Hallo, schön, dass Sie anrufen! Bitte drücken Sie nun die 1) für unsere aktuellen Angebote, die 2) für Fragen zu unseren Produkten oder die 3) für  Informationen zu unseren Gewinnspielen!“

Oh Mann, ein Sprachcomputer. Ich hasse diese Dinger! Notgedrungen drücke ich die 3) für Informationen zu den Gewinnspielen.

„Sie haben die 3) gedrückt, für Fragen zu unseren Gewinnspielen. Bitte drücken Sie nun die 1) für Fragen zu unserem Kreuzfahrtgewinnspiel oder die 2) für Fragen zu unserem Schmuckgewinnspiel!“

Ich drücke die 2) und warte.
„Sie haben die 2) gedrückt. Hier kommen die häufigsten Fragen. Bitte drücken Sie die * Taste, falls eine der Fragen mit Ihrer Frage identisch ist.  Haben Sie einen Ring gewonnen und möchten sich bedanken? Möchten Sie wissen, welcher Hersteller unsere Ringe produziert hat? Haben Sie keinen Ring gewonnen und möchten einen kaufen?“

Sind die gaga? Mich bedanken? Einen Ring kaufen? Mich beschweren will ich! Wütend drücke ich alles gleichzeitig, die 1), die 2), die 3) und die * Taste. So!

„Hallo, schön, dass Sie anrufen! Bitte drücken Sie nun die 1) für unsere aktuellen Angebote, die 2) für Fragen zu unseren Produkten oder die 3) für  Informationen zu unseren Gewinnspielen!“

Das dazu! Ich gebe auf und streiche den Punkt trotzdem von meiner Liste. Der Versuch ist das, was zählt!

Mittagsflirt

 

Mittwoch, Mittagszeit.
Es hat sich als unmöglich herausgestellt, vor dem Sapiano einen Parkplatz zu bekommen. Deshalb sitzen Volker, Nina und ich jetzt in Luigis italienischem Eiscafé neben dem Sapiano und starren wieder einmal auf Volkers Laptop.

„Vivien, bist du soweit?“, fragt Nina durch das Mikrofon.

„Ja, kann losgehen! Ich gehe jetzt rein!“, antwortet Vivien und öffnet die Türe zum Sapiano. Über die Minikamera können wir sehen, dass es drinnen bereits brechend voll ist. Viele Geschäftsleute nutzen ihre Mittagspause um sich bei Pizza, Pasta und Salat in gemütlicher Runde zu unterhalten oder aber auch um die Dates für den Abend klar zu machen. Durch die umliegenden Banken und Geschäftshäuser ist das Sapiano für viele berufstätige Single einer der beliebtesten Orte, um neue Dates zu vereinbaren. Auch ich habe dort schon den einen oder anderen Mann kennengelernt, nur leider nie den Richtigen.

„Hmm, ich liebe diesen Duft nach Basilikum und Pizza“, Vivien schnuppert verzückt.

„Aha, ihr gucken YouTube! Ich auch habe Filme auf YouTube von ganze Familie. Ich kann euch zeigen!“ Luigi, der eigentlich Mehmet heißt und mit Italien in Wirklichkeit gar nichts am Hut hat, ist unbemerkt herangeschlichen. Da Volker öfter in sein Café kommt, kennen die beiden sich ganz gut. „Volka, gib ein: Mehmet00 Familie, dann ich zeige dir alle!“, befiehlt er Volker.
„Mehmet, du, das geht jetzt nicht! Das ist nicht YouTube. Das ist live!“, erklärt Volker.
„Wieso isser live? Gibt es YouTube live? Gute Idee, Volka! Ich mache auch Live Film: Luigi in seine Eiscafé!“
„Nein nein Mehmet, das ist so was wie eine verdeckte Operation, verstehst du?“, antwortet Volker.
„Ich nicht verstehe, Volka. Was für ein Operation? Du machen krumme Sachen? Nicht in meine Eiscafé!“
Ich blicke Volker an. So langsam hat er Mühe sich zu beherrschen. Und Nina verdreht hinter Mehmets Rücken die Augen.
„Nein, Quatsch Mehmet. Das ist privat. Wir wollen einen Mann finden, für Lola hier neben mir und machen so was wie ein Casting. Das was du da siehst, ist das Bild von der Kamera unseres Lockvogels Vivien.“

Mehmet alias Luigi mustert mich von oben bis unten. Wie unangenehm! Ich fühle, wie mir eine leichte Röte in die Wangen schießt.
„Du hasse Probleme Mann zu finden? Issa kein Problem! Ich habe viele Brüder. Bestimmt einer gefällt dir. Ich kann dir zeigen! Volka, gib ein Mehmet00 Familie in YouTube.“
Sprachlos starre ich Mehmet an. Was ist denn das für ein Vogel? Ich bin ja durch meine Freunde schon einiges gewohnt, aber dieser Kerl ist wahrlich sonderbar. Zum Glück rettet mich Volker: „Danke, das ist lieb gemeint Mehmet, aber wir probieren es erst mal so!“
Nina und ich haben echte Mühe uns zusammen zu reißen. Luigi-Mehmet bietet aber auch ein zu komisches Bild, so wie er sich gerade aufplustert, den Bauch einzieht und den Spüllappen schwingt.
„Ich mache auch mit“, erklärt er, „bei eure Casting. Ich kann machen fünf Eisbecher in sechs Minuten. Ich bin ein Supertalent. Ich zeige euch!“
Und schon eilt er hüfteschwingend hinter seine Eistheke.

„Hallo? Seid ihr da? Was ist denn bei euch los?“, ertönt plötzlich Viviens Stimme.

„Vivien, wir haben hier ein kleines Problem mit Luigi, dem Eiscafébesitzer. Kannst du dich noch ein bisschen gedulden?“, fragt Nina.

„Ja klar, ich bin bereit. Sagt mir Bescheid, wenn es losgehen kann“, antwortet Vivien.

„Volka, los komma her! Du musst mir filmen, wenn ich mache die Eisbecher!“ Luigi steht mit hochrotem Kopf hinter dem Tresen und macht in einer affenartigen Geschwindigkeit einen Eisbecher nach dem anderen. Das ist wirklich nicht schlecht! Unglaublich, wie schnell er ist, denke ich.
Volker stoppt den Eisbecher Rekordversuch mit den Worten: „Mehmet, ich habe gar keine Kamera! Aber du machst das echt prima. Vielleicht solltest du mal zu einem Talent-Casting gehen!“
Beleidigt zieht Mehmet einen Flunsch. „Na, wenn du mir nicht filmen willst. Ich verstehe schon! Ich hab sowieso zu tun! Viel Spaß noch bei eure Casting!“ Und mit diesen Worten verschwindet er im Nebenraum.
Volker, Nina und ich seufzen erleichtert auf. Gott sei Dank ist er weg!
„Können wir jetzt endlich weitermachen?“, will Nina wissen. Volker nickt. Ich kichere leise. Volker ist eigentlich ganz süß, wenn er so verwirrt ist, denke ich. Und wie ruhig er mit Mehmet umgegangen ist. Alle Achtung! Mir wäre längst der Kragen geplatzt.

„Ok, Vivien, los geht’s! Versuch erst mal einen guten Sitzplatz zu bekommen. Am besten neben einem netten Geschäftsmann!“ macht Nina weiter.

Vivien kämpft sich an der Schlange vor der Pastabar vorbei und hält nach einem geeigneten Sitzplatz Ausschau. Aha, da vorne ist doch noch ein Plätzchen frei. Gleich neben einer Gruppe von Anzugträgern.
„Ist hier noch frei?“, fragt sie in die Runde.
„Na klar, für so hübsche Frauen doch immer. Setz dich zu uns!“

„Ja, setz dich Vivien!“, sagt Nina durch das Mikrofon.

„Nina, was tust du denn da?“, regt sich Volker auf. „Du kannst doch Vivien nicht in die Runde von Raubtieren setzen! Weißt du nicht, wie Männer in einer Gruppe drauf sind, wenn sich eine hübsche Frau dazu setzt? Die nehmen Vivien auseinander!“
„Was willst du eigentlich, Volker?“, fragt Nina genervt. „Du sollst uns technisch unterstützen und nicht männertechnisch!“
„Wie du meinst! Aber sag nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!“, Volker zuckt mit den Achseln und schweigt.
„Kann Vivien sich mal ein bisschen umdrehen? Ich kann gar nicht alle Leute am Tisch erkennen!“, versuche ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Auf Streit zwischen Volker und Nina habe ich nämlich überhaupt keine Lust! Obwohl ich Volker zustimmen muss. Mit Männergruppen habe ich bisher auch keine so guten Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel in meinen letzten Urlaub auf Fuerteventura. Ich hatte gerade mal wieder eine chaotische 3-Wochen-Beziehnung hinter mir und wollte mich einfach nur erholen. Ein bisschen lesen, im Meer baden und abends nett essen gehen. Als ich auf der Suche nach einem guten Restaurant über die Promenade schlenderte, kam mir eine Gruppe von Surfern entgegen. Wirklich knackige Kerlchen, aber eindeutig zuviel an Testosteron. „Hey Puppe, willst du mit uns feiern gehen!“, grölte einer von ihnen. Die anderen lachten. Ohne dass ich es so richtig gemerkt hatte, hatten sie mich plötzlich eingekreist. Und versuchten, mich zu begrabschen. Zwei älteren Herren verdankte ich dann meine Rettung. Sie wiesen die Gruppe charmant zurecht und so konnte ich unbehelligt weiterziehen. Nicht ohne mir aber vorher noch von den Herren anhören zu müssen, dass anständige junge Damen um diese Zeit ohne männliche Begleitung auf der Promenade nichts zu suchen hätten und wo denn mein Partner wäre. Wenn ich daran zurückdenke werde ich immer noch wütend!
Ninas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.

„Vivien, dreh dich doch mal ein bisschen, damit wir die Herren besser sehen können!“

Das Kamerabild schwenkt herum und wir können nun die einzelnen Männer besser erkennen. Insgesamt sitzen sechs Anzugträger um Vivien herum. Ich ahne nichts Gutes. Und wie Volker prophezeit hat, geht das Gegockel kaum, dass Vivien Platz genommen hat, auch schon los:
„Na, erzähl mal! Wieso bist du alleine hier? Hast du heute Abend schon was vor?“
„Darf ich deine Telefonnummer haben, meine habe ich vergessen?“
„Willst du meine zukünftige Ex-Frau werden?“
„Kümmere dich nicht um die anderen, ich bin hier der Frauenversteher!“

Volker stöhnt genervt. „Mein Gott, was ist das hier? Der Contest der blödesten Anmachsprüche? Ehrlich Lola, von denen willst du doch nicht wirklich einen kennenlernen, oder? Nina, sag Vivien, sie soll da verschwinden, sonst gehe ich persönlich rein und hole sie raus. Das ist wirklich so was von unter unserem Niveau!“
„Volker hat Recht! Die Typen sind echt ätzend. Lass Vivien hierher kommen, dann haben wir zwar nichts erreicht aber wir können noch zusammen einen von Luigis Mega Eisbechern essen!“, stimme ich Volker zu.

„Wartet doch mal eine Sekunde!“, unterbricht Nina uns. „Seht mal, da drüben der Kerl am Nebentisch. Der, der sich gerade alleine hingesetzt hat. Der sieht schon die ganze Zeit zu den Typen rüber und schüttelt den Kopf. Jetzt steht er auf. Ich glaube, er will Vivien helfen!“
Tatsächlich! Jetzt sehe ich ihn auch. Ein blonder, nett aussehender Mann nähert sich gerade dem Tisch mit Vivien und den Vollidioten.
„Ach Schatz, hier bist du! Ich sitze doch da drüben. Hast du mich gar nicht gesehen?“, fragt er und sieht Vivien dabei auffordernd an.
Vivien sieht ihre Chance vor der ruppigen Männerrunde zu entfliehen und zwitschert: „Oh Mausebär, ich dachte, du stehst noch in der Schlange. Tschüss Jungs und guten Appetit!“ Und mit diesen Worten hängt sie sich bei dem Blonden ein und geht mit ihm zum Nebentisch.
„Danke, das war nett von dir!“, sagt Vivien, als sie beide Platz genommen haben. „Ich bin Vivien und du?“
„Hi, ich bin Alex. Ich habe die Jungs schon eine Weile beobachtet. Du warst nicht die Erste, an der sie ihre Sprüche ausprobiert haben. Scheinen alle schon ein bisschen zu tief ins Glas geguckt zu haben. Und das um die Mittagszeit! Die sind bestimmt alle auf einem stinklangweiligen Seminar und ballern sich die Birne weg, um den restlichen Nachmittag zu überstehen!“ Alex grinst und lässt dabei seine tadellos weißen Zähne aufblitzen.
„Hübsche Zähne!“, kommentiert Nina.
Ich stimme Nina zu. Ein gepflegtes Gebiss ist mir sehr wichtig. Ich achte auch immer gut auf meine Beißerchen. Selbst, wenn es noch so spät ist oder es mir noch so schlecht geht, meine Zähne putze ich immer.
„Seid doch nicht so oberflächlich!“, kritisiert Volker. „Viel wichtiger ist doch, dass der Typ echt nett zu sein scheint. Ich fand es gut, wie er Vivien vor den Schakalen gerettet hat. Mich würde interessieren, was er sonst so macht!“
Nina streckt Volker die Zunge heraus: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen, wenn einem etwas gefällt!“

„Vivien, frag Alex mal ein bisschen aus. Was er sonst so macht, ob er eine Freundin hat, wo er wohnt… was man halt so fragt!“

„Und? Was machst du sonst, wenn du nicht gerade Frauen vor Werwölfen rettest?“ Vivien blickt Alex auffordernd an.
„Na, mit Wölfen kenne ich mich aus!“, lacht Alex. „Ich bin Tierarzt. Meine Praxis liegt hier gleich um die Ecke. Und du? Was machst du?“
„So dies und das. Werbespots, Aufnahmen für Prospekte ...“, plappert Vivien drauf los.

„Oh ein Tierarzt! Das ist toll. Vielleicht kann der sich ja mal Herkules ansehen.“ Ich zwinkere Nina zu. Die nickt verständnisvoll. „Ja, das ist eine gute Idee. Wenn der Typ nett ist, machst du einen Recall mit Herkules bei ihm in der Praxis. Vielleicht kann er ja auch wirklich was für Herkules tun!“
„Wer ist denn Herkules? Habe ich irgend etwas nicht mitbekommen?“ Volker sieht mich auffordernd an.
„Herkules ist meine Wüstenrennmaus. Er hat da so ein Männerproblem ...“ Ich muss kichern.
„Naja, er ist irgendwie etwas abgedreht. Ein krankhafter Rammler würde ich sagen!“, hilft Nina mir weiter.
„Das ist ja unglaublich. Selbst mit männlichen Mäusen hast du Probleme? Vielleicht fühlt dein Herkules sich einsam?“, versucht Volker zu analysieren.
Ich fühle mich angegriffen. „Was soll das denn heißen? Du musst ja nicht gleich gemein werden. Ich kümmere mich gut um Herkules. Er bekommt jeden Morgen seine Körner und frisches Obst und ich habe ihm letzte Woche sogar ein neues Laufrad gekauft!“
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass manchen Männern das 'nur Kümmern' nicht ausreicht? Dass sie vielleicht auch als Person wahrgenommen werden wollen und nicht als lästige Pflicht, um die man sich nur kümmern muss!“

Perplex starre ich Volker an. Was genau hat der denn auf einmal für ein Problem?
„Und du bist dir sicher, dass du noch von einer Wüstenrennmaus sprichst?“, fragt Nina dazwischen. „Hört sich eher so an, als wärst du beziehungsgeschädigt!“
Volker murmelt etwas Unverständliches und starrt wieder auf seinen Bildschirm. Dort sehen wir Vivien angeregt mit Alex diskutieren. Mist, wegen Volkers blöder Sprüche habe ich jetzt überhaupt nicht mitbekommen, über was die beiden sich unterhalten haben.
„Nina, ich habe gar nix mitbekommen! Was sollen wir Vivien denn jetzt sagen?“, quengele ich.
„Sie soll sich einfach seine Nummer geben lassen, dann machen wir einen Termin für Herkules aus!“ Nina spricht die Anweisung in das Mikrofon:

„Vivien, lass dir Alex Nummer geben. Lola soll dann mit ihrem Herkules mal in seiner Praxis vorbeischauen. Und beeil dich, Volker wird langsam komisch. Wir sollten für heute Schluss machen!“

„Ich und komisch? Das ist jawohl eine Oberfrechheit! Wer ist denn hier komisch? Das seid doch wohl ihr, mit dieser komischen Aktion hier!“ Volker bekommt richtig rote Wangen. Irgendwie sieht er ganz niedlich aus, wenn er sich so aufregt, denke ich.
„Mensch, Volker! Was ist denn heute mit dir los? Hast du deine Tage?“, will Nina wissen. Volker murmelt wieder etwas Unverständliches. Ich glaube, ich will auch gar nicht wissen, was er gesagt hat.
Nina klopft Volker freundschaftlich auf die Schulter und bedankt sich für seine Hilfe. Das nächste Mal brauchen wir seine Ausrüstung erst wieder in ein paar Tagen. In der Zwischenzeit will Nina mit mir, Anja und Olgér ein paar Trockenübungen machen – was auch immer das heißen mag!

Mehmet scheint immer noch etwas beleidigt zu sein, als wir aufstehen und nach unserer Rechnung fragen.
„Wenn ihr nicht wollt, dass ich mitmache bei eure Casting, ihr seid selber schuld! Hätten wir gewonnen bei Eisbecher-Rekordversuch. Muss ich mir andere Manager suchen. Und du“, er zeigt mit dem Finger auf mich, „sieh dir an Mehmet00 Familie auf Youtube, da sind alle meine Brüder. Wird bestimmt einer dir gefallen, eh!“
 

 

Couchgeflüster

 

Donnerstagabend.
Nina, Anja und ich sitzen zusammen mit Olgér in unserem Wohnzimmer und lassen das Casting im Sapiano Revue passieren. Anja und Olgér sind schon sehr gespannt, alle Einzelheiten zu erfahren.
„Nein, wie unverschämt! Das ist too much empörend! Was manche Männer sich einbilden!“ Olgér ist entsetzt über unsere Beschreibung von der dreisten Männergruppe. „Aber dieser Tierarzt hört sich doch ganz nett an. Hast du schon einen Termin für deinen Hamster ausgemacht?“, erkundigt sich Anja.
„Ja. Ich habe heute morgen mit einer sehr netten Sprechstundenhilfe gesprochen. Am Mittwoch ist der Termin. Und Olgér und ich haben am Montagabend unsere erste Tanzstunde bei Stefan Lambert!“

„Because I-iei had the time of my life ...“ Olgér ist aufgesprungen und wirbelt in seinen neusten High Heels mit einem imaginären Partner durch den Raum. Das sieht wirklich zum Schreien aus. Nina, Anja und ich kichern. „Wer von euch tanzt denn dann den Mann und wer die Frau?“, will Anja wissen.
„Das steht scheinbar noch nicht ganz fest!“, antworte ich und betrachte kopfschüttelnd den hopsenden Olgér. Auf was habe ich mich da nur wieder eingelassen?
„Hast du Volker schon gefragt, ob er am Montag und am Mittwoch Zeit hat?“, wendet sich Nina an Anja.
„Ja, habe ich. Er kann. Aber sonderlich begeistert war er nicht. Er hat irgend etwas Unverständliches vor sich hingebrummelt. Was war denn los? Habt ihr euch gestritten?“ Anja sieht Nina und mich auffordernd an.
„Ich weiß nicht, was Volker für ein Problem hat. Er nörgelt die ganze Zeit an unseren Kommentaren rum und als Lola von ihrem Herkules erzählt hat, wurde er richtig komisch. Hat uns einen Vortrag über Beziehungen gehalten. Hat er eigentlich eine? Eine Beziehung, meine ich?“, fragt Nina.

„Seine Freundin und er haben sich gerade getrennt. Sie hat ihn betrogen und er hat sie erwischt. Echt üble Geschichte! Deshalb ist er gerade wahrscheinlich ein bisschen frustriert. War vielleicht nicht so eine gute Idee, ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten, aber ich kenne sonst niemanden, der sich mit Kameras und Mikrofonen auskennt!“, erzählt Anja.
Armer Volker, denke ich. Und ich habe ihn für einen Miesepeter gehalten. Dabei geht es ihm gerade genau so wie mir. Ich kann mich noch gut an mein Fiasko mit Sven erinnern. Wie er mit dieser Tussi in der Dusche stand... Ich kann nicht behaupten, dass ich über diesen Schock schon hinweg bin. Auf jeden Fall nehme ich mir vor, ab jetzt ganz nett zu Volker zu sein.
Auch Nina nickt verständnisvoll. „Ach so! Dann müssen wir uns Volkers Kommentare eben anhören und sie einfach ignorieren.“

Olgér hat seine Tanzeinlage inzwischen beendet und lässt sich neben mich auf das Sofa plumpsen. „Hach, das war too much schön! Ich freue mich schon so auf unsere erste Tanzstunde. Wollten wir nicht noch ein paar Trockenübungen mit Lola machen?“ Er stupst Nina an und grinst verschwörerisch. Nina grinst zurück. „Ja, wollten wir. Wir machen jetzt ein Flirt-Coaching mit dir, damit du für die ersten Treffen mit unseren gecasteten Männern auch fit bist.“ Nina holt einen Laptop aus ihrer Tasche und klappt ihn auf.
„Was habt ihr vor? Was willst du denn mit dem Laptop?“ Mir schwant nichts Gutes.
„Wir chatten. Ich habe ein Profil für dich bei mnlp gemacht.“

Oh nein, was kommt denn jetzt. „Was ist denn mnlp?“, erkundige ich mich.

„Mensch Lola, du suchst einen Mann und lebst dabei völlig hinter dem Mond. Mnlp ist die Abkürzung für  mein-neuer-love-partner.com, das weiß doch eigentlich jeder!“, Anja schüttelt den Kopf.

„Ich bin eben nicht jeder!“, antworte ich beleidigt. Zugegebenermaßen bin ich, was Chat- und Internetforen angeht, wohl wirklich nicht auf dem neuesten Stand. Aber auch ich habe einen facebook Account, den ich regelmäßig benutze, also ganz so hinterwäldlerisch muss man mich ja auch nicht darstellen.
 

