1 FOLGE DEINEM
ROLODEX,
WOHIN ES DICH AUCH FÜHRT
Peter und ich sind eigentlich nur wegen meiner Adressenkartei zusammengekommen. Früher war es ziemlich in, ein sogenanntes Rolodex zu besitzen. Inzwischen wurde es von PalmPilot, BlackBerry und dem Internet abgelöst, und bald wird es wohl einen Platz im Büroartikel-Museum erhalten. Das ist im Grunde sehr schade, denn ein dickes Rolodex, prall bestückt mit Kärtchen, auf denen lauter wichtige Adressen und Telefonnummern stehen, kann den Besitzer mit Stolz erfüllen. Je dicker die Rolle, desto mehr Kontakte. Ein Rolodex spricht ohne Worte, im Gegensatz zu diesen elektronischen Mini-Spielzeugen, die zu jeder denkbaren Tages- und Nachtzeit fiepen und summen. Diese Dinger finde ich lästig und unpersönlich, und sie werden von Jahr zu Jahr kleiner, egal, wie viele Nummern man darauf abspeichert. Mein Rolodex hingegen wird niemals schrumpfen, und es wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Schon aus sentimentalen Gründen wird es nie im Museum landen.
Im Jahr 1990, als Peter nach New York zog, um dort das erste Korrespondentenbüro von RTL plus zu eröffnen, suchte er einen Producer. Oder besser gesagt: eine Producerin. Er hatte bereits eine passende deutsche Kandidatin für die Stelle gefunden, doch sein Chef riet ihm, seine Strategie nochmals zu überdenken: »Sie brauchen einen amerikanischen Producer mit einem dicken Rolodex.« Der strategisch gewiefte deutsche Chefredakteur hatte erkannt, dass es von Vorteil war, sich mit den Einheimischen zu verbünden, um Erfolg zu haben. So kam ich ins Spiel, die amerikanische Producerin »mit einem dicken Rolodex«. Dabei hat Peter mich bei unserem kurzen Treffen gar nicht nach meinem Rolodex gefragt. Aber das Exemplar, das ich nach New York mitbrachte, hatte tatsächlich keinen geringen Umfang. Es sollte unserem kleinen Nachrichtenbüro oftmals gute Dienste leisten und indirekt zu einer Verbindung fürs Leben führen.
Im Mai 1990, beim Gipfeltreffen zwischen Bush senior und Gorbatschow in Washington D. C., war ich Peter zum ersten Mal begegnet. Mein damaliger Arbeitgeber Conus, der für die satellitengestützte Nachrichtenübertragung verantwortlich war, hatte mich nach Washington geschickt, um die Berichterstattung für unsere ausländischen Auftraggeber zu koordinieren. Peter sollte vor Ort für seinen deutschen Privatsender über das Gipfeltreffen berichten.
Auf meine Kollegin Patrice machte er sofort Eindruck: »Hast du die grünen Wildlederschuhe von dem Deutschen gesehen? Sogar sein Jackett ist farblich auf die Schuhe abgestimmt.«
Wir amüsierten uns gemeinsam über die scheinbar aktuelle Männermode in Europa. Sie verlieh den deutschen Männern eine gewisse Faszination, bei der selbst die uns bekannten Italiener und Franzosen nicht mithalten konnten. Hier war ein Deutscher mit grünen Wildlederschuhen, der offenbar Wert auf Mode und Eleganz legte.
Ken, unser Chefredakteur vor Ort, hatte dazu seine eigene Meinung: »Wer weiß, vielleicht ist der Typ ja schwul.« Ken hatte viel Sinn für Humor und riss ständig Witze, aber gleichzeitig war er nicht auf den Kopf gefallen, sodass man nie wissen konnte, ob er besser informiert war als man selbst. Kens Bemerkung beschäftigte mich noch eine Weile.
Welches Geheimnis Peter auch immer umgeben mochte, er war jedenfalls richtig nett, und meine forsche Kollegin Patrice lud ihn für den Abend ein: »Wie wär’s, wenn Sie sich uns heute Abend anschließen? Es treffen sich eine Menge Journalisten aus der ganzen Welt zum Tanzen, und Sie sind herzlich eingeladen.« – »Tut mir leid, aber ich habe heute Abend bereits etwas vor«, antwortete Peter.
Okay, der Deutsche mit den grünen Schuhen, der womöglich schwul war, hatte etwas Besseres vor, als an diesem Abend mit uns auszugehen. Das erschien uns ein wenig seltsam. Peter war höflich und machte einen netten Eindruck, blieb jedoch distanziert und behielt seine Gedanken für sich. Er erzählte zwar gerne von seiner nächsten Live-Aufnahme oder Redaktionssitzung, aber mehr auch nicht.
