Kapitel 4
Es wurde vieles anders nach diesem Tag, manches besser, manches schlechter. Die Gaukler stellten ihre Karren hinter dem Weiher auf und begannen die alte Scheune, die Mutter schon seit langem hatte abreißen wollen, abzudichten und winterfest zu machen. Zwei von ihnen, die junge Frau, die ich mit Josef gesehen hatte, und ein Mann, der sich als ihr Bruder ausgab, aber ihr nicht ähnlich sah, trennten sich von den anderen und sagten, sie wollten ihr Glück in Coellen versuchen. Richard ließ sie ziehen.
Die Scheune bot mehr als genug Platz für die acht Gaukler. Sie holten sich Heu aus der anderen Scheune, um darin zu schlafen, und später, als der Schnee kam, um ihre Ochsen zu füttern. Kochen mussten sie jedoch draußen, darauf hatte Mutter bestanden. Vorräte hatten sie genügend, die ganze Zeit über baten sie uns kein einziges Mal um etwas zu essen.
Auch im Dorf verhielten sie sich anständig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand Grund zur Klage hatte, denn sie bettelten nicht und behandelten jeden mit Respekt und Höflichkeit. Trotzdem gingen ihnen viele aus dem Weg, und nach einer Weile, als klar wurde, dass wir sie wirklich den ganzen Winter über beherbergen würden, gingen genau diese Leute auch uns aus dem Weg.
Eines Morgens im Dezember, kurz vor dem Weihnachtsfest, begegneten Mutter und ich dem krummen Hans. Er hustete so stark, dass Mutter ihm anbot, mit uns zu kommen, damit sie ihm etwas dagegen geben konnte, aber er winkte nur ab und ging dann in den Steinbruch.
Er war nicht der Einzige, der Mutters Hilfe ablehnte. Nur noch Jupp kam bei Tageslicht zu uns, einige wenige andere bei Nacht, wenn sie niemand dabei sehen konnte. Wenn Mutter sie nach dem Grund fragte, wichen sie aus oder erfanden Ausreden.
»Der Grund heißt Josef«, sagte Mutter eines Morgens, als wir in der Stube saßen und Haferschleim aßen. »Er jagt dem ganzen Dorf Angst ein mit seinen Schauergeschichten. Und alle glauben den Unsinn, den er über die Gaukler erzählt, anstatt auf ihre Augen zu vertrauen.«
»Erika hat sich bei Else über uns beschwert, weil ihre Hühner kaum noch Eier legen.« Mit einem Holzlöffel kratzte ich die letzten Reste Haferschleim aus dem Topf. »Sie denkt, die Gaukler hätten sie verflucht.«
Mutter schüttelte den Kopf. »Erikas Hühner sind so alt wie sie, deshalb legen sie keine Eier.« Sie schwieg einen Moment lang. Ich lauschte auf das Heulen des Windes. Es war ein kalter, grauer Januarmorgen. Am Vorabend hatte es begonnen zu schneien, und es sah nicht so aus, als würde es an diesem Tag noch einmal aufhören. »Hat Else sonst noch etwas gesagt?«, fragte Mutter nach einer Weile. Es klang beiläufig, aber ich wusste, dass sie sich Sorgen machte.
»Nein.«
Das war eine Lüge. Else erzählte mir alles, was im Dorf vorging, von den heimlichen Versammlungen, bei denen über uns geredet wurde, bis zu den Gerüchten über uns und die Gaukler. Wenn ich nur daran dachte, wurde ich ganz rot im Gesicht.
»Nein, nichts«, wiederholte ich, als Mutter mich musterte. Dass sie mir nicht glaubte, konnte ich sehen, aber zum Glück stellte sie keine weiteren Fragen.
Es klopfte.
Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zur Tür gelaufen, aber ich blieb äußerlich ruhig und sagte nur: »Du kannst reinkommen.«
Die Tür wurde aufgeschoben. Wind wehte in die Stube, brachte Schneeflocken und Kälte mit, dann trat Richard ein. Seine Haare und Schultern waren weiß von Schnee.