Zeigen! Zeigen!“, schreit Olgér und drängelt sich nach vorne, um besser auf den Bildschirm gucken zu können. „Wie sieht Lolas Profil denn aus?“
Auch Anja will wissen, was Nina da gemacht hat. Und ich erst!
Nina loggt sich bei mnlp ein und ich starre auf das Profil. „Bist du irre?“, rutscht es mir heraus, denn was ich sehe ist folgendes:

Mnlp Name: Glücksbärchen00
Familienstand: Single auf der Suche nach dir
Beruf: besser verdienende Angestellte in der Tourismusbranche (ich kann in einigen Hotels kostenlos übernachten)
Lieblingsfarbe: lila
Humor: vorhanden
Wo und wie würdest du gerne einmal deinen Urlaub verbringen?: Da ich in meinem Beruf fast umsonst Urlaub mache, würde ich gerne meinen Urlaub mit dir in deinem Loft vor deinem Kamin verbringen (mit oder ohne Kleidung)
….
„Nina, was soll das denn? Wer das liest, denkt ich bin eine geldfixierte, notgeile Schnepfe mit Hang ins Kitschige: Glücksbärchen00! Was ist denn das für ein bescheuerter Name? Und: Möchte den Urlaub mit dir mit oder ohne Kleidung vor dem Kamin verbringen …?“ Ich bin ehrlich entrüstet. Da hätte ich Nina doch mehr zugetraut.

„Mensch Lola, reg dich doch nicht auf! Das ist doch Absicht. Auf diese Anzeige melden sich genau die Typen, auf die du sonst immer reinfällst. Ich will dir zeigen, wie die ticken. Sieh mal, du hast schon 10 Interessenten. Wir sehen mal, wer online ist und chatten ein bisschen mit so einem sexorientierten Vorzeigearschloch!“
Nina ruft die Liste meiner Interessenten auf:

Mr.Smiley39                                 online
Bobobär71                      
Looney                         
Testosteron35                               online
Karlchen                                      online
The_Impossible_Men             
MichaelXYZ                                          
DarkKnight42                   
Muckimen                                    online
Lars92                                          online

„Im Moment sind Mr. Smiley39, Testosteron35, Karlchen, Muckimen und Lars92 online. Mit wem willst du chatten?“

Ich seufze und zucke mit den Achseln. „Keine Ahnung! Testosteron35 und Muckimen hören sich wie Machos an. Karlchen ist doch eigentlich ein Name für einen Dackel und Lars92 ist wahrscheinlich entweder ein ganz junger Typ, wenn er mit 92 sein Geburtsjahr meint oder ein ganz alter Opi. Mr.Smiley39 hört sich ganz nett an.“
 

Ich finde du solltest entweder Testosteron35 oder Muckimen nehmen. Das sind doch genau die Typen bei denen du sonst immer anbeißt“, mischt sich Anja ein.
„Finde ich auch. Nimm mal Testosteron35, das ist doch ein heißer Name“, kichert Olgér.
Ich füge mich meinem Schicksal. „Na gut, meinetwegen! Und wie soll ich anfangen?“

Nina dreht den Bildschirm in meine Richtung. „Ich habe schon mal angefangen, den Rest machst du!“

Glücksbärchen00@Testosteron35: Hey, testosteron35, wie kommt man auf so einem namen?
Testosteron35: selber hey. ich nenne mich so, wie ich bin. halt echt mega gut  drauf ;-) und selbst? wieso glücksbärchen00?

Ohne lange zu überlegen, tippe ich die Antwort.

Glücksbärchen00: weil der name so schön kitschig klingt.

Testosteron35: und du stehst auf kitsch?

Glücksbärchen00: nicht wirklich!

Testosteron35: auf was stehst du denn?

„Wie billig! Der kommt ja schnell zur Sache!“, Anja schnaubt verächtlich.
„Wieso?“, frage ich. Ich verstehe nicht, was Anja meint. So schlimm ist der Typ doch gar nicht.
„Lola, ehrlich. Auf was stehst du denn? Das ist doch keine normale Frage. Der Typ will bestimmt nur schnellen Sex. Wahrscheinlich ist er verheiratet und hat vier Kinder“, mutmaßt Nina.
„Und das denkst du aufgrund einer einfachen Frage?“ Ich halte Ninas Ausführungen für reichlich übertrieben.
„Weitermachen, weitermachen. Schreib ihm zurück!“, drängelt Olgér ungeduldig. Ich denke kurz nach und tippe dann den nächsten Satz.

Glücksbärchen00: habe viele interessen. auf was stehst du denn?

Hah, was für ein kluger Schachzug von mir. Beifallheischend sehe ich meine Freunde an.
„Du lernst dazu. Selbst ausweichend antworten und ihm seine wahren Motive entlocken. Nicht schlecht!“, gibt Nina zu.

 

Testosteron35: auf alles was spaß macht. nackt kuscheln …

„Hab ich es doch gewusst!“ Nina klatscht in die Hände. „Jetzt machen wir ihn fertig. Schreib doch einfach: Und was sagt deine Frau dazu? Mal sehen, was dann passiert!“
Brav gebe ich den Satz ein. Ich bin wirklich gespannt, ob Nina Recht hat...

Glücksbärchen00: und was sagt deine frau dazu?

Testosteron35 hat sich ausgeloggt.
Testosteron35 hat den Chatraum verlassen.
 

Ich bin sprachlos. So hätte ich Testosteron35 wahrscheinlich nicht eingeschätzt. Womöglich hätte ich mich sogar auf ein Date mit ihm eingelassen und wenn ich mich richtig in ihn verliebt hätte, hätte ich die Fotos von seiner Frau und den drei Kindern in seiner Brieftasche gefunden. Warum bin ich nur so schlecht darin, Männer richtig einzuschätzen?

„So ein Schuft!“, empört sich Olgér. „Die arme, arme Frau. Der ist bestimmt too much untreu!“
„Verstehst du jetzt, was ich meine?“, will Nina wissen.
„Ich glaube schon“, antworte ich.
„Wollen wir noch einen anderen zum Üben ausprobieren? Wie wäre es denn jetzt mit Karlchen oder Mr. Smiley39?“, schlägt Anja vor.
„Lasst uns Karlchen nehmen, das hört sich sooo niedlich an! Karlchen und Glücksbärchen00!“ Olgér malt kleine Herzchen in die Luft.
„In Ordnung!“, stimme ich Olgér zu. Eigentlich ist chatten ganz witzig, besonders wenn es nicht ernst gemeint ist, denke ich.

Glücksbärchen00@Karlchen: hey karlchen. schön dich hier zu treffen. erzählst du mir mehr von dir?

Karlchen: hey glücksbärchen00. schön, dass du mir schreibst! ich bin 42 jahre alt, romantisch, verschmust, liebe schokoladenkekse und lache gerne und viel. und du?
 

Der hört sich doch nett an!“, meint Olgér.
„Na, warte mal ab. Wenn er wirklich so nett wäre, wäre er bestimmt nicht auf Lolas Profil angesprungen. Das habe ich ja extra zweideutig geschrieben. Karlchen scheint nur etwas geschickter vorzugehen, als dieser Testosteron35 vorhin. Er weiß scheinbar, was Frauen gerne hören wollen“, meint Nina.
Ich fühle mich etwas überfordert. „Was soll ich denn zurück schreiben?“, frage ich in die Runde.
„Wie wäre es mit: ich bin anfang 30, auch romantisch, liebe gute bücher und bin gerne kreativ“, schlägt Anja vor.
„Finde ich ok. Schreib das doch“, Nina nickt zustimmend.
Nun gut, dann gebe ich das mal ein:
 

Glücksbärchen00: ich bin anfang 30, auch romantisch, liebe gute bücher und bin gerne kreativ

Karlchen: da haben wir ja einiges gemeinsam. was ist dein lieblingsbuch?

Da muss ich nicht lange überlegen. Das Buch, das ich nun eingeben werde ist mein absolutes Lieblingsbuch schon seit meiner Abi-Zeit.

Glücksbärchen00: das spiel ist aus.

Karlchen: oh, ein sartre fan.

Ich bin ehrlich beeindruckt. Karlchen scheint eine gute Allgemeinbildung zu haben. Nicht viele Männer, die ich bisher kennengelernt habe, wussten dass „Das Spiel ist aus“ von Sartre ist. Vielleicht irrt sich Nina dieses Mal  und Karlchen ist doch kein Reinfall.
„Nina?“ Ich sehe meine Freundin fragend an.
„Keine Ahnung. Dumm scheint er nicht zu sein. Frag ihn doch nach seinem Lieblingsbuch!“
 

Glücksbärchen00: du kennst dich aus :) was ist denn dein lieblingsbuch?

Karlchen: ich habe zwei lieblingsbücher. vom winde verweht“ und „romeo und julia“.

Anja tippt sich an die Stirn. „Das ist doch kein Kerl! Kann mir doch keiner erzählen, dass ein Mann diese Titel als Lieblingsbücher hat! Wisst ihr, was ich glaube? Da sitzen auch ein paar Mädels vor dem Computer und machen sich einen lustigen Abend, indem sie als Mann im Netz unterwegs sind und chatten.“
„Was soll das denn? Ich mag Vom Winde verweht und Romeo und Julia auch!“, beschwert sich Olgér.
„Na klar. Aber du stehst ja auch eher auf Sachen, die wir Mädels mögen, oder nicht?“, meint Nina.
„Hmm, stimmt! Hört sich wirklich etwas soft an dieser Karlchen!“
„Und jetzt?“, frage ich in die Runde.
„Frag doch mal, wie viele Mädels gerade vor dem Computer sitzen und sich einen lustigen Frauenabend machen“, schlägt Anja vor.
„Wenn ihr meint!“ Ich gebe die Frage ein und klicke auf Enter.

Glücksbärchen00: wie viele mädels sitzen dann gerade vor dem rechenr und chatten mit uns?

Karlchen: ich verstehe die frage nicht! und wieso chatten mit uns? Ich dachte, das hier wäre privat. verarschen kann ich mich alleine. und tschüss!

Karlchen hat sich ausgeloggt.
Karlchen hat den Chatraum verlassen.


Ich atme hörbar aus und massiere meine Schläfen. Dieses ganze Chatten wird mir langsam zu viel. Und richtig gut darin sind meine Freunde ja scheinbar auch nicht.

„Das war ja wohl nix. Der ist jetzt beleidigt!“ Olgér schüttelt den Kopf.
„Na, vielleicht ist chatten nicht so unser Ding. Lasst uns lieber bei dem Casting bleiben, da kann man die Männer wenigstens sehen. Ich habe übrigens noch eine Idee für einen Castingort. Wir leihen uns einen Hund und gehen am Samstagvormittag in den Park. Da lernt man jede Menge Leute kennen. Volker habe ich schon gefragt und einen Hund kann ich auch besorgen. Nur Vivien kann nicht. Die ist gerade für ein großes Fotoshooting in Südafrika gebucht worden und danach will sie dort Urlaub machen. Die nächsten Wochen müssen wir also ohne sie klar kommen. Aber ich denke, das schafft Lola mit unserer Hilfe auch alleine. Was meint ihr?“, fragt Nina.

Hunderunde


Samstagvormittag.
„Einen kleineren Hund hast du nicht gefunden?“ Entsetzt sehe ich Nina an. Nina hat gerade das Café betreten, in dem Volker, Olgér und ich seit einigen Minuten sitzen und auf sie warten. An einer Leine führt sie einen riesigen braun-schwarzen Hund spazieren.
„Das ist Bones. Er ist ein Bernhardiner-Mischling. Und eigentlich ganz lieb!“
„Was heißt denn eigentlich ganz lieb?“ Ich fasse es nicht, dass ich mich schon wieder auf so einen Unsinn eingelassen habe. Ich mag Hunde, aber ich habe keine Ahnung, wie man mit ihnen umgeht. Ich dachte, Nina leiht uns einen ganz kleinen Hund für unser nächstes Casting aus, so einen Paris Hilton Hund oder etwas Ähnliches. Und nun steht sie vor mir mit dem größten Hund, den ich jemals gesehen habe.
„Na, er mag andere Rüden nicht. Aber sonst ist er ein ganz Lieber. Nicht wahr, mein Süßer? Ja, du bist ein feiner Kerl!“
Bones wedelt mit dem Schwanz und schleckt Ninas Hand ab.

„Oh, Ninalein. Der ist aber too much groß. Kann Lola den denn halten?“ Olgér runzelt sorgenvoll die Stirn.
„Ich finde ihn auch ein bisschen zu groß für Lola“, wirft Volker ein.

„Quatsch, Bones tut doch nix. Und Männer stehen eher auf große Hunde und nicht auf die Paris Hilton Miniversion. Außerdem kenne ich nun mal keinen anderen Hundebesitzer. Bones ist der Hund eines Kollegen. Er geht auch mit ins Büro und da hat er auch noch niemanden gefressen!“, erwidert Nina. „Wo ist eigentlich Anja?“, fragt sie dann.
„Die hat keine Zeit. Familienverpflichtungen,“ antwortet Volker.

Versuchen kann ich es ja mal, mit diesem Riesentier, denke ich. Eigentlich ist er ja ganz süß, wenn er so treu guckt.
Bones merkt, dass ich ihn mustere und kommt zu meinem Platz. Er stupst mich mit seiner feuchten Hundenase an, ganz so als wolle er sagen: Komm, wir schaffen das schon!
„Siehst du, er mag dich. Bones ist sehr schlau. Er hat wohl gleich gemerkt, dass du dich unwohl fühlst!“, Nina grinst zufrieden.
Bones geht einen Platz weiter und stupst den neben mir sitzenden Olgér an. „Ah, nein! Hilfe! Nehmt das Tier von mir weg. Ich habe Angst vor too much großen Hunden!“
„Komm her, Bones“, rufe ich und der Hund kommt ganz brav zu mir zurück. „Ok, ich probiere es. Volker, verkabelst du mich?“
„Wenn der Hund mich lässt!“, grinst Volker. „Der mag dich ja scheinbar.“
In der Tat klebt Bones an mir. Das wird schon klappen mit uns beiden, denke ich zuversichtlich, und vielleicht lerne ich ja auch tatsächlich jemanden kennen. Ich habe schon öfter gelesen, dass Hundebesitzer sehr kommunikative Leute sind und dass man mit Hunden schnell Menschen kennenlernt. Das werde ich gleich mal testen!

„So ist es brav!“, lobe ich den Hund kurze Zeit später, als er friedlich neben mir an seiner Leine vor sich hin trottet. Ab und zu bleibt er stehen, um an einem Baum zu schnüffeln und zu urinieren. Ich beginne mich zu entspannen. Das klappt doch gut!

„Siehst du Lola, Bones ist ein ganz lieber Kerl! Entspann dich und guck dich mal ein bisschen um. Mal sehen, ob was Gescheites im Park unterwegs ist!“, höre ich Ninas Stimme aus meinem Ohrmikrofon.
Ein lustiges Gefühl, mit den anderen reden zu können, ohne sie zu sehen. Ich komme mir ein bisschen wie eine Geheimagentin vor. Olgér würde sagen: Too much aufregend!

Im Park sind eine ganze Menge Leute unterwegs. Jogger, Familien mit kleinen Kindern, die mit keksverschmierten Gesichtern in ihren Buggys sitzen, Rentnerehepaare und auch einzelne Spaziergänger mit und ohne Hund.
Plötzlich schießt ein kleines weißes Wollknäuel an uns vorbei. Bones wedelt – und das macht er nicht nur mit seinem Schwanz! Sein ganzer massiger Körper wackelt. Auch ich vollführe schlenkernde Bewegungen, denn Bones Gewackel überträgt sich durch die Leine auf mich.
„Schätzelein, übst du schon mal den Lambada?“, höre ich Olgérs kichernde Stimme in meinem Ohrmikro.
„Sehr witzig!“, zische ich. „Versuch du doch mal ruhig stehen zu bleiben, wenn so ein Koloss an der Leine herumwackelt!“
Das kleine weiße Wollknäuel hat den wedelnden Bones inzwischen entdeckt und kommt zu uns zurück gelaufen. Bones rastet schier aus vor Freude. Ich habe Mühe ihn zu halten.
„Fee! Fee, hierher!“
Ein sichtlich genervter Hundebesitzer biegt um die Ecke und bleibt schnaufend vor uns stehen.
„Fee, du böser Hund! Du sollst doch nicht einfach so weglaufen!“
Das weiße Wollknäuel springt übermütig an ihm hoch und wedelt mit dem Schwanz.
„Tut mir leid“, entschuldigt sich der Hundebesitzer bei mir, „Fee ist noch ganz jung. Wenn sie andere Hunde entdeckt, haut sie immer ab!“

Ach, nicht schlimm! Bones scheint sie ja zu mögen!“, antworte ich während Bones verzückt an Fees Hinterteil schnuppert.
„Bones? Witziger Name! Wie alt ist er denn?“

„Drei!“, hilft Ninas Stimme mir auf die Sprünge. „Am besten unterhältst du dich noch ein bisschen mit ihm über seinen Hund. Hundebesitzer reden immer gerne über ihre Hunde!“
Brav folge ich den Anweisungen: „Bones ist drei und Fee?“
„Sechs Monate“, antwortet Fees Herrchen.

„Also ich finde, der sieht ganz nett aus!“, meint Nina während sie mit Olgér und Volker dicht gedrängt vor Volkers Laptop sitzt. Lolas versteckte Kamera überträgt ein ziemlich gutes Bild von Fees Herrchen. Er ist sehr lässig gekleidet, hat dunkle Haare und eine sportliche Figur.
„Vielleicht ist er ja schon vergeben!“, wirft Volker ein.
„Stimmt, das müssen wir herausfinden. Am besten Lola fragt ihn, wo denn Fees Frauchen ist!“, meint Nina und spricht die Anweisung in das Mikrofon.

„Lola, finde mal heraus, ob er Single ist. Frag ihn doch einfach, wo Fees Frauchen ist!“

Warum nicht?, denke ich. Er sieht auf jeden Fall ganz nett aus. Wäre rein äußerlich schon mein Typ.
„Na Fee!“ Ich beuge mich herunter und streichele das kleine Fellmonster. „Wo hast du denn dein Frauchen gelassen?“
„Fee hat keins. Sie hat nur mich!“, antwortet ihr Herrchen.
„Strike!“, jubelt Olgér. „Ein Single! Geniale Idee, das mit dem Hund, Nina!“
„Danke“, Nina grinst zufrieden. Volker sitzt daneben und schweigt. Heute scheint er auf dumme Kommentare zu verzichten, denkt Nina erleichtert.
Auf dem Monitor ist nun zu erkennen, dass Lola und Fees Herrchen sich angeregt unterhalten, während die beiden Hunde um sie herumwuseln.

„Lass dir seine Telefonnummer geben, Lola! Du kannst ja sagen, dass du öfter auf Bones aufpasst und dass Bones Fee scheinbar mag. Dann könnt ihr euch nochmal verabreden“, instruiert Nina mich.

Das klappt ja prima, denke ich, als ich mit der Telefonnummer von Till, Fees Herrchen, in der Tasche kurze Zeit später weitergehe. Mal sehen, wen Bones und ich noch so alles kennenlernen.
Gemütlich schlendern wir weiter durch den Park. Hin und wieder bleibt Bones stehen und schnüffelt. Das macht ja richtig Spaß mit Hund im Park, finde ich. Ich fühle mich komplett entspannt. Doch dieses Gefühl hält nicht lange. Plötzlich werde ich unsanft zur Seite gerissen. Ein mittelgroßer schwarzer Hund steht vor uns und knurrt Bones böse an. Bones stemmt sich in die Leine und knurrt zurück. Das übersteigt meine Kräfte. Die Leine gleitet mir aus den Fingern und Bones geht auf den anderen Hund los.
„Oh nein!“, schreie ich. „Bones, aus! Lass das! Nein!“
Bones beachtet mich nicht. Er ist mit Knurren beschäftigt und versucht den anderen Hund zu beißen. Ich bin völlig verzweifelt.
„Hilfe, Nina!“, rufe ich in das Mikrofon.
Doch bevor Nina antworten kann, kommt eine völlig aufgelöste ältere Dame im Stechschritt auf uns zu.
„Oh Gott, Blacky! Halten Sie Ihren Scheißköter fest!“, schreit sie mich an.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll!“, antworte ich.

„Scheiße!“, höre ich Ninas Stimme aus meinen Ohrstöpseln.

„Sind Sie bescheuert? Halten Sie sofort Ihren Kampfhund fest! Blacky, oh nein, Blacky!“, brüllt die Frau.
Ich versuche Bones am Halsband weg zu zerren, aber er ist zu stark für mich. „Hilfe! Helft mir doch!“, rufe ich.

Auf einmal steht Volker neben mir. „Aus!“, sagt er und reißt Bones am Halsband zurück. Der andere Hund, Blacky, liegt am Boden und jault.
„Ich zeige Sie an! Dieser Kampfhund muss einen Maulkorb tragen!“, zetert Blackys Frauchen.
„Wollen Sie nicht lieber mal nachsehen, ob mit Ihrem Hund alles in Ordnung ist anstatt hier rumzuschreien?“, fragt sich Volker, während er Bones an einem Baum festbindet. Dann kommt er zurück, bückt sich und streichelt Blacky.
„Na, alles ok mit dir?“
„Ich kann keine Bisswunde entdecken“, wendet Volker sich dann an Blackys Frauchen, die immer noch stocksteif da steht und ihren Hund anstarrt. „Ich glaube er hat nur einen Schrecken gekriegt!“
„Das können Sie ja gar nicht beurteilen oder sind Sie etwa Tierarzt? Ich will Ihren Namen und die Adresse“, keift die Frau und zeigt mit dem Finger auf mich. „Ich zeige Sie an, jawohl!“
Völlig geschockt versuche ich zu antworten, bringe aber keinen Ton heraus. Mein Puls rast und Adrenalin schießt durch meine Venen.

„Jetzt machen Sie aber mal halblang. Bones war ja nicht ohne Grund an der Leine. Da hätten Sie Ihren Blacky eben auch anleinen sollen. Und außerdem hat Ihr Hund angefangen. Bones hat sich nur gewehrt“, verteidigt Volker mich und Bones.
„Woher wollen Sie das denn wissen?“, keift die Dame.
„Ich habe es gesehen! Und wenn Sie so etwas hier vermeiden wollen, müssen Sie besser auf Ihren Hund achten!“
Giftig starrt Blackys Frauchen Volker an. Dann packt sie ihren Hund, der längst wieder aufgestanden ist und interessiert an einem Grasbüschel schnuppert, unsanft am Halsband und geht schimpfend und zeternd weiter.