Als das Gipfeltreffen sich dem Ende zuneigte und unsere Arbeit in Washington D. C. getan war, bereiteten wir uns alle auf unsere Heimreise vor. So ein politisches Ereignis lockt immer eine riesige Journalistenschar aus der ganzen Welt an. Sie ähnelt ein bisschen einem Bienenschwarm, der für ein paar Tage die Stadt belagert. Am Ende ist man jedes Mal traurig, wieder wegzufliegen und einen leeren Bienenstock zurückzulassen. Beim Auschecken aus dem Hotel traf ich zufällig erneut auf Peter.
Mir war zu Ohren gekommen, dass sein Haussender RTL plus plante, ein Nachrichtenbüro in New York zu eröffnen. Vielleicht war das der Grund, warum mir eine der vernünftigsten Bemerkungen über die Lippen kam, die ich je geäußert habe: »Sollten Sie in New York eine Producerin brauchen, rufen Sie mich an. Es war sehr angenehm, mit Ihnen zu arbeiten. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise.«
»Ja, danke«, war im Grunde alles, was Peter entgegnete.
Sicher, er war ein wenig zurückhaltend und in sich gekehrt, allerdings blieb er immer freundlich. Für mich war die Möglichkeit, in New York in einem neu eröffneten Auslandsbüro zu arbeiten, hundertmal reizvoller als die, einen weiteren Winter in Minnesota mit Schneeschaufeln und Eisangeln überstehen zu müssen.
Das Unglaubliche geschah: Ein paar Monate später war ich in Manhattan und arbeitete für den womöglich schwulen Mann mit den grünen Schuhen. Dem Rolodex sei Dank.
New York ist in vielerlei Hinsicht sehr europäisch, und ein One-Way-Ticket zum Big Apple ist eine gute Vorbereitung auf ein Leben im Ausland. In keiner anderen amerikanischen Stadt hört man so viele unterschiedliche Sprachen und lernt so viele verschiedene Kulturen kennen. New York öffnet einem wahrhaft die Augen und wimmelt von interessanten Menschen und Orten. Jeder, der schon einmal die Gelegenheit hatte, in New York zu leben, hat zweifelsohne reichlich Erfahrungen gesammelt. Ein Vorteil für Peter – denn selbst mit grünen Schuhen fällt man dort nicht auf. In New York ist alles erlaubt.
Von meinem neuen Arbeitgeber RTL plus hatte ich zum ersten Mal Mitte der Achtzigerjahre gehört, als meine damalige Firma Conus eine dauerhafte Kooperation mit dem Privatsender einging. Ganz nach dem Motto: Minneapolis meets Köln-Müngersdorf.
Zur Vorbereitung auf ein erstes Treffen mit Vertretern des deutschen Privatsenders wurde mir nur gesagt: »Morgen kommen die Deutschen. Vielleicht möchtest du die Gelegenheit nutzen, sie kennenzulernen. Schließlich bist du wahrscheinlich ihr zukünftiger Ansprechpartner. Einer von denen, Joe heißt er, kann Englisch. Er ist, glaube ich, Ire, spricht aber ziemlich gut Deutsch.«
»Wie heißt der Sender?«, fragte ich.
»Er heißt RTL plus.«
»Was soll das plus bedeuten?«
»Das ist einfach Teil des Namens.«
»Ach so«, sagte ich, war aber keinen Deut schlauer.
Amerikanische Sendernamen bestehen lediglich aus drei Buchstaben, weshalb ich mit diesem plus am Ende nichts anfangen konnte. Plus was? Handelte es sich um eine mathematische Gleichung? Sollte das sexy klingen?
Ich war froh, als die Senderleitung Jahre später beschloss, dass das plus überflüssig war. Mir kam es vor, als wäre der Sender erwachsen geworden. Drei Buchstaben – mehr braucht man nicht, wenn man mit den großen Jungs der TV-Branche spielen will.
In New York liefen Peter, frisch gebackener Auslandskorrespondent, und ich, seine Producerin, tagelang mit nichts weiter als einem Handy ausgestattet durch die Straßen. Und das zu einer Zeit, als nicht jeder ein Handy hatte. Wahrscheinlich hielten die Leute uns für Drogendealer oder Buchmacher. Ab und zu, wenn wir uns aufwärmen mussten, legten wir einen kurzen Zwischenstopp in einem Café ein, wo wir unsere Telefonate erledigten und das weitere Vorgehen besprachen.
