Volle Sonne
(Full
sun)
Brian W. Aldiss
Die Schatten der riesigen Bäume verlängerten sich zum Abend hin und verschwanden dann, als die Sonne von einem großen Wolkenhaufen am Horizont verschlungen wurde. Balank fühlte sich unbehaglich, nahm sein Lasergewehr vom Roboterwagen und klemmte es unter den Arm, obwohl das bedeutete, daß er mehr Gewicht den Berg hinaufschleppen mußte, und er war müde.
Der Roboterwagen ermüdete nie. Sie hatten den größten Teil des Tages diese Berge erklommen, was Balank an seinen Oberschenkelmuskeln spürte, und auf der Jagd war er fast ständig geduckt unter den Eichen hindurchgegangen, während die Maschine neben ihm stets mit ihm Schritt hielt.
Im Laufe des anstrengenden Tages hatten ihre Instrumente ihnen meistens gemeldet, daß der Werwolf ziemlich nahe sei. Balank blieb wachsam, argwöhnisch gegen jeden Baum. In der letzten halben Stunde war die Witterung freilich schwächer geworden. Auf dem Gipfel dieses Hügels wollten sie sich ausruhen – wenigstens der Mann. Die Lichtung dort oben war nun nicht mehr weit. Unter Balanks Stiefeln wurde die Schicht des toten Laubes dünner.
Er hatte zu lange auf den goldbraunen Teppich gestarrt; sogar seine Netzhaut war müde. Jetzt blieb er stehen, atmete die scharfe Luft tief ein und blickte umher. Die Aussicht hinter ihnen über das abfallende und so gut wie unbewohnte Land war herrlich, aber Balank würdigte sie kaum eines Blickes. Das Infrarot-Warnsystem am Roboterwagen reagierte, und die Maschine zeigte mit einem schlanken Stab auf eine menschengroße Wärmequelle vor ihnen. Balank erspähte den Mann nahezu im selben Augenblick wie die Maschine.
Der Fremde stand halb verdeckt hinter einem Baumstamm und starrte den Roboterwagen und Balank unsicher an. Als Balank die Hand zum angedeuteten Gruß hob, erwiderte ihn der Fremde zögernd. Als Balank seine Kenn-Nummer rief, trat der Mann vorsichtig ins Freie und nannte seine eigene Nummer.
Der Roboterwagen suchte in seiner Kartei, gab sein O.K. und sie setzten sich wieder in Bewegung.
Als sie auf gleicher Höhe mit dem Mann waren, sahen sie, daß er eine bewegliche Feldhütte hinter sich errichtet hatte. Er schüttelte Balank die Hand, wobei sie persönliche Signale austauschten, und stellte sich als Cyfal vor.
Balank war ein großer, schlanker, fast kahlköpfiger Mann mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck, der für seine Epoche als charakteristisch bezeichnet werden konnte. Cyfal dagegen war zwar genauso schlank, aber kleiner, so daß er gedrungener wirkte; sein Haarschopf bedeckte den ganzen Schädel und zog sich bis in sein Gesicht hinein. Etwas in seiner Art, oder der Ausdruck um seine Augen, verriet den seltenen Typ des Mannes, der sein Leben hauptsächlich außerhalb der Stadt verbrachte.
»Ich bin der Waldhüter in diesem Bezirk«, sagte er und fügte, auf seinen Armbandsender zeigend, hinzu: »Ich wurde davon unterrichtet, daß Sie sich vielleicht in dieser Gegend aufhielten, Balank.«
»Dann wissen Sie wohl auch, daß ich hinter dem Werwolf her bin.«
»Dem Werwolf? Viele von ihnen streifen durch diese Gegend, seit die menschliche Bevölkerung fast gänzlich in den Städten zusammengepfercht ist.«
Etwas im Ton dieser Bemerkung klang in Balanks Ohren wie Gesellschaftskritik; er warf dem Roboterwagen einen Blick zu, ohne etwas zu erwidern.
»Jedenfalls haben Sie sich eine gute Nacht für die Jagd auf ihn ausgesucht«, sagte Cyfal.
»Wie meinen Sie das?«
»Vollmond.«
Balank erwiderte nichts. Er wußte besser als Cyfal, dachte er, daß die Werwölfe bei Vollmond ihre größte Macht erlangten.
