändert.« Er ging hinaus und kehrte mit einem Spiegel zurück, den er Andrew schweigend in die Hand gab. Ihn böse anstarrend, nahm Andrew den Spiegel, warf dann einen Blick hinein, gab ihn zurück. Er wollte nicht sehen. Er war verhutzelt wie ein verbranntes Blatt. Seine Haut war ledrig und spannte knapp über Stirne, Kinn und die hervorstehenden Backenknochen, um Mund und Augen verrunzelt wie eine Dörrpflaume. Plötzlich wurde er gewahr, wie arg schwach er doch geworden. Er schloß fest seine Augen, zog sich in das kleine Boot zurück, klammerte sich daran fest, schwankend und schlingernd in der jetzt abscheuerregenden See, dabei das Saugen und Branden der Säfte seines alten Körpers hörend, das ausebbende Strömen seines Blutes.

Er hatte einen Fehler gemacht. Er hätte seine Geschäfte nicht zurücklassen sollen. Das war die Aufgabe seines Verstandes, ihn davor zu bewahren, daß er von diesem verfallenden Kadaver überwältigt würde.

Er verlangte nach einer ›Times‹, und Erna machte einen extra Abstecher per Anhalter, um sie zu beschaffen. Danach fuhr sie jeden Tag in die entfernte Kreisstadt und brachte ihm eine mit. Er begann, seinem Sekretär zu schreiben, und eines Tages kamen mit der Post große Umschläge an. Das beschäftigte ihn vollkommen, und er gratulierte sich, daß er zu der ihm gemäßen Beschäftigung zurückgefunden hatte. Aber im Juni war er zu schwach, um weiterzumachen.

An diesem Tag, als er zugab, daß er nicht mehr weiterschreiben konnte oder auch nur ungelenk durch den Inhalt des letzten braunen Umschlags blättern, zog Paul den Vorhang wieder zurück. Zunächst weigerte sich Andrew hinzusehen.

»Es hat sich verändert«, versicherte Paul ihm. »Riskier ruhig einen Blick.«

Schließlich drehte Andrew den Kopf auf den Kissen.

Neben ihm, den Kopf in der anderen Richtung, lag ein junger Mann.

»Das bin nicht ich.«

»Das bist du, ganz richtig.«

»Das sieht mir nicht ähnlich. Ich habe nie so ausgesehen.« Er bemühte sich, sich aufzusetzen, war aber zu schwach. Paul kam ans Bett und half ihm.

»Der Unterschied liegt nur im Grad der Abnutzung«, sagte Paul. »Das ist ein völlig ausgereifter Körper, aber er ist durch keinerlei Erfahrungen gekennzeichnet. Die Füße, zum Beispiel. Keine Hornhaut, keine Verformungen. Sie haben nie Schuhe getragen. Und das Gesicht. Sogar das Gesicht eines vierjährigen Kindes ist bis zu einem gewissen Grad vom Denken geprägt.«

Andrew starrte darauf, verzückt. Es war gespenstisch, lieblich, umfangen von vorgeburtlicher Gelassenheit. »Alle Öffnungen sind noch geschlossen«, flüsterte er.

»Sie werden sich jetzt bald öffnen«, sagte Paul.

Andrew rückte nach vorne, so weit er konnte. »Laß mich die Hände sehen.«

Paul hob eine Hand an und hielt sie hoch, damit Andrew die Handfläche sehen konnte, weich, biegsam, durchzogen wie die eines Babys von unzähligen, zierlichen Linien. Andrew durchforschte sie begierig.

»Ich bin gespannt, wie es sein wird, wieder Dinge zu berühren und in der Lage zu sein, sie zu spüren«, sagte er und ließ sich von Paul helfen, sich wieder hinzulegen.

Von da an ließen sie den Vorhang zurückgezogen, so daß Andrew, auf mehreren Kissen hochgelagert, beobachten konnte, wie die letzten Veränderungen vor sich gingen, das langsame Entsiegeln der Augenlider, der Lippen.

»Warum wacht er nicht auf?« fragte Andrew.