Unser Büro lag auf der West 57th Street im CBS-Gebäude, war aber noch nicht bezugsbereit. Es war ein seltsames Gefühl, tagsüber obdachlos zu sein und abends in eine warme Wohnung zurückzukehren. Aber nach einigen Wochen konnten wir endlich in unser Büro einziehen und waren danach durch nichts mehr aufzuhalten.
Die Arbeit mit Peter und unserem englischen Kamerateam, Mark und John, war traumhaft. Wir reisten durch das ganze Land und berichteten über alle möglichen Themen, von der Sonnenfinsternis über Hawaii bis zu den Exilkubanern in Florida, nicht zu vergessen so außergewöhnliche Dinge wie Christos Schirme in der kalifornischen Wüste und die Biosphere-Bewohner in Arizona. Es war für uns alle eine aufregende Zeit, und unsere Zusammenarbeit funktionierte hervorragend.
Bis Peter eines Tages seinen Chefredakteur am JFK Airport abholte und auf der Fahrt nach Manhattan ein Angebot von ihm bekam, das er nicht ausschlagen konnte. Er sollte nach Deutschland zurückkehren, um zukünftig die Abendnachrichten zur Primetime zu moderieren. Das war ein riesiger Karrieresprung für ihn.
Obwohl ich es mir zunächst nicht eingestehen wollte, brach es mir das Herz, dass Peter bald fort sein würde, und ich versuchte, meinen Kummer an jenem Abend in einem Lokal namens Memphis zu ertränken. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich mich aufgrund von Ananassaft mit Wodka krankmeldete. Und wen musste ich am nächsten Morgen mit dieser peinlichen Nachricht anrufen? Peter natürlich – schließlich war er mein Chef.
Irgendwann nach diesem schrecklichen Abend hatten Peter und ich ein Gespräch, das unser gemeinsamer Freund und Kollege John angeregt hatte. Die Kommunikation von Gefühlen zwischen professionellen Kommunikatoren kann eine große Herausforderung sein. Peter und ich bildeten da keine Ausnahme … Letztendlich haben wir es jedoch geschafft: Das Ergebnis war eine sechsmonatige transatlantische Fernbeziehung, gefolgt von meinem Entschluss, nach Deutschland zu ziehen.
Zu dieser Zeit beschränkte sich mein Wissen über Deutschland auf den Zweiten Weltkrieg, Kanzler Kohl, das Oktoberfest, die Wiedervereinigung sowie etwas, das Autobahn heißt und wo man mit todesmutigen Geschwindigkeiten rasen darf.
Ich musste auch an die spannenden Geschichten meiner Freundin Jill denken, die dort kurze Zeit als Austauschschülerin verbracht hatte. Eine handelte davon, dass Jill es mit ein paar Freundinnen geschafft hatte, in einem Fast-Food-Restaurant irgendwo in Deutschland an Alkohol heranzukommen. Dummerweise hatte auch ihre aus den USA mitgereiste Lehrerin davon Wind bekommen und die Eltern der Schülerinnen informiert. Schnell verbreitete sich anschließend das Gerücht, dass Schulkinder zum Hamburger in Deutschland Bier kaufen können. Für die Eltern ein Skandal, für uns ein tol-les Abenteuer. Ich kann mich auch erinnern, dass Jill mir erzählte, wie die deutsche Gastfamilie ihr jeden Abend etwas zum Naschen aufs Kopfkissen legte. »Damit du was auf die Rippen kriegst«, lautete die Erklärung.
Wären meine Großeltern väterlicherseits noch am Leben, würden sie sicher darüber schmunzeln, dass es ihre Enkelin nach Deutschland verschlagen hat. Sie waren nämlich schweizerischer beziehungsweise deutscher Abstammung – wie so viele Amerikaner. Im Volkszählungsbericht von 2000 gab jeder sechste Amerikaner eine deutsche Abstammung an. Das macht etwa 43 Millionen Amerikaner mit deutschen Vorfahren. Mein Vater erzählte mir, wie seine Eltern sich früher auf Deutsch unterhielten, wenn sie nicht wollten, dass die Kinder etwas mitbekamen. Irgendwann belegte er einen Deutschkurs am College, um diese Geheimsprache zu beherrschen, aber bis auf ein paar Worte hier und da habe ich ihn nie Deutsch sprechen hören. Dafür hörte er zu Hause gerne Blasmusik, auch deutsche Platten, aber das war es dann auch.
Mir dagegen blieb nichts anderes übrig, als mit dreißig Jahren mühsam die deutsche Sprache zu lernen. In diesem Alter waren leider die meisten der leistungsfähigen Hirnzellen, über die Kinder verfügen, in meinem Kopf schon spurlos verschwunden.