Alles ok?“, fragt Volker und sieht mich an. Ich schüttele den Kopf. Ich stehe immer noch unter Schock. „Komm mit“, sagt Volker und legt den linken Arm um meine Schultern. In seiner rechten Hand hält er Bones Leine. Bones scheint sich auch wieder beruhigt zu haben und trottet freudestrahlend neben uns her, ganz so als wäre nichts gewesen.
„Wir geben das Monster bei Nina ab und dann lade ich dich zum Essen ein. Hast du Lust?“
Ich nicke. Hunger habe ich zwar keinen, aber einen Drink könnte ich jetzt gut gebrauchen. In einiger Entfernung sehe ich, wie Olgér und Nina uns aufgeregt entgegen kommen. Olgér schwenkt die Arme und trippelt so schnell,wie seine High Heels es erlauben, auf uns zu.
„Lola, Schätzelein, geht es dir gut? Dieser Hund ist ja too much unerzogen! Du Bestie!“ Olgér deutet mit dem Zeigefinger auf Bones. Der fühlt sich angesprochen und schmiegt sich an Olgérs Beine. Olgér gerät auf seinen High Heels ins Straucheln. „Nehmt dieses Tier von mir weg!“, kreischt er.
„Tut mir wirklich leid.“, Nina sieht mich zerknirscht an. „Ich wusste nicht, dass Bones so ausrastet. Sein Herrchen hat gesagt, er würde sich nicht so gut mit anderen Rüden verstehen, aber dass er sie gleich auffressen will, hat er nicht erwähnt. Komm, du Ungeheuer, ich bringe dich nach Hause.“
Nina nimmt Bones Leine und verabschiedet sich von uns. „Ich rufe dich nachher nochmal an, Lola“, sagt sie. Ich nicke und Nina zieht mit dem schwanzwedelnden Hund von dannen.
„Hach, das war einfach too much für mich. Ich brauche ein heißes Bad und eine große Tasse Matcha Tee. Von der ganzen Aufregung bekomme ich noch Falten“, Olgér greift sich theatralisch an die Stirn. „Kommst du mit nach Hause, Lola?“
„Volker und ich wollen noch was Essen gehen“, antworte ich.
„Also ich bekomme jetzt keinen Bissen herunter. Ich fahre dann. Bis später.“ Olgér wünscht uns viel Spaß und stolziert in Richtung Parkausgang. „Komm, ich kenne einen ganz tollen Italiener in der Nähe. Lass uns dort hinfahren“, schlägt Volker vor.

Pizza, Pasta und Personality


„Und? Geht es dir jetzt besser?“, fragt Volker nachdem ich einen großen Schluck von meiner Weinschorle genommen habe.
„Ja, danke!“, antworte ich und lehne mich wohlig zurück. Volkers Lieblingsitaliener ist ein echter Geheimtipp. Die Einrichtung ist modern, aber trotzdem gemütlich und die kleine Gartenterasse mit den romantischen Lauben und blühenden Rosenstöcken eine wahre Freude für die Sinne.

Wenn das Essen auch so gut ist wie das Ambiente bin ich für heute wunschlos glücklich, denke ich. Und ich werde nicht enttäuscht. Meine Pasta ist ein Traum. Lächelnd sehe ich Volker an. Der hat gerade seine Baseballkappe abgenommen, um seinen Pferdeschwanz zu lüften und sitzt nun ganz entspannt auf seinem Platz und genießt genau wie ich sein Essen und die beschauliche Atmosphäre.
„Trägst du die immer schon so lang? Deine Haare meine ich“, will ich wissen.

Volkers eben noch so entspannter Gesichtsausdruck weicht einer missmutigen Grimasse. „Nein, nie! Ich hatte immer kurze Haare. Aber nach der Sache mit Sabine hatte ich einfach keine Lust mehr mich zu stylen und perfekt zu kleiden. Sabine ist Modedesignerin und für sie war es immer extrem wichtig einen vorzeigbaren Partner zu haben“, Volker verdreht genervt die Augen.
„Ach so!“, murmele ich. Keine besonders intelligente Bemerkung, aber mehr fällt mir gerade nicht ein. Ich kann Volkers Antihaltung sogar irgendwie verstehen. Aber seine Reaktion zeigt auch, dass er noch lange nicht über Sabine hinweg ist.
„Willst du erzählen, was passiert ist?“, frage ich teilnahmsvoll.
Volker überlegt kurz, dann zuckt er mit den Achseln. „Viel zu erzählen gibt es nicht. Ich dachte bei Sabine und mir würde alles gut laufen. Wir hatten viele Pläne. Eigenes Haus, irgendwann Kinder. Bis ich eines Tages früher von einem Job nach Hause gekommen bin und ….“

Volker unterbricht seine Erzählung und starrt aus dem Fenster. Ich berühre seinen Arm. Ich kann so gut verstehen, was gerade in ihm vorgeht. Dieses Bild von Sven und der nackten Frau in der Dusche hat sich in meine Netzhaut eingebrannt. Wahrscheinlich sieht Volker gerade ein ähnliches Bild.
„Sie hat mich betrogen – mit meinem besten Freund – monatelang! Jetzt wollen die beiden heiraten und Sabine ist von ihm schwanger!“
Autsch, denke ich. Fremdgehen ist eine Sache, aber dann noch mit dem besten Freund und auch noch gleich schwanger werden und heiraten …. Armer Volker! Diese Nummer ist um einiges härter als meine Geschichte mit Sven.
„Tut mir wirklich leid! Ich kann dich echt gut verstehen! Mir ist mit meinem letzten Freund Sven etwas Ähnliches passiert. Wir waren zwar noch nicht so lange zusammen, aber weh tat es trotzdem.“ Jetzt bin ich es, die aus dem Fenster starrt.
„Verdammt!“ Erschrocken zucke ich zusammen. Volker hat gerade mit der Faust auf den Tisch gehauen und mich so zurück in die Wirklichkeit geholt. „Mir reicht es! Schluss mit dem Trübsal blasen! Ich will was ändern – sofort!“
Was hat er vor?
„Würdest du mit mir zum Friseur gehen? Ich will wieder eine normale Frisur! Nicht mehr so durchgestylt wie früher, aber auch nicht so jämmerlich wie jetzt. Hier um die Ecke ist ein guter Friseur. Kommst du mit? Bitte!“
Flehend blickt Volker mich an.
Er hat wirklich hübsche Augen, denke ich. Tiefblau, wie der Ozean.
Ich finde zwar, dass seine Bitte jetzt ein leichtes Übersprungsverhalten ist, aber warum nicht? Die langen Haare stehen ihm wirklich nicht!
„In Ordnung, lass uns bezahlen! Ich komme mit!“, antworte ich.

Eine halbe Stunde später sitze ich auf einem gemütlichen braunen Ledersessel und blättere vergnügt in einer Frauenzeitschrift. Interessant, wer sich mal wieder so alles von wem getrennt hat. Für die Reichen und Schönen ist es scheinbar auch nicht so einfach den richtigen Partner zu finden! Das baut mich richtig auf! So ein spezieller und hoffnungsloser Fall scheine ich also gar nicht zu sein. Wenn das mit diesem Casting nichts wird, bleibe ich eben ohne Mann, überlege ich. Und Kinder kann man auch ohne Partner adoptieren und groß ziehen, das ist bei den Stars ja auch gerade in. Oder ich frage Olgér nach einer Samenspende. Das Kind kommt dann bestimmt schon mit High Heels zur Welt!
Ich kichere.
„Na, was gibt es da zu lachen?“
Glucksend drehe ich mich um. Hinter meinem Sessel steht – nein, das kann nicht sein! „Volker?“, frage ich.
„Derselbige! Mit neuem Look“, antwortet er und verbeugt sich vor mir.
Mein Gott, was so eine neue Frisur ausmachen kann, denke ich. Volker sieht toll aus. Richtig attraktiv mit seinem flotten Kurzhaarschnitt und dem frechen Grinsen im Gesicht. „Und? Gefalle ich dir?“, will er wissen.
„Und wie! Ähh, ich meine, gut siehst du aus!“, verbessere ich mich schnell.
Und wie … ist doch schon mal ein Anfang!“, lacht Volker. „Hättest du auch noch Lust mit mir ein paar neue Klamotten auszusuchen? Ich bin gerade im Umstylingfieber!“
Ich hüpfe von meinem Sessel. „Klar! Wir können ja Olgérs Lieblingsläden unsicher machen und dir ein paar hübsche Highheels kaufen!“
Volker feixt und droht mir mit dem Finger. Ich zwinkere ihm zu und hake mich gutgelaunt bei ihm ein. Los geht’s, Boutiquen wir kommen!
Etliche Läden später schleppen wir Volkers Beute – zahlreiche Tüten mit coolen Klamotten – zu seinem Auto. Einige der Sachen hat er gleich anbehalten. Mit dem neuen Style und der neuen Frisur ist Volker ein komplett anderer Typ. Er scheint sich sichtlich wohl zu fühlen.

„Danke Lola, das hat gut getan! Hast du vielleicht noch Lust auf einen Cappuccino bei Luigi?“
Ich nicke zusimmend. Klar habe ich Lust, obwohl dieser Luigi meiner Meinung nach etwas sonderbar ist. Hoffentlich fragt er mich nicht, ob ich mir die Filme seiner Familie auf YouTube angesehen habe. Aber noch etwas Zeit mit Volker würde ich gerne verbringen. Wo es doch gerade so lustig ist.

Wir verstauen Volkers Tüten im Auto und parken einige Minuten später vor Luigis Laden.

„Hallo Mehmet“, begrüßt Volker den Eiscafé Besitzer, „alles gut bei dir?“
„Hallo Volka! Alles va bene! Ah, ich sehe, du hast wieder mitgebracht, die Frau, die einen Mann braucht. Wollt ihr wieder machen eine Casting in meine Laden?“
„Nein, nein Mehmet, keine Sorge. Wir wollen bloß einen Cappuccino trinken. Bringst du uns zwei?“
„Sicher, kommt sofort!“, Luigi saust hinter die Theke und bringt uns wenig später die gewünschte Getränke an den kleinen Tisch am Schaufenster, an dem wir in der Zwischenzeit Platz genommen haben. Zumindest scheint er nicht mehr verstimmt darüber zu sein, dass er bei unserem Casting nicht mitmachen durfte.

„Hast du dir angesehen meine Brüder auf YouTube?“, fragt er dann die Frage, vor der ich mich gefürchtet habe. „Carlos zum Beispiel ist ganz eine nette Kerl. Hat ein mexikanisches Restaurant. Eigentlich heißt er Ali, aber isser Marketing, eh! Du müsse Namen so machen, dass er passt zum Geschäft. So wie ich heiße Luigi!“
„Äh“, mache ich ratlos.
Volker sieht mich an und zwinkert mir zu. „Nee hat sie sich nicht angesehen, Mehmet. Muss sie auch nicht mehr. Sie hat ja mich!“

Erstaunt sieht Mehmet-Luigi Volker an.
„Ah, Volka, ich verstehe. Na na na, du bist ja eine ganz linke Vogel“, Mehmet grinst und wackelt mit dem Zeigefinger. „Machst du Trick mit Casting und dann du schnappst dir die Frau. Musst du mir mal erklären deine Trick!“ Schmunzelnd verschwindet er im Nebenraum.
„Danke!“ Erleichtert nicke ich Volker zu. „Du hast mich gerettet! Sonst hätte er mir jetzt bestimmt das Video von Carlos-Ali vorgespielt.“
„Habe ich gerne gemacht“, lächelt Volker. „Jetzt denkt Mehmet allerdings, du bist meine Freundin!“
„Soll er doch glauben, was er will!“, antworte ich und schmunzle.

Nach einem netten Kaffeeklatsch fährt Volker mich noch nach Hause. Vor unserer WG angekommen, zaubert er einen weißen Chiffonschal mit Blümchenstickerei aus einer der Tüten. „Habe ich für dich gekauft, als du nicht hingesehen hast. Ich dachte, der könnte dir gefallen. Als kleines Dankeschön für heute!“
„Oh, der ist ja hübsch! Vielen Dank!“ Ich drücke Volker einen Kuss auf die Wange und steige schnell aus. Wie schön so ein verkorkster Tag doch enden kann, denke ich. Das war wirklich ein toller Nachmittag mit Volker.

Beschwingt schließe ich die Wohnungstüre auf.
„Lolaaaaaa?“, höre ich Olgér aus seinem Zimmer rufen. Er klingt irgendwie gequält.
„Ja, bin wieder da“, antworte ich.
„Gott sei Dank! Kannst du mal kommen? Schnell!“
Nichts Gutes ahnend öffne ich Olgérs Zimmertüre.
Das Bild, das sich mir dort bietet, ist einfach unbeschreiblich.
Ich stehe kurz vor einem Lachanfall. Ein Glucksen entrinnt meiner Kehle. Was genau Olgér vorhatte, weiß ich nicht, aber das Ergebnis ist selten komisch. In einem goldfarbenen Glitzerkostüm mit High Heels an den Füßen, in denen ich niemals laufen könnte, steht Olgér mit einem Fuß auf der Fensterbank. Der andere Fuß hängt in einer Art Schlinge fest, die knapp unter der Decke, an einem Haken befestigt ist. Sein blondes offenes Haar ist ihm ins Gesicht gefallen und bedeckt es fast vollständig. Er ist in dieser Position gefangen und kann weder vor noch zurück.
Das beste an dem Bild aber ist die Kamera, die Olgér gegenüber auf einem Stativ steht und die unaufhörlich Fotos schießt. Was hat er bloß tun wollen? Ich kann nicht mehr! Ich platze gleich! Mein Lachen bahnt sich seinen Weg nach draußen und prallt laut schallend von den Wänden ab. Tränen laufen mir die Wangen herunter.
„Das ist überhaupt und so was von gar nicht lustig!“, jammert der goldene Spiderman in seinem Netz. „Hilf mir! Bitte!“
Das ist leichter gesagt, als getan.
Ich versuche mich zu konzentrieren, um nicht wieder los zu lachen. Olgérs Fuß ist derart in der Schlinge verdreht, dass ich ihn wahrscheinlich nur mithilfe einer Schere daraus befreien kann. Den Schuh einfach auszuziehen ist unmöglich. Und: Wie soll ich überhaupt an Olgérs Fuß herankommen?
„Halt noch kurz aus, ich muss eine Leiter besorgen!“, vertröste ich den Unglücksraben.
„Bitte, mach schnell“, wimmert Olgér. „Mein Bein tut so schrecklich weh!“
Ich verspreche ihm, mich zu beeilen. Wo ist denn bloß unsere Leiter? Im Wandschrank im Flur, wo sie sonst immer stand, ist sie nicht. Da fällt mir ein, dass Olgér neulich morgens mit der Leiter aus dem Haus gegangen ist. „Olgér, wo ist die Leiter?“, brülle ich.
„Oh nein, die ist noch in meiner Firma. Bitte, Lola, tu was! Ich halte das nicht mehr au-au-au-aus!“
Heilige Scheiße, denke ich. Wo kriege ich jetzt eine Leiter her? Vielleicht hat die alte Frau Huber über uns eine?
„Ich laufe schnell hoch zu Frau Huber und frage sie, ob sie eine Leiter hat“, rufe ich und renne ohne Olgérs Antwort abzuwarten schnell aus dem Zimmer. Hinter mir höre ich die Kamera weiter klicken. Die habe ich ganz vergessen. Der arme Olgér wird immer noch fotografiert. Aber jetzt habe ich keine Zeit, die Leiter ist wichtiger. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprinte ich nach oben. Schnaufend stehe ich vor Frau Hubers Türe und klingele Sturm. Hoffentlich ist sie da!
Hundegebell ertönt hinter der Haustüre, dann öffnet sie sich einen klitzekleinen Spalt und Frau Huber lugt hinaus. „Ja, bitte?“, fragend blickt sie mich durch ihre dicke Hornbrille an.
„Frau Huber -pfff- ich bin Lola Ernst, von unten. Ein Notfall -pfff- ! Haben Sie eine Leiter?“, pfeife ich. Meine Kondition ist momentan nicht die beste. Die paar Stufen hoch zu sprinten hat mich ganz schön aus der Puste gebracht.
„Warum?“, fragt Frau Huber misstrauisch.
„Frau Huber, bitte, ich habe keine Zeit. Haben Sie eine Leiter oder nicht?“, drängele ich.
„Ja, habe ich“, antwortet Frau Huber. „Warum?“
Frau Huber macht keinerlei Anstalten ihre Türe weiter zu öffnen. Durch den Türspalt blickt sie mich argwöhnisch an.
„Mein Mitbewohner steckt in der Klemme. Bitte, machen Sie schnell, ich muss ihm helfen!“
„Warum?“
„Kann ich nicht erklären! Das muss man gesehen haben. Bitte, holen Sie die Leiter!“
„Ihr Mitbewohner?“
„Ja, Holger Neumann, mein Mitbewohner!“
Scheinbar war das die richtige Antwort. Frau Huber öffnet ihre Haustüre und geht endlich die Leiter holen. Sofort schießt ihr kläffender Hund heraus und springt mich an. Nach dem Erlebnis mit Bones habe ich eigentlich erst einmal genug von Hunden. „Weg! Kusch! Ab!“, schimpfe ich. Ich kann Frau Hubers Hund nicht leiden. Er kläfft ständig und macht sein Geschäft vor unserer Haustüre. Ich bin schon einige Male auf dem Weg zur Arbeit in seine Tretminen gelatscht. Eine echte Sauerei! Das wollte ich Frau Huber schon lange sagen, aber im Moment brauche ich ihre Hilfe. „Frau Huber?“, rufe ich. „Haben Sie die Leiter?“
„Moment noch!“, flötet es aus der Wohnung.
Was macht die Huber denn da so lange? Und wieso ist sie auf einmal so gut gelaunt?
„Es kann losgehen! Ich bin so weit!“ Frau Huber kommt mit einer Haushaltsleiter in der Hand um die Ecke gehüpft.
Ich sehe sie an und bin sprachlos.
Die dicke Hornbrille ist verschwunden. Stattdessen trägt Frau Huber nun eine schicke silberfarbene Brille. Außerdem hat sie sich in der kurzen Zeit, die ich vor ihrer Türe gewartet habe, eine Art Kriegsbemalung zugelegt -   türkisfarbener Lidschatten und kirschroter Lippenstift. Eine Wolke von Lavendelparfüm umweht ihren Körper, der in einem halbdurchsichtigen roten Seidenkleid steckt. Wahrscheinlich passte ihr das Kleid vor 20 Jahren, aber nun sieht Frau Huber darin aus wie eine Presswurst. Warum zum Teufel hat sie sich bloß so aufgetakelt? Unfähig etwas zu sagen, stehe ich im Hausflur, während Frau Huber mir die Leiter in die Hand drückt. Danach schubst sie ihren Hund in die Wohnung zurück und zieht die Türe hinter sich zu.
„Was stehen Sie da herum? Los auf zur Rettungsmission!“, meint sie dann und stolziert die Treppe hinunter.
Ich folge ihr. Eigentlich wollte ich ihre Hilfe überhaupt nicht, sondern bloß eine Leiter, aber das steht wohl gerade nicht zur Debatte.
„Huhu Herr Neumann, hier kommt ihre Rettung! Wo sind sie denn?“, ruft Frau Huber durch unsere offene Wohnungstür.
„Hier bin ich, Hilfe!“, antwortet Olgér schwach.
Mit eiligen Schritten folgt Frau Huber Olgérs Stimme, während ich die Leiter hinter ihr her schleppe. Auf der Türschwelle zu Olgérs Zimmer bleibt sie wie angewurzelt stehen. Ihre Lippen klappen in einem tonlosen Stakkato auf und zu. Olgérs Anblick hat ihr glatt die Sprache verschlagen. Ich drücke mich an ihr vorbei und stelle die Leiter auf. Dann nehme ich eine Schere von Olgérs Schreibtisch und klettere nach oben.
„Beeil dich, Lola! Ich kann nicht mehr!“
Ich packe Olgérs Fuß mit der einen Hand und schneide mit der anderen Hand das Seil durch. Geschafft!
Olgér setzt sich vorsichtig auf die Fensterbank, umklammert seinen Fuß und jammert: „Das tut soooo weh!“
Frau Huber hat ihre Sprache wiedergefunden. „Was geht hier vor? Was machen Sie für merkwürdige Spielchen? Skandalös ist das, skandalös!“
Sie starrt Olgér an und schüttelt heftig den Kopf. Wenn sie so weitermacht, fällt ihr Kopf gleich ab, denke ich. Aber jetzt verstehe ich auch ihren Aufzug. Wahrscheinlich war die gute Frau Huber gerade in Flirtlaune. Da hat sie sich nur leider mit Olgér den falschen ausgesucht. Das scheint sie zumindest auch gerade kapiert zu haben. Wahrscheinlich hat sie Olgér bisher nur in seinen Businessklamotten gesehen. Denn zur Arbeit geht er wie ein ganz normaler Geschäftsmann mit Anzug und Krawatte. Seine Hemden und Krawatten sind zwar sehr extravagant, aber er sieht darin relativ normal aus. Seine momentane Aufmachung muss wohl ein Schock für Frau Huber gewesen sein.
„Frau Huber, Sie sind ein Engel! Sie haben mir das Leben gerettet! Ohne Ihre Leiter würde ich immer noch da oben hängen!“, Olgér setzt seinen Rehblick auf und klimpert mit den falschen Wimpern. Dann stöhnt er und reibt sich den schmerzenden Fuß. Sein Blick zeigt die erwünschte Wirkung.
„Ach“, lenkt Frau Huber ein. „Man tut was man kann. Zeigen Sie doch mal den Fuß.“
Olgér hält ihr seinen Fuß hin und Frau Huber mustert ihn aufmerksam.
„Was stehen Sie hier schon wieder rum?“, herrscht sie mich dann an. „Los, holen Sie mal Verbandszeug und ein Kühlkissen. Der arme Mann muss verarztet werden!“
Spinnen die, denke ich, wer hat ihn denn da runtergeholt? Das war jawohl ich! Ach egal, soll Frau Huber sich doch um ihn kümmern, dann habe ich meine Ruhe. Olgér ist nämlich extrem wehleidig. Und richtig scharf auf das Krankenschwester zu spielen, bin ich nach dem anstrengenden Tag heute nicht wirklich. Ich werfe Frau Huber und Olgér den Verbandskasten zu, dann schnappe ich mir die immer noch eingeschaltete Kamera und verziehe mich in die Küche.
Ein richtig leckerer Cocktail, das wäre jetzt was, denke ich.
Wenn ich Glück habe, haben wir noch alles für meinen aktuellen Lieblingscocktail Frambo im Haus. Sekt, Himbeeren, Himbeersirup, Zitronensaft und Eiswürfel – alles da, juhuu!
Ich mixe Cocktails für Frau Huber, Olgér und mich. Dann nehme ich zwei Gläser und bringe sie in Olgérs Zimmer. Frau Huber und Olgér sind so sehr in ihre Verarztungsnummer vertieft, dass sie mich gar nicht wahrnehmen.  „Hier kommt ein leckerer Cocktail!“, rufe ich und stelle die beiden Gläser auf Olgérs Schreibtisch ab. Dann verschwinde ich schnell wieder in der Küche.
Ich schnappe mir meinem Frambo und die Kamera und setze mich an den Küchentisch. Mal sehen, wie Olgérs Fotos geworden sind. Ich drücke den ON Knopf und scrolle durch die Aufnahmen.
Am Anfang der Fotoserie kann man noch erahnen, was Olgér ungefähr vorhatte. Scheinbar wollte er für seine Facebook Seite „Highheels in Action“ Stuntfotos machen. Eines der ersten Fotos zeigt Olgér in seinem Glitzeranzug mit dem einen Fuß auf der Fensterbank und dem anderen Fuß in der Schlinge, die er an der Decke befestigt hat. Olgér grinst und hält den Daumen nach oben. Dann auf dem nächsten Foto passiert es. Er verliert das Gleichgewicht, rutscht aus und … was nun kommt,  ist das Komischste was ich seit langem gesehen habe.
Japsend suche ich nach einem Taschentuch. Zum zweiten Mal heute laufen mir regelrechte Lachtränenbäche über die Wangen. Ich kann kaum noch was sehen. Schniefend trockne ich mir das Gesicht und blinzele den Tränenschleier weg. Dann klicke ich weiter.
Einige Bilder später sehe ich mich selbst mit der Leiter in der Hand.  Und dann kommt ein Foto, das ab jetzt mein neues Lieblingsfoto wird. Olgér in seinem goldfarbenen Glitzerkostüm im Halbspagat und davor Frau Huber in ihrem Presswurst Seidenkleid. Und die Gesichtsausdrücke dazu ...
Das Bild will ich mir unbedingt ausdrucken. Wenn es mir mal richtig schlecht geht, muss ich mir nur dieses Foto ansehen und alles wird besser. Einfach nur herrlich!