»Guten Morgen«, sagte er, während er seine Kleidung abklopfte und seinen Umhang an einen Haken hing. »Der Winter kommt wohl doch noch.« Er schloss die Tür hinter sich.
»Ist es in der Scheune warm genug?«, fragte Mutter.
Richard nickte und zog den Stuhl an den Küchentisch, auf dem bereits meine Wachstafel lag und ebenso das Kreidestück, das immer kleiner wurde. Dank des Goldstücks, das der Kurier meines Vaters zu Weihnachten vorbeigebracht hatte, konnten wir uns das leisten.
»Hast du schon die Nachtfast gebrochen?«, fragte ich förmlicher als nötig gewesen wäre.
Richard nickte, so wie jeden Morgen. Er hatte noch nie mit uns gefrühstückt. »Danke, ich bin gesättigt.« Auch er drückte sich förmlich aus. Es war ein Spiel, das wir seit der ersten Unterrichtsstunde spielten. Wir gingen miteinander um wie Herrschaften. Das sollte mich auf mein zukünftiges Leben vorbereiten.
Mutter genoss es, wenn wir so redeten. Während des Unterrichts saß sie oft stumm auf der Küchenbank und hörte uns zu. Allein ließ sie uns nie. Auch das war eine Abmachung, die sie und Richard getroffen hatten.
Jeden Morgen nach Sonnenaufgang kam Richard zu uns, und er blieb, bis es zu dunkel wurde, um die Schrift auf der Tafel zu lesen. Ich war froh, dass die Tage allmählich wieder länger wurden, denn mit jedem neuen konnte er ein kleines bisschen länger bleiben.
»Hast du dir die Wörter gemerkt, die du gestern gelernt hast?«
Ich nickte, warf aber aus den Augenwinkeln einen Blick auf die Tafel.
Mutter bemerkte es, drehte sie herum und hielt mir vor: »Du betrügst dich nur selbst!«
Langsam und stockend begann ich die fremden Wörter auszusprechen. »Tisch«, sagte ich auf Latein, dann »Eimer, Hügel, Wein.«
»Sehr gut.« Richard schob mir die Tafel zu. Ich wischte sie mit dem Hemdsärmel sauber.
»Schreibe mir den Satz auf: ›Ich setze mich an einen Tisch und trinke Wein.‹«
Ich nahm das Kreidestück, beugte mich vor und begann zu schreiben. Es war ein einfacher Satz, über den ich nicht lange nachdenken musste. Ich drehte die Tafel um und zeigte sie Richard.
»Fehlerfrei. Gut.«
Obwohl der Unterricht bereits seit Wochen stattfand, verwirrte es mich immer noch, gelobt und nicht bestraft zu werden. Richard benutzte keinen Stock, er sah mir nicht über die Schulter, und er roch nicht nach altem Schweiß und Weihrauch. Ich sagte mir stets, dass ich mich deswegen so auf seinen Besuch freute.
»Und jetzt schreibe: ›Ich steige auf einen Hügel und sehe auf das Meer hinaus.‹« Er stand auf, ging zur Feuerstelle und wärmte sich die Hände. Ich ahnte, dass er auf etwas wartete, auf den Beginn des zweiten Spiels, das wir wenige Tage zuvor direkt unter Mutters Nase zu spielen begonnen hatten.
Ich schrieb ein paar Wörter auf. »Fertig.«
»Lies es mir vor.«
»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte ich auf Latein.
Er drehte mir den Rücken zu, aber ich konnte mir sein Lächeln vorstellen.
»Frag«, forderte er mich ebenfalls auf Latein auf.
Ich suchte nach den richtigen Worten. »Was sind das für Zeichen in deinem Gesicht?«
Seit unserer ersten Begegnung hatte ich ihn nach den Tätowierungen fragen wollen, war jedoch immer davor zurückgeschreckt. Doch an diesem Morgen fühlte ich mich selbstsicher und erwachsen genug, um die Frage zu stellen.