Es ist ein sehr seltsames Gefühl, in ein fremdes Land zu reisen, ohne ein Rückflugticket in der Tasche. Als Tourist hat man sowohl einen festen Termin für die Hinreise als auch für die Rückreise. Man weiß, wo und wann die Tour beginnt und endet, man hat ein sicheres Gefühl. Man weiß, dass man zu seinem vertrauten Zuhause und seinen Freunden und in die Umgebung, in der man sich wohl fühlt, zurückkehrt. Man hat einen Job, eine Familie, ein Leben. Fällt aber der Rückflug weg, bleibt ein riesiger leerer Raum ohne akuten Plan, wie das Leben weitergehen soll. Es ist ein bisschen wie ein Sprung vom Zehn-Meter-Brett, wenn man nicht weiß, wie man landet. Ein weiteres Problem hat man, wenn man die Sprache des Landes nicht beherrscht. Dazu kam in meinem Fall noch die Unsicherheit, in Deutschland nur einen einzigen Menschen zu kennen.
Solch ein Schritt beziehungsweise Sprung ist nichts für ängstliche Gemüter, denn er erfordert Vertrauen, Liebe und einen zähen Durchhaltewillen. Mich hat zwar niemand gebeten, durch den Atlantik zu schwimmen, und doch musste ich den Großen Teich überqueren.
Peter holte mich am Flughafen ab, als ich für immer in Deutschland landete, und wir fuhren in einem kleinen, unbequemen VW Golf zu seiner neuen Wohnung im Herzen von Köln. Er war erst vor einem halben Jahr dort eingezogen, nach seiner Rückkehr aus New York. Es handelte sich um ein schönes, modernes Penthouse, das für meinen Geschmack jedoch alles andere als gemütlich war.
Im Gegensatz zu Firmenangehörigen, die mit ihrer Familie, ihrem gesamten Mobiliar und sonstigen irdischen Besitztümern umziehen, hatte ich sehr wenig mitgebracht. Schließlich wurde mein Umzug von keiner Firma bezahlt.
Es gibt Menschen, die sich aus Sentimentalität von bestimmten Dingen nicht trennen können, und es gibt Menschen wie mich, die praktisch veranlagt sind. Also ließ ich eine antike Kommode, ein Schreibpult, eine kuschelige cremeweiße Couchgarnitur im kalifornischen Stil und einen geflochtenen Frühstückstisch zurück. Peters Wohnung war in kühler Lack- und Metalloptik eingerichtet, darunter ein roter Ledersessel, der aussah wie ein viereckiges Raumschiff, und eine harte anthrazitfarbene Couch.
Mein neues Zuhause war eine Wohnung im vierten Stock ohne Fahrstuhl. Damit wurde ich direkt in die gesunde deutsche Lebensweise des Laufens und Schleppens eingeführt und lernte schnell, dass die Deutschen in diesem Punkt stoisch sind. Selbst Achtzigjährige sieht man zu Fuß einkaufen gehen und Glasflaschen im Wägelchen nach Hause karren, um diese anschließend drei Stockwerke hochzuschleppen, ohne sich zu beklagen. Für jemanden unter dreißig sollten vier Stockwerke daher ein Klacks sein. Und es war auch okay. Bis auf die Wasserflaschen aus Glas und die Campingtische und die Bierfässer für die Dachterrassenpartys. In diesen Fällen wurde das Treppensteigen zum Extremschleppen, das viel Training und ein starkes Herz erforderte. Ich gewöhnte mich rasch an den täglichen Aufstieg zu den Sternen, ganz im Gegensatz zu meinen Besuchern aus Amerika. Sie zählten jede einzelne Stufe und mussten immer wieder Verschnaufpausen einlegen. Die Treppe war das Hauptthema, wenn von unserer Wohnung gesprochen wurde, und sorgte vermutlich dafür, dass sich der Besucheransturm aus den USA in Grenzen hielt.
Körperliche Bewegung ist mir persönlich immer willkommen, und der fehlende Fahrstuhl störte mich nicht annähernd so sehr wie Peters Einrichtung. Ganz besonders der futuristische italienische Raumschiffsessel in rotem Leder, das seltsam anmutende, s-förmige Sofa und der weiße Tisch mit den vier Stühlen, die so bequem waren wie die Holzbänke in einem alten Schulbus, waren mir ein Dorn im Auge. Nicht zu vergessen der ätzende Glastisch auf Rollen und die Vitrine in weißem Lack. Peter liebte seine Möbel, ich hasste sie. Ich dachte, ich sei im Haus von Captain Kirk und nicht in einer behaglichen Wohnung. Es gab kein einziges Möbelstück aus Holz.