„Was ist denn hier los?“, tönt es plötzlich und Frau Huber steht neben mir. „Was sind Sie bloß für eine schreckliche Person!“, keift sie mich an. „Ihr armer Mitbewohner leidet nebenan und Sie kichern hier herum!“
Ich wische mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln und drehe die Kamera so, dass Frau Huber einen Blick darauf werfen kann.
„Nein!“, ruft sie und schlägt die Hand vor den Mund. Ich klicke weiter. Frau Huber nimmt sich einen Stuhl und setzt sich neben mich. Und dann passiert etwas, mit dem ich nicht wirklich gerechnet habe:
Frau Huber bekommt einen gewaltigen Lachanfall. Sie gackert dermaßen, dass ihre großen Brüste wie wild auf und ab hopsen und ich Angst bekomme, dass ihr Kleid gleich reißt. Hochrot im Gesicht ringt sie nach Luft und klopft sich auf die Schenkel. Unglaublich, was Olgérs Fotos und mein Frambo bewirken können. Das ist ja fast magisch! So wie ich Frau Huber einschätze, hat sie bestimmt jahrelang nicht gelacht oder ist zum Lachen in den Keller gegangen.
Frau Hubers Gelächter ist so ansteckend, dass ich auch wieder loslachen muss.
„Das ist ja wohl too much! Was wird denn hier gelacht, während ich fast sterbe?“ Empört kommt Olgér in die Küche gehumpelt.
„Setz dich mein Lieber und sieh selbst!“ Ich reiche Olgér die Kamera. Er betrachtet die Bilder und grinst gequält. Wahrscheinlich schmerzt sein Bein noch zu sehr, als dass er über die Fotos lachen kann. „Aber das hier ist echt gut geworden. So hatte ich mir das vorgestellt. Das werde ich auf meiner „High Heels in Action“ Seite posten!“, meint er und deutet auf eines der Bilder.
Ich stehe auf und mixe uns noch drei Frambos. Frau Huber ist nach ihrem Lachanfall richtig aufgetaut und erzählt uns Geschichten aus ihrer Jugendzeit. So leicht angetrunken ist sie eigentlich ganz sympathisch. Mit unseren frischen Cocktails stoßen wir an und trinken Brüderschaft. Frau Huber, die mit Vornamen Irma heißt, kann tatsächlich richtig lustig sein. Sie schafft es sogar dem leidenden Olgér ein Lächeln abzuringen. So wird dieser merkwürdige Abend doch noch recht kurzweilig und ich kann endlich einen Punkt von der Liste streichen. Ich habe mich nämlich getraut, Irma auf den Hundekot vor unserer Haustüre anzusprechen und sie hat versprochen in Zukunft darauf zu achten, dass ihr Waldi nicht mehr vor die Türe macht.

Als Irma gegangen ist, helfe ich dem leicht angesäuselten Olgér in sein Zimmer. Sein Knöchel sieht nicht sehr gut aus. Er ist ziemlich geschwollen. Morgen früh wird Olgér wohl erst einmal zum Arzt fahren müssen.

„Oh nein!“, ruft er plötzlich und schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Was ist denn?“, will ich wissen.
„Übermorgen ist doch unsere Tanzstunde. Mit dem Fuß kann ich nicht tanzen! Oh wie too much schade. Ich hatte mich schon sooo gefreut!“ Betrübt lässt Olgér die Schultern hängen.
Oh Mist, die Tanzstunde hatte ich ganz vergessen. Mit wem soll ich denn nun das Tanzbein schwingen? Ich denke angestrengt nach.
„Ich hab´s! Du fragst einfach Volker. Der macht das bestimmt!“, kommt der Vorschlag von Olgér.
Ja stimmt, das ist keine schlechte Idee, denke ich. Bei dem Gedanken daran mit Volker zu tanzen, werde ich ganz kribbelig.  Ich spüre wie meine Wangen eine leichte Röte annehmen. Ich denke an den heutigen Tag mit Volker zurück und muss schmunzeln. Ich werde ihn auf jeden Fall fragen. Das wird bestimmt lustig! Ich beschließe Volker gleich mal eine SMS zu schicken. Ich wollte mich sowieso noch für den schönen Nachmittag und den Schal bedanken. Und die Frambos, die ich gerade getrunken habe, lassen mich mutig werden.
Ich: Schläfst du schon?

Volker: Nein, bin noch zu aufgedreht. War sehr schön mit dir heute :-))) Was machst du gerade?

Ich: Bin leicht beschwipst! Hatte einen Vorfall mit Olgér, du glaubst nicht, was er gemacht hat, hihi. Muss ich in Ruhe erzählen. Er hat auf jeden Fall einen verstauchten Fuß und kann am Montag nicht mit mir zum Tanzen gehen  …

Volker: Oh, das ist ja doof. Und jetzt?
 

Ich atme tief durch und frage dann: Würdest du mit mir tanzen?

Volker: Gerne ;) Wenn du dann auch mit mir flirtest und nicht mit dem Tanzlehrer ;-))

Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Ich grinse. Flirten kann er haben.

Ich: Wenn du besser zurück flirtest als der Tanzlehrer …

Volker: Du bist ganz schön frech! Schlaf schön :-*

Ich lächele und tippe: Schlaf du auch schön! Dann kuschele ich mich in mein Bett und schlafe sofort ein.

Krumping Stunde

(Krumping: Krump ist ein expressiver Tanzstil, der frei und ohne direkte Vorgaben getanzt wird. Dabei geht es im Wesentlichen darum, sich negative und angestaute Emotionen von der Seele zu tanzen und mit den Bewegungen eine Geschichte zu erzählen.)

Montagabend. Ich stehe mit Nina und Anja auf dem Parkplatz vor der Tanzschule und warte auf Volker. Ich bin richtig aufgeregt, wenn ich daran denke, dass ich gleich in Volkers Armen tanzen werde. Wie sich das wohl anfühlt? Der Nachmittag, den ich vorgestern mit ihm verbracht habe, war so schön und lustig. Gestern, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag im Bett gekuschelt und mit Volker gesimst. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele Gemeinsamkeiten haben. Grinsend lehne ich mich an Ninas Auto und halte nach Volker Ausschau. Neben mir sitzt Olgér in einem Leihrollstuhl. Der Arme hat sich tatsächlich den Knöchel angeknackst und soll sich nun schonen. Einen Rollstuhl hätte er wohl nicht unbedingt gebraucht, Krücken hätten es sicherlich auch getan, aber so ist Olgér nun mal – too much theatralisch.
„Wusstet ihr eigentlich, dass Volker eine neue Freundin hat?“, platzt  Anja plötzlich heraus.

Bumm! Mir ist, als ob mir jemand in die Magengrube geschlagen hat. Ich bin unfähig etwas zu sagen.

„Wirklich?“, fragt Nina. „Wen denn? Erzähl!“
„Weiß ich nicht genau, aber Micha hat erzählt, dass Volker ihm gestern Abend gesagt hat, er habe jemanden kennengelernt. Und stell dir vor, er hat sogar seine Haare abgeschnitten. Muss wohl was Ernstes sein! Aber verratet nicht, dass ich was gesagt habe.“

Ich ziehe scharf die Luft ein. Dieser Mistkerl! Erst flirtet er mit mir und lässt sich dann auch noch in Stylingfragen beraten, nur um sich dann mit einer anderen zu treffen?
„Lola, alles ok? Du bist plötzlich so blaß um die Nase“, Nina sieht mich fragend an.
„Ja, alles in Ordnung“, murmele ich. Ich habe gerade absolut keine Lust den anderen zu erzählen, wie ich mich fühle. Ehrlich gesagt, bin ich sogar selber überrascht, dass mich diese Neuigkeit so aus der Fassung gebracht hat. Olgér kommt zu mir rüber gerollt und zieht mich zu sich herunter. „Schätzelein, konzentrier dich jetzt aufs Tanzen, ja? Du musst für mich mittanzen und dir alles gut merken, damit wir üben können, wenn ich wieder fit bin!“
Olgér hat echt Nerven! Auf eine Tanzstunde mit Volker habe ich jetzt absolut keine Lust mehr. Aber aus der Nummer komme ich wohl nicht mehr raus! Dann werde ich eben too much mit Stefan Lambert, dem Tanzlehrer flirten. Das war ja auch der eigentliche Sinn dieser ganzen Aktion. Ich reiße mich zuammen und straffe die Schultern.
Als Volker einige Minuten später zu uns stößt, begrüße ich ihn mit einem lapidaren: „Ach, hallo.“
Volker, der mir gerade einen Begrüßungskuss auf die Wange geben wollte, hält in der Bewegung inne. „Ach, hallo? Ist das alles? Ich freue mich auch, dich zu sehen!“
Ich zucke mit den Schultern, lasse Volker einfach stehen und marschiere in Richtung Tanzschule.
„Was ist denn mit der los?“, will Volker wissen.
„Keine Ahnung! Sind bestimmt die Hormone. Hilf mir lieber mal mit dem Rollstuhl, Liebelein“, meint Olgér und Volker greift beherzt zu, natürlich nicht ohne Olgér vorher angemessen zu bemitleiden.

Nina, Anja, Olgér und Volker betreten den kleinen Aufenthaltsraum, der zu der Tanzschule gehört. Durch die große Fensterfront können Zuschauer die Tanzenden beobachten, ohne den Unterricht zu stören. Ich sitze schon im Tanzsaal, fest entschlossen heute so gut zu flirten wie noch nie zuvor in meinem Leben. Zumal ich Zuschauer habe.
Die Türe öffnet sich und der Tanzlehrer, Stefan Lambert, betritt den Saal. Ich stehe von meiner Bank auf, ziehe den Bauch ein (im Moment gibt es da durchaus ein paar kleine Pölsterchen zum Einziehen) und strecke die Brust raus. Mit meiner Brust kann ich auf jeden Fall punkten. Bisher waren alle meine Freunde sehr zufrieden mit meiner Oberweite. Ich habe nicht zuviel Busen, aber auch nicht zu wenig. Genau die richtige Größe, wie ich finde. Außerdem hat die Schwerkraft an dieser Stelle noch keine Chance gehabt (im Gegensatz zu meiner Hinterseite) und alles sitzt noch ziemlich gut.
„Hallo Stefan, ich bin Lola. Wir hatten telefoniert. Ich freue mich ja schon sooo auf die Tanzstunde!“, flöte ich ihm entgegen.
„Hi Lola! Schön, dass du da bist. Wo ist denn dein Tanzpartner?“, will Stefan wissen.
Ich drehe mich zur Glasscheibe um, hinter der ich die anderen vermute.
Was ist denn da schon wieder los? Anstatt brav und ruhig auf ihren Stühlen zu sitzen, gestikulieren alle wie wild durcheinander. Olgér ist trotz seines angeknacksten Knöchels aufgestanden und klopft energisch gegen die Scheibe.
Stefan Lambert starrt Olgér an. Dann lacht er plötzlich und verlässt mit einem „Nein, das gibt es ja nicht!“ den Tanzsaal. Perplex sehe ich ihm hinterher. Habe ich irgend etwas verpasst?
Ich fixiere meine Freunde mit Blicken, aber niemand beachtet mich. Vielen Dank auch!
Jetzt betritt Stefan Lambert den Nebenraum und Olgér und er fallen sich in die Arme. Was soll das nun wieder? Woher kennen die sich denn? Und wo zum Teufel steckt mein vermaleideter Tanzpartner?
Zumindest die letzte Frage erübrigt sich, denn Volker betritt feixend den Tanzsaal.
„Du wirst es nicht glauben“, erzählt er lachend, „Olgér und Stefan Lambert kennen sich. Und rate mal woher! Von Olgérs Highheels in Action Facebookgruppe. Stefan postet dort regelmäßig Bilder von sich in Highheels. Und auf Frauen steht er nicht wirklich! Wusste ich doch gleich, als ich ihn mit Vivien gesehen habe. Irgendwas war komisch.“
Triumphierend sieht Volker mich an.
Ich schnaufe empört. Mein ganzer Flirtplan ist von einer Sekunde auf die andere hinfällig geworden. Und zu allem Überfluss muss ich gleich auch noch mit Volker tanzen und ihn anfassen. Dabei habe ich noch nicht einmal Lust, mit ihm zu reden. Wütend starre ich Volker direkt in die Augen.
„Was?“, fragt er und zuckt grinsend mit den Achseln. „Ist doch nicht so schlimm. Lass uns beide einfach Spaß haben. Wir wollen doch den anderen eine gute Show bieten.“
Ich will gerade eine bissige Bemerkung machen, als Stefan Lambert den Tanzsaal betritt, den plappernden Olgér vor sich her rollend. Nina und Anja folgen den beiden feixend.
Na toll, da hat sich meine ganze Bagage wohl gerade überlegt, Volker und mir aus der Nähe zuzuschauen.
Ich reiße mich zusammen und schlucke meine Antwort herunter. Wenn Volker mit mir tanzen will, das kann er haben. Und wie ich tanzen werde, ha! Dem wird noch Hören und Sehen vergehen.

„So, ihr Lieben, dann lasst uns mal anfangen. Ich schlage vor, wir machen uns erst mal ein bisschen warm. Jeder tanzt, wie er will - Freestyle. Und dann zeige ich euch die ersten Schritte.“ Stefan Lambert geht hinüber zu seiner Musikanlage und drückt ein paar Knöpfe.
„We are gonna dance into the sea ...“, dudelt es aus dem Lautsprecher.
Ich habe zwar überhaupt keine Lust zu tanzen aber diesen Song mag ich ganz gerne. Das ist wirklich eine cooler Discosong. Volker beginnt mit dem typischen Männertanz: Füße von links nach rechts und mit den Händen wippen. Na ja, denke ich.
Früher, während meiner Schulzeit habe ich sehr viel Jazzdance gemacht, bewegen kann ich mich also. Ich atme tief ein und aus und stecke dann meine ganze Wut in diesen Tanz. Meine Füße fliegen über den Boden und mein ganzer Körper bewegt sich im Rhythmus der Musik.
Ich vergesse die anderen und konzentriere mich nur aufs Tanzen:
Arme hoch – verdammte Männer
Beine stampfen – ihr könnt mich mal
Hüfte wackeln – seht her, was ihr verpasst
Langsam wiegen – ich habe immer noch mich selbst

„Juhuu Schätzelein, das ist ja der Hammer!“, Olgérs Stimme holt mich wieder zurück in die Wirklichkeit. Die Musik ist inzwischen zu Ende. „Ich wußte ja gar nicht, dass du so super tanzen kannst!“
Olgér fuchtelt begeistert mit den Händen in der Luft herum. „So und so und so, und diese Bewegung am Ende. Wunderbar, das musst du mir unbedingt zeigen, wenn mein Fuß wieder in Ordnung ist.“
Anja, Nina und Volker starren mich sprachlos an.
„Was war denn das?“ Nina findet als Erste ihre Sprache wieder.
„Tanzen“, antworte ich schnippisch. Dazu fällt ihr nichts mehr ein. Nina ist wirklich selten sprachlos, deshalb genieße ich diesen Moment gerade.
„Sehr schön Lola, bewegen kannst du dich. Jetzt wollen wir mal sehen, wie ihr das zu zweit umsetzen könnt“, Stefan Lambert winkt uns in die Saalmitte.
„Wow, das sah ja super aus, wie du vorhin getanzt hast. Würde ich gerne nochmal sehen“, flüstert Volker mir ins Ohr.
Pah, der spinnt wohl. Fängt an, mit mir zu flirten. Vergiß es, mein Lieber. Nochmal lasse ich mich nicht von dir einwickeln, denke ich und beschließe ihm einfach gar nicht zu antworten. So richtig in Form bin ich irgendwie nicht mehr. Dieser eine Tanz hat mich ganz schön angestrengt. Früher konnte ich stundenlang tanzen, ohne dass es mir etwas ausgemacht hätte. Jetzt aber merke ich, wie ich anfange zu schwitzen und mein Herz wie wild pocht. Zumindest hoffe ich, dass es meine körperlichen Reaktionen gerade auf den Tanz zurück zu führen sind und nicht auf die Tatsache, dass Volker den Arm in Tanzposition um mich legt und mich frech angrinst.
Die neue Frisur steht ihm wirklich gut, denke ich und ärgere mich sofort über diesen Gedanken. Ich versuche einfach durch Volker hindurch zu sehen und mir vorzustellen, ich würde mit Olgér tanzen.
„So und aufgepasst!“, Stefan Lamberts Tanzstunde beginnt.

Eine Dreiviertelstunde später sind wir endlich fertig mit dem Unterricht. Volker hat sich gar nicht mal so dumm angestellt. Er konnte die Vorgaben von Stefan wirklich gut umsetzen, bwohl ich Volker gefühlte hundert Mal auf die Füße getreten bin.
Olgér jedenfalls ist ganz begeistert von Stefans Unterricht und macht gleich mit ihm ein Date für ein Shooting mit Highheels im Tanzsaal aus. Es wird zwar noch ein bisschen dauern, bis Olgér wieder richtig laufen kann und dann auch noch auf High Heels, aber er freut sich schon auf den Termin.
Na, wenigstens einer, für den sich das hier gelohnt hat!, denke ich.
„Dann sehen wir uns nächste Woche um die gleiche Zeit wieder“, verabschiedet Stefan Volker und mich.
„Mmmh“, brummele ich. Bis nächste Woche muss ich mir unbedingt eine gute Ausrede einfallen lassen. Denn ich werde garantiert nicht noch mal mit Volker tanzen.
„Wollen wir noch ins Rockefeller?“, fragt Anja, als wir wieder auf dem Parkplatz vor der Tanzschule stehen. „Micha kümmert sich heute um die Kids. Ich bin froh, wenn ich mal ein bisschen Zeit für mich habe. Die Kleine ist gerade echt anstrengend. Also, wie siehts aus?“
„Klar, bin dabei“, antwortet Nina.
„Ich auch, wenn mich einer von euch Schätzeleins schiebt!“, erwidert Olgér.
„Und was ist mit euch? Lola? Volker?“, fragt Anja.
Volker mustert mich aufmerksam und schüttelt dann den Kopf. „Ich komme lieber nicht mit.“
Was ist?, denke ich. Willst du jetzt etwa, dass ich sage: Doch, bitte lieber Volker, komm doch mit? Den Gefallen werde ich ihm bestimmt nicht tun. Ich bin froh, wenn ich ihn heute nicht mehr sehen muss.
„Wie schade“, flöte ich. „Dann vielleicht ein anderes Mal. Und danke dafür, dass du meinen Tanzpartner gespielt hast. Bald werde ich dann hoffentlich mit meinem zukünftigen neuen Freund weiter tanzen können.“ Ich hake Nina und Anja unter und lasse Volker einfach stehen. Jetzt fühle ich mich ein bisschen besser. Ich, Lola Ernst, werde mich von keinem Mann mehr vorführen lassen!

„Sag mal, was war denn vorhin mit dir los?“, will Nina wissen, als wir einige Zeit später im Rockefeller sitzen. „Du warst irgendwie ganz komisch zu Volker. Ich glaube, deshalb wollte er auch nicht mitkommen. Habt ihr euch gestritten?“
„Nö, wieso?“, entgegne ich und bemühe mich unschuldig zu gucken.
„Ich weiß auch nicht. Irgendwie warst du so aggressiv“, antwortet Nina.
„Das bildest du dir ein. Ich war nur enttäuscht, dass aus mir und Stefan Lambert nichts werden wird!“, flunkere ich, ohne rot zu werden.
„Ist das nicht zum Piepen“, plappert Olgér dazwischen, „dass Stefan Mitglied in meiner Facebookgruppe ist? Und stellt euch vor: Wenn ich wieder fit bin, werden wir ein Gruppentreffen bei ihm in der Tanzschule machen. Das erste „High Heels in Action“ Gruppentreffen. Hach, wie too much aufregend das ist!“, verzückt rührt Olgér in seinem Cocktail. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass er sich gedanklich in ganz anderen Sphären befindet. Wahrscheinlich ist er gerade im High Heels Himmel, denke ich und beneide Olgér um seine unkomplizierte und positive Art. Mit so einem naiven, kindlichem Gemüt lebt es sich gewiss einfacher. Ich habe beschlossen, meinen heutigen Ärger einfach zu ertränken. Ich muss  morgen eigentlich arbeiten, aber das ist mir gerade echt egal. Die Cocktails im Rockefeller sind richtig gut und momentan genau das, was ich brauche.