Er schwieg einen Moment. Das Feuer im Kamin knackte, der Wind bewegte den Vorhang vor dem Fenster. Ich dachte bereits, er wollte nicht antworten, doch dann sagte er etwas, das er zweimal wiederholen musste, bevor ich es verstand.
»Ich werde es dir erklären, wenn du genug Latein gelernt hast, um es zu verstehen.« Richard kehrte zurück an den Tisch, setzte sich und sagte auf Deutsch: »Das ist noch zu schwer für dich. Wir machen besser mit neuen Wörtern weiter.«
Sein Blick zuckte zu Mutter und wieder zurück zu mir. Wir müssen vorsichtig sein, schien er sagen zu wollen, und damit hatte er recht.
Mutter verstand zwar nicht, was wir sagten oder schrieben, aber sie war eine kluge Frau und so bedacht auf meinen Ruf, dass sie den Unterricht abgebrochen hätte, hätte sie geahnt, was wir taten – oder was im Dorf geredet wurde.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit Wörtern wie Löffel und Stuhl, Messer und Schiff. Wir wiederholten, was ich in den letzten Tagen gelernt hatte und was an diesem Tag neu hinzugekommen war. Mutter nickte immer wieder ein, aber wir wagten es trotzdem nicht noch einmal, über andere Dinge zu sprechen.
Schließlich richtete sie sich auf, schob den Vorhang zur Seite und sah hinaus. »Es ist schon fast dunkel«, sagte sie. »Ich denke, es reicht für heute. Ketlin muss noch die Ziegen füttern.«
Richard erhob sich sofort, so wie ein Dienstbote, der von seiner Herrin fortgeschickt wurde. »Ich habe die Zeit vergessen, Magda, entschuldige.«
»Nein, ich bin ja froh über den Unterricht. Möchtest du das Nachtmahl mit uns teilen?«
»Verzeiht bitte, aber meine Freunde erwarten mich zum Essen. Es wäre unhöflich, sie zu enttäuschen.«
Ich konnte sehen, dass Mutter über seine Antwort sehr erleichtert war. Sie lächelte und deutete einen Knicks an. »Dann erwarten wir dich morgen früh zu gewohnter Stunde.«
Noch nie hatte ich sie mit jemandem so reden hören. Die Verbissenheit, mit der sie sonst unser Leben regelte, verschwand, wenn Richard mit ihr sprach. Für ihn war es eine Rolle, das wusste ich, aber was es für sie war, verschloss sich mir.
»Natürlich. Ich wünsche euch …«
Die Tür flog auf. Erschrocken schrie ich auf.
Richard griff nach dem alten Dolch, der stets in seinem Gürtel steckte, Mutters Gesicht verschwand hinter dem Vorhang, der durch den plötzlichen Wind emporflatterte.
Anne stand im Türrahmen. Ihr Haar war zerzaust und voller Schnee. In ihren Augen flackerte es, als drohe sie den Verstand zu verlieren.
»Magda, bitte komm und sieh dir Jupp an«, sagte sie ohne ein Wort des Grußes. »Es geht ihm schlecht.«
Mutter stand auf. »Was hat er denn?«
»Ich weiß es nicht. Du musst mitkommen. Bitte.«
Ich erhob mich ebenfalls und nahm unsere Umhänge vom Haken. Mutter nahm mich meistens mit, wenn sie einen Kranken in seiner Hütte besuchte, damit ich zurücklaufen und die richtigen Kräuter holen konnte. Auch dieses Mal nickte sie, als ich den Umhang überwarf.
»Natürlich sehe ich ihn mir an, Anne, mach dir keine Sorgen.«
Anne zu bitten, sich keine Sorgen zu machen, war so, als würde man einem Fluss befehlen, nicht zu fließen. Sie konnte nicht anders. Sorgen gehörten zu ihr wie ihre Haut.
Wir verließen das Haus und eilten hinter ihr her den Weg hinunter. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich Richard uns anschloss. Ich drehte mich um zu ihm. »Du kannst ruhig gehen. Das ist nicht deine Angelegenheit.«
Er hob die Schultern. »Ich bin viel gereist und habe alle möglichen Krankheiten gesehen. Vielleicht kann ich helfen.«
Es klang ehrlich. Innerlich freute ich mich, dass wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen durften, auch wenn es auf Jupps Kosten war.