»Das ist nicht dein Sohn«, sagte Paul. »Das bist du, erinnerst du dich?«

»Wie komme ich denn da hinein?«

»Wart ab, und du wirst es erleben.«

Andrew war zu schwach geworden, als daß er sich noch hätte Sorgen machen können. Er vermied es, seine Hände anzuschauen, die so eingetrocknet waren, daß die Einzelheiten der Knochenstruktur durch die sich verdunkelnde Haut sichtbar wurden. Erna mußte ihn füttern, einen Löffel nach dem anderen, eine langwierige Quälerei, die ihm nicht länger irgendwie zu nutzen schien. Zwischen den Mahlzeiten versank er in eine Art Betäubung, von der er schlaff zu Sinnen kam, um gewärtig zu werden, daß er in halbbewußten Stunden einen Dialog mit sich selbst geführt hatte, schwach darauf bestehend, es stark verneinend.

Leben! Leben!

Oh, es ist zu anstrengend, es ist zu weit weg. Ich bin müde. Das ist die Versuchung des Fleisches, die Schwäche des Geistes. Glaub es nicht. Hör nicht darauf. Leben!

Und er würde die gewaltige Ladung seiner Identität aufnehmen und sich noch einmal ins Bewußtsein zurückkämpfen.

Und wieder wegtreiben, nieder und nieder, tiefer und tiefer …

Es war wieder warm, und er konnte die Wiese riechen, ein warmer Grasgeruch mit einer Spur von wilden, unheimlich süßen Erdbeeren. Er lag darin, atmend, zum erstenmal seit Monaten ein Gefühl des Wohlbehagens verspürend, das Vergehen von unzähligen Schmerzen und Leiden. Ich bin tot, dachte er. Und die weitentfernte Stimme von Paul, die immer und immer wieder sagte »Andrew«, erschien als das letzte Echo aus der Zeit. So also geht das weiter, dachte er. Dieses kleine Ich in diesem kleinen Boot. Nun, ich bin froh, da draußen zu sein. Wie schön, nichts zu verspüren als nur diesen angenehmen Duft.

Und dann öffnete er – – seine Augen? Aber da war Paul, der sich über die sich schwarz färbende Hülle beugte, sie sanft berührte, zu ihr sprechend. Ein ekelhaftes Stück. Wie konnte er es nur fertigbringen, sich so dicht darüber zu beugen?

Und dann blinzelte er. Blinzelte an, was? Langsam abwärts, über diese Gliedmaßen hinschauen?

Er konnte nicht sprechen.

Da, Paul, du elendes Genie, es hat nicht geklappt. Es ist etwas schiefgegangen, und ich kann dir nicht einmal erzählen, daß ich das vorhergeahnt und deswegen auch nichts unternommen habe, um dafür zu sorgen, daß dir die Hälfte meiner weltlichen Güter zufiele.

Ah, da endlich. Paul sah in seine Richtung. Wenn er schon nicht sprechen konnte, so konnte er doch lächeln. Er wußte bestimmt, daß er lächelte, denn Paul richtete sich langsam auf und kam auf ihn zu, sein akademisches Stirnrunzeln in Verwunderung zerfallen, seine Hand war suchend ausgestreckt.

»Bist du hier?« forschte Pauls Stimme, neugierig und mit Teilnahme.

Andrew lächelte nochmals.

»Kannst du sprechen?«

Kann dieser Kopf bewegt werden? Er ist außerordentlich schwer, ah, aber er kann auf dem Kopfkissen vor- und zurückbewegt werden, mit Anstrengung zwar, aber die Anstrengung ist nicht schmerzhaft, es ist bloß schwierig.

»Hab keine Angst«, sagte Paul. »Diese verzwickten Nervenvorgänge beim Reden brauchen einiges an Übung. Organisch ist ja alles entwickelt. Du brauchst nur eben etwas Zeit. Erna!«

Das Mädchen kam gelaufen, betrachtete ihn aufgeregt, wandte sich ab, wandte sich zurück. Er hätte lachen können, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, als er der komisch anmutigen Pirouette von Erregung, Neugier und Verwunderung zusah. »Wir müssen etwas Flüssigkeit zugeben«, sagte Paul zu ihr. »Das Ding da –«, und er zeigte mit einem Daumen über seine Schulter auf die andere Gestalt im Bett, »– ist noch nicht ganz abgestorben. Wir können es noch etwas am Leben halten und ihm Zeit zum Anlaufen geben.«

Sie verschwand durch die Tür, kam schnell mit der Flüssigkeit in der Flasche und dem Haltegestell zurück. Sie hingen sie über dem anderen auf und stachen mit der Nadel in die knittrige Vene.

