Das Traumprinzen Casting
von Jasmin Wollesen
„Das Traumprinzen Casting“
© Jasmin Wollesen
Kindle Edition – 14. Dezember
2012
Alle Rechte
vorbehalten
Kontakt: jasmin@wollesen.de
Cover Gestaltung: Jasmin
Wollesen
Motiv Cover: © Vladimir Wrangel -
Fotolia.com
Prolog (Finale)
Ich sitze in meinem schönsten Kleid an einem Tisch mit
wundervoller Aussicht auf den Hafen.
Kleine Boote schaukeln sanft auf dem Wasser.
Gerade wird am anderen Ufer ein Feuerwerk gezündet. Der Anblick der
blitzenden bunten Lichter am sternenklaren Himmel ist wirklich
hübsch.
Dieser Abend ist etwas ganz
Besonderes.
Allein die Auswahl meines Outfits hat meine
Freundinnen und mich viel Zeit gekostet, denn ich wollte nicht zu
chic aber auch nicht zu leger aussehen.
Die Mühe scheint sich gelohnt zu haben, wie
ich an den bewundernden Blicken meines männlichen Begleiters sehen
kann. Nach einigen aufregenden Castings und nicht minder spannenden
Recalls hat er es bei mir bis ins Finale geschafft.
Unser erstes richtiges
Date heute Abend ist wirklich toll.
Wir haben uns angeregt unterhalten und
richtig gut amüsiert. Soeben habe ich den Nachtisch eines
sensationellen Vier-Gänge-Menüs probiert. Eigentlich klingt das
perfekt – ist es aber gerade überhaupt nicht.
Ich spüre, wie meine Zunge anschwillt und
mir das Sprechen erschwert: „Ach tschu tscheiße, was isch da
drin?“
„Das ist Kiwisorbet! Was ist denn los?“,
fragt mein Gegenüber.
Ich spüre wie mein Gesicht heiß wird. Meine
Hände beginnen zu jucken und mir wird auf einmal furchtbar
schlecht. „Isch bin allergisch gegen Kiwääääh“, bringe ich noch
heraus.
Dann übergebe ich mich auf die weiße Damast
Tischdecke. Entsetzt werde ich von allen Seiten
angestarrt.
Das interessiert mich aber gerade herzlich
wenig, denn ich habe nur wenige Minuten Zeit, dann setzt der
allergische Kreislaufschock ein und ich werde vermutlich ohnmächtig
werden.
„Lola! Oh Gott, Lola...“, ist das Letzte,
was ich aus meinem versteckten Ohrmikrofon höre. Dann wird es
dunkel.
Versetzt
Was ist das Unangenehmste, dass dir je passiert
ist?
Manche Menschen müssen bei dieser Frage
länger überlegen, weil ihnen spontan keine Antwort einfällt. Das
sind für mich echte Glückspilze. Ich muss bei dieser Frage auch
überlegen, aber nur, weil ich gar nicht so genau weiß, wo ich
anfangen soll. Das allererste unangenehme Erlebnis, an das ich mich
erinnern kann, hatte ich in der ersten Klasse. Wir sollten ein
Musical aufführen und ich war ein Baum. Ich hatte eigentlich nur
einen Satz zu sagen, aber als ich dran war, konnte ich mich absolut
nicht mehr an den Satz erinnern. Alle warteten und so improvisierte
ich und sang ein Lied, dass mir zu der Zeit sehr gut gefiel. Dabei
hüpfte ich auf und ab und mit mir meine etwas zu weite braune Hose,
die prompt im zweiten Akt unter Beifall zu Boden
ging.
Noch Jahre später wurde ich gefragt: „Na
Lola, wann machst du mal wieder den Baum?“
Oder später an der Uni: Ich musste eine
Klausur schreiben und wunderte mich über den plötzlichen Zulauf an
Kursteilnehmern. Hatte ich doch unseren Kurs gar nicht so groß in
Erinnerung. Da ich aber wie immer etwas zu spät kam, setzte ich
mich einfach in die letzte Reihe des Hörsaals und schaute mich
verzweifelt nach bekannten Gesichtern um. Leider sah ich nur
Hinterköpfe, die alle ein Papier studierten. Nun musste ich mich
wohl doch bemerkbar machen: „Entschuldigung, ich bräuchte auch noch
die Klausur!“
Gefühlte hundert Hinterköpfe drehten sich
fast zeitgleich zu mir um und – ich kannte keines dieser Gesichter.
Da war ich wohl im falschen Hörsaal gelandet! In diesem tagte
gerade eine Auswahl an Dozenten zum Thema 'ADHS bei Erwachsenen –
Methoden im Umgang mit betroffenen Studenten'. Mit dem Satz: „Da
haben wir ja eine freiwillige Testperson!“ und dem Gelächter aller
Anwesenden im Rücken, flüchtete ich aus dem Hörsaal. Meine Klausur
habe ich dann an diesem Tag nicht mehr
geschrieben.
Oder vor ein paar Monaten: Meine Freundin
Anja gab eine Babyparty. So eine Art Mitbringparty vor der Geburt
ihres zweiten Kindes. Ich hatte ihr versprochen, zu helfen und so
schnappte ich mir die Sekt- und Orangensaftgläser und begrüßte die
weiblichen Gäste an der Türe mit einem kleinen
Willkommenstrunk.
Anja kennt ziemlich
viele Leute und einige davon habe ich längere Zeit nicht gesehen.
Als dann Anjas Chefin Ute hereinkam, wollte ich es besonders gut
machen und reichte ihr ein Glas mit den Worten: „Für Sie soll es
doch sicher nur Orangensaft sein?“, mit einem zwinkernden Nicken in
Richtung ihres leicht gewölbten Bauches. „Was soll das denn
heißen?“, empörte sich Ute. „Ich bin doch nicht schwanger. Her mit
dem Sekt! So eine Unverschämtheit!“ Dass sie mich den ganzen Abend
lang kalt lächelnd ignorierte, muss ich nicht
erwähnen...
Und auch dieser Tag heute, ein Sonntag,
scheint sich für mich zu einem Pechtag zu entwickeln. Ich sitze mit
meinen Eltern in ihrem Esszimmer am liebevoll gedeckten Esstisch
und warte. Mein Vater hat gerade begonnen mit seinen Fingerspitzen
auf den Tisch zu trommeln. Das macht er immer, wenn er nervös oder
ärgerlich ist. Schon als Kind wusste ich, dass Fingerklopfen nichts
Gutes bedeutet. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis er einen
seiner berühmten Wutausbrüche bekommt. Meine Mutter sagt gerade zum
zehnten Mal: „Ich sehe mal nach, ob die Klingel noch
funktioniert!“
Dabei steht sie auf und verschwindet in
Richtung Küche. Ich glaube, dass sie auf dem Weg zur Tür jedes Mal
in der Küche von ihrem gekochten Essen nascht. Meine Mutter liebt
es zu essen und sie kann es absolut nicht leiden, wenn sie warten
muss. Nach einiger Zeit ertönt alibimäßig ein schrilles
„Drrrriiinggg“ und ein „Funktioniert noch!“, bei dem mein Vater und
ich jedes Mal zusammen zucken.
„Wann hat er gesagt, dass er kommen will?“,
fragt meine Mutter, als sie sich wieder auf ihren Platz setzt. „Um
14 Uhr“, antworte ich zum zehnten Mal. Dabei läuft mir langsam ein
kleiner Schweißtropfen die Stirn herunter.
Heute ist LGVT,
Lebensabschnitts-Gefährten-Vorstellungs-Tag.
Diesen Tag haben meine Eltern eingeführt,
als ich zwanzig wurde und sie sich nun näher für meine
Lebenspartner interessierten. Immerhin würden zukünftige
Enkelkinder einen nicht unerheblichen Genanteil von meinem Partner
erben, so lautete ihr Tenor und den müsse man sich schließlich
genauer ansehen. Ich hatte schon einige LGVTs und jedes Mal war
ich mir sicher, dass es nun der letzte sein würde, da ich meinen
Traumpartner gefunden hätte. Meine Eltern haben inzwischen eine Art
Routine beim LGVT
entwickelt. Ähnlich wie beim Arzt, der einen
Gesundheitscheck durchführt, wird der potentielle Schwiegersohn
anhand einer Liste, die nur in ihren Köpfen existiert, auf Herz und
Nieren getestet.
Würde man die Liste ausdrucken, würde sie ungefähr so aussehen:
Checkliste potentieller Schwiegersohn
Erster Bereich: Äußere Erscheinung
gut gekleidet ja/nein
mindestens 1.80m ja/nein
volles Haar ja/nein
gepflegte Hände ja/nein
O-Beine ja/nein
sportliche Figur ja/nein
Zweiter Bereich: Lebenseinstellung
gute Schulbildung ja/nein
erfolgsorientiert ja/nein
kinderlieb ja/nein
Fußballfan (extrem wichtig für meinen Vater) ja/nein
plant ein Eigenheim mit Gästezimmer für Schwiegereltern zu bauen (extrem wichtig für meine Mutter) ja/nein
pünktlich ja/nein
zuverlässig ja/nein
Im Idealfall könnte der
potentielle Schwiegersohn 13 Punkte erreichen, einen für jede mit
„ja“ beantwortete Frage. Bis zu 10 Punkten lassen meine Eltern noch
mit sich verhandeln, aber darunter ist er für sie definitiv als
potentieller Schwiegersohn durchgefallen.