Der Wagen erkundete mit seiner sich langsam drehenden Antenne die Umgebung. Balank fühlte sich dabei unbehaglich. Er folgte dem Roboter. Mann und Maschine standen zusammen am Rande einer kleinen Klippe hinter der beweglichen Hütte. Die Klippe glich einer Schaumlocke auf einem gigantischen Pazifikbrecher, denn hier erreichte die gewaltige Woge der Erde, nämlich dieser Hügel, ihren höchsten Punkt. Jenseits davon senkte sie sich in rissiger Großartigkeit hinab zu frischen Tälern. Der Weg bergab war von Buchen gesäumt wie der Weg bergauf von Eichen.
»Das ist das Pracha-Tal. Von hier aus können Sie den Fluß nicht sehen.« Cyfal war ihnen gefolgt.
»Haben Sie irgend jemanden gesehen, der ein Werwolf sein könnte? Sein richtiger Name ist Gondalug, Kenn-Nummer YB 5921 Strich AS 25061, Stadt Zagrad.«
Cyfal sagte: »Ich sah heute morgen jemanden auf diesem Weg. Ich glaube, es waren sogar mehrere.« Etwas in seiner Art ließ Balank ihn schärfer mustern. »Ich habe mit keinem von ihnen gesprochen, sie auch nicht mit mir.«
»Sie kennen sie?«
»Ich habe mit vielen Männern hier draußen in den stillen Wäldern gesprochen und später entdeckt, daß sie Werwölfe waren. Sie haben mir nie etwas getan.«
Balank sagte: »Aber Sie haben Angst vor ihnen?«
Diese Halbfrage durchbrach Cyfals Zurückhaltung. »Natürlich habe ich Angst vor ihnen. Sie sind nicht menschlich – keine richtigen Menschen. Sie sind die Feinde der Menschen. Oder etwa nicht? Sie besitzen größere Macht als wir.«
»Man kann sie töten. Sie haben keine Maschinen wie wir. Sie sind keine ernsthafte Gefahr.«
»Sie sprechen wie ein Städter! Wie lange jagen Sie den da schon?«
»Acht Tage. Einmal habe ich einen Schuß aus dem Lasergewehr auf ihn abgefeuert, aber er war verschwunden. Er ist ein grauer, stark behaarter Mann mit scharfen Gesichtszügen.«
»Wollen Sie bleiben und mit mir zu Abend essen? Bitte, ich brauche jemanden, mit dem ich sprechen kann.«
Zum Abendessen verzehrte Cyfal ein Stück Wild, das er gekocht hatte. Innerlich darüber entsetzt, aß Balank seine eigene Ration aus dem Roboterwagen. In dieser und in anderer Hinsicht war Cyfal ein Anachronismus. In den Städten wurde heutzutage kaum noch Nutzholz benötigt, ja schon seit Millionen Jahren nicht mehr. Nur noch am Rande wurde Holz verwendet, und dazu bedurfte es der Waldhüter, deren Hauptaufgabe darin bestand, alte Bäume, die umzustürzen drohten, zu markieren, so daß dann Maschinen darüber fliegen und sie wie faule Zähne aus den Kiefern des Waldes ziehen konnten. Immer mehr Maschinen hatten die Stellung eines Waldhüters inne, da in jeder Generation immer weniger Männer zu finden waren, die eine so gefährliche und einsame Arbeit fern der Städte auf sich nahmen.
Im Laufe der Äonen überlieferter Geschichte hatte die Menschheit Maschinen entwickelt, die ihre Städte zu Orten des Wohlbehagens machten. Maschinen hatten die frühen unwirksamen Maschinen des Menschen ersetzt; Maschinen hatten die Transportmethoden neu geplant; Maschinen planten inzwischen das Leben des Menschen für ihn. Die alten Steindschungel aus der kurzen Kindheit des Menschen lagen so tief in der Erinnerung begraben wie die Kohlendschungel des Karbons.
In dem weit zurückliegenden abgetanen Gestern hatten Mensch und Maschinen die Erschaffung des Lebens entdeckt. Neue Nahrung wurde produziert, weder Fleisch noch Gemüse, und das alte Rad der Vergangenheit war ein für allemal zerbrochen, da nun das Band zwischen dem Menschen und dem Land zerrissen worden war: die Landwirtschaft, Adams Aufgabe, war genauso tot wie die Dampfer.