»Gib diesem hier was zu nuckeln. Wir müssen den Körper zum Funktionieren kriegen!«

Erna rannte wieder hinaus, während Paul eine Bandage zum Blutdruckmessen um seinen Arm wand und seinem Pulsschlag lauschte, ihn dabei mit Augen ansehend, die mit neuer unvermuteter Überraschung erfüllt schienen, Augen, neuerlich sanft, Augen, neuerlich beunruhigt und bemüht. War etwas schiefgegangen?

Paul faltete das Stethoskop zusammen, tätschelte seine Hand und wartete, bis Erna mit einem großen Glas Obstsaft zurückkehrte. »Halt ihm das«, sagte er zu ihr, und sie setzte sich neben dem Bett nieder und gab den Strohhalm in seinen Mund. Andrew trank gierig und war sogleich von einer solchen eindringlichen Glückseligkeit erfüllt, daß ihm Tränen in die Augen schossen. All das war neu, erwartungsvoll und reif und funktionierte reibungslos, freudig und wurde andererseits durch die kühle Flüssigkeit erfrischt, die in den aufnahmebereiten Magen strömte. Andrew schob den Strohhalm mit der Zunge für einen Moment zur Seite, um Paul beruhigend anzulächeln. Es klappt, wollte er sagen. Du siehst, es funktioniert. Mach dir keine Sorgen. Alles wird in Ordnung sein. Armer alter Paul.

Alter Paul?

Andrew warf einen verstohlenen Blick auf ihn und versuchte die schwankende Einstellung dieser scharfen neuen Augen mit ihren vorzüglich elastischen Linsen in den Griff zu bekommen. Ah, jetzt hatte er’s. Das feinlinige Netz von Falten um Pauls Augen. Und die papyrusartige Haut unter seinem Kinn. Alter Paul. Mein Gott. Andrew drehte den Kopf und betrachtete Erna, jetzt zum erstenmal sah er sie wirklich. Das war echte Jugend. Die klare Haut, die vollkommen gerundeten Konturen der Wangen, die sich gegen das Licht scharf abzeichneten, Konturen, die nicht von den Knochen oder der Linienführung her zu verstehen waren, sondern als das schlichte obsthafte Blühen der Haut.

Andrew hob eine Hand unsicher an. Sie schwankte, aber sie kam hoch, und er musterte die Haut seines Unterarms. Da war es. Das geschmeidige, durchsichtige Blühen der Jugend.

Paul hatte also nicht gelogen. Er war nie durch diesen Prozeß gegangen. Er war wirklich der glückliche Inhaber eines Typs von Organismus, der recht unmerklich alterte.

»Wir werden dich sprechen lehren«, sagte Paul. »Das kann Erna übernehmen.«

Und so lernte er von Erna, wieder zu sprechen, von ihr, die einst so bescheiden Karten mit ihm in seiner alten Person gespielt hatte. Er beobachtete, wie ihre Lippen die Silben formten, und von den Silben wurde seine Aufmerksamkeit auf die Lippen gelenkt, die diese formten. Wie war es möglich gewesen, daß er mit ihr ein Jahr lang verkehrt hatte und sie überhaupt nicht wahrgenommen hatte, es sei denn als jemanden, den man schickte oder kommen ließ? Warum? Sie war lieblich, sprudelte über von außergewöhnlicher Anmut, war dazu warmherzig und gefällig.

Hüte dich, flüsterte seine alte Erfahrung und zog ihn in das Boot zurück. Die See ist die See. Heute scheint die Sonne darauf, aber erinnere dich an die Finsternis.

Oh, aber das Leben ist wieder so süß! All die Sinne – schon allein um ihrer selbst willen sollten sie erprobt werden. Dieser Körper hat so viele Erfahrungsmöglichkeiten und Energien, warum soll er nur ein Ich und eine Kalkuliermaschine herumtragen.