Mein jetziger Lebensabschnitts-Gefährte Sven
hat demnach schon zwei Minuspunkte, obwohl sie ihn noch nicht
einmal kennengelernt haben. Denn er hat nun schon eine Stunde
Verspätung und ist telefonisch nicht erreichbar, was ihn auch nicht
gerade als zuverlässig erscheinen lässt. Sven und ich sind nun
schon vier Monate zusammen. Für andere klingt das vielleicht kurz,
aber für mich ist es eine ganz schön lange Zeit, denn mit Männern
habe ich nicht gerade Glück.
Meine Freundinnen sind
mit Anfang dreißig alle schon verheiratet, einige haben bereits
Kinder und die meisten haben sich kleine niedliche Eigenheime
gebaut. Ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und wohne in
einer WG mit Olgér (gesprochen Oltscheeer), meinem homosexuellen
Freund, der eigentlich Holger heißt, aber den Namen zu
unspektakulär findet. Olgér und ich kennen uns noch aus
Studienzeiten. Er ist einer meiner besten Freunde bzw. Freundinnen
und hat mir schon durch so manche Krise geholfen. Außerdem hat er
einen gnadenlos guten Klamottengeschmack und geht für sein Leben
gern Shoppen. Als Modeeinkäufer eines Luxuskaufhauses kommt er viel
herum.
Einen Freund hat Olgér zur Zeit nicht, er
will sich erst einmal auf seinen Job konzentrieren, denn er hat
noch viel vor. Er plant eine eigene High Heel Kollektion auf den
Markt zu bringen. Deshalb trägt er sooft es geht selbst High Heels,
denn wer seine Produkte nicht studiert hat, wird es zu nix bringen,
so sein Tenor.
Außerdem wohnt in unserer WG noch Herkules,
meine Wüstenrennmaus.
Er ist der männliche Part in unserer
„Weiber“-WG. Das beweist er täglich, denn er rammelt so ziemlich
alles, was ihm in den Weg kommt. Bei Google habe ich, als ich
„rammelnde Wüstenrennmaus“ eingegeben habe, nichts gefunden. Normal
scheint das also nicht zu sein. Olgér meint, ich soll ihn einfach
lassen. Bei soviel Weiblichkeit um ihn herum würden halt die
Hormone mit ihm durchgehen. Ich finde das Ganze aber etwas
peinlich. Vielleicht sollte ich in nächster Zeit mal mit ihm
zum Tierarzt gehen … .
Von mir kann er sich das auf jeden Fall
nicht abgeguckt haben, sooft bringe ich leider keine Männer
mit nach Hause. Mit Sven habe ich mich fast immer in seiner Wohnung
getroffen. Wahrscheinlich ist Herkules von den Vorbesitzern
geschädigt. Ich habe ihn nämlich von den Nachbarn meiner Eltern
geerbt. Die haben sich scheiden lassen und keiner wollte den armen
Herkules mitnehmen. Und da ich ein großes Herz habe, habe ich ihn
adoptiert. Im Internet habe ich mich dann über Wüstenrennmäuse
informiert und gelesen, dass sie Rudeltiere sind. Aber das weiß
Herkules scheinbar nicht, denn er hat bisher jede Maus, die ich ihm
als Spielkamerad präsentiert habe, gnadenlos gejagt und gebissen,
sodass mir nichts anderes übrig blieb, als die Mäuse zurück in das
Tiergeschäft zu bringen. Nun bleibt er eben alleine – so wie ich
gerade.
Mein Handy klingelt.
Das muss Sven sein, denke ich erleichtert und drücke auf den grünen
Knopf: „Ja, Lola hier!“, spreche ich in den Hörer. Doch es ist nur
Nina, meine beste Freundin, die wissen will, wie der LGVT gelaufen
ist.
„Scheiße! Er ist nicht gekommen! Ich melde
mich später bei dir“, sage ich und beschließe nicht länger zu
warten.
Wieder ein Männer-Fehlgriff! Bei Sven dachte
ich wirklich, ich hätte nun endlich den Richtigen gefunden.
Kennengelernt habe ich ihn bei einer Firmenveranstaltung. Ich
arbeite im Marketing Bereich eines großen Reiseveranstalters,
was den Vorteil hat, dass ich von Zeit zu Zeit Hotels begutachten
muss und dabei ein bisschen was von der Welt sehe. Naja, zumindest
von unseren Nachbarländern, denn für die bin ich zuständig. Sven
ist Wellnesscoach in einem angesagten, neu eröffneten Hotel in der
Nähe und er gefiel mir auf Anhieb. Dunkle Haare, braungebrannt,
gute Figur – und wie sich gerade herausstellt ein Arschloch. Ich
hatte ihn meinen Eltern als den wahrscheinlich zukünftigen Vater
für ihre Enkel angekündigt, denn ich fand Sven umwerfend. Bis eben!
Vielleicht ist ihm ja etwas passiert? Er weiß doch, dass der Termin
bei meinen Eltern für mich wichtig ist! Ich ertrage es nicht
länger: „Tut mir leid, ich weiß nicht, was los ist! Ich hoffe Sven
ist nichts passiert. Ich werde jetzt zu ihm fahren und
nachsehen!“
„Ja mach das, gute Idee!“, seufzt meine
Mutter sichtlich erleichtert. „Und melde dich anschließend, hörst
du!“
„Soll ich dich hinfahren? Dann kann ich mir
das Bürschchen gleich mal vorknöpfen. Die Ernsts lässt man nicht so
ungestraft sitzen“, brummt mein Vater und krempelt sich die Ärmel
hoch.
„Nein, lass mal! Ist lieb gemeint, aber ich
fahre mit dem Bus. Euer schönes Essen wird bestimmt nicht wärmer“,
sage ich, schnappe mir meine Handtasche und flüchte aus dem Haus.
Das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann, ist mit meinem Vater im
Auto zu sitzen und mir seinen Vortrag über Pünktlichkeit und
Zuverlässigkeit anzuhören.
Ich gehe die Straße hinunter, in der ich
meine ganze Kindheit verbracht habe und überlege, was ich dieses
Mal falsch gemacht habe. Ich war mir so sicher, dass es mit Sven
klappen würde.
„Olgér, kannst du mich
abholen?“
„Lolaschätzelein, wie war es! Erzähl!“,
sprudelt es aus meinem Handy.
„Es war scheiße! Sven ist nicht gekommen und
meine Eltern waren stinksauer und enttäuscht!“
Meine Stimme bricht.
Ich fange an zu schluchzen: „Warum passiert so was
immer nur mir?“
„Oh!“, macht Olgér nur. „Ich komme sofort!
Wo bist du denn gerade?“
„Buhuhu, Buhuuus!“, schluchze ich immer
lauter.
„Schätzelein, ich verstehe dich gar nicht, wenn du so
weinst! Wo bist du?“
„Buhuuhuus, Haltestelle. Bei meinen Eltern
in der Straße“, schniefe ich.
„Ich bin in zehn Minuten da!“, meint
Olgér.
Da sitze ich nun. Wie bestellt und nicht
abgeholt. Trübsinnig blicke ich auf mein Handy. Ich rufe meine
Mails ab. Keine neuen Nachrichten. Ich verstehe das einfach nicht.
Warum meldet sich Sven nicht. Ich wähle seine Festnetznummer.
Freizeichen. Aber keiner geht ran. Ich wähle seine
Handynummer.
„Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht
erreichbar!“
Ich muss wissen, was los ist. Ich werde
Olgér bitten mit mir bei Sven vorbei zu fahren. Vielleicht ist ihm
wirklich etwas passiert.
Ich versuche mich abzulenken und gehe auf
meinen Facebook Account.
Du bist eingeladen in die Gruppe
„High Heels in Action“ Facebook Gruppe, gegründet von „Olgér“. Das ist typisch
Olgér. Ich sehe mir die Beiträge an und muss trotz meines
momentanen Elends schmunzeln.
Olgér hat Fotos von sich und seinen High
Heels in den unmöglichsten Situationen gepostet. Auf dem einen Bild
fährt er mit lilafarbenen High Heels Einrad. Ich trete der Gruppe
bei und nehme mir vor, mit meinen eigenen High Heels auch etwas
Lustiges auszuprobieren und es dann zu posten.
„Huhu, Schätzelein! Dein Bus ist daaa!“
Olgér lässt seine pinkfarbene Knutschkugel mit quietschenden Reifen
vor der Bushaltestelle zum Stehen kommen. Eigentlich mag ich die
Automarke. Olgér fährt einen Fiat 500. Allerdings in einer Special
Olgér Edition. Der beige Farbton des Autos war ihm zu langweilig.
Also hat er es umlackieren lassen. In ein knalliges Pink mit
silbernen Herzen, die in der Sonne glitzern. Diva, so heißt sein
Auto, denn Olgér besteht darauf, dass Autos auch Seelen haben.