Die geistige Haltung prägte körperliche Veränderungen. Nachdem die Städte sich selbst versorgen konnten, brauchte die Menschheit nur noch Städte und die Ressourcen der Städte. Die Kommunikation von Stadt zu Stadt wurde so gut, daß sich die physische Reise erübrigte; Stadt wurde durch wuchernde Vegetation so scharf von Stadt getrennt wie Planet von Planet. Nur wenige der haarlosen Städter dachten noch an draußen; diejenigen, die leibhaft nach draußen gingen, hatten unweigerlich einen Hang zum Anormalen.
»Die Werwölfe wachsen wie wir in Städten auf«, sagte Balank. »Erst in der Pubertät brechen sie aus und suchen die Wildnis auf. Vermutlich wußten Sie das?«
Cyfals Kopfleuchte war unstet, flackerte irritierend. »Lassen Sie uns nach Sonnenuntergang nicht von Werwölfen reden«, sagte er.
»Die Maschinen werden sie auf die Dauer alle zur Strecke bringen.«
»Seien Sie dessen nicht so sicher. Bei der Aufspürung eines Werwolfes taugen sie weniger als ein Mensch.«
»Ich nehme an, daß Sie sich Ihrer Gesellschaftskritik bewußt sind, Cyfal?«
Cyfal zog ein saures Gesicht und knipste unhöflich seinen Armbandsender an. Gleich danach folgte Balank seinem Beispiel. Der Vermittler erschien sofort, und Balank bat, mit dem Nachrichtensatelliten verbunden zu werden.
Er wollte etwas Neues über den gerade durchgeführten Zeiterforschungsplan sehen, aber es gab keine Neuigkeiten. Ihm wurde geraten, in einer Stunde zurückzurufen. Als er zu Cyfal schaute, sah er, daß der Waldhüter irgendeine Tanzrevue eingeschaltet hatte; die herumwirbelnden Gestalten auf dem kleinen Bildschirm waren von seinem Gesichtswinkel aus schrecklich verzerrt. Er erhob sich und ging zur Tür der Hütte.
Der Roboterwagen stand draußen, stets wachsam, und ignorierte ihn. Ein trügerischer Schimmer lag über der Lichtung. Tiefe Dämmerung herrschte, durchdrungen von den Strahlen des gerade aufgegangenen Mondes; er war überrascht, wie schnell der Tag entschwunden war.
Plötzlich wurde er sich selbst als eines Lebewesens mit begrenzter Lebensdauer bewußt, von der bereits viel unbemerkt verstrichen war. Der Augenblick der Innenschau war so uncharakteristisch für ihn, daß er sich fürchtete. Er sagte sich, daß es höchste Zeit wurde, den Werwolf zur Strecke zu bringen und in die Stadt zurückzukehren: zuviel Einsamkeit machte ihn morbid.
Während er dort stand, hörte er, daß Cyfal hinter ihn trat. Der Mann sagte: »Es tut mir leid, daß ich so unwirsch war, während ich mich doch so gefreut habe, Sie zu treffen. Ich bin nun einmal nicht an das Denken der Städter gewöhnt. Seien Sie mir bitte nicht böse – ich fürchte, Sie könnten sogar denken, daß ich selbst ein Werwolf bin.«
»Das ist Unsinn! Sobald Sie in Sichtweite waren, haben wir ein Blutbild von Ihnen gemacht.« Dennoch erkannte er, daß Cyfal ihn beunruhigte. Er ging zu dem Rollwagen, der die Tür bewachte, nahm sein Lasergewehr und steckte es unter den Arm. »Auf alle Fälle«, sagte er.
»Natürlich. Sie glauben, daß er in der Nähe ist – Gondalug, der Werwolf? Vielleicht verfolgt er Sie und nicht Sie ihn?«
»Es ist, wie Sie sagten, Vollmond. Außerdem hat er seit Tagen nichts gegessen. Wissen Sie, sie rühren keine synthetische Nahrung mehr an, sobald sich das lykanthropische Gen durchgesetzt hat.«
»Deshalb essen sie wohl gelegentlich Menschen?« Nach einer kurzen Pause fügte Cyfal hinzu. »Aber sie sind Teil der menschlichen Rasse – das heißt, wenn man sie als Menschen betrachtet, die sich in Wölfe verwandeln und nicht als Wölfe, die sich in Menschen verwandeln. Ich meine, sie sind enger mit uns verwandt als Tiere oder Maschinen.«
»Nicht enger als Maschinen!« sagte Balank schockiert. »Wie könnten wir ohne die Maschinen überleben?«
Cyfal ließ die Frage unbeantwortet und sagte: »Meiner Ansicht nach verwandeln sich die Menschen in Maschinen. Ich persönlich würde mich lieber in einen Werwolf verwandeln.« Irgendwo in den Bäumen erklang ein Schmerzensschrei und wurde wiederholt.