„Ich muss los Leute und Micha ablösen. Der Kleine wacht im Moment ständig auf. Wenn ich noch länger bleibe, komme ich morgen nicht aus dem Bett“, meint Anja eine Stunde später und fragt dann: „Wie soll unser Traumprinzen-Casting denn nun weiter gehen?“

„Na, wir haben ja noch Alex, den Tierarzt und Till, den Hundebesitzer aus dem Park. Lola hat am Donnerstag einen Termin bei Alex mit Herkules, und Till muss sie noch anrufen, oder hast du das schon gemacht?“, richtet Nina die Frage an mich.
Ich schüttele den Kopf. Hui, was ist das? Ich sehe Nina plötzlich doppelt. Der letzte Cocktail scheint wohl doch ein bisschen zu viel gewesen zu sein. „Habischnisch!“, lalle ich.
„Wie bitte?“, Nina sieht mich entgeistert an.
„Habischnochnisch!“
„Ui, Schätzelein. Das war wohl ein bisschen viel Alkohol. Lass uns ein Rollstuhltaxi nehmen und nach Hause fahren“, meint Olgér.
„Ismiregal. Könnewamachen.“

Nina und Anja stützen mich, als einige Minuten später das Rollstuhltaxi vor dem Rockefeller hält.
„Na, was ham wir den hier? Eine Schnapsdrossel und einen Rollstuhlfahrer im Glitzerkostüm. Was seid denn ihr für welche?“, der Taxifahrer mustert uns belustigt. Dann packt er mit an und hilft Olgér und mich ins Taxi zu setzen. Mir ist nicht nach Reden zu Mute, denn mein Magen rumort plötzlich und erinnert mich daran, dass ich ihn heute wirklich stiefmütterlich behandelt habe. Viel zu wenig Nahrung und zu viel Alkohol.
„Tschüss, ihr Süßen. Wir telefonieren morgen“, verabschieden Anja und Nina sich und winken unserem Taxi hinterher.
„Alles ok?“, fragt Olgér.
„Mirissoschlecht“, nuschele ich und würge.
„Oh nein, musst du spucken?“, Olgér sieht mich besorgt an.
„Alles in Ordnung, da hinten? Soll ich lieber anhalten?“, will der Taxifahrer wissen.
„Mmmpff“, stöhne ich und presse meine Hand vor den Mund. Ich spüre, wie der Inhalt meines Magens langsam meine Speiseröhre hochkriecht.
Das Taxi hält mit quietschenden Reifen auf dem Seitenstreifen der Stadtautobahn. Der Fahrer reißt die Türe auf, hilft mir aus dem Auto und führt mich zum Grünstreifen. Dort übergebe ich mich laut würgend in die Büsche, während mir der nette Fahrer die Haare aus dem Gesicht hält. Dann hilft er mir zurück ins Auto und schnallt mich an.
„Gehts besser?“, fragt er teilnahmsvoll. „Da haben Sie wohl ein bisschen einen über den Durst getrunken!“
„Mmmh, danke“, murmele ich matt. Ich fühle mich so elend, dass mir die ganze Situation gerade noch nicht einmal peinlich ist.
Zuhause angekommen hilft der nette Taxifahrer Olgér und mir noch in die Wohnung. Olgér bedankt sich überschwenglich bei dem Mann. Ich habe nicht die Energie dazu, noch viel zu sagen. Mit letzter Kraft schleppe ich mich ins Bett und schlafe sofort ein.
 

Das Einschreiben

 

Drrriiinggg macht mein Wecker. Oh Gott, schon aufstehen? Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich platzen. Ich kann heute unmöglich zur Arbeit gehen.
„Guten Morgen Schätzelein, wie geht’s dir?“, Olgér kommt in mein Zimmer gehumpelt und zieht die Vorhänge zurück. Was für eine Frage. Wie soll es mir schon gehen? Ich kneife ganz fest die Augen zusammen, denn das Tageslicht verschlimmert meine Kopfschmerzen nur noch. „Beschissen, geht’s mir! Lass mich in Ruhe, ich will schlafen!“
„Aber es ist schon 8 Uhr. Du kommst zu spät zur Arbeit.“
„Hmmm, ich gehe heute nicht. Melde mich krank. Wieso bist du überhaupt schon wach. Du bist doch krank geschrieben“, erwidere ich.
„Ich habe gleich einen Arzttermin.“
„Aha. Dann geh schnell, ich will weiter schlafen.“
„Du warst ja gestern richtig neben der Spur. Weißt du eigentlich, dass du dich noch übergeben hast? Wie gut, dass wir so einen netten Taxifahrer hatten!“, plappert Olgér.
Ich erinnere mich dunkel daran, dass mir furchtbar schlecht wurde und ein netter Mann meine Haare festgehalten hat, während ich mich übergeben musste. Wie peinlich! Und Schuld daran ist wieder mal ein Kerl: Volker!
„Was war denn eigentlich los, Schätzelein? Du warst gestern echt schräg drauf, “, bohrt Olgér nach.
Ich ziehe mir die Bettdecke über die Nasenspitze und schweige.
„Dann eben nicht. Wenn du nicht reden willst, bitteschön!“ Beleidigt humpelt Olgér von dannen.
Ich taste nach meinem Handy auf dem Nachttisch und rufe in der Firma an. Da ich mich noch wie ausgekotzt anhöre, lässt der Chef mir gute Besserung ausrichten und ich bekomme heute frei. Gott sei Dank!Erleichtert drehe ich mich um und schlafe weiter.

Ein erneutes Drrrinnggg lässt mich hochfahren. Nanu, schon wieder der Wecker? Den hatte ich doch ausgestellt. Ich taste nach dem AUS Schalter. Drrriiinggg macht es noch einmal. Wohl doch nicht der Wecker. Es klingelt an der Türe. Na gut, jetzt bin ich sowieso wach. Ich stelle meine Beine eines nach dem anderen vorsichtig auf den Fußoden. Dann bewege ich mich behutsam im Schneckentempo in Richtung Haustüre und öffne diese einen klitzekleinen Spalt. Vor mir steht der Postbote.
„Ja, bitte?“, krächze ich.
„Ich habe ein Einschreiben für Lola Ernst“, antwortet dieser.
„Ach ja?“
„Ja, sind Sie das? Ich müsste kurz Ihren Ausweis sehen!“
Ein Einschreiben?, denke ich. Das ist meistens nichts Gutes.
Kurz überlege ich, ob ich einfach sagen soll, Lola Ernst wäre nicht zuhause und ich hätte keine Ahnung, wann sie wiederkommen würde.
Aber dann überlege ich es mir doch anders. Was bringt es, das Ganze aufzuschieben. Dann würde ich mich nur verrückt machen und den ganzen Tag überlegen, was das für ein Einschreiben gewesen sein könnte.
„Einen Moment bitte“, antworte ich deshalb, schließe die Türe wieder und hole meinen Ausweis.
Dann öffne ich die Haustüre wieder ein klitzekleines bisschen und stecke den Ausweis durch den Spalt. Der Postbote muss ja nicht unbedingt mehr als nötig von mir sehen, denn ich habe es noch nicht gewagt, in den Spiegel zu blicken. Ich kann mir aber in etwa vorstellen, wie ich nach dem gestrigen Abend aussehe und das kann man wirklich niemandem zumuten.

„Sie müssen dann noch hier unterschreiben“, der Herr in Gelb schiebt mir seinen Scanner und einen Stift durch die Türe. Ich unterschreibe und halte einige Sekunden später das ominöse Einschreiben in den Händen. Ich sehe mir den Absender an:
Rechtsanwaltskanzlei Schneider
steht dort. Oh, das ist nicht gut! Was könnte das bloß sein?
Ich nehme das Einschreiben mit in die Küche und lege es auf dem Küchentisch ab. Bevor ich es öffne, will ich mir erst einmal einen Kaffee machen und eine Kopfschmerztablette nehmen.
Einige Minuten später habe ich einen einigermaßen zufriedenstellenden Koffeinpegel und auch die Tablette zeigt langsam ihre Wirkung. Jetzt wage ich es: Ich öffne den Briefumschlag und beginne zu lesen. Geschockt lege ich den Brief wenig später zur Seite. Das darf doch nicht wahr sein! Dieser Mistkerl!
Das Einschreiben ist von Svens Anwalt. Ich soll den Schaden an Svens Auto in Höhe von 3.000€ für Lackierarbeiten begleichen. Wenn ich innerhalb von 14 Tagen bezahle, würden sie von einer Anzeige wegen Diebstahls absehen.
Oh, mein Gott! Das hat mir gerade noch gefehlt! Woher soll ich denn bloß so viel Geld nehmen?
Die Aktion mit Svens Auto hatte ich schon komplett verdrängt. Am Anfang habe ich mich zwar ein wenig gewundert, dass Sven sich gar nicht mehr gemeldet hat, war aber eigentlich ganz froh darüber. Und seit meine Freunde diese Casting Idee hatten, sind so viele Sachen passiert, dass ich an Sven und sein Auto gar nicht mehr gedacht habe. Das ändert sich gerade schlagartig. Mein Kopfkino projeziert prompt wieder das Bild von Sven und dieser Frau in der Dusche auf meine Gehirnleinwand und darüber eine leuchtend rote, blinkende Zahl: 3000 Euro.
Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Dass Sven mit seiner Drohung mich zu verklagen Ernst machen wird, daran zweifele ich keine Sekunde. So ein unglaublich mieses Arschloch! Aber wenn es um sein heißgeliebtes Auto geht, versteht er keinen Spaß. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Aber als ich das Auto zerkratzt habe, war ich gar nicht fähig zu denken. Vielleicht könnte ich auf unzurechnungsfähig plädieren?
Während ich niedergeschlagen vor mich hin grübele, klingelt es plötzlich erneut an der Türe.
Das ist ja heute wie auf dem Bahnhof! Und das in meinem desolaten Zustand.
Genervt schlurfe ich zur Haustüre und öffne sie langsam. Vor mir steht Frau Huber oder Irma, wie ich sie seit unserem Frambo Cocktail Abend mit Olgér nennen darf. Irma war täglich bei uns und hat sich um Olgér gekümmert, der ob der intensiven Pflege völlig in seiner Rolle als Patient aufgegangen ist. So musste ich zumindest nicht Olgérs Krankenschwester spielen. Ich mag Irma mittlerweile ganz gerne. Sie ist zwar etwas schräg, aber wer mit Olgér zusammenwohnt und meine Freunde hat, findet fast nichts mehr komisch. Nur Waldi, Irmas Dackel, kann ich immer noch nicht leiden. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Sobald das Tier mich sieht, fängt es an zu kläffen.
„Ach Lola, du bist also doch zuhause. Ich habe dich heute morgen nämlich nicht aus dem Haus gehen sehen. Ich habe hier noch ein Päckchen für Olgér. Sieht nach neuen Schuhen aus“, Irma streckt mir ein Paket entgegen, das den Aufdruck eines bekannten Schuhversandhandels trägt. Widerwillig öffne ich die Türe ganz.
„Huch, wie siehst du denn aus?“, entfährt es Irma. „Bist du krank?“
„Hmmm“, brummele ich und nehme ihr das Paket ab. Olgér und sein Schuhtick machen mich echt fertig. Er bekommt mindestens drei bis vier Pakete mit Schuhen pro Woche, alles High Heels natürlich. Und jedes Paar muss ich dann immer mit „Oh“ und „Ah“ bestaunen. Ich frage mich, wo er das Geld für die vielen Schuhe her hat. In seinem Job scheint man wirklich gut zu verdienen. Ich könnte mir nicht so viele Schuhe leisten. Wenn Olgér wenigstens meine Schuhgröße hätte, dann könnte ich mir ab und zu mal ein paar Schuhe von ihm leihen. Aber das hat er natürlich nicht. Olgérs High Heels sind mir mindestens vier Nummern zu groß. Erstaunlich eigentlich, dass es in seiner Größe überhaupt so viele High Heels gibt. Er rechtfertigt seinen Schuhtick jedenfalls immer mit den Worten: „Alles Research Schätzelein, alles Research!“ Denn wenn er seine eigene High Heels Kollektion irgendwann auf den Markt bringen will, meint er die Konkurrenz im Auge behalten zu müssen.
Ich glaube allerdings, dass Olgér besagten Schuhversandhandel quasi alleine finanziert, denn bei soviel schwachsinniger Werbung wie die machen, brauchen sie bestimmt jede Menge seiner Kohle.
„So, ich mache uns mal einen Kaffee. Oder geht es dir zu schlecht?“, will Irma wissen, während sie schon auf dem Weg in unsere Küche ist.
Na danke, was soll ich dazu sagen?
Ich habe gerade eigentlich überhaupt keine Lust auf einen Kaffeeklatsch mit Irma, aber ich habe nicht aufgepasst. Wenn sie erst einmal in der Wohnung ist, ist es schwer sie wieder hinaus zu bekommen. Das habe ich in den letzten drei Tagen gelernt. Deshalb ziehe ich auch den nachbarschaftlichen Plausch im Hausflur vor, denn von dort kann ich irgendwann schnell verschwinden.  Aber jetzt ist es dafür zu spät.
Irma wartet meine Antwort gar nicht erst ab, sondern stolziert gleich in die Küche. Jetzt habe ich also neben Olgér und meinen Mädels noch jemanden, der in meinem Leben rumpfuscht. Schönen Dank auch, denke ich und folge Irma resigniert in die Küche. Jeglicher Widerspruch wäre sowieso zwecklos.
„So meine Liebe, jetzt erzähl mal. Was ist denn los? Bist du wirklich krank oder ist es etwas anderes?“, Irma stellt eine Tasse mit Kaffee vor mir ab und fixiert mich neugierig. Da leugnen sowieso keinen Zweck hat und ich ihr nichts von meinem gestrigen Absturz erzählen will, reiche ich ihr wortlos das Einschreiben. Irma liest es aufmerksam und fragt dann: „Geht es dabei um deinen Exfreund?“
Ich nicke mit dem Kopf und erzähle Irma die Geschichte von Sven, der Frau in der Dusche und dem zerkratzten Auto. 

Der Neffe

 

Das ist jawohl die Höhe!“, regt sich Irma auf, nachdem ich meine Geschichte beendet habe. „Der Typ hat vielleicht Nerven. Das mit dem Kratzer soll er dir erst mal beweisen. Das hätte durchaus auch jemand anderes im Parkhaus gewesen sein können. Oder aber der Kratzer war vorher schon da?“, schlägt sie hilfsbereit vor.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, murmele ich niedergeschlagen.„Soviel Geld habe ich gar nicht!“
„Bist du denn rechtsschutzversichert?“, will Irma wissen.
„Nein, bin ich eben nicht!“, jammere ich.
„Hmm“, überlegt Irma. „Wenn du willst, könnte ich mal meinen Neffen anrufen. Der ist Anwalt und hat eine eigene Kanzlei. Er kann dir bestimmt helfen. Ist ein kluger Junge! Und gut aussehen tut er auch!“, zwinkert sie mir zu.
Nach Männerkontakten ist mir nach der Sache gestern mit Volker im Moment gar nicht, aber einen Anwalt werde ich wohl brauchen.
„Das wäre toll, wenn dein Neffe mir helfen würde. Ich weiß nämlich wirklich nicht, was ich jetzt machen soll“, klage ich.
„Das haben wir gleich. Gib mir mal euer Telefon, ich rufe Mucki sofort an!“ Entschlossen sieht Irma mich an.
„Mucki?“
„Ja, Mucki. Das ist sein Spitzname. Die Kanzlei heißt von Krümmel und Partner. Mucki heißt von Krümmel mit Nachnamen.“
Trotz meines Elends muss ich kichern. Mucki von Krümmel? Was ist denn das für ein Name? Ist Irmas Neffe vielleicht ein Meerschweinchen? Mucki, köstlich! Und dann auch noch von Krümmel!
Ich versuche mich zusammen zu reißen. Schließlich will Irma mir helfen. Da kann ich nicht albern herumkichern. Ich reiche ihr das Telefon und verschwinde kurz im Bad. Ich muss mir dringend die Zähne putzen. Das habe ich nämlich noch nicht gemacht und der pelzige Geschmack auf meiner Zunge ist nach der  Tasse Kaffee noch schlimmer geworden. Außerdem möchte ich Irma natürlich nicht mit meinem Mundgeruch belästigen.

„Gute Nachrichten“, begrüßt mich Irma, als ich zurück in die Küche geschlurft komme. „Mucki hat heute Mittag Zeit. Wenn du um 13 Uhr bei ihm bist, habt ihr ungefähr eine Stunde. Er berät dich natürlich erst einmal kostenlos!“
„Danke“, seufze ich. Eigentlich würde ich heute lieber im Bett bleiben, aber diese Sache muss geklärt werden, je eher desto besser.
„So, kannst du aber nicht gehen! Du siehst ja aus wie eine Vogelscheuche. Geh mal duschen und mach dich ein bisschen nett zurecht, dann berät Mucki dich vielleicht auch länger kostenlos!“
Da ist sie wieder, die Seite an Irma, die ich nicht besonders gut leiden kann. Diese herrische bestimmende Art geht mir gehörig auf die Nerven. Aber da ich jetzt weiß, dass Irma auch wirklich nett sein kann, schlucke ich eine bissige Bemerkung herunter und nicke ergeben. Außerdem hat Irma in diesem Fall absolut recht. So wie ich gerade aussehe, wirke ich alles andere als seriös.
„In Ordnung“, seufze ich. „Ich springe schnell unter die Dusche!“
Heimlich hoffe ich, dass Irma in der Zwischenzeit verschwindet, aber den Gefallen tut sie mir nicht. Als ich zwanzig Minuten später frisch geduscht und aufpoliert aus dem Badezimmer komme, ist sie immer noch da.
„Na, jetzt siehst du ja schon etwas besser aus!“, meint sie. „Am besten  ziehst du einen Rock an. Nicht zu kurz aber auch nicht zu lang, wenn du weißt was ich meine. Das wird Mucki bestimmt gefallen.“
Genervt verdrehe ich die Augen. Wenn ich nicht so dringend rechtlichen Beistand bräuchte, würde ich Irma zum Teufel jagen. Ihr komischer Neffe mit dem Meerschweinchennamen soll es bloß nicht wagen, mich anzubaggern. Mein Bedarf an männlicher Zuwendung ist heute gleich Null.
Ich denke kurz an gestern und an Volker und verziehe das Gesicht.
Irma interpretiert das gleich völlig falsch. „Ich kann dir auch bei der Kleiderauswahl helfen, wenn du möchtest. Ich habe da ein gutes Händchen für!“
Das Bild von Irma in ihrem Presswurstkleid taucht vor meinem inneren Auge auf. Wenn mich jemand definitiv nicht in Klamottenfragen beraten sollte, dann ist es Irma.
„Danke, ich weiß schon, was ich anziehe. Kümmere du dich ruhig um Waldi. Der muss doch sicher auch mal wieder raus, oder? Und danke für deine Hilfe!“, ich dränge Irma in Richtung Haustüre. Scheinbar habe ich das Richtige gesagt und ihr Hund muss wirklich an die frische Luft. Irma lässt sich auf jeden Fall widerstandslos durch die Tür schieben, natürlich nicht ohne mir vorher das Versprechen abgenommen zu haben, mich nach dem Termin mit Mucki bei ihr zu melden. So langsam gehen mir die Verkuppelungsversuche meiner Mitmenschen echt auf die Nerven!

Drei Stunden später stehe ich vor dem Empfangstresen der Rechtsanwaltskanzlei. Die Sekretärin mustert mich aufmerksam.
„Ja, bitte?“
„Lola Ernst, ich habe einen Termin bei Mu... ähem ich meine bei Herrn von Krümmel.“
„Aha, einen Moment bitte!“  Die Dame nimmt das vor ihr stehende Telefon in die Hand und drückt eine Taste. „Hier ist eine Frau Ernst für Sie!“, flötet sie in den Hörer. „Sie können jetzt durchgehen“, wendet sie sich dann an mich, „Herr von Krümmel erwartet sie.“
Ich betrete Muckis Büro. Viel kann ich von ihm nicht erkennen, denn er steht am Fenster mit dem Handy in der Hand und dreht mir den Rücken zu.

Er ist so in das Gespräch vertieft, dass er gar nicht hört, wie ich mich auf einen der Besuchersessel fallen lasse.
„Ähem“, mache ich, um auf mich aufmerksam zu machen.
„Oh“, sagt er und dreht sich kurz zu mir um. „Da sind Sie ja schon. Entschuldigung! Ich bin gleich fertig!“
Na sowas, denke ich. Der kommt mir doch irgendwie bekannt vor. Wo habe ich ihn bloß schon einmal gesehen?
Mucki hat das Gespräch beendet und kommt näher. Ich mustere ihn und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
„Das gibt es ja nicht! Du bist doch Till, das Herrchen von Fee! In dem Anzug hätte ich dich fast nicht erkannt!“
„Ach nein, jetzt erkenne ich dich auch. Du bist Lola mit dem Riesenhund. Wie hieß der nochmal?“
„Bones“, antworte ich.
Till schüttelt belustigt den Kof. „Wie klein die Welt doch ist! Ich hatte gehofft, dass du dich nochmal meldest, aber dass du gleich in meinem Büro auftauchst und dich mit meiner Tante Irma anfreundest, damit habe ich nicht gerechnet!“ Er zwinkert mir zu.
„Hmm, ich freue mich auch, dich wieder zu sehen. Allerdings hätten die Umstände durchaus angenehmer sein können.“ Ich krame das Einschreiben aus meiner Handtasche und reiche es Till. „Deshalb bin ich hier. Kannst du irgend etwas für mich tun?“

Till nimmt mir das Einschreiben aus der Hand und studiert es aufmerksam. „Hast du das wirklich gemacht? Das Auto geklaut und dann zerkratzt?“
„Ja“, murmele ich kleinlaut. „Aber ich hatte einen Grund dafür!“
Ich erzähle Till die Geschichte von Sven und dem Tag, an dem er mich betrogen hat.
„Hmm, ich werde mal sehen, was ich tun kann. Aber dein Exfreund hat ja leider eine Zeugin dafür, dass du das Auto entwendet hast. Hier steht ihr Name: Tanja Braun.“
Tanja Braun heißt also das Flittchen unter der Dusche, denke ich. Diese Stelle in dem Brief ist mir vorhin gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich war ich zu geschockt, um genauer zu lesen.

Till verspricht mir, erst einmal eine Gegenantwort an Svens Anwalt zu senden. Ich bin ihm wirklich überaus dankbar für die Hilfe. Als ich ihn frage, wie ich das wieder gut machen kann, grinst er verschmitzt und schlägt vor, dass wir uns am Samstagnachmittag mit den Hunden doch wieder im Park treffen könnten.
Oh mein Gott, denke ich. Ich werde mir auf gar keinen Fall noch einmal dieses Ungeheuer Bones ausleihen.
„Gerne können wir uns am Samstag treffen“, antworte ich. „Aber Bones ist ja nicht mein Hund. Ich habe einem Kollegen nur einen Gefallen getan und bin mit ihm Gassi gegangen.“
„Ach so“, Till wirkt enttäuscht. „Du hast gar keinen Hund? Ich dachte, du würdest auch so auf Hunde stehen, wie ich.“
„Natürlich mag ich Hunde“, flunkere ich. Ich brauche so dringend Tills Hilfe, dass mir diese Lüge leicht von den Lippen kommt.
Bloß den Herrn Anwalt bei Laune halten, Lola, überlege ich, den brauchst du noch und bezahlen kannst du ihn auch nicht.
Wir machen einen Treffpunkt für Samstag aus, denn Till hat schon den nächsten Termin.
„Tschüß Mucki“, flöte ich und spaziere zur Tür hinaus. Das konnte ich mir dann doch nicht verkneifen. Wie kann man nur so einen merkwürdigen Spitznamen haben?