Olgér beugt sich vor und ruft durch das geöffnete Fenster: „Steig
ein Liebelein. Also weißt du, dieser Sven kam mir gleich komisch
vor. Der war einfach too much!“
'Too much', ist Olgérs Lieblingsspruch. Er
benutzt ihn sooft es geht. Ob angebracht oder nicht. In diesem
speziellen Fall meint er mit 'Too much' wohl, dass Sven einfach zu
perfekt war. Zu gut aussehend, zu sportlich, zu …
„Lola, was ist? Willst du nicht
einsteigen?“
Ich schnappe meine Tasche, öffne die
Beifahrertüre und lasse mich auf den Sitz
plumpsen.
„Schätzelein, du gefällst mir gar nicht. Du
bist ja ganz blass!“ Mitfühlend tätschelt Olgér meinen Arm. In der
nächsten Sekunde hat er mein Elend aber schon vergessen und
plappert: „Hast du eigentlich gesehen, dass ich eine neue Facebook
Gruppe gegründet habe?“
„Hmm“, murmele ich, „tolle Idee. Bin schon
Mitglied!“
„Hach, das ist gut! Ich spüre, dass das eine
neue Kultsportart wird – High Heels in Action, famos! So, wo wollen
wir denn nun hin? Sollen wir ins Rockefeller gehen?“
Das Rockefeller ist unser Lieblingscafé. Schon so manchen Nachmittag und auch Abend habe ich dort mit meinen Freunden verbracht. Im Rockefeller gibt es die leckersten Torten der ganzen Stadt in allen erdenklichen Formen und Farben und die Einrichtung ist so schön quietschig bunt. Eine Mischung aus Barbie Chic und 1001 Nacht. Eigentlich bin ich immer für einen Besuch im Rockefeller zu haben. Aber heute ist mir nicht danach. Selbst auf meine Lieblingstorte, Himbeer-Champagner-Sahne, habe ich keine Lust. Ich will wissen, warum Sven nicht gekommen ist und warum er nicht ans Telefon geht.
„Olgér, kannst du mich zu Svens Wohnung fahren? Ich will wissen, was los ist!“
„Meinst du, dass das eine gute Idee ist?“, fragt Olgér.
„Ich finde, das war too much! Du solltest ihm nicht hinterher
laufen, Liebelein!“
„Aber fragen, warum er nicht gekommen ist,
will ich ihn. Fahr mich einfach hin!“
„Na gut, wenn du meinst!“, Olgér zuckt mit
den Achseln und startet sein Auto.
Während der Fahrt zu
Svens Wohnung redet Olgér unentwegt. Er schwärmt von seinen neusten
High Heels, mit denen er, wie ich zu meinem Erschrecken feststelle,
auch gerade Auto fährt. Und er erzählt, wie ihm die Idee mit der
neuen Facebook Gruppe kam. Ich höre nur mit halbem Ohr zu und mache
zwischendurch „Hmm, hmm!“
Meine Gedanken sind bei Sven und dabei, was
ich ihm alles sagen will.
Nach fünfzehn Minuten Fahrt hält Olgér vor
Svens Wohnung. Sven wohnt in einer ruhigen Seitenstraße im
Erdgeschoss eines hübschen gelben Mehrfamilienhaus mit grünen
Fensterläden.
„Soll ich auf dich warten?“, will Olgér
wissen.
„Ja, ein bisschen. Das wäre lieb“, antworte
ich. „Wenn ich länger als zehn Minuten weg bin, kannst du schon
nach Hause fahren. Ich komme dann mit dem Bus nach.“
In flagranti
Ich stehe vor Svens Haustüre und klingel – doch keiner
macht auf.
Sollte Sven doch nicht zuhause
sein?
Ich gehe um das Haus
herum zu den Anwohnerparkplätzen. Na also, Svens schwarzer Audi R8
steht dort und funkelt in der Sonne. Der Audi ist Svens ganzer
Stolz. Er wäscht und poliert ihn mindestens zweimal pro Woche. Ich
gehe zurück zur Haustüre und drücke erneut auf die Klingel. Nichts
passiert! Ohne sein Auto geht Sven nirgendwo hin, er muss also da
sein. Ich rufe ihn auf seinem Festnetz an. Keiner geht ran. So
langsam werde ich richtig wütend. Mich erst zu versetzen und
anschließend nicht erreichbar zu sein – so eine Unverschämtheit!
Mir fällt ein, dass Sven seine Terrassentüre meistens nur angelehnt
lässt, wenn er zuhause ist. Er sitzt gerne auf der Terrasse und
genießt die frische Luft. Ich gehe um das Haus herum und bleibe vor
dem kleinen Zaun stehen, der das Grundstück vom Gehweg
trennt.
Ich werde wohl darüber klettern müssen.
Nicht gerade einfach mit meinem LGVT Outfit, einem engen grauen
Rock und hochhackigen Schuhen. Kurzentschlossen ziehe ich die
Schuhe aus und hieve meinen Körper absolut unelegant über den Zaun.
Geschafft!
Ich streiche mir den
Rock glatt und schlüpfe wieder in meine Schuhe. Ein Blick auf meine
Armbanduhr sagt mir, dass seit ich mit Olgér gekommen bin, schon 15
Minuten vergangen sind. Wenn Olgér sich an meine Anweisung gehalten
hat, ist er jetzt schon weg. Hoffentlich ist Sven
da!
Ich tippel an dem verdutzten Rentnerehepaar,
dass gerade Erdbeerkuchen auf der Terrasse isst, vorbei und nähere
mich Svens Terrasse. Hah! dachte ich es mir doch. Seine
Terrassentüre ist nur angelehnt. Soll ich rufen und mich
ankündigen? Nein, entscheide ich und betrete einfach Svens Wohnung.
Im Wohnzimmer ist er nicht. In der Küche auch nicht. Ich werfe
einen kurzen Blick ins Schlafzimmer, sehe aber nur ein zerwühltes
Bett und einen Berg Klamotten auf dem Boden. Bestimmt hat Sven
einfach nur verschlafen! So wird es sein!
Aus dem Badezimmer höre
ich Wassergeräusche. Na also, Sven duscht gerade und danach hätte
er sich bestimmt reumütig gemeldet.
Ich öffne die Badezimmertüre und
erstarre.
Sven duscht wirklich. Aber nicht alleine!
Durch die Duschwand aus Glas sehe ich ihn und eine Frau mit langen
dunklen Haaren in einer sehr eindeutigen Position. Die beiden sind
so miteinander beschäftigt, dass sie mich erst bemerken, als ein
lauter Schrei ertönt. Huch, kam der von mir? Ich kann mich gar
nicht erinnern, dass ich geschrien habe. Wie versteinert stehe ich
in der Türöffnung. Das hier ist wohl das Schlimmste, was mir je
passiert ist! Und es kommt noch schlimmer. Sven steckt völlig
abgebrüht den Kopf durch die Duschwand, grinst frech und ruft: „Hi
Lola, komm rein, dann kannst du mitmachen!“
Dann fangen er und die Frau in seiner Dusche
hysterisch an zu kichern.
Mir reicht es! Ich drehe mich auf dem Absatz
um und flüchte aus dem Badezimmer.
Mein Herz klopft so laut und es tut so weh,
dass es mich fast zerreißt.
Tränen der Enttäuschung laufen mir über die
Wangen.
Aber ich bin auch wütend!
Richtig wütend!
Neben der Garderobe steht ein kleines
Tischchen, auf dem Svens Autoschlüssel liegen. Ohne lange zu
zögern, schnappe ich mir die Schlüssel und knalle die Haustüre
zu.
Ich gehe im Stechschritt rüber zu den
Anwohnerparkplätzen, öffne Svens Auto und setze mich auf den
Fahrersitz. Ha!
Ich lasse den Motor
aufheulen und fahre vom Parkplatz. Aus den Augenwinkeln sehe ich
Sven. Er steht in Unterhosen vor seiner Haustüre und fuchtelt wild
mit den Armen. Ich zeige Sven den Mittelfinger und rausche an ihm
vorbei auf die Straße.
Irgendwie tut das gerade richtig gut! Sven
wird ausrasten! Sein liebstes Spielzeug ist nun in meinen Händen.
Ohne Ziel cruise ich durch die Gegend. Mein Magen fühlt sich ganz
flau an, vor lauter Wut und Enttäuschung. Mein Handy klingelt. Ich
sehe auf das Display. Es ist Sven. Ich drücke ihn weg und grinse
vor Genugtuung. Der wird sich bestimmt richtig Sorgen um sein Auto
machen. Mein Magen knurrt. Mir fällt ein, dass ich ja noch gar
nichts gegessen habe. Das Mittagessen mit meinen Eltern ist ja
ausgefallen.
Immer wenn ich Stress habe, bekomme ich
fürchterlichen Hunger!
Es soll ja auch Leute geben, denen bei
Stress der Appetit vergeht. Bei mir ist das leider nicht so. Ich
bekomme dann immer wahnsinnigen Hunger auf furchtbar ungesunde
Sachen. Ich beschließe an der nächsten Tankstelle zu halten und
mich mit Tiefkühlpizza, Schokolade, Chips und Gummibärchen
einzudecken.
„Like a virgin, touched for the very first
time ...“, singt mein Handy. Das ist
Olgér. Er hat mein Handy so eingestellt, dass sein Lieblingssong
ertönt, wenn er anruft. Ich gehe ran.