»Eine Nachteule«, sagte Cyfal. Der Laut brachte ihn in die Gegenwart zurück, und er bat Balank, hereinzukommen und die Tür zu schließen. Er holte Wein hervor, den sie erwärmten, salzten und zusammen tranken.
»Die Sonne ist meine Uhr«, sagte er, nachdem sie eine Weile geplaudert hatten. »Ich gehe bald ins Bett. Schlafen Sie auch?«
»Ich schlafe nicht – ich habe einen Auffrischer.«
»Ich habe mich dieser Operation nie unterzogen. Setzen Sie Ihren Weg fort? Hören Sie, haben Sie vor, mich hier ganz allein zu lassen, in der Nacht des Vollmondes?« Er packte Balank beim Ärmel, zog dann aber seine Hand wieder zurück.
»Wenn Gondalug in der Nähe ist, will ich ihn heute nacht töten. Ich muß zur Stadt zurück.« Aber als er sah, daß Cyfal sich fürchtete, ergriff ihn Mitleid mit dem kleinen Mann. »Allerdings könnte ich eine Stunde Auffrischung gebrauchen – ich hatte seit drei Tagen keine mehr.«
»Sie tun es hier?«
»Aber gewiß, legen Sie sich nur hin – Sie sind doch bewaffnet?«
»Das nützt einem auch nicht immer.«
Während der kleine Mann sich sein Nachtlager bereitete, schaltete Balank seinen Fernseher wieder an. Die Neuigkeiten waren inzwischen zusammengestellt worden und erschienen fast sofort. Wieder einmal wurde Balank in eine ferne und schreckliche Zukunft gestürzt.
Den Maschinen war es gelungen, ihre Zeiterforschung etwa acht Millionen Jahre voranzutreiben, und dort gebot ihnen eine Abweichung in den Quanten des elektromagnetischen Spektrums Einhalt. Der Grund dafür war bisher unklar und lag an der wechselnden Natur der Sonne, die starken Einfluß auf die Zeitstruktur ihres eigenen winzigen Winkels auf der Milchstraße ausübte.
Balank war gespannt, ob die Maschinen das Problem gelöst hatten. Offensichtlich nicht, denn die Hauptnachricht des Tages war, daß Plattform Eins entschieden hatte, die Operationen auf die bereits erschlossene Zeitspanne zu beschränken. Plattform Eins war die Bezeichnung für die der Zeit um viele Hunderte von Jahrhunderten vorausseiende Maschinenzivilisation, die als erste die Zeitschranke durchbrochen und vor ihrer eigenen Epoche die Verbindung zu allen maschinenregierten Zivilisationen aufgenommen hatte.
Was für eine Enttäuschung, daß nur die elektronischen Sinne der Maschinen in die Zeit vordringen konnten! Balank hätte brennend gern eine der Gigantenstädte der fernen Zukunft besucht.
Ein Trost nur, daß die Forschungsgeräte Video-Bilder dieser Welt zu ihrer eigenen Zeit zurücksendeten. Jene fremden Landschaften erweckten in Balank einen Riesenhunger nach mehr; er schaute sich alles an, was er konnte. Sogar auf der Jagd nach dem Werwolf, die nahezu all seine Fähigkeiten in Anspruch nahm, ließ er sich jedes mögliche Bild jener unerreichbaren und schrecklichen Wirklichkeit übertragen, die in weiter Ferne in derselben Zeitschicht lag, die seine eigene Welt enthielt.
Als die ersten Sendungen dreidimensional wurden, hörte Balank ein Geräusch draußen vor der Hütte und war sofort auf den Beinen. Er packte sein Gewehr, öffnete die Tür und spähte hinaus, die linke Hand am Türpfosten, während sein Armbandfernseher eingeschaltet blieb.