Als ich draußen auf der Straße stehe, klingelt mein Handy. Es ist Nina.
„Hi Nina.“
„Hi Süße, wo treibst du dich rum? Ich habe schon bei dir im Büro angerufen aber die haben gesagt, du wärst krank. Und bei dir zuhause ist keiner drangegangen!“
„Das ist eine längere Geschichte. Sven will mich verklagen, weil ich sein Auto zerkratzt habe. Deshalb hat Irma für mich einen Termin mit ihrem Neffen gemacht. Der ist Anwalt. Gerade war ich bei ihm. Und du glaubst nicht, wer der Anwalt war: Till, der Hundebesitzer aus dem Park. Er ist Irmas Neffe, abgefahren oder?“

Nina will mehr Details erfahren,  deshalb verabreden wir, dass sie nach der Arbeit bei mir vorbeikommt. Bis dahin werde ich mich erst einmal wieder ins Bett legen. Ich fühle mich immer noch sehr verkatert. Und ich bin wirklich enttäuscht von Volker. Irgendwie hatte ich doch gehofft, dass er sich nochmal bei mir meldet. Aber er gibt kein Lebenszeichen von sich, noch nicht einmal eine klitzekleine SMS hat er geschickt. Ich sollte den schönen Tag neulich mit ihm vergessen und mich auf die übrig gebliebenen Herren konzentrieren.

Zuhause angekommen, schleiche ich schnell in meine Wohnung, bevor Irma mich erwischt. Ich werde später bei ihr klingeln und ihr von meinem Treffen mit Till erzählen. Jetzt will ich erst einmal schlafen.

 

Projekt Herkules

 

Mittwochnachmittag. Ich sitze mit Nina in der Tierarztpraxis von Alexander, den Vivien neulich im Sapiano kennengelernt hat. Auf meinem Schoß befindet sich Herkules in einer kleinen Pappschachtel. Er ist mit seiner viel zu kleinen neuen Behausung eindeutig unzufrieden und raschelt wütend mit dem Stroh.
Heute morgen musste ich wieder ins Büro und habe mich durch den Vormittag gequält. Ich bin ziemlich müde, denn gestern Abend ist es wieder einmal spät geworden. Nina kam noch bei uns vorbei und auch Irma stand vor der Tür und wollte wissen, wie es mit Till gelaufen ist. Und Olgér musste ich natürlich ebenfalls auf den neusten Stand der Entwicklungen bringen. So saßen wir noch lange beisammen, haben ein paar Frambos getrunken und gequatscht.
Nina ist im Gegensatz zu mir scheinbar gar nicht müde, denn sie redet unentwegt. Ich bin mir nicht ganz sicher, was sie sich von dem Termin  mit Alexander verspricht. Er kennt mich doch gar nicht und außerdem kann mich auch keiner coachen, denn Volker ist nicht dabei und ohne sein Equipment kann ich mich nur so verhalten, wie ich es immer tue, ohne Tipps von meinen Freunden. Nina hat Volker zwar gefragt, ob er Zeit hätte, aber er hat ihr relativ unfreundlich geantwortet, dass er auch irgendwann mal arbeiten müsse und diese ganze Männer-Casting Geschichte langsam ziermlich albern fände. So ein Idiot!

Ein unsanfter Schlag in die Rippen lässt mich schlagartig wach werden. Aua! Nina hat mich in die Seite geboxt.
„Spinnst du?“, zische ich.
„Wach auf Lola, Herkules ist jetzt dran!“, Nina deutet auf die Sprechstundenhilfe, die mich erwartungsvoll ansieht.
„Wenn Sie dann bitte in Sprechzimmer 1 warten würden!“, gelangweilt zeigt die Dame auf eine Tür.
„Kommst du mit?“, frage ich Nina. Die schüttelt den Kopf, grinst frech und hält den Daumen nach oben. Ich verdrehe genervt die Augen und strecke ihr die Zunge raus.

In Sprechzimmer 1 nehme ich auf einem Stuhl Platz und warte auf den Herrn Doktor. Herkules ist in seinem Käfig etwas ruhiger geworden. Vorsichtig öffne ich die Pappschachtel einen kleinen Spalt. Mit seinen großen Knopfaugen sieht Herkules mich vorwurfsvoll an und kaut frustriert auf einem Strohhalm. Bevor er heraus springen kann, schließe ich schnell den Deckel wieder.

Dann überlege ich angestrengt, was für eine Flirtstrategie ich bei Alexander anwenden soll. Irgendwie muss ich ihn auf mich aufmerksam machen, sonst wird mich Nina für den Rest meines Lebens damit nerven, dass ich diese Chance vertan habe. Nachdem Irma gestern Abend in dem Glauben gegangen ist, dass ihr Meerschweinchen-Neffe und ich bestimmt bald ein Paar sein werden, haben Olgér, Nina und ich noch einige Frambos getrunken und nach Flirtstrategien gegoogelt. Ein paar lustige Sprüche haben wir auch gefunden, aber die waren eher für Partys geeignet oder wenn man jemanden bei der Arbeit kennenlernen will.

Die Partysprüche wie 'Leihst du mir eine Zigarette, dann kannst du mir Feuer geben' oder 'Hast du mit mir gesprochen? Nein, dann hol das mal schnell nach' kann ich gerade wohl kaum gebrauchen. Und die Sprüche fürs Büro wie 'Überstunden kannst du auch mit mir machen. Wie wäre es in einem netten Café?' oder 'Ich habe Fußballkarten, kommst du mit ins Stadion' passen irgendwie auch nicht so richtig. Obwohl der Fußballspruch geht vielleicht doch, vorausgesetzt der Doc mag Fußball. Ich weiß, das heute Abend ein Spiel im Stadion stattfindet. Dann brauche ich nur ganz schnell Karten. Aber das soll Nina regeln. Mit ihren Kontakten wird sie mir schon irgendwelche Karten für das Spiel besorgen können. Ich atme tief durch und versuche mich zu entspannen.
 

So, wen haben wir denn hier? Womit kann ich Ihnen behilflich sein?“ Alexander betritt den Raum und sieht mich fragend an. Optisch gefällt er mir ganz gut. Das Kamerabild, das ich von ihm gesehen habe, war leider recht unscharf. In natura sieht er noch viel besser aus.
Die Punkte

Größe über 1,80 m,

volles Haar und

sportliche Figur

 

auf der LGVT-Liste meiner Eltern kann ich zumindest schon mit ja ankreuzen.

Ich reiche ihm die Pappschachtel mit Herkules. „Das hier ist Herkules. Ich mache mir Sorgen um ihn, weil er sich so merkwürdig benimmt!“
Alexander nimmt den Kartondeckel ab und betrachtet Herkules aufmerksam. „Was meinen Sie denn mit komisch?“
„Na ja“, druckse ich. „Er macht immer so komische Rammelbewegungen. Und das ständig und überall!“
Alexander zieht eine Augenbraue hoch und grinst. Zumindest habe ich jetzt seine Aufmerksamkeit. Verstohlen mustere ich seine Hände. Er hat schöne schlanke Finger und trägt keinen Ring. Sehr gut!
Vorsichtig nimmt er Herkules aus der Schachtel. „Was für einen Käfig haben Sie denn zuhause?“
„Ein Terrarium. Herkules hat wirklich viel Platz, ein Laufrad und jede Menge Spielzeug hat er auch!“
„Und wie viele andere Mäuse halten Sie noch in dem Käfig?“
„Gar keine, Herkules ist ein Einzelkind. Er versteht sich leider nicht mit anderen Mäusen. Habe ich alles schon probiert!“
„Das ist aber nicht gut. Wüstenrennmäuse sind Rudeltiere. Sie sollten nicht alleine leben!“
„Ich weiß. Aber was soll ich denn machen, wenn er sich nicht mit anderen Mäusen versteht und sie beißt? So sind wir beide alleine. Herkules und ich. Obwohl ich natürlich nicht beiße!“
Mein Gott ist das schlecht, denke ich, was für ein dummer Spruch von mir. Aber so kann ich  Nina wenigstens nachher erzählen, ich hätte es versucht. Ich bin bloß froh, dass die Sprechstundenhilfe nicht im Raum ist und hört, was ich sage.

Alexander scheint mein Spruch nicht zu stören. Im Gegenteil, er wirkt amüsiert. „Na dann wollen wir Herkules erst einmal untersuchen“, meint er und setzt die zappelnde Maus auf den Untersuchungstisch.
„Hmm“, macht er nach einer Weile. „Ich glaube Herkules braucht einen neuen Namen!“
„Was? Wieso das denn?“, erstaunt sehe ich ihn an.
„Weil Herkules ein Mädchen ist!“
„Wie bitte?“, mir bleibt vor lauter Staunen der Mund offen stehen. Ich bin ernsthaft verwirrt. Herkules ein Mädchen? Das wirft unser ganzes WG-Konzept durcheinander. Herkules ist doch unser Mann im Haus.
„Jetzt echt?“, frage ich.
„Ich bin mir absolut sicher. Und sie sollten sich überlegen, ob sie es nicht doch noch einmal mit einer zweiten Maus versuchen. Wenn Wüstenrennmäuse alleine leben müssen, werden sie verhaltensauffällig! “
Haha, denke ich, verhaltensauffällig! Wie lustig! Der sollte mich mal zuhause besuchen und meine Freunde kennenlernen. Dann weiß er, was verhaltensauffällig ist.
Dabei fällt mir der eigentliche Grund für meinen Besuch wieder ein. Richtig, ich soll ja mit dem Herrn Doktor flirten.

„Das ist ja eine erstaunliche Neuigkeit!“, sage ich und kratze mich nachdenklich am Kopf. Wie soll ich denn nun die Kurve kriegen und eine Verabredung mit Alexander klar machen? Mir fehlt wirklich die Hilfe meiner Freunde. Mit Ohrmikrofon war das viel besser. Und noch besser fand ich die paar Male, die Vivien für mich eingesprungen ist. Wie schade, dass sie gerade so weit weg ist.
Viel lieber würde ich mich eigentlich mit Volker treffen aber das wird wohl nichts mehr werden. Ich ärgere mich, dass ich ständig an ihn denken muss. Na gut, dann bleibt mir hier in dieser Situation nur der plumpe Frontalangriff! Los geht’s!

„Ich hätte da noch eine Frage!“, nuschele ich leise.
„Wie bitte?“
„Ich hätte noch eine Frage!“
„Natürlich, fragen Sie ruhig!“
„Haben Sie heute Abend schon was vor?“
„Wie bitte?“
„Ob Sie heute Abend schon was vor haben?!“
„Was? Ich verstehe die Frage nicht!“
Ich seufze. Besonders schlau scheint der Doc nicht zu sein.
„Ich weiß, dass sich das komisch anhört. Aber ich habe spontan Karten für das Fußballspiel im Stadion heute Abend bekommen und suche noch jemanden, der mitkommt! Und vielleicht könnten Sie mir dabei noch ein bisschen mehr über Wüstenrennmäuse erzählen?“ Gespannt halte ich die Luft an.
Und dann passiert etwas Unglaubliches. Alexander wirkt auf einmal völlig entspannt und sieht mich das erste Mal richtig an. Und mit richtig meine ich, wie einen Menschen, den er erst jetzt wirklich wahrnimmt.
Wie lustig, das Wort Fußball scheint bei den meisten Männern tatsächlich so eine Art Schlüsselreiz auszulösen. Eine Frau, die sich für Fußball interessiert, wird automatisch spannend.
„Äh, ja gerne. Warum nicht? Wann denn?“
 

Ich mache mit Alexander einen Treffpunkt vor dem Stadion aus, damit es nicht zu sehr nach einer gewollten Verabredung aussieht. Dann nehme ich Herkules oder zur Zeit die Maus ohne Namen, der der Doc vorerst einige Beruhigungstropfen verschrieben hat und verziehe mich schnell wieder in das Wartezimmer, um Nina abzuholen.
„Wie war es?“, fragte Nina neugierig, als ich vor ihr stehe.
„Nicht hier“, flüstere ich. „Erzähl ich dir draußen!“

Auf dem Parkplatz vor der Praxis bleibe ich stehen.
„Herkules braucht einen neuen Namen!“
„Was, wieso?
„Herkules ist ein Mädchen. Stell dir das vor. Wahrscheinlich hat er, ähem... ich meine sie, Komplexe, weil wir sie für einen Mann gehalten haben!“
„Na sowas!“, wundert sich Nina.
„Und ich brauche für das Fußballspiel heute Abend im Stadion Karten. Ich habe dem Doc erzählt, ich hätte noch eine Karte frei und wüßte nicht, was ich damit machen soll. Er will tatsächlich mitkommen. Wir treffen uns nachher vor dem Stadion. Kriegst du das mit den Karten hin?“
„Wow!“, Nina ist beeindruckt. „Nicht schlecht die Idee! Du wirst ja immer besser. Ich werde mal sehen, was ich wegen der Karten machen kann, aber ich denke, das kriege ich hin. Wir haben immer einige Karten in der Hinterhand, falls unsere Kunden sich spontan entscheiden. Ich kläre das gleich mal.“
Nina zückt ihr Handy und wandert über den Parkplatz. Sie muss sich immer bewegen, wenn sie telefoniert. Ich bin eher der gemütliche Telefontyp. Ich kuschele mich beim Telefonieren viel lieber auf eine schöne Couch und mache es mir bequem.

In dem Karton in meinen Händen rumort es plötzlich. Herkules hat sich scheinbar von dem Schrecken der eingehenden ärztlichen Untersuchung  erholt und beginnt wieder mit dem Stroh zu rascheln.
„Wie nenne ich dich jetzt bloß?“, überlege ich. „Herkules ist ja kein Name für eine Dame. Da müssen wir wohl ein WG-Meeting machen und zusammen überlegen!“
Während ich noch über mögliche Mäusenamen nachdenke, kommt Nina von ihrem Telfonwalk wieder. „Gute Nachrichten“, verkündet sie. „Ich habe zwei Karten für dich organisiert. Wir können jetzt gleich zu meinem Büro fahren und sie abholen!“



 

Das Fußballspiel

 

Einige Stunden später stehe ich mit den Karten in der Hand vor dem Stadion. Hier ist die Hölle los. Das Spiel scheint restlos ausverkauft zu sein. Wieder einmal bewundere ich Nina für ihr Organisationstalent. Wie hat sie es bloß so schnell geschafft, noch Karten zu bekommen?
Ich stehe eingekeilt zwischen Fahnen schwenkenden Fans, die lauthals eine Fußballhymne grölen und warte auf Alexander. Ob er überhaupt kommen wird? Ich werde mich wohl überraschen lassen müssen, denn ich habe noch nicht mal eine Handynummer von ihm.
Und auch wenn er kommen sollte, heute bin ich völlig auf mich allein gestellt. Keiner meiner Freunde ist dabei und kann mich coachen.
Nina hat mir noch ein paar gutgemeinte Tipps mit auf den Weg gegeben: „Ihr werdet sowieso nicht viel reden. Im Stadion ist es ziemlich laut. Freu dich einfach mit, wenn ein Tor fällt und lass ein paar Buh-Rufe los, wenn die Gegner am Ball sind. Wird schon schiefgehen!“

In Wirklichkeit habe ich überhaupt keine Ahnung von Fußball und ich war auch noch nie in einem Stadion. Vor grölenden Menschenmassen habe ich  schon immer einen Riesenrespekt gehabt. Ich fühle mich einfach unwohl, wenn zu viele Menschen um mich herum sind.
Erleichtert atme ich auf, als ich Alexanders blonden Haarschopf in der Masse erkennen kann. Er hat mich gesehen und winkt mir zu. Ich gehe ihm entgegen.

„Entschuldigung. Ist etwas später geworden. Wir hatten noch einen Notfall. Eine Dalmatiner Hündin hatte Probleme bei der Geburt ihrer Welpen. Da musste ich noch hin. Aber alle zwölf Welpen sind gesund und munter!“
„Kein Problem! Ich bin auch noch nicht lange da“, antworte ich. „Wollen wir reingehen?“
„Ja, gerne. Geht ja schon gleich los. Echt nett von dir, dass du mich mitnimmst. Ich darf doch DU sagen, oder? Ich bin Alexander!“
„Klar darfst du, ich heiße Lola“, stelle ich mich noch einmal vor.
„Wie kommt es denn, dass du Karten hattest und keine Begleitung?“, will Alexander auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen wissen.
„Längere Geschichte. Ich wollte eigentlich mit meinem Mitbewohner gehen, aber der hat sich den Fuß verknackst!“, erkläre ich. Das ist noch nicht einmal ganz gelogen, denn einen Mitbewohner mit verstauchtem Fuß habe ich ja wirklich.
„Mitbewohner? Wohnst du in einer Männer-WG? So wie diese Frau in dieser neuen Serie im Fernsehen?“
„Nee, nee. Ich wohne nur mit Olgér zusammen. Den kenne ich noch aus Studienzeiten. Und er ist auch ungefährlich für mich. Er steht auf Männer. Und Herkules, meinen anderen Mitbewohner, hast DU ja heute zur Frau gemacht!“
„Haha“, lacht Alexander. „Du bist echt lustig! Hast du denn schon einen neuen Namen für Herkules?“
„Noch nicht. Olgér weiß das alles noch gar nicht. Und da Herkules ja auch sein Mitbewohner oder besser seine Mitbewohnerin ist, werden wir WG-demokratisch abstimmen.“
„Was sagt denn dein Freund dazu, dass du mit einem Mann in einer WG wohnst?“,  erkundigt sich Alexander.
„Ich habe keinen Freund. Sonst hätte der bestimmt auch was dagegen, dass ich mit wildfremden Männern ins Stadion gehe“, pariere ich.
„Na ganz wildfremd bin ich ja nicht. Immerhin bin ich der Tierarzt deiner Maus“, erwidert Alexander schmunzelnd.

Inzwischen haben wir unsere Plätze gefunden. Sie sind gar nicht mal schlecht. Mittig gelegen und nicht zu weit hinten. Das hat Nina gut hinbekommen.
„Ich hole mir noch schnell ein Bier. Kann ich dich auf einen Drink einladen? Und Popcorn?“, will Alexander wissen.
„Oh ja, gerne. Für mich eine Cola und Popcorn“, gebe ich meine Bestellumg auf. Diese Geste von Alexander gefällt mir. Ich sitze gemütlich auf meinem Sitz und der Mann beschafft das Essen. Sehr gut!

Die Mannschaften laufen ein. Jeder Spieler hält ein Kind an der Hand. Das finde ich irgendwie süß. Ich wußte gar nicht, dass Fußballer so kinderlieb sind.
Wir sind für die rot-blauen, das weiß ich, weil um mich herum alle rot-blaue Schals tragen. Darüber bin ich sehr froh, denn sonst hätte ich nicht gewußt, bei welcher Mannschaft ich nun „Buh“ rufen soll. Was mir nicht so gut gefällt ist, dass alle Spieler einer Mannschaft das gleiche Trikot anhaben. Ehrlich, wo bleibt denn da der individuelle Style?
Aber solche Gedanken sind Männern vermutlich fremd.
Alexander taucht bewaffnet mit Proviant wieder neben mir auf.
„Wow, das ging aber schnell“, staune ich.
„Alter Trick“, erwidert er. „Du darfst dich erst anstellen, wenn das Spiel schon angepfiffen worden ist. Dann kommst du schneller dran!“
„Aha!“, mache ich. „Werde ich mir merken.“
„Bist du öfter im Stadion?“, fragt Alexander interessiert.
„Ehrlich gesagt ist das mein erstes Mal. Ich wollte meinem Mitbewohner eine Freude machen und habe die Karten besorgt“, antworte ich. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass man, wenn man professionell lügen will, immer Halbwahrheiten erzählen soll. Das erste Mal im Stadion bin ich tatsächlich, aber Olgér würde bei einem  Fußballspiel nur zusehen, um die Spieler in ihren knappen Trikots zu bewundern. Er hat von Fußball ungefähr so viel Ahnung wie ein Elefant vom Ballett.
„Ach so“, meint Alexander. „Dann wollen wir mal hoffen, dass das Spiel gut wird, damit sich dein erster Stadionbesuch auch lohnt!“
Er prostet mir zu und widmet dann seine ganze Aufmerksamkeit dem Spiel.
Nach zehn Minuten schießen wir ein Tor und alle um mich herum jubeln. Ich springe von meinem Sitz auf und klatsche wie wild in die Hände. In seinem Freudentaumel hebt Alexander mich hoch und dreht mich im Kreis. Wahnsinn, wie Männer beim Fußball aus sich herausgehen, denke ich. Da werden wildfremde Menschen umarmt und es wird abgeklatscht. Aber einige Stunden nach dem Spiel kennt man sich nicht mehr. Merkwürdige Welt, aber nicht unspannend!
Beim ersten Tor der Gegner buhe ich kräftig mit. Dann ist erst einmal Halbzeitpause. Alexander holt uns noch etwas zu trinken und wir unterhalten uns angeregt. Dabei stelle ich fest, dass wir bis auf Fußball durchaus einige gemeinsame Interessen haben. Er liest genauso gerne wie ich und mag Kunstaustellungen. Außerdem tanzt er gerne, aber auch eher für sich alleine und nicht den Tanzschulenstyle.
Nach kurzer Zeit ist die Halbzeit vorbei und es geht weiter. Zum Glück schießen wir am Ende der zweiten Halbzeit kurz vor dem Schlusspfiff noch ein Tor, somit gewinnen wir das Spiel 2:1. Die Leute um mich herum flippen jetzt völlig aus, sie grölen und singen laute Fußballlieder. Mir reicht der gemeinschaftliche Freudentaumel jetzt. Die unkontrollierbare Menschenmasse flößt mir Respekt ein. Ich möchte gerne nach Hause. Ich hake mich bei Alexander unter und gehe mit ihm zum Stadionausgang.
Da wir beide mit der U-Bahn gekommen sind, kann er mich nicht nach Hause fahren. Wir bleiben noch kurz vor dem Stadion stehen, um uns zu verabschieden.

„Vielen Dank dafür, dass du mich mitgenommen hast! Das war echt ein großartiges Spiel! Hättest du vielleicht Lust, am Samstagabend mit mir Essen zu gehen? Ich würde mich gerne revanchieren. Es gibt da ein nettes Restaurant direkt am Hafen. Wenn du mir deine Telefonnummer und deine Adresse gibst, hole ich dich ab!“, abwartend sieht Alexander mich an.
Ich nicke. „Ja gerne, das würde mich freuen. Am Samsatgabend habe ich noch nichts vor!“
Wir tauschen noch schnell unsere Daten aus und verabschieden uns dann.

Der Samstag wird ein auf jeden Fall ein spannender Tag werden, denke ich. Vomittags treffe ich Till zum Spazierengehen im Hundepark und abends habe ich nun ein Date mit Alexander. Ich muss sofort Nina anrufen und ihr von Alexanders Einladung erzählen. Sie wird bestimmt stolz auf mich sein.
Viel weiß ich zwar noch nicht über Alexander, da der Abend heute sehr fußballorientiert war, aber in den kurzen Gesprächspausen haben wir uns wirklich nett unterhalten.
Ein bisschen freue ich mich sogar auf Samstag und darauf, Alexander besser kennen zu lernen.