»Honey, hier gibt es nichts aus Holz. Zu einem gemütlichen Zuhause gehören Holzmöbel und Kissen und bequeme Sofas.«
»Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich stehe total auf die Einrichtung. Besonders auf den neuen roten Ledersessel.«
Aber nicht nur die Möbel, auch die Teppiche ließen sehr zu wünschen übrig. Peter hatte, wie scheinbar auch der Rest der Deutschen, keine weichen, flauschigen Teppiche. In amerikanischen Häusern dagegen findet man solche Exemplare überall. Zwar gibt es dort auch ganz schreckliche Teppiche, Schlingenware aus den Siebzigern und fleckige grüngoldene Läufer, die immer ein bisschen eklig und verwohnt aussehen. Aber wenigstens sind sie dick und weich. Mag sein, dass darin Ungeziefer nistet, doch dafür spürt man seine Fußsohlen nicht, wenn man darübergeht. Auf deutschen Teppichböden kann man Basketball spielen, so hart sind die. Selbst wenn ich so glücklich wäre, dass ich einen Purzelbaum schlagen wollte, müsste ich vorher eine Wagenladung Kissen auslegen, damit sich der Boden nicht wie Asphalt anfühlt.
Meine erste selbst gestellte Aufgabe in meinem neuen Leben in Deutschland war also, unser Zuhause gemütlicher zu gestalten. Das war schwieriger, als ich dachte. Als Auswanderer kann es aufregend, aber leider auch problematisch sein, dass man keine Ahnung hat, wo man was kaufen kann.
Bei meinen Einkaufstouren lernte ich schnell, dass ich auf keinen Fall nach Dingen suchen sollte, die mir aus der Heimat vertraut waren. Das wäre ein fruchtloses Unterfangen gewesen. So gut wie nichts von dem, was ich aus Amerika kannte, gab es in Deutschland. Hätte ich versucht, alles eins zu eins zu kopieren, hätte ich genauso gut den Kopf gegen einen Riesenkürbis schlagen können. Es war schlichtweg nicht möglich und auch nicht ratsam. Ich verfügte leider auch nicht über ein dickes Bankkonto, um alles importieren zu lassen, was ich mir wünschte.
Abgesehen davon, dass ich nicht wusste, wo die richtigen Möbelhäuser zu finden waren, zählt Innendekoration nicht gerade zu meinen Stärken, und ich bin auch nicht sonderlich geschickt in handwerklichen Dingen. Allerdings kann Unzufriedenheit mit der eigenen Wohnsituation ungeheure Kräfte mobilisieren, sodass ich mich ziemlich rasch an die Arbeit machte. Als ersten Schritt nahm ich mir das Schlafzimmer vor, um es grundlegend zu verändern. Es war nämlich inakzeptabel, angefangen bei der Bettwäsche.
»Honey, ich kann in schwarzer Bettwäsche nicht richtig schlafen. Dieses ganze Schwarz im Schlafzimmer ist ziemlich deprimierend.«
Peter antwortete darauf: »Aber was spielt das denn für eine Rolle? Es ist schön dunkel, und zum Schlafen machst du doch ohnehin die Augen zu.«
Ich erkannte, dass meine Aufgabe nicht leicht sein würde, und konzentrierte mich zunächst auf die Fenster – getreu dem Motto: Mehr Licht! Zumindest war Peter einverstanden, Vorhänge in helleren Farben anzubringen.
Dann kam der nächste Hammer. »Wo ist das Oberlaken?«, fragte ich in aller Unschuld.
Bis dahin war mir unbekannt, dass die Deutschen unter einer Daunendecke schlafen. Dadurch erübrigt sich ein Oberlaken – wir Amerikaner nennen das top sheet –, das gewöhnlich fest unter die Matratze eingeschlagen wird und den Füßen praktisch keine Bewegungsfreiheit lässt. Unser deutsches Bett hatte nicht einmal eine Untermatratze, um irgendwas festzustecken. Deutsche Betten, auch das musste ich lernen, sind lediglich mit einer Matratze ausgestattet und niedriger als ihre amerikanischen oder englischen Gegenstücke.
»Was meinst du mit Oberlaken?«, fragte mich Peter.
»Das Laken unter der Decke, das unter der Matratze festgestopft wird. Kennst du das nicht aus New York?«
»Doch, schon, aber ich hatte mein eigenes Bettzeug aus Deutschland dabei. Die amerikanischen Betten sind nämlich fürchterlich. Wo ist da der Sinn, wenn die Füße unter einem engen Laken eingezwängt sind, sodass man sich nicht richtig bewegen kann? Das ist schrecklich unbequem. Wenn ich in einem amerikanischen Hotel übernachte, ziehe ich als Erstes das Laken unter der Matratze heraus. Ich verstehe nicht, wie man so schlafen kann.«
Ich fragte mich, was die Zimmermädchen dachten, die sein Bett machten. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen unruhigen Schläfer oder Schlimmeres. Er hätte am Fußende seines Bettes ein Schild anbringen sollen: Bitte stopfen Sie das Laken nicht fest. Ich bin ein wild schlafender Deutscher.