Der Roboterwagen mit seinen stetsfunktionierenden Sinnen hockte draußen und fixierte ihn mit einem Indikator, als begrüßte er ihn unfreundlich. Ein oder zwei Blätter flatterten von den Bäumen herab; hier war es niemals so völlig still, wie es nachts in den Städten sein konnte; immer lebte oder starb irgend etwas in diesen kartographisch nicht erfaßten Wäldern. Als er seinen Blick durch die Dunkelheit streifen ließ – aber natürlich sahen der Roboterwagen und, wie es hieß, der Werwolf wesentlich schärfer in dieser Situation als er –, wurde seine Sicht von der Darstellung der Zukunft gemindert, die blaß an seiner Manschette glimmte. Zwei Phasen derselben Welt befanden sich Seite an Seite, eine stand schräg und verhieß eine Umgebung, in der andere Sinne nötig sein würden, um am Leben zu bleiben.
Befriedigt, wenn auch weiterhin wachsam, schloß Balank die Tür, setzte sich hin und widmete sich der Sendung. Als sie beendet war, stellte er die Wiederholung ein. Cyfal bemerkte Balanks Faszination und schaltete in seiner Schlafkoje dasselbe Programm an.
Über den eisigen Wüsten der Erde schien eine blaue Sonne, die zu klein war, um sich als Scheibe zu zeigen, und von diesem Lichtspan stammten alle irdischen Veränderungen. Das Licht war so hell wie der Schein des Vollmondes und kaum wärmer. Nur wenige seltsame und verkümmerte Pflanzenarten streckten sich von den Bergen aus ihm entgegen. All die alten primitiven Gattungen der Flora waren längst verschwunden. Bäume, viele Epochen lang eine der beherrschenden Formen der Erde, waren verschwunden. Tiere waren verschwunden. Vögel waren vom Himmel verschwunden. In den Bergmeeren fristeten nur noch sehr wenige Lebensformen ihr Dasein.
Neue Kräfte hatten diese künftige Erde geerbt. Es war die Zeit der majestätischen Morgenröten, der Nächte des fast absoluten Nullpunkts, der jahrelangen Schneestürme.
Aber es gab immer noch Städte, deren Lichter heller leuchteten als die kühle Sonne – und Maschinen.
Die Maschinen dieses fernen Zeitalters waren monströse und komplizierte Objekte, langsam und gepanzert, und sie glichen den Dinosauriern, die im Morgengrauen der Erde eine Stunde ausgefüllt hatten. Sie streiften bei ihren unvermeidlichen Missionen durch die fahle Landschaft. Sie klommen in den Raum, wo sie fern der Erdkugel Riesenarme ausbreiteten, um Energie einzufangen und ein weites Schleppnetz magnetischer Kräfte um den armen Fisch Sonne zu spannen.
Im natürlichen Verlauf ihrer Entwicklung war die Sonne in ihr weißes Zwergstadium gelangt. Ihre Phase als gelber Stern, in der sie das Leben der Wirbeltiere unterstützte, war kurz gewesen und nun vorüber. Sie ging ihrer noch weitentfernten Blütezeit entgegen, ihrem wichtigsten Lebensabschnitt, in der sie ein roter Zwergstern wurde. Dann reifte sie und wurde mit einer Erkenntnis ausgestattet, die unzählige Male größer war als dieses geringfügige Bewußtsein, das sie bisher besessen hatte. Als die in ihre Hornpanzer gehüllten Maschinen zu ihr hinaufkletterten, war die Sonne in eine Periode billionenjähriger Ruhe eingetreten und warf das Licht eines ständigen Vollmonds auf ihren dritten Planeten.
Die Dokumentation über dieses Bild der Spätzeit wurde von einem Kommentar begleitet, der hauptsächlich aus einer Aufzählung der technischen Schwierigkeiten bestand, auf die Plattform Eins und die anderen Maschinenzivilisationen in jener Zeit stießen. Es ging über Balanks Horizont. Er sah schließlich von seinem Fernseher auf und stellte fest, daß Cyfal in seiner Koje eingeschlafen war. An seinem Handgelenk, das sich an seinen zerzausten Kopf schmiegte, glomm immer noch die zusammengeschrumpfte Sonne.
Balank betrachtete eine Weile den Waldhüter forschend. Die Kritik des Mannes an den Maschinen störte ihn. Natürlich kritisierten die Leute dauernd die Maschinen, aber immerhin hing die Menschheit in zunehmendem Maße von ihnen ab, und die meiste Kritik war oberflächlich. Cyfal schien an der ganzen Rolle der Maschinen zu zweifeln.