 

High Heels in Action

 

Freitagabend. Heute ist Olgérs großer Tag. In den letzten Tagen ist bei mir so viel passiert, dass ich diesen Termin total verdrängt habe. Ich habe Olgér auch kaum gesehen. Er war ständig bei Stefan Lambert in der Tanzschule, um alles für das erste „High Heels in Action“-Gruppentreffen vorzubereiten, das heute stattfinden soll.
Olgér und ich haben noch nicht einmal die Zeit gefunden, einen neuen Namen für den armen Herkules zu suchen. Und von meinem geplanten Treffen mit Till und dem Date mit Alexander habe ich ihm nur ganz kurz berichten können, dann musste er auch schon wieder weg.

Auch jetzt gerade ist er schon in der Tanzschule, um die Vorbereitungen zu kontrollieren. Über dreißig Facebook-Gruppenmitglieder seiner „High Heels in Action“ – Gruppe haben zugesagt, dass sie kommen wollen. Ich bin wirklich gespannt, was das so für Leute sind. Nina, Anja und ich gehen natürlich auch zu dem Treffen. Wir haben versprochen, dass wir etwas früher kommen werden, um die Gäste mit einem Glas Sekt zu begrüßen. Olgér hat sich mächtig in Schale geschmissen, als er aus dem Haus gegangen ist. Er trägt einen lilafarbenen Catsuit aus Samt und pinkfarbene High Heels mit Strassbesatz.
Laufen kann er allerdings immer noch nicht so gut, deshalb hat Stefan Lambert ihn vorhin abgeholt und wird ihn vermutlich den ganzen Abend über stützen. Denn in einen Rollstuhl wird Olgér sich heute sicherlich nicht setzen wollen.

Ich stehe vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich anziehen soll. Kurz nehme ich mein schwarzes Minikleid vom Bügel, hänge es dann aber doch wieder in den Schrank. Für diesen Anlass ist das Kleid wohl doch zu farblos. Ich brauche etwas Auffälligeres. Vielleicht das türkisfarbene Kleid mit den Pailletten? Das hatte ich noch nie an, obwohl es schon eine Weile her ist, dass ich es gekauft habe. Das Kleid hing vor einigen Monaten im Schaufenster meiner Lieblingsboutique und rief mir im Vorbeigehen förmlich zu: „Kauf mich! Kauf mich!“
Bisher hatte ich nur noch keine Gelegenheit, es anzuziehen.
Na gut, wenn nicht heute, wann dann?, überlege ich und nehme das Pailletten-Kleid aus dem Schrank. Dazu werde ich meine silbernen High Heels anziehen.

Einige Zeit später stehe ich fertig angezogen und geschminkt vor dem Spiegel und betrachte mich von allen Seiten. Was ich sehe, gefällt mir. Eigentlich schade, dass ich heute kein Date habe. Morgen werde ich mich nicht so aufbrezeln können, sonst denkt Alexander ich bin etwas gaga. Und zum Hundespazierengehen mit Till werde ich eher sportlich-bequeme Kleidung brauchen und ganz sicher kein Kleid und High Heels.
Zu Olgérs Treffen heute werden sicherlich keine heterosexuellen Männer auftauchen. Also werfe ich mich hier eigentlich völlig umsonst so in Schale. Aber was solls? Ich zucke mit den Achseln. Olgér wird es sicher gefallen und das ist ja auch etwas wert.

Es klingelt an der Haustür. Ich öffne. Nina und Anja sind da und wollen mich abholen. „Wow, gut siehst du aus! Cooles Kleid“, meint Anja beeindruckt.
„Danke. Ihr seht aber auch toll aus“, antworte ich. Anja trägt ein langes rotes Kleid und dazu passend rote High Heels, Nina hat sich für einen weißen Hosenanzug mit goldfarbenen High Heels entschieden.
Ich mixe uns noch drei Frambos in der Küche zum Lockerwerden, denn wir wissen nicht wirklich, was uns auf Olgérs Party erwartet. Dann bestelle ich uns ein Taxi.
Auf der Fahrt zur Tanzschule muss ich Anja noch einmal die Geschichte von Irmas Neffen Till erzählen und von dem Fußballspiel mit Alexander berichten. Anja ist ehrlich beeindruckt, dass die Männer sich beide mit mir am Samstag treffen wollen.
„Vielleicht können Nina und ich Samstagvormittag auch im Park spazieren gehen. Ich könnte die Kinder mitnehmen und wir würden euch ganz zufällig über den Weg laufen. Dann weißt du gleich, wie dieser Till auf Kinder reagiert. Und Samstagabend müssen wir unbedingt wieder so eine Verkabelungsaktion mit Kamera machen, damit wir dich coachen können. Hast du Volker schon gefragt?“, will sie wissen.
„Nein, habe ich nicht“, antworte ich gepresst.
„Na, dann können wir ihn ja gleich auf der Party fragen!“, erwidert Anja.
„Was?“, kreische ich. „Wieso nachher auf der Party? Kommt Volker etwa auch?“
„Ja klar, wusstest du das nicht? Olgér hat ihn doch gebeten, das ganze Treffen für seine Internetseite zu filmen“, entgegnet Anja.

„Halten Sie sofort an!“, befehle ich dem Taxifahrer. „Ich steige hier aus!“
„Was ist denn jetzt los?“, wundert sich Anja.
„Wieso regst du dich denn so auf?“, will Nina wissen.
„Längere Geschichte. Ich werde auf jeden Fall nicht mit auf die Party kommen, wenn Volker auch da ist!“
„Warum denn nicht?“ Anja sieht mich überrascht an. „Ihr habt euch doch so gut verstanden. Und wir brauchen Volkers Hilfe immerhin am Samstagabend.“
„Ich brauche bestimmt keine Hilfe von Volker!“, zische ich.
„Hey, bleib mal locker!“ Nina legt mir die Hand auf die Schulter. „Was ist denn passiert?“
„Ist egal!“ Genervt schiebe ich Ninas Hand von meiner Schulter. „Ich habe auf jeden Fall keine Lust mit auf die Party zu kommen, wenn Volker auch da ist!“
„Keine Ahnung, was gerade mit dir los ist“, antwortet Anja. „Aber auf die Party wirst du mitkommen müssen. Das kannst du Olgér nicht antun. Er freut sich so sehr auf das Treffen. Und dich will er auf jeden Fall dabei haben!“
Ich schlucke eine bissige Bemerkung hinunter. Anja hat Recht. Ich muss mich zusammenreißen - Olgér zuliebe. Und außerdem habe ich keine Lust darauf, dass meine Freundinnen mich die nächsten Tage mit der Frage nerven, was Volker mir denn getan hat.
„Ok, fahren Sie bitte weiter!“, gebe ich nach vorne an den Taxifahrer durch, der aufgrund meines Kommandos bereits auf dem Seitenstreifen gehalten hat.
„Frauen“, erwidert er und schüttelt den Kopf. Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung. Den Rest der Fahrt verbringe ich schweigend, während Nina und Anja den neusten Klatsch austauschen.

Als wir vor Stefan Lamberts Tanzschule halten, ist der Parkplatz noch ziemlich leer. Verstohlen sehe ich mich nach Volkers Auto um, kann es aber nicht entdecken. Er scheint also noch nicht da zu sein. Ich versuche, mich ein wenig zu entspannen.

„Da seid ihr ja endlich. Kommt, kommt!“, werden wir von einem sehr aufgeregten Olgér begrüßt. Wir haben gerade noch die Zeit unsere Jacken aufzuhängen, da drückt er uns auch schon Tischdecken und Dekomaterial in die Hand. „Schnell, schnell, wir müssen noch die Tische dekorieren!“

Ich ignoriere Olgérs Hektik und sehe mich erst einmal im Tanzsaal um. Der sieht wirklich toll aus. Stefan und Olgér haben kleine Lichterketten aufgehängt und den ganzen Saal mit echten High Heels geschmückt. Mit Bändern haben sie die Schuhe an den Wänden und an der Decke befestigt.
Der Tanzsaal sieht aus wie bei einer riesengroßen Schuhkollektions-Eröffnungsparty. Olgér scheint schon einmal für seine erste High Heel – Kollektionsparty zu üben. Er sollte wirklich langsam damit beginnen, seine Idee von einer eigenen Schuhlinie zu verwirklichen. Er ist echt begabt.

Na, gefällt dir unsere Deko?“ Stefan Lambert hat sich neben mich gestellt und folgt meinen Blicken.
„Ja, sehr! Das habt ihr echt toll gemacht! War bestimmt eine Menge Arbeit!“
„Das stimmt. Das Purzelchen hat mich ganz schön rumkommandiert. Aber das Ergebnis ist toll, oder?“
Moment mal, denke ich. Das Purzelchen? Was geht denn hier ab?
„Hm, auf jeden Fall. Würdest du mich mal kurz entschuldigen?“, bitte ich ihn.
Ich steure auf Olgér zu, der gerade Anja und Nina zeigt, wie sie die Tische dekorieren sollen.
„Ah Lola, komm her. Du kannst hier weiter machen“, meint er.
„Nee, komm du mal kurz her. Ich will dich was fragen“, pariere ich und ziehe Olgér hinter mir her in die Garderobe.
„Au, nicht so schnell. Mein Fuß“, jammert er. „Was ist denn los?“
„Was los ist? Das will ich von dir wissen. Wieso sagt Stefan Lambert Purzelchen zu dir?“

Olgér errötet. „Oh“, macht er.
„Was heißt hier 'oh' ?“, bohre ich weiter.
Olgér überlegt kurz. Dann legt er einen Finger auf die Lippen und sieht mich verschwörerisch an. „In Ordnung, ich sag es dir. Aber du musst versprechen, es nicht weiter zu erzählen.“
Ich nicke.
„Stefan und ich sind ein Paar. Seit vorgestern!“
So was in der Art hatte ich mir schon fast gedacht. Ich freue mich für Olgér. Es ist ewig her, dass er einen festen Freund hatte. Und Stefan ist wirklich ein netter Kerl. Außerdem scheint er Olgér so zu mögen, wie er ist, too much theatralisch!
Ich lächle. „Wie schön! Ich freue mich so für euch!“
„Ach Lolalein, ich könnte die Welt umarmen. Dass ich das noch erlebe, hätte ich nicht gedacht. Stefan ist too much süß und zärtlich!“
Mehr will ich gar nicht hören.
Ich unterbreche Olgér, der sonst in einen Redeschwall verfallen würde. Das kenne ich nämlich schon von ihm und erinnere ihn daran, dass wir noch jede Menge zu tun haben.
Olgér drückt mich noch einmal fest und humpelt dann zurück in den Saal.
Damit wäre die Mission doch erfüllt, denke ich. Ein Traumprinz wurde gefunden. Nur nicht für mich!

Nachdem wir alles zu Olgérs Zufriedenheit fertig dekoriert haben, treffen auch schon die ersten Gäste ein. Die überwiegend weiblichen Besucher haben sich alle fein herausgeputzt und tragen High Heels in den außergewöhnlichsten Formen und Farben. Ich bin froh, dass ich mich für das türkisfarbene Kleid entschieden habe, mit dem schwarzen Kleid wäre ich eindeutig 'underdressed' gewesen. Ich reiche jedem Neuankömmling einen Sekt.
„Bekommen wir auch ein Glas?“, höre ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe direkt in Volkers blaue Augen. Neben ihm steht eine rothaarige Schönheit, die sich an seinem Arm untergehakt hat.
Bumm!
Mir fällt vor Schreck das Tablett mit den Sektgläsern aus der Hand. Die klebrige Flüssigkeit spritzt in hohem Bogen auf das silberne Abendkleid der Rothaarigen.
„Igitt“, kreischt sie. „Sie Trottel! Sie haben mein Kleid ruiniert!“
Mit hochrotem Kopf sammle ich die Glasscherben ein. Das hat mir echt noch gefehlt! Da besitzt Volker doch die Frechheit und taucht mit seiner neuen Eroberung hier auf!
Stefan Lambert eilt mir zur Hilfe, während Volker mit einer Packung Taschentücher das Kleid seiner Begleitung abtupft.
Damit habe ich ihm wahrscheinlich auch noch einen Gefallen getan, denke ich wütend. So kann er seine Tussi in aller Öffentlichkeit begrabschen!

Nachdem Volker einige Minuten an ihr rumgetupft hat, verschwindet die Rothaarige um sich wieder herzurichten auf die Damentoilette. Natürlich nicht ohne mir vorher einen eisigen Blick zuzuwerfen.
Pah, denke ich, dummes Miststück! Und strecke ihr hinter dem Rücken die Zunge raus.
Ich hole mir einen Putzeimer und einen Lappen aus der Küche und versuche das Gröbste aufzuwischen. Bei den vielen High Heel – Trägern ist ein Pfütze lebensgefährlich. Und ich will nicht, dass wegen mir jemand ausrutscht und sich die Beine bricht.
Ich gebe natürlich keine besonders gute Figur ab, wie ich in meinem engen Kleid auf dem Fußboden knie und den Sekt aufwische. Ausgerechnet jetzt muss Volker mich von der Seite anquatschen.
„Soll ich dir helfen? Sieht schwierig aus in deinem Outfit zu wischen!“
„Nein danke. Ich brauche keine Hilfe!“, antworte ich patzig.
Das läuft ja ganz toll. Die dumme Lola kniet am Boden, während die hübsche Rothaarige in einem neuen Kleid aus der Damentoilette stolziert kommt.
„Ich habe Nora eines unserer Tanzkostüme aus der Requisite geliehen und ihr Kleid zum Trocknen aufgehängt“, erklärt Stefan.

Nora, heißt das Miststück also. Ich schnaube verächtlich. Volker sieht mich fragend an. Jetzt brauche ich dringend ein Ass im Ärmel. Mir fällt das Gespräch im Taxi mit Nina und Anja wieder ein. Genau, das ist es! Ich werde Volker doch fragen, ob er mich am Samstag noch einmal verkabelt und uns technisch bei meinem Date mit Alexander unterstützt. Und dann lasse ich ihn dabei zusehen, wie ich mit Alexander flirte und ihn am Ende des Abends küsse. Ha
Volker soll bloß nicht denken, ich hätte keine Chancen bei anderen Männern!

„Sag mal, Volker“, flöte ich zuckersüß. „Hast du am Samstagabend schon was vor?“
Volker lächelt. „Nein, habe ich nicht. Wieso?“
„Ich dachte du könntest uns nochmal technisch unterstützen, ich habe am Samstag ein Date mit einem ganz heißen Typen!“
Ha, so ganz egal scheint dieser Spruch Volker doch nicht zu sein. Seine Gesichtszüge verhärten sich. „Du, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Vielleicht habe ich doch was vor!“
„Hast du nicht, hast du gerade eben selbst gesagt“, triumphiere ich.
Nina steht plötzlich neben mir und hat die letzten Wortfetzen mitbekommen. „Oh, du hast Volker doch gefragt. Das ist ja toll, dass du uns noch einmal helfen willst. Lass uns gleich mal den Ablauf besprechen und wann und wo wir uns treffen wollen!“
Ganz die Marketing-Frau hat Nina schon alles bis ins Kleinste geplant und zieht Volker hinter sich her zu einer Sitzgruppe.
Aus der Nummer kommt er nicht mehr raus, denke ich zufrieden. Dafür wird Nina schon sorgen!




 

Hunde und ich (zweiter Versuch)

 

Samstagvormittag. Heute bin ich ausnahmsweise mal ausgeschlafen. Ich bin gestern nicht mehr sehr lange auf Olgérs Party geblieben. Da Olgér sowieso total beschäftigt war und Anja und Nina Verständnis dafür hatten, dass ich fit für meine beiden Verabredungen heute sein wollte, konnte ich ungehindert früher nach Hause fahren.
So musste ich auch den Anblick von Volker und dieser Nora nicht mehr lange ertragen. Obwohl Volker und sie gar nicht besonders viel zusammen gemacht haben, denn Volker musste das „High Heels in Action“-Treffen ja filmen und hatte zu tun.

Im Moment habe ich sturmfreie Bude, denn Olgér ist diese Nacht nicht nach Hause gekommen. Er übernachtet wahrscheinlich bei Stefan. Ich freue mich wirklich sehr für ihn, obwohl ich ihn als Berater für die richtige Auswahl meines Outfits für den bevorstehenden Hundespaziergang mit Till und Fee gut hätte gebrauchen können.
So musste ich mein Outfit ohne Beratung wählen, aber ich denke, was ich schließlich angezogen habe, ist ganz in Ordnung.
Meine Kleiderwahl fiel auf ein sportlich-elegantes Outfit: Bluejeans und Bluse, dazu chice Sneaker.

Gerade will ich mich an den Küchentisch setzen und in aller Ruhe frühstücken, als es an der Tür klingelt. Nanu, wer kann das denn sein?
Ich öffne und werde gleich fürchterlich angekläfft.
Vor mir stehen Irma und Waldi.
„Guten Morgen“, begrüße ich die beiden.
Waldi drängt sich zwischen meinen Beinen hindurch, um dann meine Hinterseite anzuknurren.
„Irma!“, panisch drehe ich mich um. „Nimm das Tier weg! Wir mögen uns nicht!“
„Siehst du und deshalb bin ich unter anderem hier“, meint Irma orakelhaft.
„Was meinst du denn damit?“, will ich wissen. „Ich habe gar nicht viel Zeit, ich treffe mich doch gleich mit Mucki, äh ich meine Till!“
„Deshalb bin ich ja da!“, erwidert Irma. „Ich finde, du solltest Waldi mit zu eurem Treffen nehmen!“
„Waaaas?“, kreische ich entsetzt. „Das ist nicht dein Ernst! Waldi hasst mich. Er knurrt mich an!“
„Quatsch, Waldi tut nix. Er gibt nur an. Außerdem versteht er sich ziemlich gut mit Muckis Fee. Du wirst schon sehen, das wird ein ganz netter Spaziergang. Und Mucki wird sich bestimmt darüber freuen, dass du Waldi zum Spielen für Fee mitbringst.“
Zweifelnd sehe ich erst Irma und dann Waldi an. Der hat inzwischen tatsächlich aufgehört mich anzuknurren und leckt die Brötchenkrümel vom Küchenfußboden.
„Siehst du, wenn er abgelenkt ist, macht er auch nix. Waldi ist furchtbar verfressen, für Leckerlis tut er eigentlich alles.“
Ich sehe Waldi zweifelnd an. Er ist zwar viel kleiner als Bones, aber bestimmt nicht weniger gefährlich.
„Nee, Irma. Wirklich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Waldi und ich klar kommen.“
„Ach, was. Stell dich nicht so an. Ich gebe dir einfach eine Tüte Leckerlis mit. Du wirst schon sehen, dann ist Waldi lammfromm.“
„Ich weiß nicht …“, zweifle ich.
„Ach komm. Du und Mucki. Fee und Waldi, dass wird nett. Und wenn du erst mal mit Mucki zusammen wohnst, könnten Waldi und Fee Junge kriegen. Ach das wäre doch toll. Ein ganzer Stall voller Hunde. Kinder müsst ihr euch nicht unbedingt anschaffen. Mit Kindern komme ich nicht gut klar. Deshalb habe ich auch selber keine. Aber auf eure Hunde passe ich gerne ab und zu mal auf“, verplant Irma meine Zukunft.
Bei der Vorstellung mit vielen kläffenden Waldi-Klonen zusammen zu wohnen, wird mir ganz anders. Ich schüttele mich. Waldi ist immer noch damit beschäftigt, den Küchenboden nach Krümeln abzusuchen.

„Ich hole mal schnell die Leckerlis“, meint Irma und verschwindet einfach aus der Küche.
„Halt!“, rufe ich ihr hinterher, doch sie ist schon auf dem Weg nach oben in ihre Wohnung. Erstaunlich, wie schnell sie sein kann, wenn sie will, denke ich.
Ich betrachte Waldi, das Ungeheuer und schließe schnell die Küchentüre. Von außen versteht sich. So bin ich erst mal sicher.

Mit einer Tüte Leckerlis in der Hand kommt Irma kurze Zeit später zurück. „Nanu, wo ist Waldi denn?“, erkundigt sie sich.
Ich deute auf die Küchentür.
Irma sieht mich kopfschüttelnd an und befreit Waldi aus seinem Gefängnis.
„Armer Waldi, hat die böse Tante dich eingesperrt? Ja, guck doch mal, was Frauchen hier hat!“ Sie raschelt mit der Leckerli-Tüte.
Dieses Geräusch scheint Waldi zu kennen. Er setzt sich auf die Hinterbeine und spitzt aufmerksam die Ohren.
„Hier, gib ihm mal was!“ Irma reicht mir die Tüte. Widerwillig greife ich danach und raschele ein wenig. Und tatsächlich! Waldi sieht mich nun ebenso aufmerksam an, wie eben Irma.
„Lieber Waldi“, säusele ich. „Hier hast du was Feines!“
Ich nehme ein Leckerchen aus der Tüte und werfe es Waldi vor die Pfoten. Sofort stürzt er sich darauf und in Nullkommanichts ist das Leckerli verschwunden. Waldi sucht noch kurz den Boden ab, um sicher zu gehen, dass er nichts übersehen hat, dann fixiert er mich wieder mit seinem Dackelblick.
Wenn ich nicht wüsste, dass Waldi eine fiese Bestie ist, fände ich ihn gerade glatt niedlich.
„Na siehst du. Mit Leckerlis klappt alles. Sag ich doch. Wie er dich jetzt anschaut... , ist das nicht süß?“ Irma ist ganz begeistert.
Ich kann ihre Begeisterung nicht teilen, aber so lange ich die Tüte in der Hand halte, findet Waldi mich scheinbar ganz in Ordnung.
„Ok, ich versuche es“, seufze ich. „Aber nur, wenn ich die Leckerlis mitnehmen darf!“
„Klar, kannst du die mitnehmen. Ich hole nur schnell Waldis Leine! Du wirst schon sehen, ihr beide werdet viel Spaß haben,“ meint Irma zuversichtlich und flitzt noch einmal hoch in ihre Wohnung, um die Leine zu holen.

Wenig später sind Waldi und ich auf dem Weg zum Park. Alle paar Meter lasse ich ein Leckerli fallen, um ihn bei Laune zu halten. Und wenn er nach dem Treffen mit Till platzen sollte, hat Irma selber Schuld. Meine Idee war es nicht, das Monster mitzunehmen.
Am Parkeingang erblicke ich Till und Fee. Die beiden warten schon. Ich bin etwas später dran, weil Waldi jeden, aber auch wirklich jeden Grashalm auf dem Weg anpinkeln musste.
Fee erkennt Waldi sofort und läuft auf uns zu. Ihr Herrchen kommt etwas langsamer hinterher.
„Oh, du hast Waldi mitgebracht. Das ist ja nett. Dann können die beiden Hunde schön spielen!“, freut sich Till.
„Hallo erstmal“, begrüße ich ihn.
Waldi scheint wirklich auf Fee zu stehen, so freudig habe ich den missgelaunten Dackel noch nie erlebt. Er wackelt so sehr mit dem Hinterteil, dass ich Angst bekomme, dass es abbricht.
„Schön, dass du da bist“, erwidert Till. Ich will gerade eine nette Unterhaltung beginnen, als mein Handy piepst.
SMS von Nina: Hi Lola, Anja und ich sind mit den Kids im Park. Wo seid ihr?