„Hmmmpf“, mache ich. Mein Mund ist
vollgestopft mit Gummibärchen. Das ist nun schon die zweite Tüte,
die ich verdrücke. Neben mir auf dem Sitz liegen noch zehn Tafeln
Schokolade, zwei Chipstüten und drei Salami Tiefkühlpizzen. Der
Hersteller wirbt mit einen Gewinnspiel „In 1.000 Schachteln wartet
ein Brillant Ring auf Sie“. Ein Brillant Ring ist jawohl das
Mindeste, was ich in dieser Situation verdient habe, denke ich.
Vielleicht habe ich ja Glück und habe einen gewonnen. Zur Vorsicht
habe ich deshalb gleich drei Packungen gekauft.
In Svens Auto sieht es ziemlich müllig aus.
Die leeren Getränke und Süßigkeitenverpackungen habe ich einfach
achtlos auf den Beifahrersitz und in den Fußraum geschmissen.
Dazwischen liegen etliche Taschentücher, mit denen ich meine Nase
putzen musste, wenn mich nach einer Fressattacke wieder eine
Heulattacke überkommen hat.
„Lola- Schätzelein?“, tönt es aus meinem
Handy. „Wo bist du denn? Ich mache mir Sorgen. Hast du mit Sven
gesprochen?“
„Hmmpf“, mache ich wieder, versuche dem
Hmmpf aber eine ärgerliche Note zu verleihen.
„Ich verstehe nix. Erzähl doch mal!“,
fordert Olgér ungeduldig.
Ich würge den Gummibärchenklumpen in meinem
Mund hinunter und verschlucke mich prompt. Der Hustenreiz bringt
den Klumpen wieder nach oben und ich spucke die Gummipampe im hohen
Bogen gegen das Armaturenbrett. Einzelne Gummibärchenfetzen hängen
nun klebrig an den Knöpfen für die Klimaanlage, an der
Musikstation, zwischen den Lüftungsschlitzen – eigentlich
überall.
Ich fange an zu kichern. Wenn Sven das jetzt
sehen würde – einfach herrlich! Gummibärchenschleim in seinem
geliebten Auto! Überall!
„Lola, was ist denn da los? Wo bist du?“,
Olgér klingt nun besorgt.
Ich versuche mein Kichern in den Griff zu
bekommen und stammele mühsam: „Auto Sven!“
„Du bist mit Sven im Auto?“, hakt Olgér
nach.
„Ne, ich habe Svens Auto!“ Ich versuche mich
zusammen zu reißen, aber so ganz gelingt mir das
nicht.
„Wie, du hast Svens Auto? Ich verstehe das
nicht. Jetzt sprich doch mal Klartext!“
Mein Kichern verebbt langsam und meine Augen
füllen sich mit Tränen. Ich fühle, dass eine erneute Heulattacke
naht.
„Ich habe geklingelt und Sven hat nicht
aufgemacht. Da bin ich einfach über die offene Terrassentüre in
seine Wohnung geschlichen. Sven war im Bad, unter der Dusche. Mit
dieser, mit dieser ...“
Meine Stimme bricht und ich schluchze: „Er
hat mich betrogen. Und mich auch noch ausgelacht. Da habe ich sein
Auto mitgenommen!“
„Ach du Schande, Schätzelein! Dieser
verdammte Schuft! Aber mach keinen Unsinn, hörst du? Das ist er
nicht wert. Stell das Auto ab! Wo bist du denn gerade?“, fragt
Olgér betroffen.
Wo bin ich gerade? Gute
Frage!
Ich putze meine Nase, wische mir die Tränen
aus den Augen und versuche mich zu orientieren. Eigentlich
erschreckend, wie geistesabwesend ich war. Ich habe wirklich keinen
blassen Schimmer, wo ich in den letzten Minuten lang gefahren bin.
Aber irgendwie scheine ich in der Innenstadt gelandet zu sein. Vor
mir ist das Parkhaus der Aurora Einkaufspassage. Ich beschließe
hinein zu fahren und Svens Auto einfach dort abzustellen. Womöglich
hat er schon die Polizei angerufen und sein Auto als gestohlen
gemeldet.
Zuzutrauen wäre ihm das. Auf meinem Handy
hat er in den letzten Minuten dutzende Male angerufen, aber ich
habe ihn immer weg gedrückt.
„Lola?“, ertönt Olgérs Stimme aus meinem
Handy.
„Olgér, ich stelle Svens Auto jetzt in der
Aurora Passage ab. Ich komme nachher irgendwann nach Hause. Ich
brauche erst Mal Zeit für mich!“, antworte ich. Ich weiß Olgérs
fürsorgliche Art wirklich zu schätzen, aber im Moment könnte ich es
nicht ertragen, von ihm bemuttert zu werden.
„Ok, verstehe ich. Aber meld dich, wenn ich
dich irgendwo abholen soll und komm nicht so spät, hörst du
Schätzelein? Ich mache mir sonst Sorgen!“
Ich verspreche ihm, mich später zu melden
und fahre in das Parkhaus.
In der hintersten Ecke von Parkdeck 2 stelle
ich Svens Auto ab. Ich schnappe mir meine Handtasche, stopfe die
Schokoladentafeln, die Chips und die Tiefkühlpizzen in eine Tüte
und steige aus. Bevor ich zum Treppenhausausgang gehe, nehme ich
meinen Haustürschlüssel aus der Handtasche und ratsche so fest ich
kann an Svens Auto entlang. Es quietscht erbärmlich und ein
hässlicher Strich zieht sich quer über die Fahrertüre. So – jetzt
bin ich fertig! Den Schlüssel werde ich Sven mit der Post
zurückschicken – und wenn er stinkwütend nachfragen sollte: Keine
Ahnung, wie das mit dem Kratzer passiert ist! Ich werde mich an
nichts erinnern können.
Eine Stunde später sitze ich auf einer
Parkbank im Stadtpark und bemitleide mich selbst. Die Welt ist so
ungerecht! Warum bekomme nur ich immer die Arschlöcher und
Volltrottel ab?
Meine beiden Freundinnen Anja und Nina zum
Beispiel haben richtig nette Männer. Nur ich falle immer auf die
falschen herein.
Ich will nach Hause. In mein Bett und dann
schlafen. Und fernsehen. Und meine Chips und die Tiefkühlpizzen
essen. Vielleicht ist ja wenigstens ein Ring in der
Pizzaverpackung. So viel Glück hätte ich heute wirklich
verdient!
Olgér kommt mir sichtlich aufgeregt schon an
der Haustüre entgegen. Müde reiche ich ihm Svens Autoschlüssel.
„Sag nichts“, bitte ich ihn. „Tu mir einfach den Gefallen und
schmeiß den Schlüssel in Svens Briefkasten. Würdest du das für mich
tun?“
Olgér nickt eifrig und verspricht das sofort
zu erledigen. Dankbar gebe ich ihm ein Küsschen auf die Wange. Dann
schreibe ich eine allerletzte SMS an Sven: Schlüssel ist im Briefkasten. Auto steht in der Aurora
Passage, Parkebene 2. Lola und drücke
auf Senden. Dann schalte ich das Handy vorsichtshalber aus und
verschwinde schnell in meinem Zimmer, bevor ich wieder anfangen
muss zu heulen.
Der Plan
„Ok Lola, so geht das
wirklich nicht weiter!“
Kopfschüttelnd steht Nina vor mir. Ich
liege auf meiner geblümten Couch und drücke mir meinen
heißgeliebten Kuschelhasen an die Nase. Ein paar Tränen glitzern
noch in meinen Augenwinkeln.
Es ist jetzt 7 Tage her, dass ich Sven mit
dieser Tussi erwischt habe. Ich habe mich die ganze Woche krank
gemeldet und fast nur im Bett gelegen, ungesundes Zeug gegessen und
geheult. Sein Auto hat Sven in der Zwischenzeit wieder bekommen und
mir auf die Mailbox geschimpft, er würde mich anzeigen und ich
würde von seinem Anwalt hören. Olgér meint zwar, dass er das nicht
wagen wird, aber ich bin mir da nicht so sicher. Einen Ring habe
ich auch nicht gewonnen, in keiner einzigen Verpackung war einer.
Ich werde demnächst mal einen Beschwerdebrief an diese Pizzafirma
schreiben...
Heute morgen ist Olgér für zwei Tage
dienstlich verreist und hat sich scheinbar so große Sorgen um mich
gemacht, dass er meine beste Freundin Nina als Babysitter engagiert
hat.
„Ich habe wirklich gedacht, Sven wäre der
richtige für mich“, schluchze ich.
„Sven ist ein Arschloch!“, erwidert Nina.
„Das habe ich dir gleich gesagt! Der war viel zu schön, um wahr zu
sein. Und oberflächlich war er auch. Aber du wolltest ja wieder mal
nicht auf mich hören!“
Es gab viele, viele Male, bei denen ich
besser auf Ninas Rat gehört hätte. Sie kennt sich wirklich aus mit
Männern und hat sich selbst natürlich ein absolutes Prachtexemplar
geangelt.
Chris ist ein angesagter Möbel Designer,
sieht blendend aus und liebt Nina abgöttisch.
Nina und ich kennen uns schon ziemlich
lange. Wir haben uns während des Studiums kennengelernt. Ich war
das erste Mal mittags in der Mensa und wollte dort essen. Ganz
unbedarft ging ich zur Essensausgabe, nannte mein Wunschgericht und
stellte mich dann in die lange Warteschlange an der
Kasse.
„Marken bitte!“, schnarrte die Stimme der
Kassiererin, als ich an der Reihe war. Marken? Welche
Marken?
Hinter mir hörte ich lautes Stöhnen. Ich
blickte nach rechts und sah ganz hinten in der Ecke eine weitere
sehr, sehr lange Schlange vor einem Schalter mit der
Aufschrift „Ausgabe
Essensmarken“.
Oh Gott, wie peinlich!
Das hatte ich nicht gewusst, dass man sich
zuerst anstellen musste, um eine Marke zu kaufen und dann erst zur
Kasse gehen durfte, um die Marke wieder abzugeben. So sollte es
angeblich schneller gehen. Im Normalfall, wenn nicht Trottel wie
ich dazwischen kamen.
„Das geht zusammen!“, sagte plötzlich
jemand hinter mir in der Schlange und reichte der Kassiererin zwei
Marken.
Ich blickte mich um und da stand sie vor
mir, das Mädchen mit den schönen braunen Haaren und den frechen,
grünen Augen.
„Komm mit!“, sagte sie zu mir und ich
folgte ihr dankbar zu einem freien Tisch.
„Danke, dass du mich gerettet hast!“, sagte
ich, als wir uns hingesetzt hatten.
„Kein Problem!“, meinte sie. „Ich kaufe mir
immer Marken auf Vorrat. Die anderen hätten dich sonst
wochenlang aufgezogen. Es gibt nämlich interne Wetten, wie viele
Neue pro Tag vergessen, Marken zu kaufen. Ich heiße übrigens Nina
und du?“
Wir verstanden uns auf Anhieb gut und
wurden schnell zu besten Freundinnen. Später kam noch Anja dazu und
dann Olgér. Damit war unser Quartett komplett.
„Los Lola, mach dich mal frisch! Wir gehen
jetzt shoppen! Du musst mal wieder unter Leute!“
Nina ignoriert meine Einwände, also ziehe
ich mich um. Vielleicht hat sie Recht und ich kann mich wirklich
ein bisschen beim Shoppen ablenken...
Wir bummeln im Gänsemarsch durch die Aurora
Passage. Dabei muss ich an meine Aktion mit Svens Auto denken und
grinse. Ich hoffe nur, er zeigt mich nicht wirklich an. Mein
Grinsen verschwindet und ich bin wieder beim Thema: Sven und mein
Elend. Schluss damit! Ich will versuchen, mich
abzulenken!
„Komm mit, da will ich mal rein!“, sage ich
und ziehe Nina an der Jacke zu einem neu eröffneten Dekoladen. Ich
liebe Dekoläden und diesen kenne ich noch nicht. Uii, was für
tolle Sachen es hier gibt. Aufziehbare Salzstreuer in Vogelform,
Piraten-Eierbecher, Spülbürsten mit Gesichtern. Mein Shoppingherz
klopft vor Freude. Da hinten muss ich auch nochmal gucken, bei dem
Regal mit dem bunten Geschirr. Ich mache mich auf den Weg und
bleibe wie vom Donner gerührt stehen. Oh, mein Gott, wer ist das
denn? Vor mir steht ein umwerfend gut aussehender Mann und mustert
interessiert die bunten Espressotassen.
„Nina, Nina“, zischele
ich.
„Was ist denn?“, fragt Nina und kommt
näher.
„Guck mal, der Typ da bei den
Espressotassen. Der ist ja süß!“
Ich kriege mich gar nicht mehr ein. Den
muss ich unbedingt ansprechen. Ich schiele auf seine Hände, kann
aber keinen Ehering entdecken.
„Den will ich mal kennenlernen!“, sage ich
und gehe langsam näher.
„Lola! Lola! Stopp!“, ruft Nina hinter mir
her, aber ich ignoriere sie und gehe auf den Mann
zu.
Aus den Augenwinkeln sehe ich Nina wild
gestikulieren. Was will sie denn nun schon wieder? Ich soll mich
doch ablenken! Und was wäre besser, als ein Date mit dem süßen
Typen da vorne...
Gerade als ich den Mund aufmachen will,
werde ich unsanft an der Bluse zurückgerissen.
„Spinnst du?“, erbost drehe ich mich zu
Nina um.
„Nee, du spinnst! Ich habe dich gerettet!
Guck mal auf die Füße von dem Typen!“, erwidert Nina und
grinst.
Was das nun wieder soll?! Mein Blick sucht
die Füße des Adonis und – jetzt verstehe ich, was Nina
meint!
Der Typ trägt pinkfarbene Crocs mit
Glitzersteinchen. Der wäre wohl eher was für Olgér. Wie schade!
Warum habe ich das nicht gesehen? Wie gut, dass Nina mir die
Peinlichkeit erspart hat.
Ich drehe mich um und eile aus dem Laden.
Der Tatendrang, den ich noch vor wenigen Minuten verspürte, ist
verpufft.
„Irgend etwas müssen wir unternehmen! Lola
ist wirklich total unglücklich.“
Nina sitzt mit Anja im Rockefeller und denkt
angestrengt nach.
„Das Problem ist, dass Lola netten Männern
immer gar keine Chance gibt!“, meint Anja. „Sie sucht sich
automatisch die gut aussehenden Mistkerle aus, die sie dann jedes
Mal verarschen! Vielleicht sollten wir uns die Männer erst
Mal ansehen, bevor Lola sie kennenlernt!“
Gedankenverloren rühren Anja und Nina in
ihren Latte Macchiatos.
„Das ist es!“, ruft Nina plötzlich. „Wir
machen ein Casting. Wir suchen Lolas Traumprinzen. Und du, Olgér
und ich sind die Jury. Und mit den Männern, die es in den Recall
schaffen, arrangieren wir ein Date mit Lola.“
„Wie willst du das denn machen? Wo sollen
wir die ganzen Männer herbekommen? Und wie sollen wir herausfinden,
ob sie auch wirklich nett sind?“, fragt Anja
stirnrunzelnd.
Nina pustet gedankenverloren in ihren
Milchschaum.
„Und wenn wir die Männer selber daten und
sie testen, ohne dass sie es merken? Und dann filmen wir alles
heimlich, damit wir es später zusammen ansehen können, und dann
entscheiden wir zusammen, welcher Mann zu Lola passen
könnte!“
„Ich weiß nicht, ob Micha das so toll
findet, wenn ich mich auf einmal mit anderen Männern treffe“,
schüttelt Anja zweifelnd den Kopf.
„Hmmm, wahrscheinlich hast du Recht! Chris
wird bestimmt auch nicht so begeistert von der Idee sein“, meint
Nina zustimmend.
„Und wenn ich meine Schwester Vivien
frage?“, überlegt Anja. „Als Schauspielerin hat sie bestimmt kein
Problem mit dieser Rolle.“
„Gute Idee! Äußerlich ähneln Vivien und
Lola sich sogar ein bisschen. Aber wie machen wir das konkret? Wir
müssten Vivien eigentlich mit versteckter Kamera und Mikrofon
ausstatten und ihr sagen, was sie tun soll. Ich habe keine Ahnung,
wie so etwas technisch geht!“, sagt Nina.
„Michas Freund Volker kennt sich bestimmt
mit so was aus. Der arbeitet beim Fernsehen. Irgendwas im
technischen Bereich. Ich glaube, Vivien und er haben sogar schon
mal an einem Werbespot zusammengearbeitet. Ich werde Micha mal
fragen, ob er mir Volkers Nummer gibt. Vielleicht hilft er uns! Ist
ja für einen guten Zweck!“, meint Anja
augenzwinkernd.
Nina und Anja bezahlen ihre Latte
Macchiatos und schlendern die Einkaufsstraße entlang. Vor einem
Schuhgeschäft mit High Heels im Schaufenster bleiben sie
stehen.
„Wir müssen Olgér anrufen und ihn fragen,
was er von der Idee hält. Außerdem brauchen wir ihn in der Jury“,
sagt Nina.
„Auf jeden Fall! Und wir müssen Lola
fragen, ob sie das alles überhaupt will. Du weißt ja, wie sie ist.
Sie findet es bestimmt nicht gut, wenn wir so was hinter ihrem
Rücken machen. Und ein bisschen gefallen müssen ihr die Männer ja
schon. Sonst haben wir welche ausgesucht und sie will sich dann gar
nicht mit ihnen treffen“, wirft Anja ein.
„Stimmt, du hast Recht! Ich regele das mit
Lola. Sie darf zusehen und Anweisungen geben, aber treffen soll
sich erst einmal Vivien mit den Männern und wenn sie in Frage
kommen, tauschen wir Vivien gegen Lola. Wir müssen uns dann nur
überlegen, wie wir den Männern den plötzlichen Frauentausch
schmackhaft machen “, meint Nina.
Anja kichert: „Dann bekommt Lola auch
gleich einen Crashkurs im Erkennen von Mistkerlen. Lass uns gleich
mal Olgér anrufen und ihm von unserem Plan erzählen
...“
Die Vorbereitung
Mein Tag war wirklich anstrengend. Nach über einer Woche
krank feiern, musste ich heute wohl oder übel mal wieder im Büro
auftauchen. Um dann mit Leuten zu sprechen, die keine Ahnung davon
hatten, dass meine Welt untergegangen ist und die es wahrscheinlich
auch nicht interessiert hätte. Also habe ich den ganzen Tag meine
„Alles ist schön und bunt“- Maske aufgesetzt und mir nichts von
meinem inneren Chaos anmerken lassen.
Nun stehe ich vor meiner Wohnungstüre und
freue mich auf ein warmes Bad und das Bagelsandwich, das ich mir
auf dem Weg nach Hause bei Bagels
United mitgenommen habe. Ich
schließe die Türe auf und quetsche mich in den Flur. Laute Stimmen
dringen aus dem Wohnzimmer an mein Ohr. Oh nein, Olgér scheint
Besuch zu haben. Schnell vorbei schleichen und ab ins
Badezimmer.
„Lola, Schätzelein! Bist du
das?“
Mist! Sie haben mich
gehört!
„Hmmm“, brummele ich.
Olgér tippelt mir auf dem Flur entgegen.
Erstaunt mustere ich ihn. Er trägt einen cremefarbenen Hosenanzug,
silberne Highheels und ein pinkfarbenes Bolero Jäckchen. Sein Haar
fällt ihm locker und weich auf die Schultern und auf seinen Lippen
glänzt pfirsichfarbener Lipgloss. Geblendet schließe ich die Augen.
„Wo willst du denn noch hin? Ist das nicht ein bisschen too much?“,
wage ich zu fragen. Beleidigt zieht Olgér einen
Schmollmund.
„Das habe ich nur für dich gemacht,
Schätzelein. Das kann gar nicht too much sein. Aber wenn du mich
nicht schön findest ...“
„Nein, nein, du siehst todschick aus!“, beeile ich mich
zu sagen. Einen schmolligen Olgér kann ich jetzt wirklich nicht
ertragen. Wenn er erst einmal beleidigt ist, wird er richtig
anstrengend und das stundenlang.
„Na, dann ist ja alles in Butter! Komm
Liebelein, komm mit ins Wohnzimmer! Nina ist auch da. Wir müssen
was mit dir besprechen. Hach, ist das alles aufregend!“, und schon
stolziert Olgér zurück ins Wohnzimmer, Duftschwaden von
Lavendelparfüm hinter sich herziehend. Puuh, heute hat er es echt
übertrieben. Eindeutig, too much!
Was die beiden wohl ausgeheckt haben? Das
war es dann wohl mit meinem Bad und dem ruhigen
Abend!
Eigentlich verbringe ich meine Abende sonst
wirklich gerne mit Freunden, nur heute wäre ich ehrlich gesagt
lieber alleine. Aber wenn Olgér sich extra schick für mich gemacht
hat, kann ich ihm keinen Korb geben und das weiß er auch genau.
Wirklich geschickt!
Ich seufze und folge seinem Lavendelduft in
unser gemeinsames Wohnzimmer. Diesen Raum einzurichten hat ziemlich
lange gedauert und mir mein erstes graues Haar beschert. Es war ein
harter Kampf, bei dem Olgér tief in seine Trickkiste gegriffen hat.
Aber diesen Kampf durfte ich nicht verlieren, denn ich wollte den
Raum durchaus auch benutzen und das hätte ich nicht gekonnt, wenn
ich Olgér freie Bahn gelassen hätte. Man kann sich in etwa
vorstellen, wie jemand, der ein pinkfarbenes Glitzerauto fährt und
farbenfrohe Hosenanzüge mit Highheels trägt, ein Wohnzimmer
einrichten würde. Ich selber stehe eher auf klassische
Eleganz, zeitgemäßes Design gemischt mit antiken Möbeln. Nach
endlos langem Hin und Her haben Olgér und ich uns auf einen
Kompromiss geeinigt, mit dem wir beide einigermaßen leben können.
Und das Blümchensofa, auf dem Nina gerade sitzt, haben wir sogar
zusammen ausgesucht.
„Hi Süße“, begrüßt Nina mich. „Wie
war dein Tag?“
„Hmm, geht so“, antworte
ich.
„Setz dich, Schätzelein, setz dich! Wir
müssen was mit dir besprechen. Wir haben eine ganz tolle Idee!“
Olgér hat vor Aufregung richtig rote Flecken im
Gesicht.
„Hach, mir wird ganz heiß. Das ist alles
too much aufregend“, zwitschert er und fächert sich mit einer
Zeitschrift frische Luft zu.
Oh je, was kommt denn
jetzt?
„Findet ihr wirklich, dass das eine gute
Idee ist?“, frage ich und zwirbel an meiner Lieblingshaarsträhne.
Das mache ich oft, wenn ich nachdenken muss. Ich weiß nicht, ob ich
diese Casting-Idee, von der Olgér und Nina mir gerade erzählt
haben, so gut finden soll. Hört sich irgendwie merkwürdig
an!
„Ja klar! Richtig gut ist die Idee! Das
wird bestimmt lustig und du kommst mal wieder auf andere Gedanken.
Du bist ja seit Tagen schlecht drauf! Und außerdem hast du doch
nichts zu verlieren!“, versucht Nina mich zu
überzeugen.
„Und Anja, Nina, du und ich machen mal
wieder was richtig Spannendes zusammen. So wie in alten Zeiten!
Komm schon, Schätzelein. Sag ja!“, bettelt Olgér. Erwartungsvoll
sehen die beiden mich an. Olgér setzt seinen Dackelblick auf und
klimpert mit den falschen Wimpern.
„Na gut“, seufze ich, „vielleicht wird es
wirklich lustig. Wie habt ihr euch den Ablauf denn
vorgestellt?“
….
„Und du bist dir sicher,
dass du das machen willst?“, fragt Micha, als er Volker die
Haustüre öffnet. „Ich finde die Idee ganz schön schräg! Wegen mir
musst du das nicht tun!“
Es ist Mittwochabend und die ganze
Traumprinzen-Casting-Crew sitzt in Anjas Wohnzimmer. Olgér hat
heute einen enganliegenden schwarzen Hosenanzug an, eine schwarze
Wollmütze auf dem Kopf und trägt schwarze High Heels. Alle Medien-
und Fernsehleute tragen schwarze Klamotten und Wollmützen, meint
er, und immerhin wäre das hier ja fast sowas wie ein
Fernseh-Casting und er sowas wie ein Regisseur. Too much
aufregend!
Anjas Schwester Vivien ist auch da und
lauscht gebannt Ninas Erklärungen: „Also, hört mal her Leute! Wir
machen heute erst einmal eine Art Einführung und verabreden dann
den ersten Casting Termin. Vivien, du übernimmst die Männerauswahl
in der Vorrunde. Den Recall übernimmt dann Lola
selbst.“
Nina hat einen richtigen Plan gemacht, wie
wir vorgehen sollten und welche Castingorte in Frage kommen. Aber
dafür wird natürlich technische Unterstützung benötigt. Anja hat
deshalb Volker eingeladen.
Der steht nun, bewaffnet mit einer großen
Reisetasche, im Türrahmen und grinst.
Es ist aber auch ein zu lustiges Bild, dass
sich ihm dort bietet: Der aufgestylte Olgér, der aufgeregt auf der
Sofakante herumrutscht, die dozierende Nina, die mit ihrer
Lesebrille auf der Nase tatsächlich einer Professorin gleicht, Anja
und ihre Schwester Vivien, die an Ninas Lippen kleben und eine
hübsche Frau, die etwas abseits sitzt und eine Haarsträhne zwischen
den Fingern zwirbelt. Das muss wohl Lola sein! Komisch, dass sie
keinen Mann kennenlernt. Sie sieht wirklich nett aus, denkt
Volker.
Micha hat ihn schon vorgewarnt, dass es mit
dieser Truppe anstrengend werden könnte. Aber das stört Volker
nicht. Im Gegenteil! Im Moment kommt ihm ein bisschen Abwechslung
ganz gelegen...
Ich fühle mich gerade
zugegebenermaßen etwas unwohl. Nina ist voll in ihrem Element und
erklärt den Rest ihres Casting Plans. Ich höre nur mit halbem Ohr
zu. So ganz genau will ich das lieber alles gar nicht wissen. Mein
Blick schweift zur Wohnzimmertüre und bleibt an einem Typen hängen,
der plötzlich im Türrahmen steht und frech grinst. Das muss wohl
Volker sein. Er trägt ein schwarzes Schlabber T-Shirt, Jeans und
eine schwarze Wollmütze. Über seiner Schulter hängt eine schwarze
Reisetasche. Meine Mundwinkel beginnen zu zucken.
Lustig, Olgér scheint mit seiner Meinung
über das Outfit von Medienleuten buchstäblich ins Schwarze
getroffen zu haben.
Nun haben auch die anderen den
Neuankömmling bemerkt und blicken ihn erwartungsvoll
an.
„Hi, alle zusammen! Hier kommt eure
technische Unterstützung!“, meint Volker und stellt seine
Reisetasche auf den Wohnzimmertisch.
„Na, dann zeig uns doch mal, was du Schönes
mitgebracht hast!“, Nina mustert neugierig Volkers Tasche. Volker
zieht zuerst seine Jacke aus und nimmt seine Wollmütze ab. Hervor
kommt ein dunkler, fettiger Pferdeschwanz. Ich schüttel mich. Ich
mag lange Haare bei Männern nicht leiden, schon gar nicht fettige
lange Haare. Bei Olgér ist das was anderes. Zu ihm passen lange
Haare und die sind immer sehr gepflegt. Ich sehe, wie auch Olgér
die Nase rümpft, als er Volkers Haarpracht erblickt. Sowieso sieht
Volker irgendwie ungepflegt aus, mit seinem Stoppelbart und den
formlosen, schwarzen Klamotten. Dabei hat er unter den Sachen
bestimmt keine schlechte Figur, aber was sein Äußeres betrifft, hat
er scheinbar keinen besonders guten Geschmack.
Nun öffnet Volker seine Reisetasche und
kippt den Inhalt auf den Wohnzimmertisch. Hervor kommt eine
richtige Profiausrüstung: Minikameras, Mikrofone, furchtbar viele
Kabel, … ich kenne mich nicht wirklich damit aus, aber die Geräte
sehen exklusiv und teuer aus. Nachdem wir Volkers Equipment
gebührend bestaunt haben, wollen wir natürlich alle sehen,
wie das Ganze funktioniert. Volker verkabelt Vivien so, dass eine
dritte Person nicht merkt, dass sie ein Mikrofon im Ohr trägt.
Außerdem befestigt er eine winzig kleine Kamera geschickt an
Viviens Longshirt.
„Wenn man es nicht weiß, kann man
tatsächlich nicht sehen, dass Vivien verkabelt ist!“, meint Anja
anerkennend. Nina und Olgér nicken zustimmend.
„Lasst uns mal testen, ob auch alles
funktioniert!“, erwidert Volker und klappt seinen Laptop auf. Und
schon sehen wir die Bilder, die Viviens Kamera
sendet.
„Wow, das ist ja ein richtig gutes Bild!“
Nina ist sichtlich angetan.
„Ist ja auch die neuste Minikamera, die es
auf dem Markt gibt!“, erklärt Volker stolz. „Das einzige Problem
ist, dass wir in der Nähe sein müssen. Die Reichweite ist auf circa
400 Meter begrenzt.“
„Oh, das ist ja supertoll!“, schaltet sich
nun Olgér ein. „Ich komme mir jetzt schon vor, wie in einem
richtigen Action-Film. Wir nehmen Anjas VW Bus, setzen uns alle
gemütlich hinten rein und geben Vivien unsere Anweisungen durch.
Das ist too much spannend. Wann wollen wir endlich
anfangen?“
Wir einigen uns darauf, das erste
Traumprinzen Casting am Freitag zu veranstalten. Nina hat Vivien
auf die Gästeliste einer angesagten Party setzen lassen. Durch ihre
Arbeit in einer PR Agentur war das kein großes Problem für sie.
Vivien scheint die ganze Nummer sehr zu amüsieren. Gut gelaunt
verabschiedet sie sich von uns. Mir ist ein bisschen mulmig zumute.
Ich beginne mir Sorgen zu machen, dass diese Geschichte auf meine
Kosten in einem Fiasko endet. Aber meine Einwände werden
schlichtweg überhört. Nun gut, füge ich mich halt dem Schicksal.
Diese ganze Castingnummer ist zu einem nicht mehr zu stoppenden
Selbstläufer geworden. Dann werde ich den anderen eben den Gefallen
tun und gute Miene zum bösen Castingspiel machen.
Machos und Tanzlehrer
Freitag!
Nina, Anja, Olgér, Volker und ich sitzen in
Anjas VW-Bus auf dem Parkplatz vor der Partylocation und starren
gebannt auf Volkers Laptop. Die ganze Szenerie ist etwas surreal.
Denn zwischen Volkers technischem Equipment liegen Schnuller,
benutzte Taschentücher und Kekskrümel. Gerade quietscht Olgér
erschrocken und hält seine rechte Hand in die Höhe. Daran klebt ein
halbes Fruchtbonbon.
„Tschuldigung!“, murmelt Anja
schulterzuckend. „Mein Auto ist halt ein
Familienbomber.“
„Mein Gott, was ist denn bei euch los? Ihr
müsst leiser sein! Ich wäre gerade vor Schreck fast vom Stuhl
gefallen!“, flüstert Vivien in ihr verstecktes Mikrofon. Seit
einigen Minuten ist sie auf der Party, sitzt nun an der Bar und
nippt gerade an einem Cocktail. Die versteckte Kamera an ihrem
Kleid sendet ein wirklich gutes Bild. Sogar der kleine Papierschirm
an Viviens Cocktailglas ist deutlich erkennbar.
„Darf ich dir noch einen Drink ausgeben?“, ertönt es
plötzlich.
Vivien dreht sich auf ihrem Barhocker in
die Richtung des Sprechers.
„Hi, ich bin Jens. Bist du auch alleine
hier? Ist irgendwie noch nicht so viel los!“
„Du meine Güte!“, stöhnen Anja und Olgér
wie aus einem Mund. Auf Volkers Laptop erscheint ein absolutes
Prachtexemplar von einem Mann. Oh ja, der würde mir aber gut
gefallen.
„Nina“, zische ich, „sag Vivien, sie soll
den Drink annehmen. Der Typ ist doch echt süß!“
„Sonst nehm ich ihn, wenn ihr nicht
wollt!“, seufzt Olgér.
„Tss, billige Anmache!“, wirft Volker ein,
„der will sie bloß ins Bett kriegen!“
Wir betrachten alle gespannt die
Szene.
„Wieso denkst du das?“, frage
ich.
„Ist doch ganz klar! Guckt euch doch nur
mal die Klamotten von dem Typen an. Das ist das typische
Freitagabend 'Ich reiß mir eine Braut auf'- Outfit. Das könnt ihr
echt ganz einfach testen. Lasst Vivien ein bisschen mit ihm reden
und dann soll sie ganz beiläufig erwähnen, dass sie gerade ihre
Tage hat. Ich wette mit euch, dass sich der Typ dann ganz schnell
verdrückt und eine neue Beute sucht!“, prophezeit
Volker.
„Vivien, nimm den Drink an und unterhalte
dich mit ihm. Im Gespräch lässt du dann ganz beiläufig fallen, dass
du gerade starke Regelschmerzen hast“, spricht Nina die Anweisung in das
Sendemikrofon.
„Ja, ich würde gerne noch was trinken. Ich
nehme einen Erdbeer Caipi“, zwitschert Vivien und lächelt ihr
Gegenüber kokett an.
„Einen Erdbeer Caipi für die junge Dame.
Aber pronto!“, bestellt Jens das gewünschte
Getränk.
„Bah! Was für ein Macho-Idiot!“, angeekelt
betrachtet Volker den Bildschirm.
„Psst, sei doch mal ruhig! Wir können ja
gar nichts verstehen!“, beschweren sich Nina und
Anja.
„So eine schöne Frau wie du sollte nicht
alleine an der Bar sitzen!“, flirtet Jens.
„Mein Gott, mir wird schlecht“, stöhnt
Volker.
„Psst, Volker! Sei ruhig!“ , wiederhole
ich.
„Ach, das ist ein guter Platz hier. So kann
ich sehen, wer kommt und wer geht. Und alleine bin ich ja gerade
gar nicht!“, flötet Vivien.
„Und was machst du so? Du bist bestimmt
Model, oder?“, will Jens wissen.
„Also, ich finde ihn ganz nett. Und er hat
doch Recht. Vivien modelt doch manchmal, oder nicht?“, meint
Olgér.
Ich weiß auch nicht, was Volker hat. Mir
gefällt Jens auch ganz gut.
„Oh Mann, Mädels!“, stöhnt Volker. „Das ist
doch alles nur eine Masche. Als nächstes erzählt er ihr bestimmt,
dass er irgend so ein wichtiger Manager ist und dass er sie ganz
groß rausbringen kann!“
„Ich glaube, Volker hat tatsächlich Recht.
Aber den Spieß können wir ja auch umdrehen! Passt mal auf, jetzt
wird es lustig!“, grinst Nina.
„Vivien, sag ihm, dass du glaubst, dass er
selber modelt. Sag ihm, dass du eine berühmte Mode Agentin bist und
ihn ganz groß rausbringen kannst!“
„Oh, du kennst dich aus! Stimmt, ich habe
früher gemodelt. Aber jetzt gehört mir eine sehr bekannte Agentur.
Als männliches Model könnte ich dich ganz groß rausbringen!“, meint
Vivien und klopft Jens gönnerisch auf den Bauch. „Ein bisschen
trainieren müsstest du noch, aber das kriegen wir hin. So vier,
fünf Kilo weniger und ich bekomme dich bestimmt gut
verkauft!“
Perplex starrt Jens Vivien
an.
„Nee, nee, ich modele nicht. Ich bin
Investment Banker!“
„Ach so, na du kannst es dir ja mal
überlegen. Deiner Branche geht es doch gerade nicht so gut, oder?
Ich brauche jetzt mal ein Glas Wasser! Diese Regelschmerzen bringen
mich noch um. Gut, dass ich meine Tabletten dabei habe“, Vivien
hält sich theatralisch den Unterleib. Jens blickt pikiert zur
Seite.
„Oh, ich sehe da kommen gerade meine
Freunde. Du, das war nett dich kennengelernt zu haben. Schönen
Abend noch!“ Und schon ist Jens verschwunden.
„Und ich hatte Recht! Ätschbätsch!“ Volker
tanzt einen kleinen Freudentanz im VW Bus.
„Ja, ja, Schätzelein. Spiel dich nicht so
auf! Das war ein Glückstreffer!“, Olgér macht eine wegwerfende
Handbewegung. „Ich muss jetzt leider los. Bin noch
geschäftlich zum Essen verabredet. Haltet mich auf dem Laufenden
und sucht was Vernünftiges aus, hört ihr?!“
Er öffnet die Wagentüre und wirft zum
Abschied allen eine Kusshand zu.
Nina guckt Volker böse an und spricht dann
ins Mikrofon:
„Nächster Versuch, Vivien! Verlass mal
deinen Posten und schau dich ein bisschen um!“
Vivien steht auf und geht durch den Raum.
Leute verschiedenen Alters stehen herum und unterhalten sich mehr
oder weniger angeregt. Die Musik ist gedämpft. Langsam füllt sich
die Party. Plötzlich sehe ich auf dem Bildschirm ein
männliches Wesen, das genau in mein Beuteschema
passt.
„Daaa! Stopp!“, schreie
ich.
Vivien zuckt zusammen. „Mann, seid ihr
irre? Ich bekomme jedes Mal einen Riesenschrecken, wenn einer von
euch so rumschreit!“, schimpft sie leise in ihr
Mikrofon.
Ich nehme Nina das Sendemikro aus der
Hand.
„Entschuldigung, Vivien! Aber kannst du nochmal ein
kleines Stück zurückgehen? Der Typ da hinten bei der Palme, der
gefällt mir!“
Vivien dreht sich in die gewünschte
Richtung. An einer künstlichen Palme lehnt ein braungebrannter,
dunkelhaariger Mann und blickt sich gelangweilt
um.
Nina reißt mir das Mikro wieder aus der
Hand.
„Vivien, Eheringcheck!“
„Kein Ring!“, wispert
Vivien.
„Ich weiß nicht, irgendwas an dem ist
komisch“, zweifelt Volker.
„Ach, du schon wieder!“, stöhnt Nina
genervt.
Vivien stellt sich
neben den Mann und beginnt ihn in ein Gespräch zu
verwickeln.
„Der scheint doch nett zu sein! Und seht
mal, wie süß er lächelt“, urteilt Anja nach einer
Weile.
„Finde ich auch!“, stimme ich zu. „Und er
ist auch gar nicht so aufdringlich wie dieser Jens
vorhin.“
„Ich weiß nicht ...“, setzt Volker an, doch
er kommt nicht dazu, den Satz zu beenden.
„Ruhe!“, befiehlt Nina. „Zweite Runde?“,
fragt sie dann und sieht Anja und mich dabei an. Volkers
Augenrollen ignoriert sie einfach.
„Zweite Runde“, nicken
wir.
„Vivien, der scheint echt nett zu sein.
Unterhalte dich noch ein bisschen und lass dir dann seine
Telefonnummer geben. Sag ihm, du müsstest leider schon gehen,
würdest ihn aber gerne noch einmal treffen.“
Vivien blickt auf ihre
Uhr.
„Ach, wie schade! Ich muss schon los. Ich
bin noch mit einer Freundin verabredet. Hast du Lust, mir deine
Telefonnummer zu geben? Ich würde mich gerne mal mit dir
treffen!“
„Klar, gerne“, kommt die Antwort und der
Braungebrannte reicht Vivien seine Visitenkarte. Vivien hält sie
ganz nah an die versteckte Kamera.
Stefan von Lambert
Tanzlehrer
Tanzschule Lambert/Müller
Tel: 0197/552552
steht auf der
Karte.
„Oh, ein Tanzlehrer. Das ist toll!
Vielleicht lerne ich dann endlich mal richtig Tanzen, so wie die
Leute in dieser Show im Fernsehen“, freue ich mich. Tanzen ist
nämlich nicht gerade meine Stärke. So alleine für mich zu Musik
abzappeln, kann ich zwar ganz passabel, aber sobald mir jemand
irgendwelche Schritte beibringen will, setzt bei mir komplett das
Gehirn aus. Das heißt, ich bin für Paartanzen absolut nicht
geeignet, wie ich schon einige Male bewiesen habe. Die
leidgeplagten Herren hatten nach einem Tanz mit mir Plattfüsse,
sooft wie ich ihnen auf dieselbigen getreten bin. Dabei würde ich
super gerne richtig tanzen können. Und so ein privater Tanzlehrer,
das hat doch was. So wie bei Babe in Dirty Dancing. Verträumt
blicke ich aus dem Fenster.
„Echt Mädels, der Typ ist irgendwie
komisch“, wirft Volker ein und holt mich zurück auf den Boden der
Realität. Was hat er bloß für ein Problem?
Einige Zeit später klopft es an die Türe
des VW-Bus. Vivien steht draußen und grinst über beide
Backen.
„Na, wie war ich?“, will sie
wissen.
„Phänomenal! Du solltest lieber
schauspielern statt modeln“, antwortet Nina.
Vivien fühlt sich geschmeichelt. „Der
Erste, dieser Jens, war echt ein Volltrottel! Aber Stefan scheint
ganz nett zu sein.“
„Ich wäre wahrscheinlich auf Jens
reingefallen“, gebe ich zu. „Solchen Typen begegne ich ständig.
Stefan gefiel mir aber auch. Der war so höflich und zuvorkommend
und er sah auch ganz nett aus!“
„Gut, einen für den Recall haben wir schon
mal. Aber das reicht ja noch lange nicht! Das nächste Treffen ist
am Mittwoch zur Mittagspause im Sapiano. Das ist
mittags der Treffpunkt für alle Business People, die ihre Dates für
den Abend klar machen wollen. Volker, du hast ja gesagt, du kannst
am Mittwoch. Kann irgendjemand nicht kommen?“, fragt Nina in die
Runde.
„Olgér kann mittwochs nicht, da hat er immer seinen
Pilates Kurs in der Mittagspause“, werfe ich ein.
„Ich kann auch nicht! Hannah ist nur bis 12
Uhr in der Krippe und mit ihr zusammen macht es keinen Sinn! Da
können wir uns null konzentrieren“, meint Anja.
Nina überlegt kurz und erwidert dann: „Na
gut, bleiben noch Volker, Vivien, Lola und ich. Den nächsten Termin
legen wir dann wieder auf das Wochenende, damit ihr auch dabei sein
könnt!“
Ich seufze erleichtert. Ehrlicherweise
hatte ich mir das ganze Casting Thema viel schlimmer vorgestellt.
Aber so furchtbar ist es eigentlich gar nicht. Ich ertappe mich
dabei, wie ich mich schon ein bisschen auf den nächsten Termin
freue. Beschwingt fahre ich nach Hause.
Olgér erwartet mich schon und will alle
Einzelheiten wissen. Ich erzähle ihm von Stefan, dem Tanzlehrer.
„Oh, das ist toll! Da gehen wir zusammen hin! Ich wollte auch immer
schon mal richtig tanzen lernen!“ Olgér dreht sich im Kreis und
verbeugt sich vor einem imaginären Publikum. „Wir sollten uns als
Tanzpaar anmelden, das ist die perfekte Tarnung!“, meint er. Ich
stimme ihm zu. Die Idee ist gut. Dann können wir so eine Art Recall
in Stefans Tanzschule machen und müssen auch nicht erklären, warum
ich anstelle von Vivien auf einmal ins Spiel komme. Ich beschließe
gleich morgen in der Tanzschule anzurufen und ein privates
Probetraining für Olgér und mich zu vereinbaren. Mal sehen, wie
Nina und Anja die Idee finden. Olgér gähnt. Nach seiner Tanzeinlage
ist er ziemlich müde und will ins Bett. Ich bin noch total
aufgedreht und beschließe deshalb gleich mal ein paar Punkte auf
meiner Liste abzuarbeiten. Die Liste
klebt mit einem Klebestreifen an meinem
Wandspiegel um mich, immer wenn ich in den Spiegel sehe, an Dinge
zu erinnern die ich gerne aufschiebe, weil sie mir unangenehm sind.
Zum Beispiel meine Steuererklärung machen oder Frau Huber, die über
uns wohnt sagen, dass sie gefälligst die Kacke von ihrem Dackel vor
der Haustüre zukünftig wegmachen soll oder mit meiner
Wüstenrennmaus Herkules zum Tierpsychologen gehen oder bei dem
Tiefkühlpizzen-Hersteller anrufen und mich beschweren, dass ich
keinen einzigen Ring gewonnen habe. An guten Tagen suche ich mir
einen Punkt auf der Liste
aus und arbeite ihn ab. Heute ist
eigentlich ein guter Tag. Also, mal sehen:
- Steuererklärung: Nein so gut ist der Tag
dann doch nicht!
- Frau Huber: Schläft wohl
schon.
- Tierpsychologe: Hat nicht mehr
geöffnet.
- Tiefkühlpizzen-Hersteller: Hat eine
Hotline, da werde ich jetzt mal anrufen und mich ordentlich
beschweren!
So, jetzt nur noch eine leere Pizza Packung
aus dem Müll holen und die Nummer suchen.
Gefunden!
Ich mache eine Flasche Wein auf und trinke
mir erst mal ein bisschen Mut an. Dann greife ich zum Hörer und
wähle die Nummer auf der Packung.