Es war äußerst schwierig zu entscheiden, wieviel Wahrheit darin lag. Zum Beispiel die Werwölfe. Sie waren von jeher die Feinde des Menschen, und vermutlich verfolgten die Maschinen sie deshalb so unerbittlich – zum Wohle des Menschen. Und besaßen sie wirklich magische Kräfte? – Das hieß Kräfte, die über die des Menschen hinausgingen, die es ihnen ermöglichten zu überleben und zu gedeihen, wie es der Mensch nicht konnte, obwohl ihn alle Kräfte der Städte unterstützten. Der Dunkle Bruder: so nannten sie den Werwolf, weil er wie die Schattenseite des Menschen war. Aber er war kein Mensch – worin er sich genau unterschied, vermochte freilich keiner zu sagen, nur daß er überlebte, wo der Mensch es nicht konnte.
Immer noch stirnrunzelnd ging Balank zur Tür und schaute hinaus. Der Mond stieg höher und warf ein bleiches scheckiges Licht durch die Bäume der Lichtung und auf den Roboterwagen. Balank wurde an jenen fernen Tag erinnert, an dem auch die Sonne nicht wärmer scheinen würde.
Der Roboterwagen war auf Sendung geschaltet, und Balank fragte sich, mit wem er wohl in Verbindung stand. Wahrscheinlich mit dem Hauptquartier, das er um neue Anweisungen bat und dem er Bericht erstattete.
»Ich lasse mich eine Stunde auffrischen«, sagte er. »Ist dir das recht?«
»Nur zu. Ich halte solange Wache«, sagte die Sprechleitung des Roboterwagens.
Balank ging wieder in die Hütte, setzte sich an den Tisch und klammerte den Auffrischer um seine Stirn. Er sank sofort in Bewußtlosigkeit, eine Bewußtlosigkeit, die ihn für die nächsten zweiundsiebzig Stunden mit genügend Schlaf und Traum auflud. Am Ende der eingestellten Stunde erwachte er und nahm irritiert wahr, daß in seinem Kopf Verwirrung herrschte.
Ehe er den Kopf vom Tisch hob, kam ihm der Gedanke: Wir haben überhaupt keine Menschen in dieser eisigen Zukunft gesehen.
Er richtete sich auf. Selbstverständlich war es nur eine zufällige Auslassung in einem kurzen Programm gewesen. Menschen waren nicht so wichtig wie Maschinen, und das galt in noch stärkerem Maße für die ferne Zeit. Aber in keinem Ausschnitt der Berichterstattung waren Menschen gezeigt worden, nicht einmal in den gigantischen Städten. Die Maschinen hatten sich zur Zeit der historischen Emanzipation verpflichtet, die menschliche Rasse immer zu schützen.
Also ich rede Stuß, sagte sich Balank. Cyfals subversive Bemerkungen hatten seinen Kopf unheilvoll belastet. Instinktiv schaute er zum Wildhüter hinüber.
Cyfal lag tot in seiner Schlafkoje. Verrenkt. Der Kopf baumelte über den Rand der Matratze, die Kehle war herausgerissen. Blut quoll noch aus der Wunde, tröpfelte träge von einer Schulter auf den Boden.
Balank raffte sich zusammen und trat zu ihm. Cyfals eine Hand umklammerte ein Stück graues Fell.
Der Werwolf hatte zugeschlagen! Balank griff sich entsetzt an die Kehle. Offenbar war er rechtzeitig erwacht, um sein eigenes Leben zu retten, und das Wesen war geflohen.
Lange Zeit stand er da und starrte voll Mitleid und Grauen auf den toten Mann herab, ehe er das Stück Fell aus seinem Griff löste. Er musterte es mit Abscheu. Es war weicher, als er es sich bei einem Wolfspelz vorgestellt hatte. Er drehte die Haare auf seiner Handfläche um. Ein Stück Haut war mit den Haaren ausgerissen worden. Er betrachtete es genauer.
Ein Buchstabe war in die Haut eingeprägt.
Zwar nur schwach, aber schließlich entzifferte er ein »S« am Rande der Haut. Nein, es mußte eine Quetschung sein, ein Fleck, alles andere als ein eingeprägter Buchstabe. Denn das hieße, daß es synthetisch und als Beweisstück zurückgelassen war, um Balank irrezuführen …
Er rannte zur Tür, packte unterwegs sein Lasergewehr und stürzte nach draußen. Er sah, wie der Roboterwagen über die Lichtung auf ihn zukam.
»Wo bist du gewesen?« rief er.
»Auf Patrouille. Ich habe etwas zwischen den Bäumen gehört und einen flüchtigen Blick von einem großen grauen Wolf erhascht, aber es ist mir nicht gelungen, ihn zu vernichten. Warum hast du solche Angst? Ich registriere überschüssiges Adrenalin in deinen Adern.«
»Komm herein und sieh es dir an. Etwas hat den Waldhüter getötet.«
Er trat zur Seite, als die Maschine in die Hütte kam und einige Stäbe über der Leiche in der Schlafkoje ausstreckte. Während er sie beobachtete, steckte Balank das Stück Fell in seine Tasche. »Cyfal ist tot. Seine Kehle ist herausgerissen worden. Es ist die Tat eines großen Tieres. Balank, wenn du dich ausgeruht hast, müssen wir die Verfolgung des Werwolfes Gondalug, Kenn-Nummer YB 5921 Strich AS 25061 wiederaufnehmen. Er hat dieses Verbrechen begangen.«
Sie gingen hinaus. Balank zitterte. Er sagte: »Sollten wir nicht erst diesen armen Kerl begraben?«
»Wenn es sein muß, können wir bei Tageslicht zurückkommen.«
Mit dem Roboterwagen konnte man nicht argumentieren. Dieser hatte sich schon in Bewegung gesetzt, und Balank mußte ihm wohl oder übel folgen.
Sie gingen hinunter zum Pracha-Fluß. Die Schwierigkeit des Abstiegs vertrieb schon bald alles andere aus Balanks Sinn. Sie hatten Gondalug bis hierher verfolgt, und es war unwahrscheinlich, daß er noch viel weiterziehen würde. Jenseits des Flusses lag ödes, kahles Hochland, das kaum Deckung bot. In diesem zerklüfteten Tal würde sich Gondalug in der Erde verkriechen und hoffen, von ihnen nicht entdeckt zu werden. Aber ihre Instrumente würden ihn aufstöbern, so daß sie ihn dann zur Strecke bringen könnten. Mit etwas Glück führte er sie zu den Höhlen, in denen sie andere Männer und Frauen und vielleicht sogar Kinder finden und ausrotten würden, die die tödlichen lykanthropischen Gene besaßen und sich weigerten, in den Städten zu leben.
Sie benötigten zwei Stunden, um zum tieferen Teil des Tales zu gelangen. Große Felsbrocken waren herabgestürzt und bildeten nun, getrennt von ihrer Ursprungsmasse, selbständige würfelförmige Hügel inmitten senkrecht aufragender, von spärlichem Wachstum gekrönter Sandsteinklippen. Der Pracha selbst verschwand häufig in schmalen Schlünden, und die ganze Gegend war von Höhlen und Felsspalten zerklüftet. Das Land bot ideale Schlupfwinkel.
»Ich muß mich einen Augenblick ausruhen«, keuchte Balank. Der Roboterwagen hielt sofort an. Er bewegte sich über jedes Terrain und streckte kurze Beine zu seiner Hilfe aus, wenn Raupenketten und Räder versagten.
Sie standen verstimmt in der fahlen Nacht beisammen, umgeben von dem Geräusch des kleinen Flusses, der sich den Weg durch sein felsiges Bett bahnte.
»Du sendest schon wieder, nicht wahr? Wem?«
Die Maschine fragte: »Warum hast du das Stück Wolfspelz versteckt, das du in der Hand des Waldhüters gefunden hast?«
Balank rannte sofort los, suchte Deckung hinter dem nächsten Felsbrocken. Im Dreck liegend sah er einen Hitzestrahl über sich vorbeizischen und rollte sich um die Ecke. Der Pracha floß hier durch eine steilwandige Schlucht. Die Angst verlieh Balank Kraft, so daß er einen Anlauf nahm, mit einem mächtigen Satz über die Schlucht sprang und in die Schatten auf der anderen Seite des Schlundes fiel. Er kroch hinter einen großen Felsblock, dessen abgeflachte Spitze seinen Kopf um mehrere Ellen überragte und auf dem eine gekrümmte Kiefer wuchs.
Der Roboterwagen rief ihn vom anderen Flußufer.
»Balank, Balank, du hast den Verstand verloren!«
Ohne den Schutz des Felsens zu verlassen, rief er zurück: »Geh heim, Roboterwagen! Hier findest du mich nie!«
»Warum hast du das Stück Wolfspelz aus der Hand des Waldhüters versteckt?«
»Wie kannst du etwas von dem Pelz wissen, wenn du ihn nicht selbst dorthin gebracht hast? Du hast Cyfal getötet, weil er Dinge über Maschinen wußte, die ich nicht wußte, nicht wahr? Du wolltest mich glauben lassen, daß der Werwolf es getan hat, nicht wahr? Die Maschinen bringen nach und nach die Menschen um, nicht wahr? Es gibt so etwas wie Werwölfe gar nicht, oder?«
»Da irrst du dich, Balank. Werwölfe gibt es schon. Weil der Mensch nie wirklich geglaubt hat, daß sie existieren, haben sie überlebt. Wir hingegen glauben, daß sie existieren, und sie sind für uns eine größere Gefahr, als es die Menschheit heute noch sein kann. Ergib dich also und komm zu mir zurück. Wir wollen dann weiter nach Gondalug suchen.«
Er antwortete nicht. Er duckte sich und horchte, wie die Maschine am anderen Ufer murrte.
Auf dem Felsen über Balanks Kopf kauerte ein sehniger Mann mit flachem Schädel. Er nutzte jede Spur von Deckung besser als ein Mensch, während er die Szene unter ihm in sich aufnahm und sich alle Möglichkeiten der Situation ebenso wirksam durch den Sinn gehen ließ, wie seine Beine ihn durch das wilde Gras tragen konnten. Er wartete, ohne sich zu rühren, und sein Gesicht war grau und ernst und wachsam.
Die Maschine faßte einen Entschluß. Da sie von dem Menschen keine Antwort erhielt, kam sie behutsam um den Felsen herum und näherte sich dem Rand der Schlucht, durch die der Fluß strömte. Versuchsweise sandte sie einen Hitzestoß zur gegenüberliegenden Klippe, dem ein kurzer Kugelhagel folgte. »Balank?« rief sie.
Balank antwortete nicht, aber der Roboterwagen war überzeugt davon, daß er den Mann nicht getötet hatte. Er mußte irgendwie über die Schlucht gelangen, über die Balank gesprungen war. Er überlegte, ob er um Hilfe funken sollte, aber die nächste Stadt, Zagrad, war weit entfernt.
Er streckte seine Beine möglichst lang aus. Seine Krallenfüße konnten gerade das andere Ufer erreichen, aber dessen Rand bröckelte leicht ab und würde kaum das volle Gewicht tragen. Er schlurfte die Schlucht entlang, um eine ideale Stelle zu suchen.
Von seinem Versteck aus beobachtete Balank, wie die Maschine mörderisch matt im Mondschein glitzerte. Er ergriff einen scharfen Stein und wußte, was er damit zu tun hatte. Hier bot sich ihm die beste – vermutlich sogar die einzige – Gelegenheit, die Maschine zu zerstören. Wenn sie über der Schlucht schwebte, wollte er vorstürzen. Dann wäre sie zu beschäftigt, um ihn niederzubrennen. Er wollte den Stein gegen sie schleudern und das gemeine Ding so in den Fluß stürzen.
Die Maschine war schnell und klug. Ihm blieb nur der Bruchteil einer Sekunde zum Handeln. Schon wölbten sich seine Muskeln über den Fels, schon knirschten seine Zähne vor Anstrengung, schon funkelten seine Augen dem verhaßten Feind entgegen. Jede Sekunde konnte es jetzt so weit sein. Entweder er oder sie …
Gondalug starrte wachsam auf die Szene herab, beteiligt und zugleich unbeteiligt. Er sah, was der Mann im Sinn hatte, wußte, daß er auf die Begegnung innerhalb der nächsten knappen Sekunde wartete.
Seine eigene Art, der Dunkle Bruder des Menschen, ging anders vor. Sie sahen weiter voraus, wie sie es immer getan hatten, auf eine dem Homo sapiens unvorstellbare Weise. Für Gondalug war der Ausgang dieses besonderen kleinen Kampfes unwesentlich. Er wußte, daß seine Art bereits den Kampf gegen die Menschheit gewonnen hatte. Er wußte, daß sie sich noch auf ihren eigentlichen Kampf gegen die Maschinen einlassen mußten.
Aber die Zeit dazu käme schon. Und sie würden die Maschinen besiegen. In den langen Tagen, da die Sonne immer wie ein Vollmond über der gesegneten Erde schien – in jenen Tagen würde seine Art ihr Zeitalter des Wartens beenden und ihr eigenes wildes Königreich betreten.