Nun, jede Partnerschaft verlangt Kompromisse, und mir wurde klar, dass wir auf die deutsche Art schlafen würden. Das war allerdings nur der erste von vielen Kompromissen, die noch folgen würden. Ich beschloss also, von nun an ein Leben ohne Oberlaken zu führen. Denn was war wichtiger, das Laken oder wer darunter lag?
Nachdem dieser Punkt geklärt war, machte ich mich daran, die hässliche schwarze Bettwäsche zu ersetzen, kam jedoch wieder nicht weit. Ich konnte für unsere Bettdecke nämlich keinen Bezug finden, der groß genug war. Die meisten deutschen Paare schlafen getrennt unter zwei Einzeldecken auf zwei Einzelmatratzen, die nur zusammengeschoben sind. Einen Tag vor meiner Ankunft hatte Peter jedoch eine Decke in Übergröße für uns beide besorgt. Was für ein Mann! Er hatte nicht nur die romantische Version gewählt, sondern gleichzeitig auch die, die für warme Füße sorgt. Jede Frau, die unter kalten Füßen leidet, weiß, dass eine gemeinsame Decke der einzige Weg ist, um warme Füße zu bekommen. Dennoch schien die Größe unserer Bettdecke ziemlich außergewöhnlich zu sein, und eine vermeintlich leichte Aufgabe entpuppte sich als echte Herausforderung.
Die Verkäuferin im Laden zeigte mir eine bescheidene Auswahl von passenden Bezügen, einer hässlicher als der andere. Sie war nicht besonders entgegenkommend, da mein Anliegen offenbar unüblich war. Sie fragte sich sicherlich, welche Menschen schon unter so einer riesigen Decke schlafen. Mit meinem fremden Akzent und meinem abstrusen Wunsch hätte ich auch genauso gut vom fernen Planeten Strange-Bed stammen können. Mehrere Versuche und Kaufhäuser und außerirdische Erlebnisse später gab ich auf. Meine Vorstellung von Auswahl und großem Sortiment war offensichtlich zu amerikanisch. In Deutschland hat der Kunde anscheinend ein viel beschränkteres Angebot. Außer bei Würsten. Doch die waren nun wirklich keine Alternative für schwarze Bettwäsche.
Folglich stand bei meiner nächsten Reise nach New York ein Besuch bei ABC, einem Einrichtungshaus in Manhattan, auf dem Programm. Dort wollte ich mich nach passenden Bettbezügen umschauen, um sie mit nach Deutschland zu nehmen.
Die große Hürde beim Laken-Shopping in Amerika bestand darin, die Größe unserer deutschen Bettdecke ins amerikanische System umzuwandeln. Während Amerikaner ihre Betten in Single, Double, Queen- oder Kingsize einteilen, benutzen die Deutschen das metrische System. So schläft eine Person beispielsweise in einem 120 × 200-Bett. Was braucht man sonst noch zu wissen? Schließlich hat man die exakte Angabe, wie viele Zentimeter breit und lang das Bett ist. Doch amerikanische Bettenverkäufer lässt diese Genauigkeit unbeeindruckt. Sie wollen einfach eine Größenbezeichnung wie Single, Double, Queen oder King hören. Und das Ermitteln der Bettgröße ist nur die halbe Miete. Schließlich brauchte ich auch Bezüge für die riesigen deutschen Daunenkissen.
Glücklicherweise gerieten Peter und ich bei ABC an eine äußerst hilfsbereite Verkäuferin. Sie errechnete aus unseren Angaben, dass wir ein Bett der Maße Queensize extragroß hatten, und beriet uns äußerst freundlich bei der Wahl der passenden Bettwäsche. Angesichts des erfolgreichen Kaufs überkam mich Wehmut. Ich dachte: »Koste dieses herrliche Einkaufsvergnügen hier aus, wo die Auswahl groß ist und die Verkäuferinnen deine Sprache sprechen, denn nächste Woche geht es schon wieder zurück nach Deutschland.«
Nach unserer Rückkehr in Köln freuten wir uns sehr darüber, dass die Bettwäsche und die darauf abgestimmten Vorhänge, die wir auch gleich gekauft hatten, tatsächlich passten. Vielleicht waren die Kissenbezüge einen Tick zu klein für die Kissen, aber ich stopfte sie eben hinein, so gut es ging. Nicht einmal der größte amerikanische Kissenbezug passt für so ein bauschiges Kissen.