Hormone, kam die ironische Antwort. Die komplizierten Sekrete von einem neuen Satz endokriner Drüsen. Habe ich dieses Jahr für eine hübsche Bauernmaid durchgestanden?

Wie wunderbar sie doch ist! Diese Gestalt, der Duft, diese Lebhaftigkeit!

Sogar Paul schien sie als den eher geeigneten Gefährten für ihn zu betrachten (Jugend zu Jugend vielleicht), denn es vergingen Tage, an denen Andrew ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam außer für das tägliche Blutbild. Er machte sich nichts daraus. Er war zu sehr verzückt von den kleinen Freuden eines jeden Tages, die Kleinigkeiten, die er so im Bett verrichten konnte, Rasieren, Essen (wieder richtiges Essen, Fleisch, Obst und Gemüse), Erna anschauen.

»Oh, ich möchte meine Füße wieder auf den Boden setzen«, sagte er und bewegte seine Beine unruhig. »Ich möchte auf den Wiesen Spazierengehen.«

Erna war im offenen Fenster gesessen und hatte sich offensichtlich ebenso danach gesehnt, nach draußen zu gehen, wie sie auch wünschte, bei ihm zu bleiben. Jetzt drehte sie sich mit einem Grinsen um. »Fragen wir Paul«, sagte sie und huschte vom Fenster weg.

Am nächsten Morgen gab Paul ihm eine Tablette und bereitete ihn für die abschließende Operation vor. Er wachte gegen Mittag wieder auf und fand sich endlich befreit, mit einem kleinen Verband um seinen Nabel, und die noch unheimliche Hülle seiner Vergangenheit für immer verblichen.

Im Laufe der nächsten Woche lernte er wieder zu laufen, zunächst einfach, das Bett zu verlassen und wieder hineinzusteigen, oder einfach zu stehen, und dann, sich an der Einrichtung festhaltend durch das Zimmer zu tappen. Er wurde rasch stärker, und nach fünf Tagen konnte er im Flur auf und ab gehen. Eine Woche später war er in der Lage, es auf der Wiese zu versuchen, und auf Ernas wohlgeformten Arm gestützt, ging er langsam durch die Gänseblümchen, den Bienenduft und die Wegwarten.

»Nicht zu weit für das erste Mal«, sagte Erna.

»Nur bis zu den Föhren«, bettelte er. Also stiegen sie hinunter in den Schatten der Föhren, wo sie ihm half, sich niederzusetzen, um auf den braunen Nadeln auszuruhen. Kaum saß er sicher auf dem Boden, als er schon den Arm um ihre Schultern schloß, sie zu sich nieder zog und auf den Mund küßte. Nach einem Zögern aus Überraschung schlang sie ihre Arme um ihn und küßte ihn ihrerseits ganz glücklich wieder.

Er lachte: »Ich wußte, daß es schön sein würde, dich zu küssen.«

»Wie konntest du das wissen?«

»Weil ich deinen Mund seit Wochen beobachtet habe. Er ist so süß und frisch.« Er ließ sie sich neben ihm hinsetzen. »Und dasselbe mit mir! Keine alten Zahnplomben! Keine Tabaksränder! Kein schlaffes Gewebe!« Er berührte ihre Backe mit den Fingerspitzen und genoß die seidige Oberfläche der Haut.

Er erinnerte sich an den ersten Eindruck, den er von ihr gehabt hatte. Ungezähmt und scheu wie ein Reh. Und Vertrautheit ließ sie, ebenso wie ein Reh, spielerisch werden. Was machte es aus, daß sie nur ein Mädchen aus den Bergen war? Was spielte Erziehung für eine Rolle? Sie sprach gut genug. Pauls Einfluß vielleicht. Sie war doch jung und hübsch, gesund und aufgeweckt. Was mehr konnte ein Mann wollen? Zudem war sie arglos. Da war nichts Hochmütiges, nichts Streitsüchtiges. Mit einem Mädchen wie diesem konnte man zu zweit gegen die Welt stehen, einer für den anderen. Heiraten war etwas, was er nie probiert hatte.

»Erna«, sagte er, »ich weiß, ich bin zu alt für dich. Ich bin immerhin achtundsechzig. Aber ich möchte dich trotzdem heiraten.«

Ihre klaren Augen blickten in seine, ein bißchen verblüfft. Dann grinste sie. Sie hatte ein solch einnehmend offenherziges Lächeln. »Du hast es umgedreht! Ich bin uralt, verglichen mit dir. Du wirst morgen erst zwei Monate!«

Sie lachten und umarmten einander, und dann lehnte sie sich zufrieden an seine Brust und zwängte ihren Kopf unter sein Kinn. »Ich würde dich liebend gern heiraten, Andrew. Nur, glaubst du, wir könnten hier in den Wäldern leben?«

»Ich werde dir 2000 Morgen Land ganz für dich alleine kaufen, und du kannst mit einem Zaun die Jäger aussperren und alle Füchse zähmen.«

»Das täte ich gern!« Sie hob ihren Kopf und sah in sein Gesicht. »Woher wußtest du das?«

Andrew hielt sie in den Armen und lächelte verträumt auf die Wiese hinaus. »Ich scheine plötzlich eine Menge zu wissen. Vielleicht hatte ich vorher nie Zeit dazu!«

Und ohne einen Blick zurück, da unter den Föhren, verließ er sein kleines Boot und glitt in die ihn freundlich empfangende See.

Paul kam an diesem Abend nach dem Essen herein, untersuchte sein Herz und sagte, daß er sich sehr gut mache.

»Setz dich«, sagte Andrew.

Erna saß auf der Bettkante neben ihm. Paul ließ sich im Sessel nieder. »Es ist an der Zeit«, sagte er geheimnisvoll.

»Schön«, sagte Andrew, »jedenfalls habe ich das Gefühl, daß die Zeit reif ist.« Er schaute dankbar zu Erna. »Ich habe dich betrogen, Paul.«

»Das ist zu lange her, noch darüber nachzudenken«, sagte Paul.

»Nein. Ich meine, ich habe es wieder getan. Ich sagte, ich würde dir die Hälfte von allem geben, was ich habe. Warum hast du da nicht nachgebohrt? Warum hast du nicht darauf bestanden, es vertragsmäßig festzulegen, bevor du deinen Teil erfüllt hattest?«

Paul sah ihn schweigend an.

»Nun, es macht jetzt sowieso nichts«, fuhr Andrew fort. »Ich habe über eine ganze Menge nachgedacht. Ich bedaure so vieles. Die Hälfte von dem, was ich habe, ist weit mehr, als du je brauchen würdest. Aber ich möchte wieder aufbauen, was wir hatten, was ich vor fünfunddreißig Jahren zugrunde richtete. Ich weiß, ich kann dir trauen, aber ich möchte, daß du weißt, daß du mir jetzt auch trauen kannst. Ich dachte, daß wir einen Modus ausarbeiten könnten, daß dir alles mit mir zusammen gehört. Es sollte jedenfalls einleuchtenderweise mehr dir als mir gehören.«

»Das wird nicht klappen«, sagte Paul.

»Doch, es wird«, sagte Andrew. »Ich bin es in Gedanken durchgegangen, und ich hatte einen guten Einfall, wie man es anstellen könnte. Ich werde meine Anwälte hierherholen, und wir bringen die ganze Geschichte ein für allemal zu Papier. Ich weiß, du bist an Geld nicht interessiert, aber versuch nicht, mir zu erzählen, daß du unbegrenzte Gelder für dein Laboratorium ablehnen würdest.«

Paul lächelte in der ihm eigenen dünnlichen Art. »Es wäre ja ganz schön, aber es wird nicht klappen.« Er schaute Andrew müde an, einen Hauch seiner alten Ironie auf den Zügen. »Schau, Andrew, deine Person hat sich verändert. Wohl, ich bin fast sicher, daß du dieselbe Ganzheit bist, aber da sind Dutzende von kleinen bedeutsamen Unterschieden, die aus dir statt eines Monstrums ein menschliches Wesen machen.«

»Ich meine, ich sollte dankbar sein …«

»Aber das hat Auswirkungen«, fuhr Paul fort. »Ich will sagen, du hast dich noch gar nicht darum gekümmert, wie du deine Identität beweisen kannst. Kannst du deine Rechtsanwälte glauben machen, du seist ein achtundsechzigjähriger Mann? Werden sie dir glauben?«

Andrew zwinkerte ihm zu. »Wir werden es eben über die Post erledigen«, sagte er.

Paul nahm Notizblock und Bleistift aus der Brusttasche. Er legte beides behutsam auf den Tisch neben dem Bett. »Gib mir eine Unterschrift.«

Ihn jetzt verblüfft anschauend, nahm Andrew den Block auf und krümmte seine Finger um den Bleistift. Dann beugte er den Kopf und konzentrierte sich auf die unglaublich schwierige Aufgabe, seinen Namen zu schreiben. Ein kindisches Gekritzel erschien vor seinen Augen. Er sah auf zu Paul, aufs äußerste überrascht. »Aber ich werde lernen, wieder zu schreiben. Ein bißchen Übung …«

»Natürlich«, Paul nickte. »Aber der Unterschied zwischen deiner jetzigen Persönlichkeit und deiner – vergangenen – Persönlichkeit wird jeden Graphologen gegen deine Ansprüche gutachten lassen.« Er hielt inne und fügte dann sanft hinzu, »und dann sind zweifellos viele deiner Teilhaber Leute, die eine solche Gelegenheit schnell ergreifen werden. Traust du ihnen zu, daß sie es nicht in ihrem Interesse finden werden, deine Identität zu verleugnen?«

Langsam legte sich Andrew auf das Kissen zurück. Es war wahr genug. Auch in der Creme der industriellen Hochfinanz gab es eine gewisse Quote von Wegelagerern. Sogar er selbst spürte, während er seine mißliche Lage denkend verdaute, das langsame Wiederaufkommen seines eigenen alten Instinktes, der sich erhob, um wieder umherzustreifen. Und mit diesem kam das bewährte Motto zurück ins Bewußtsein: entblöße deine Hauer, wenn du die Macht hast, aber während du ihr nachläufst, geh mit bescheiden gesenktem Kopf. »Nun«, sagte er. Er warf einen flüchtigen Blick auf Erna, die ihn mit großäugiger Anteilnahme beobachtete. So anmutig, so begehrenswert. Aber das würde eine Weile zu warten haben. »Was soll ich tun?« Er hob die Hände und sah sie an. »Keine Fingerabdrücke, die von irgendwelchem Nutzen wären. Aber sie sind wieder brauchbar, Paul. Kannst du mir hier einen Job für eine Zeitlang geben?«

Paul lächelte plötzlich, erleichtert, wie es schien. »Das ist ein Gedanke. Dann wäre es wirklich wieder wie in alten Tagen.« Er erhob sich. »Nun, wir müssen jetzt hinauf zu den Ställen. Ich freue mich darüber, wie du das Ganze überstanden und diese Wendung der Dinge genommen hast, Andrew, das macht mich sehr glücklich.«

»Du hast getan, was du gesagt hast, daß du tun würdest«, sagte Andrew. »Ich bin der glücklichste Mensch in der Geschichte. Und wenn ich nicht versucht hätte, dich anzuschmieren, hätte ich mich selbst auch nicht angeschmiert, nicht wahr?«

Paul seufzte. »Ich gebe es zu. Ich bin der Versuchung erlegen. Der Gedanke, dich dich selbst um dein ganzes Vermögen bringen zu sehen, war zu verlockend. Aber jetzt tut mir das wirklich leid, Andrew.«

»Vergiß es.«

Erna rutschte vom Bett herunter und folgte Paul hinaus, berührte Andrews Hand, als sie vorbeiging. Er lauschte, wie die beiden den Korridor entlanggingen, dann das sanfte Schließen der Tür, als sie den Trakt verließen, um zu den Ställen hinaufzugehen. Danach lag er ruhig, hin- und herdenkend, während sich Versuchung und Zorn langsam zu einer Triebkraft zusammenballten. Schließlich wand er sich aus dem Bett und stand barfüßig auf dem Boden, sein ganzes Wesen war vergiftet, kalt, brutal.

Für dich wieder arbeiten! Für dich arbeiten! Wozu denn, du dämliches, rachsüchtiges altes Arschloch! Die Früchte eines Lebens um eines Augenblicks willen vernichten! Du vertrockneter Akademiker! Dich befriedigt es vielleicht, sechzig Jahre mit den Augen an einem Mikroskop hängend zu verbringen, aber mir steht der Sinn nach etwas anderem. Und diesmal werde ich keine fünfzehn Jahre verschwenden, um den Hintern vom Boden hochzukriegen.

Er wußte, daß sie mindestens für eine Stunde in den Ställen zu tun hatten. Er schlich den Korridor entlang, am Operationszimmer vorbei, ins Laboratorium. Es war dunkel bis auf ein kleines Licht über Pauls Schreibtisch. Er ging – seine Augen hatten sich augenblicklich auf die Dunkelheit eingestellt – vorsichtig und langsam den langen Gang hinunter, untersuchte dabei Pauls Ausrüstung im Vorbeigehen, berührte hier und da ein Gerät, erkennend, sich erinnernd, während das Wissen mit den anderen wiederbelebten Kräften in ihn zurückströmte. Auf halber Höhe des langen durchgehenden Arbeitstisches angelangt, blieb er stehen. Da, in einem Glaskasten, vor einigen Reihen ähnlicher kleiner Phiolen, war die eine mit der durch den Korken gestochenen Stopfnadel. Er blickte kühl berechnend auf das gläserne Gefäß.

»Wird es mit ihm in Ordnung gehen?«

Ernas Stimme, er erstarrte.

»Liebst du ihn?«

Beim Klang von Pauls Stimme wurde Andrew klar, daß er über eine offene Gegensprechanlage zwischen dem Labor und den Ställen mithörte. Er sah sich danach um und machte das Gerät etwas weiter links aus, er war im Dunkeln dran vorbeigegangen.

»Ich glaube, schon.«

Schwach aus dem Hintergrund konnte er jetzt ein Pferd schnaufen hören, und dazwischen das zeitweilig aussetzende Winseln eines Hundes. Er entspannte sich und wandte sich wieder dem Glaskasten zu, seine Augen auf die Phiole geheftet.

Ein Glucksen von Paul. »Andrew ist jetzt in Ordnung.«

»Wie kannst du so sicher sein?«

Sie war Millionen wert, diese Phiole. Ungezählte Millionen. Alles Glück der Welt würde ihm in den Schoß gepurzelt kommen. Die eitlen Reichen, Politiker, Sportler, Filmstars …

»Die Ratten, Erna.«

Verstohlen schob Andrew die Tür zu dem Glaskästchen auf. Seine Hände schlossen sich um die Phiole. Dann hielt er inne, prüfte die anderen Fläschchen, die in den Regalen aufgereiht waren. Enthielten sie dieselbe Flüssigkeit?

»Welche? Die ersten zwei sind gestorben.«

»Ah, aber sie haben ihren Zweck erfüllt! Wenn sie sich nicht, nachdem sie den Prozeß durchlaufen hatten, an den Irrgarten erinnert hätten, hätten wir nie vermutet, daß wir praktisch dasselbe Wesen reproduziert hatten.«

Andrew drehte die Phiole in den Fingern. Nun denn. Ich werde wohl schon eine Weile für dich arbeiten. Lang genug, um zu beobachten, zu lernen. Wenn ich genug weiß, kann ich ja jederzeit gehen.

»Aber die nächsten vier Ratten vergaßen den Irrgarten und mußten alles wieder von vorne lernen. So war es in jedem Fall, Erna. Diejenigen, die sich an den Irrgarten erinnern, sind auch diejenigen, deren Bluterzeugung nach einigen Wochen versagt. Es ist so, als ob das Wesen als Ganzes eine einschneidende Begradigung durchführen müßte, um zu überleben. Ich bin froh zu sagen, daß Andrew jetzt ein anderer Mensch ist.«

Während Andrew Pauls trockenes, überzeugtes Kichern hörte, fühlte er, wie die Phiole in seiner Hand schwer wurde.