„Da muss ich kurz antworten“, entschuldige ich mich.
„Kein Problem“, meint Till und beugt sich zu Waldi hinunter, um ihn zu kraulen. Waldi wedelt mit dem Schwanz.
Den Till magst du also, denke ich.
 

SMS an Nina: Sind am Parkeingang, Hundeauslaufgebiet. Kommt uns doch entgegen! L.

„Willst du Waldi nicht laufen lassen?“, erkundigt Till sich und zeigt auf die Leine, die sich beim Toben mit Fee um Waldis Vorderbeine gewickelt hat.
„Haut er dann nicht ab?“, frage ich zweifelnd. Nicht auszudenken, wenn ich ohne das Monster nach Hause komme. Das würde Irma mir nie verzeihen.
„Ach was, ich bin doch dabei. Und wenn Fee in seiner Nähe ist, weicht er sowieso nicht von ihrer Seite!“
„Auf deine Verantwortung!“ Ich befreie Waldi von seiner Leine und sehe zu, wie er mit Fee davon rennt. Till pfeift kurz und Fee kommt zu ihm zurück – Waldi immer hinterher.
„Siehst du“, meint Till. „Da passiert nix!“
Ich zucke mit den Schultern. Dieses ganze Hundedings liegt mir nicht so. Keine Ahnung welcher Hund was wann und warum macht.
„Weißt du schon, was ich nun mit dem Brief von Svens Anwalt machen soll?“, stelle ich die Frage, die mir schon die ganze Zeit auf der Seele brennt.
„Ach so. Ich habe ein Gegenschreiben aufgesetzt und an die Anwaltskanzlei Schneider geschickt. Hier ist eine Kopie für dich“, Till reicht mir einen Umschlag. „Wir warten erst einmal ab, wie sie darauf reagieren. Mach dir keine Sorgen, ich kriege das schon hin!“
„Danke!“ Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wie gut, dass Till mir hilft. Das ist wirklich sehr nett von ihm.
Ich versuche ein Gespräch mit Till anzufangen, aber das will mir irgendwie nicht so recht gelingen. Till ist furchtbar fixiert auf die spielenden Hunde. „Ach, sieh doch mal, wie süß die spielen!“
„Ist Fee nicht goldig?“
„Wie niedlich Waldi guckt!“
Das Wort 'niedlich' in Verbindung mit Waldi finde ich zwar sehr gewagt, aber Till hat da scheinbar eine andere Wahrnehmung als ich.

Ich bin froh, als ich in der Ferne Nina und Anja erkenne. Anja schiebt einen Geschwisterwagen mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Marie und dem Baby Paul. Ich winke.
„Was für ein Zufall! Da vorne kommen gerade zwei Freundinnen von mir!“ Ich zeige auf die beiden Mädels.
Till hört nur mit halbem Ohr zu. „Entschuldige, was hast du gesagt? Ich war gerade abgelenkt. Ich sehe den Hunden so gerne beim Spielen zu!“
„Da vorne sind zwei Freundinnen von mir“, wiederhole ich.

Nina und Anja sind schon fast bei uns, als es plötzlich einen Tumult gibt. Auch Waldi hat meine Freundinnen entdeckt oder besser gesagt, das Brötchen, das die kleine Marie in ihrem Buggy in der Hand hält.
Er mutiert wieder zu dem Ungeheuer, als das ich ihn kenne und rennt laut kläffend auf den Kinderwagen zu. Marie lässt vor lauter Schreck das Brötchen fallen und Waldi stürzt sich darauf. Als der Hund mit ihrem Brötchen in der Hand davonläuft, beginnt Marie herzzerreißend zu weinen. Ihre Baby-Schwester Hannah stimmt sofort mit ein.
„Waldi“, schreie ich. „Sofort hierher!“
„Ach, lass ihn doch“, meint Till allen Ernstes. „Der kommt schon wieder, wenn er das Brötchen gegessen hat.“
Diesen Satz hat Anja mitbekommen, die neben uns angekommen ist. „Wie bitte?“, zischt sie. „Das geht ja wohl gar nicht, dass der Waldi meiner Tochter das Brötchen klaut!“
„Das sind Nina und Anja“, schreie ich gegen das Heulen der beiden Kinder an.
„Was? Ich kann nix verstehen. Die Kinder plärren so laut. Können die nicht mal damit aufhören?“, schreit Till zurück. Dann stupst er mich an. „Sieh mal, wie süß. Waldi und Fee teilen sich das Brötchen.“

Ich sehe Anja hilflos an. Die macht hinter Tills Rücken eine Bewegung, als ob sie ihm den Hals durchschneiden will und bedeutet mir mit einem Kopfschütteln und einem Daumen nach unten, dass der Typ gar nicht geht.
Nina nimmt Anjas Arm und zieht sie mit dem Kinderwagen weg von uns. „Ich rufe dich nachher an“, ruft sie mir noch zu und an Marie gewandt, sagt sie: „Nicht weinen, Süße. Die Tante Nina kauft dir jetzt ein neues Brötchen!“
„Was ist denn mit deinen Freundinnen los? Wieso sind die denn so schnell wieder gegangen?“, fragt Till erstaunt.
„Nina wollte der kleinen Marie ein neues Brötchen kaufen“, antworte ich.
„Ach so. Ich finde deine Freundin hat sich ein bisschen sehr angestellt. Sowas kann doch mal passieren“, meint Till. „Ich finde es eher unnormal, dass die Kinder deshalb gleich so rumschreien. Aber ich bin auch eher ein Hundetyp. Mit Kindern habe ich es nicht so.“
Na, das liegt bei euch scheinbar in der Familie, denke ich, denn diesen Satz habe ich heute doch schon mal gehört. Ich schlucke eine bissige Bemerkung hinunter, denn immerhin brauche ich Till noch - als meinen Anwalt. Privat passen wir aber definitiv nicht zusammen. Till ist mir zu sehr Hundemensch. Das ist nichts für mich. Scheinbar hat er das auch gemerkt, denn unsere Verabschiedung fällt, nachdem wir die beiden Hunde wieder eingefangen haben, doch eher sachlich aus. Ich bedanke mich noch einmal für den Brief und Till verspricht mir, sich zu melden, sobald er eine Gegenantwort der Rechtsanwaltskanzlei Schneider erhalten hat..


Auf dem Nachhauseweg verfüttere ich die restlichen Leckerlis an Waldi. Sein Magen scheint doch nur bedingt aufnahmefähig zu sein, denn er ragt nach den ganzen Leckerlis und dem geklauten Brötchen gefährlich an Waldis Seiten heraus. Hoffentlich platzt er erst, wenn ich ihn wieder bei Irma abgegeben habe, denke ich. Ich will mich keine Sekunde länger um den Monsterhund kümmern.
„Hier hast du deinen Waldi zurück!“ Mit diesen Worten reiche ich Irma wenig später die Leine samt Dackel.
„Und? Wie wars?“, fragt Irma neugierig.
„Ich denke, wir passen leider nicht zusammen. Till ist mir zu sehr Hundemensch. Und so gut komme ich dann doch nicht mit Hunden klar, wie du weißt.“ Ich deute auf Waldi: „Der braucht heute wohl nichts mehr zu fressen!“
Und als ob Waldi meine Worte tatsächlich verstanden hat, fixiert er mich plötzlich zwischen Irmas Beinen hindurch mit bösem Blick und knurrt mich wieder an.
So ein kleines Miststück, denke ich und verziehe mich zurück in meine sicheren und hundefreien vier Wände. Mein Handy piepst erneut.

SMS von Nina: Alle haben sich wieder beruhigt. Till geht aber gar nicht. Nächster Versuch heute Abend. Sind um 18.30 Uhr bei dir und helfen dir beim Stylen. Bis später, N.


 

Das erste Date

 

Samstag, 18.55 Uhr. Ich stehe mal wieder vor meinem Kleiderschrank und suche nach einem passenden Outfit für das Date mit Alexander.  Nina und Anja sitzen mit einem Glas Frambo in der Hand auf meinem Bett und schütteln vehement die Köpfe, als ich ein rotes, tiefausgeschnittenes Kleid hochhalte.
„Zu aufreizend, in dem Kleid will er dich nur sofort ins Bett kriegen. Das lenkt zu sehr ab!“, meint Nina.
Genervt wühle ich weiter in meinem Schrank. Die beiden sind aber auch echt anstrengend.
„Lass mich mal!“ Anja steht vom Bett auf und inspiziert den Inhalt meines Kleiderschranks. „Wie wäre es denn damit?“, fragt sie nach einer Weile und hält ein knielanges nachtblaues Seidenkleid hoch. „Dazu hier dieses cremefarbene Jäckchen und braune Stiefel. Das sieht bestimmt gut aus und ist weder zu chic noch zu lässig. Genau richtig für ein Abendessen. Und das Blau des Kleides betont bestimmt deine Augenfarbe. Hier, zieh mal an!“ Sie reicht mir das Kleid. Ich füge mich der Anweisung und verschwinde damit im Badezimmer. Der Vormittag mit Waldi war für mich so anstrengend, dass ich sowieso keine Kraft habe, Anja zu widersprechen.

Wenig später komme ich in dem Kleid aus dem Bad stolziert und drehe mich vor meinem Freundinnen im Kreis.
„Ja, super Idee Anja. Das ist genau das Richtige. Du siehst toll aus, Lola“, Nina klatscht begeistert in die Hände.
Ich verbeuge mich. Dann soll es eben dieses Kleid sein. Wie gut, dass Olgér nicht da ist, sonst hätte die Kleidersuche viel länger gedauert. Er ist immer noch bei Stefan. Junge Liebe muss schön sein! Ich seufze.

„So, jetzt müssen wir nur noch was mit deinen Haaren machen. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Wir treffen uns um 19.45 Uhr mit Volker auf dem Parkplatz am Hafen, damit er dich noch verkabeln kann.“

Ach ja, da war ja noch was, denke ich. Mir ist mulmig zumute, wenn ich an Volker denke. Mit einem Mal finde ich die Idee, Volker bei meinem Date in der Nähe zu wissen, gar nicht mehr gut. Warum habe ich das bloß getan? Bestimmt kann ich mich überhaupt nicht entspannt mit Alexander unterhalten, wenn Volker jedes Wort mithören kann. Aber ich war so wütend auf ihn und diese rothaarige Schnepfe... .

Nachdem meine Freundinnen noch einige Minuten an mir rumgeschminkt und mich frisiert haben, scheinen sie mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Ich wage einen Blick in den Spiegel. Nicht schlecht! Ich sehe wirklich ganz ok aus.
Wir verlassen meine Wohnung und steigen in Anjas VW-Bus, der Nina, Anja und Volker während meines Dates wieder einmal als Einsatzzentrale dienen soll.
Volkers Auto steht schon auf dem Parkplatz am Hafen, als wir um 19.50 Uhr dort eintreffen.
„Hallo Mädels!“, begrüßt Volker Nina und Anja mit einem Küsschen auf die Wange. „Lola“, für mich hat er nur ein kurzes Kopfnicken übrig. Ich schnaube und nicke zurück. Volker holt seine Ausrüstung aus dem Kofferraum und setzt sich zu uns in den VW-Bus.
„Arme hoch“, befiehlt er mir und befestigt unsanft die Kabel an meinem Körper. Das hat er auch schon Mal vorsichtiger gemacht, denke ich.
„Aua“, jammere ich. „Du tust mir weh!“
„Ach ja?“, Volker zieht eine Augenbraue hoch. „Stell dich nicht so an! Du willst das hier doch. Damit du deinen heißen Typen daten kannst!“ Er mustert mich verächtlich. „Alleine bekommst du das ja scheinbar nicht hin, dich mit ihm zu unterhalten!“

Ich beschließe Volker einfach zu ignorieren, denn wenn ich jetzt etwas sage, wird das die Situation bestimmt nicht verbessern. Ich frage mich allerdings, warum er so unhöflich ist. Er ist doch mit dieser rothaarigen Tante auf der Party aufgetaucht.
„So, fertig!“, sagt Volker kurz darauf. Und an mich gewandt mit einem ironischen Unterton: „Na, dann: Viel Spaß!“

Bevor ich etwas Gemeines erwidere, steige ich lieber schnell aus dem Wagen. Ich gehe die paar Meter vom Parkplatz zum Restaurant hinüber. Am Eingang kann ich Alexander schon erkennen. Er hat mich auch gesehen und winkt.

Und denk dran Lola, wir wollen möglichst viel über Alexander erfahren!, höre ich Ninas Stimme in meinem Ohr.

„Ja, ja“, antworte ich.

„Das Bild ist echt gut!“ Nina nickt Volker anerkennend zu.
Der starrt auf den Bildschirm. „Das ist also Lolas heißer Typ?“
„Ja, sieht nett aus, oder?“, meint Anja.
„Ich gehe mal frische Luft schnappen, ihr kommt doch kurz ohne mich klar, oder?“, will Volker wissen.
„Ja. Aber geh  nicht zu weit weg, falls wir dich doch noch brauchen!“
Volker nickt und verschwindet aus dem Wagen.
„Was hat er denn?“, fragt Anja.
Nina zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich verstehe ihn manchmal nicht. Vergiss es einfach. Wir müssen uns auf Lola konzentrieren. Immerhin ist das hier sowas wie das Finale unseres Traumprinzen-Castings!“

Alexander und ich nehmen an einem Tisch mit wundervoller Aussicht auf den Hafen Platz.
Kleine Boote schaukeln sanft auf dem Wasser. Gerade wird am anderen Ufer ein Feuerwerk gezündet. Der Anblick der blitzenden bunten Lichter am sternenklaren Himmel ist wirklich hübsch.
Und auch das Essen ist sensationell. Alexander hat für uns ein Vier-Gänge-Menü bestellt.
Wir trinken Rotwein und unterhalten uns angeregt. Hin und wieder gibt Nina mir eine Frage durch das Mikro durch, die ich dann brav stelle. Insgesamt bin ich mit dem Date sehr zufrieden, ich finde, es läuft echt gut. Und Volker habe ich völlig verdrängt. Ich höre ihn auch im Hintergrund nicht.

„Ah, da kommt der Nachtisch!“ Alexander sieht mich verheißungsvoll an.
Was, schon?, denke ich. Die Zeit ging aber schnell um.
„Für den Nachtisch sind die hier berühmt. Der ist wirklich hervorragend!“, schwärmt Alexander.
Ich betrachte den vor mir stehenden Teller. Besonders appetitlich sieht das Ganze allerdings nicht aus. Vielleicht liegt es an der Farbe. Der Nachtisch ist irgendwie so grün. Aber die Gänge davor, waren auch sehr gut, also vertraue ich Alexander und schiebe mir einen großen Löffel voll in den Mund.
„Und?“, fragt Alexander gespannt.
„Stimmt, das ist wirklich gut!“, stimme ich ihm zu und überlege, was das wohl sein kann. Ich nehme noch einen Löffel voll und lasse die Masse auf meiner Zunge schmelzen.
Nanu? Was ist denn das?
Meine Zunge fühlt sich auf einmal so merkwürdig an. Irgendwie taub. Ich führe meinen Zeigefinger zur Zunge und berühre sie. Nichts! Ich spüre meine Zunge nicht mehr! Ich taste mit dem Finger in meinem Mund herum. Meine Zunge fühlt sich irgendwie geschwollen an.
„Was machst du denn da?“, will Alexander wissen und sieht mich angeekelt an.
Stimmt, das muss ziemlich unappetitlich für ihn aussehen, so wie ich da in meinem Mund rumwühle, denke ich. „Was isch da drin?“, versuche ich zu fragen.
„Das ist Kiwisorbet! Was ist denn los?“, fragt Alexander.

Ich spüre wie mein Gesicht heiß wird. Meine Hände beginnen zu jucken und mir wird auf einmal furchtbar schlecht.
„Isch bin allergisch gegen Kiwääääh“, bringe ich noch heraus.
Dann übergebe ich mich auf die weiße Damast Tischdecke. Entsetzt werde ich von allen Seiten angestarrt.
Das interessiert mich aber gerade herzlich wenig, denn ich habe nur wenige Minuten Zeit, dann setzt der allergische Kreislaufschock ein und ich werde vermutlich ohnmächtig werden.

„Lola! Oh Gott, Lola...“, ist das Letzte, was ich aus meinem versteckten Ohrmikrofon höre. Dann wird es dunkel.

 

Was lange währt ...

 

Stille. Das aufgeregte Murmeln um mich herum ist verstummt. Mühsam öffne ich die Augen ein klitzekleines bisschen und versuche zu begreifen, was passiert ist. Ich erinnere mich an einen netten Abend und dann? Ach ja, das Kiwisorbet! Jetzt fällt mir alles wieder ein. Ich öffne die Augen ganz und sehe, dass ich in einem weißen Krankenhausbett liege. In meiner rechten Vene steckt ein Infusionsschlauch.
„Hi Süße“, höre ich plötzlich eine Stimme auf meiner linken Seite. Vorsichtig drehe ich den Kopf.
„Gott sei Dank! Du bist wieder wach!“
Neben meinem Bett sitzt Volker und sieht mich besorgt an.
„Du …?“, krächze ich.
„Natürlich ich. Dein heißer Typ hat die Flucht ergriffen, nachdem du auf die Tischdecke gekotzt hast und Nina, Anja und ich plötzlich zur Tür hereingerannt sind. Und als dann auch noch Olgér mit seinem Rollstuhl hinterherkam, wurde es ihm eindeutig zu viel. Der arme Kerl hat gar nicht verstanden, was los war und wo wir alle plötzlich herkamen. Der dachte wahrscheinlich, er ist bei Verstehen Sie Spaß oder so. Hat sich auf jeden Fall dann ganz schnell verdrückt und noch nicht mal auf den Krankenwagen gewartet. Ich glaube, den Typen siehst du nicht mehr wieder!“
„Oh“, ist alles, was ich herausbringe.
„Ist das denn so schlimm?“, fragt Volker mit weicher Stimme und streichelt meine Hand.
„Warum tust du das?“, will ich wissen.
„Was meinst du?“, fragt Volker erstaunt.
„Na, das hier. Du hast doch eine neue Freundin!“
„Wer sagt das denn?“
„Anja! Du hast Micha erzählt, du hättest jemanden kennengelernt. Und du hattest sie doch auf Olgérs Party dabei!“
Volkers Augen werden groß. Dann lacht er plötzlich und schüttelt den Kopf. „Du meinst Nora?“
Ich werde sauer und entziehe ihm meine Hand.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Mein Gott, Lola. Du bist wirklich ein komisches Mädchen! Jetzt verstehe ich auch, warum du dich mir gegenüber auf einmal so merkwürdig verhalten hast. Und ich dachte schon, ich hätte irgend etwas falsch verstanden und du würdest mich doch nicht mögen!“
Volker erobert meine Hand zurück und drückt sie ganz fest. „Ich habe keine neue Freundin und Nora ist nur eine Arbeitskollegin, die wahnsinnig gerne High Heels trägt und der ich einen Gefallen tun wollte. Dich habe ich gemeint! Dich habe ich kennengelernt! Dich will ich! Ich wollte es Micha nur noch nicht so direkt sagen!“
„Oh“, mache ich erneut und komme mir auf einmal furchtbar dumm vor. Das ich das nicht früher gemerkt habe. Wie typisch für mich! Irgendwie macht mich diese Neuigkeit traurig. Der arme Volker! Wie muss er sich gefühlt haben. Endlich lässt er sich auf etwas Neues ein und wird dann so behandelt. Eine kleine Träne läuft mir die Wange herunter.
„Nicht weinen!“ Volker beugt sich über mich und wischt die Träne weg.
„Es tut mir so leid!“, flüstere ich.
„Na, ganz unschuldig bin ich ja auch nicht. Ich habe mich total zurückgezogen, anstatt mit dir zu reden. Aber als du heute am Boden lagst und der Krankenwagen kommen musste, war mir klar, dass ich kämpfen will. Weil du mir wirklich etwas bedeutest!“
„Du mir auch. Du bedeutest mir auch etwas!“ Ich drücke Volkers Hand.
Und dann, dann endlich beugt er sich über mich und küsst mich.

Epilog

 

Ich strecke mich wohlig. Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster und erhellen das Schlafzimmer.
Neben mir im Bett liegt Volker. Ich kuschle mich an seinen warmen Körper und atme tief seinen wunderbaren männlichen Duft nach Sandelholz und Moschus ein.
„Hallo Süße, bist du schon wach?“, fragt er mit rauchiger Stimme.
„Hmm“, murmle ich.

Nach drei Tagen Aufenthalt wurde ich gestern aus dem Krankenhaus entlassen und meine Freunde haben spontan eine Coming-Home-Party für mich organisiert.
Nina, Anja, Irma, Olgér, Volker alle waren da. Sogar Stefan Lambert ist gekommen. Er und Olgér sind momentan unzertrennlich. Dank unseres Traumprinzen-Castings hat Olgér tatsächlich einen festen Freund gefunden.
Eigentlich war das Casting ja für mich gedacht und meinen Traumprinzen habe ich auch gefunden, nur nicht wie geplant. Aber das ist typisch für mich. Ich streichle Volkers Hand und freue mich darüber, dass er jetzt mir gehört. Und ich ihm. Volkers Hand wandert langsam von meinem Bauch zu meiner Brust „hmmm“.

„Like a virgin, touched for the very first time...“, stört mein Handy die Stimmung plötzlich. Mann Olgér!, denke ich genervt.
„Ja bitte?“, frage ich unwirsch.
„Lola-Schätzelein, seid ihr schon wach?“
„Hmm.“
„Weißt du, Stefan, Irma und ich saßen gestern noch etwas länger zusammen, als die anderen schon weg waren und wir hatten eine ganz famose Idee!“
„Welche denn?“, frage ich alarmiert.
„Na, die Irma ist doch schon so lange Single. Wir machen eine zweite Staffel: Ein Traumprinzen-Casting für Irma!“

 

 

ENDE

Vielen Dank an alle, die dieses Buch gekauft haben.
Ich hoffe, ihr hattet Spaß!
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Tieren in dieser Geschichte sind absolut beabsichtigt und keineswegs zufällig.

Besonders danken möchte ich meiner wunderbaren Familie: Sören, Sindri und Liara

und dir Maike, für die Tipps und Anmerkungen und die Rechtschreibprüfung.
 

Über Fragen und Anregungen freue ich mich immer sehr.
Besucht doch auch mal meine Autorenseite: 

www.jasminwollesen.de


Kinderbücher von Jasmin Wollesen bei Amazon:
Monster mögen keine Zitronen
Ringelsocken und Luftlochmützen
Hugo, die Piratenschildkröte
Maja und die Quengelflöhe
Willy, der Schneemann
Der Weihnachtsmann macht Urlaub
und noch mehr...