Sieht man vom Bettwäschekaufen ab, bin ich inzwischen eine große Befürworterin des deutschen Bettensystems. Meine Eltern sind ebenfalls auf die deutsche Variante umgestiegen und haben Federbetten und riesige Kissen in die Vereinigten Staaten mitgeschleppt. Auch meine alte Schulfreundin Jill aus Minnesota überlegte, ob sie wechseln soll, nachdem sie bei uns zu Besuch war: »Wusstest du, dass in Amerika viele Leute Probleme mit ihren Füßen bekommen, weil sie immer unter dem Laken eingezwängt sind? Ich überlege ernsthaft, ob ich auf das deutsche System umsteigen soll.« Peter lachte sich schlapp.
Also, ihr deutschen Bettwäschehersteller, hört her: Wenn ihr auf dem amerikanischen Markt Erfolg haben wollt, dann preist eure Ware mit dem Slogan Freiheit für die Füße an. Vielleicht klappt es ja. Viele Menschen könnten glücklicher leben ohne Oberlaken.
Abgesehen vom Schlafzimmer gab es weitere häusliche Problembereiche. Peters Wohnung zu verändern war nicht gerade eine leichte Aufgabe. Schließlich war dies sein Terrain, sein Land, und ich war nur seine Freundin.
»Honey, in Amerika würde man mich als dein girlfriend bezeichnen. Wie übersetzt man das ins Deutsche? Als was soll ich mich bezeichnen, wenn jemand fragt, wie wir zueinander stehen?«
»Na ja, das nennt man wohl Lebensgefährtin.«
»Okay, und was bedeutet das?«
»So etwas wie Partner fürs Leben.«
»Aber Partner fürs Leben klingt ganz anders als girlfriend.«
»Ja, mag sein, aber so heißt es eben.«
Für meine Begriffe war ich nur Peters girlfriend, was nicht zwingend eine lebenslängliche Beziehung meinte. Zur Bestürzung meiner streng katholischen Eltern war ich nämlich ohne Trauring zu Peter auf die andere Seite des Atlantiks geflogen. Ich hatte nicht einmal den in Amerika so immens wichtigen Status einer Verlobten. Dennoch zog ich mit einem Mann zusammen, und zwar nicht in den USA, sondern Tausende Kilometer entfernt, wo ich nicht gleich zu Mami laufen konnte, wenn irgendetwas schiefging.
Doch zurück zu meiner Baustelle: Im Prinzip gelangen mir nicht viele Veränderungen in Peters Wohnung, sosehr ich mich auch bemühte. Also versuchte ich, mit dem Unausweichlichen zu leben. Schließlich nutzte es nichts, ständig nur über die Umgestaltung der Wohnung nachzudenken. Besser, ich verließ die Wohnung, um mich mit der Stadt vertraut zu machen. Da ich noch keinen Job hatte, nutzte ich jede Gelegenheit, meine neue Heimatstadt zu erkunden.
Mein neues Leben begann damit, dass ich mir einen Faltplan von Köln kaufte und ausgedehnte Spaziergänge durch die Stadt machte. Immer wieder blieb ich an Straßenecken stehen, um mich zu orientieren, denn es wurde zu meiner täglichen Herausforderung, nach Hause zurückzufinden. Nach einiger Zeit war es mir auch nicht mehr peinlich, eine Pause einzulegen, um den Stadtplan zu studieren.
Tag für Tag lief ich also durch Köln. In New York bin ich beinahe täglich von der 80st Street West, wo ich wohnte, zur West 57th Street, wo ich arbeitete, zu Fuß gegangen. Das war eine angenehme Abwechslung zur U-Bahn, und ich spürte damals, wie sehr mir das Laufen im Blut lag. Aber jetzt war ich hauptberuflich unterwegs. Es wurde zu meiner neuen Aufgabe, sämtliche Straßen und Geschäfte von Köln abzuklappern. Ich hatte zwar kein eigenes Geld zum Ausgeben, da ich noch keine Arbeit hatte, aber zumindest wusste ich, wo welche Geschäfte und Restaurants zu finden waren. Von dieser Erfahrung profitiere ich heute noch, wenn es mich in alle möglichen Winkel von Köln verschlägt.
Straßenbahnen fahren zwar auch durch ganz Köln, aber sie auf eigene Faust zu benutzen erforderte mehr Mut, als ich aufbringen konnte. Die New Yorker U-Bahn war nie ein Problem für mich, aber die deutschen Straßenbahnen waren mir fremd und machten mir etwas Angst, ungeachtet dessen, dass sie relativ sauber waren, nicht nach Urin stanken und in den Tunneln keine Ratten darin herumliefen. Die Fahrgäste bewegten sich zügig und machten den Eindruck, als wüssten sie, was sie tun und wohin sie müssen, denn ihr großer Vorteil war, dass sie die deutsche Sprache verstanden.