Außer uns war niemand auf der Straße. Es schneite immer noch, winzige weiße Flocken, die vom Wind durch das Dorf getrieben wurden. Vor den Hütten bildeten sich bereits Verwehungen. Anne lief mit wehendem Umhang vor uns her. Erst als sie vor ihrer Hütte stehen blieb, fiel mir auf, dass sie keine Schuhe trug, nur einige um die Füße gewickelte Lumpen. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wie arm sie und Jupp waren.
Sie wartete, bis auch wir die Hütte erreicht hatten, dann öffnete sie die Tür einen Spalt breit und schob uns ins Innere. »Schnell, bevor die Kälte reinkommt. Er friert doch so.«
Beißender Viehgeruch schlug mir entgegen. Ein Huhn flatterte aufgeregt davon, doch in der Dunkelheit erahnte ich seine Bewegungen nur. Der Wind heulte und pfiff durch die Lücken zwischen den Wandbrettern, und unter meinen Füßen knisterte altes, fauliges Stroh.
Hinter uns zog Anne die Tür zu und drängte sich an mir vorbei. »Hier liegt er«, sagte sie.
Ich sah nur Schatten. Irgendwo brabbelte ein kleines Kind.
»Habt ihr eine Ker…« Mutter unterbrach sich. »Nein, natürlich nicht. Ketlin, geh nach Hause und hol eine Kerze.«
»Ja, Mutter.«
Erleichtert stieß ich die Hüttentür auf. Als ich sie zuschlagen wollte, hielt sie jemand fest.
»Ich komme mit«, sagte Richard, der ebenfalls nach draußen trat. »Bei dem Wind wirst du Hilfe brauchen, um die Kerze anzuzünden. In der Hütte würde ich es nicht wagen.«
»Dann komm.« Mein Herz schlug schneller, als ich die Tür schloss, mich umsah und erkannte, dass wir zum ersten Mal wirklich allein waren.
Richard ging voran. Ich war kleiner als er und musste beinahe rennen, um Schritt zu halten.
»Warum tust du das alles?«, fragte ich.
Er sah mich an, wurde aber nicht langsamer. In der Dunkelheit wirkten seine Augen schwarz. »Was meinst du?«
»Du unterrichtest mich, du bist freundlich zu Mutter. Warum?«
»Ihr habt uns geholfen, und wie ich höre, bringt euch das mehr Schaden als Nutzen. Also gebe ich so viel wie möglich zurück.«
Ich runzelte die Stirn. »Von wem hast du das gehört?«
»Menschen haben Bedürfnisse.« Richard blieb vor unserem Haus stehen und trat sich den Schnee von den Stiefeln. »Und wenn diese Bedürfnisse befriedigt werden, reden sie.«
Ich dachte an Bauer Josef, doch dieses Mal errötete ich nicht. In letzter Zeit hatte ich Schlimmeres gehört.
Richard stieß die Tür auf und trat vor mir ein. Das Feuer im Kamin erhellte den Raum nur notdürftig, aber ich wusste auch so, wo ich zu suchen hatte. Ich ging an Richard vorbei ins hintere Zimmer. Die Holztruhe an der Wand enthielt all unsere Wertsachen, meine Mitgift, einen kleinen Beutel mit den Münzen, die wir bekamen, ein wenig Kleidung und mehrere Kerzen. Eine war zu zwei Dritteln abgebrannt, die nahm ich heraus. Ich zuckte zusammen, als ich Richard hinter mir spürte. Mit einem Knall ließ ich den Deckel der Truhe herabfallen. Niemand durfte sehen, was sich darin befand. Das war so etwas wie Mutters erstes Gebot.
Ich drehte mich um und reichte Richard die Kerze. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.
»Wir müssen zurück«, sagte ich.
»Ja.«
Doch als wir das Haus wieder verließen und ich die Tür schloss, blieb er stehen. »Du hast mir so viele Fragen gestellt, dass ich gern auch etwas über dich erfahren würde.«
»Was gibt es über mich schon zu erzählen?« Ich ging ein wenig schneller, zwang ihn zu mir aufzuschließen.
»Ich weiß es nicht, deshalb möchte ich ja fragen. Ist dir das recht?«
Es wäre feige gewesen abzulehnen, und unhöflich, denn ich hatte ihn wirklich sehr viel gefragt. »Was möchtest du wissen?«
Wir gingen wieder nebeneinander. Ich spürte, wie er mich musterte.
»Dein Vater«, sagte er. »Er ist nicht tot, oder?«
Die Frage traf mich unerwartet. Ich hatte damit gerechnet, dass er mich nach unserem Wohlstand fragen würde oder nach Mutters Plänen für mich, nicht damit.
Er schien mein Unwohlsein zu spüren. »Wenn du nicht darüber reden möchtest …«
»Doch, das will ich.« Ich wollte nicht, nahm aber an, dass Richard das meiste ohnehin schon wusste beziehungsweise gehört hatte, was man im Dorf für Wissen hielt.
»Mein Vater ist ein wohlhabender Mann, der meine Mutter aus Standesgründen nicht ehelichen kann, uns aber seit meiner Geburt unterstützt, so wie es sich für einen Christen gehört.«
Schon vor langer Zeit hatte ich mir die Worte zurechtgelegt und sie auswendig gelernt für den Fall, dass sie eines Tages nötig wurden. Ich wollte in meinen Erklärungen nicht ins Stocken geraten, als wäre meine Geburt eine Schande.
Richard lachte. »Du musst dich deswegen nicht verteidigen. Die Hälfte meiner Truppe hat keine Ahnung, wer sie gezeugt hat.«
Bilder von betrunkenen Huren, die an Gelagen teilnahmen, stiegen in mir empor. Hastig schüttelte ich den Kopf. »Nein, bei mir ist das anders. Er …«
Ich unterbrach mich, denn wir hatten Jupps Hütte erreicht. Der Wind hatte nachgelassen, trotzdem musste ich meinen Umhang wie eine Glocke um Richard legen, damit er die Kerze mit seinem Zunderpäckchen anzünden konnte. Ich kam ihm so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spürte.
»Lass das nicht deine Mutter sehen«, sagte Richard leise. Ich hätte beinahe gelacht, fürchtete aber, dass man es im Inneren der Hütte hören würde. Mit meinem Umhang schützte ich die flackernde kleine Flamme der Kerze, während Richard die Tür öffnete und mich eintreten ließ.
Dieses Mal war ich auf den Gestank vorbereitet, und so traf er mich nicht mehr ganz so hart. Im Kerzenlicht sah ich Anne und meine Mutter. Sie hockten an der Rückwand der Hütte neben Jupp, der in seinen Umhang eingehüllt war und am Boden lag. Der ganze Raum war voller Stroh. In einer Ecke stand eine Ziege, Hühner liefen zwischen schlafenden Kindern umher. Ich sah kein einziges Möbelstück, nur einen großen Holznapf und einen Löffel.
»Bring mir die Kerze«, sagte Mutter.
Richard zog die Tür hinter sich zu, folgte mir jedoch nicht weiter in den Raum, sondern blieb an der Wand stehen. Ich trug die Kerze zu dem aufgehäuften Stroh. Als ihr Licht Jupp erreichte, erschrak ich. Sein Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen. Seine Lippen bewegten sich unablässig, so als würde er mit jemandem reden, aber ich hörte keinen Laut.
Mutter betrachtete ihn, dann wandte sie sich an Anne. »Wie lange geht das schon so?«
»Es hat vorgestern angefangen.« Tränen liefen über Annes Wangen, sammelten sich am Kinn und tropften auf den Boden. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht. »Er fühlte sich schwach, wollte aber nicht zu dir gehen, weil du doch schon so viel für ihn tust.«
Ich ging neben Jupp auf die Knie, wischte Stroh beiseite, bis ich den Lehmboden darunter sah, und stellte die Kerze ab. Sie flackerte, aber ich konnte die Hände wegnehmen, ohne dass sie ausgeblasen wurde. Es war kalt und zugig in der kleinen Hütte.
»Er hat hohes Fieber.« Mutter ging nicht auf das ein, was Anne gesagt hatte. Sie beugte sich vor und tastete Jupps Gesicht und Hals ab. Er stöhnte und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Da ist eine Beule unter seinem Ohr. Hat er sich verletzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Anne. Ich hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. »Kannst du ihm helfen?«
Mutter schwieg. Hinter mir raschelte Stroh. Ich drehte mich um und sah, dass Richard die zwei Schritte zur Tür zurückgegangen war. Mit einer Hand presste er seinen Umhang vor Mund und Nase.
»Was machst du da?«, fragte ich verwirrt.
»Ich muss gehen. Meine Freunde warten. Und ihr solltet besser auch gehen.«
Als er die Tür öffnete, musste ich die Kerze mit meinem Körper schützen, sonst wäre sie ausgegangen.
»Weißt du, was er hat?«, rief Mutter hinter Richard her, aber er zog wortlos die Tür zu.
Anne sah Mutter an. »Woher soll der Gaukler wissen, was Jupp hat?«, fragte sie. »Er kennt ihn doch kaum.«
»Man kann nie wissen.«
Jupp stöhnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie seine jüngste Tochter über den Boden auf ihn zukroch und sich an ihn kuschelte. Sie war noch keine fünf Jahre alt.
»Ist Papa krank?«
Anne nickte. »Ja, aber Magda wird ihm helfen. Du musst keine Angst haben.«
Ich drehte mich zu den anderen beiden Kindern um, die eng nebeneinander im Stroh schliefen. Der Ältere arbeitete als Knecht für Josef, der Jüngere half seinem Vater auf dem Feld und im Steinbruch.
Mutter stand auf und wischte sich Jupps Schweiß von den Händen. »Du musst seine Stirn kühlen, Anne, am besten die ganze Nacht oder bis er wieder bei klarem Verstand ist. Ich werde einen Sud aufsetzen, der das Fieber senken und ihm Kraft geben wird.«
Anne ließ die Hand ihres Mannes los, ergriff Mutters und küsste sie. »Wie soll ich dir nur danken? Wir haben doch nichts, was wir dir geben könnten.«
»Ihr könnt mir im Sommer helfen, die Beeren zu ernten.« Mutter zog ihre Hand weg und nickte mir kurz zu. Ich nahm die Kerze vom Boden, stand auf und ging zur Tür. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe, Anne. Das Fieber muss sinken, also achte darauf, dass du ihn kühlst. Und die Kinder sollen für ihn beten. Mit Gottes Hilfe geht es ihm bestimmt bald besser.«
»Ja, Magda. Danke.«
Wir verließen die Hütte. Ich blies die Kerze aus und atmete die kalte, klare Nachtluft tief ein.
Mutter zog den Umhang eng um ihre Schultern. »Du kannst mir helfen, den Sud aufzusetzen, bevor du schlafen gehst. Und morgen werde ich mit Richard über Jupps Krankheit reden.«
»Glaubst du wirklich, dass er etwas weiß?«
»Du hast doch gesehen, wie schnell er verschwunden ist. Natürlich weiß er etwas. Diese Gaukler und Schausteller reisen durchs ganze Land, sie sehen mehr als anständige Leute.«
Ich hoffte, dass das stimmte und dass Richard uns helfen würde, Jupp von seiner Krankheit zu befreien. Vielleicht würde das die Leute im Dorf endlich davon überzeugen, dass ihnen die Gaukler nichts Böses wollten.
Doch als wir am nächsten Morgen zur Scheune gingen, um mit Richard noch vor unserem Gang zum Krankenlager zu sprechen, waren die Gaukler verschwunden.
Jupp starb am nächsten Abend, und zwei Tage später waren auch Anne und ihre drei Kinder krank.
Und mit ihnen das halbe Dorf.