Es erfordert eine gewisse Tapferkeit, sich in den Alltag einer geschäftigen, belebten Stadt zu stürzen, wenn man keine Ahnung hat, was man tut. Man bekommt das Gefühl, alle beobachten einen und warten, dass man seine Unfähigkeit unter Beweis stellt.
In New York hatte ich noch alles gut unter Kontrolle. Vor allem regelte ich vor meinem Umzug zwei wichtige Dinge: Erstens schloss ich eine Auslandskrankenversicherung ab – auch wenn das nicht meine eigene Idee war, sondern eine deutsche Vorschrift. Die deutschen Behörden erteilen keine einjährige Aufenthaltserlaubnis ohne den Nachweis einer Krankenversicherung. Keine Krankenversicherung, keine Einreise. Keine schlechte Regelung, wenn man bedenkt, wie sehr auch hier das öffentliche Gesundheitssystem kämpfen muss, um sich über Wasser zu halten. Zweitens meldete ich mich für einen Deutsch-Intensivkurs an, der kurz nach meiner Ankunft in Deutschland beginnen würde.
Dieser Kurs fand am Goethe-Institut in Bonn statt. Das bedeutete, dass ich in aller Herrgottsfrühe losmusste, um mit der Bahn zum Kölner Südbahnhof zu fahren und den Zug nach Bonn zu nehmen. Nach der fünfundzwanzigminütigen Zugfahrt ging ich gewöhnlich zu Fuß vom Bahnhof zum Goethe-Institut. Insgesamt war ich ungefähr eine Stunde unterwegs. Das wäre in Ordnung gewesen, wenn ich nicht gegen dieses scheußliche deutsche Herbstwetter hätte ankämpfen müssen, auf das ich nicht vorbereitet war. Ich komme zwar aus Minnesota, und extreme Wetterbedingungen sind meine Spezialität, doch der sintflutartige kalte Regen und der heftige Wind frühmorgens in der Dunkelheit waren brutal. Mein Regenschirm nützte mir gar nichts, denn der Wind stülpte ihn sofort um. Aus diesem Grund wurden wasserdichte Schuhe und Kleidung meine ständigen Begleiter.
Die anderen Kursteilnehmer am Goethe-Institut stammten aus unterschiedlichen Ländern und Verhältnissen; es waren größtenteils Firmenangehörige, Diplomatenfrauen und Studenten. Unsere Lehrerin erwähnte, dass sie noch vor kurzem Deutsch in Griechenland unterrichtet habe. Meinetwegen hätte sie auch Griechisch in Deutschland sprechen können, da ich ohnehin nur Bahnhof verstand. Es kostete mich große Mühe, mit den anderen Kursteilnehmern Schritt zu hal-ten. Ich war das Schlusslicht. Es spielte keine Rolle, dass ich abends immer fleißig büffelte, um den Anschluss nicht zu verlieren. Offenbar hatte ich zu viele Wissenslücken in Grammatik, wenn nicht sogar zu viele Löcher im Gehirn.
Mir erschien das seltsam, weil alle Kursteilnehmer zu Beginn einen schriftlichen und mündlichen Einstufungstest hatten ablegen müssen und anschließend in verschiedene Kurse eingeteilt wurden. Entweder hatten die Sprachspezialisten einen Fehler gemacht und mich falsch eingestuft, oder mein Gehirn war zwischen diesem Test und dem Kursbeginn geschrumpft.
Unsere Deutschlehrerin war über meine Defizite alles andere als erfreut, und eines Tages brachte sie mich vor der gesamten Klasse zum Weinen. An jenem Morgen hatte ich mich bereits nach dem Aufstehen unwohl gefühlt, aber ich wollte keinen Tag im Goethe-Institut versäumen – aus Angst, noch weiter zurückzufallen. Wir bekamen einen benoteten Test zurück, der meine Lehrerin in dem Glauben bestärkte, dass ich ein absolut hoffnungsloser Fall sei. In einer Lautstärke, dass es die gesamte Klasse hören konnte, machte sie mir mein Versagen klar. Ich kam mir vor wie ein unartiger Hund und kämpfte beschämt gegen die Tränen an. Warum saß ich, eine erwachsene Frau von fast dreißig Jahren, hier in einer alten Villa irgendwo in Bonn und ließ mich von dieser Frau niedermachen? Ich wusste es selbst nicht, aber mein Sprachkurs sollte sowieso bald durch Umstände unterbrochen werden, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte.