Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein seidenes Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden mußte.
Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.
Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an.
Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande.
Überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.
Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein, recht glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zugedacht hatte.
Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand.
Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte.
Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen wäre, ihren Haß zu erregen.
Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.
Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu.
Es war das erstemal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemühte.
Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter, glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.
Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen.
Sie war so oft Braut genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit für ihren Bräutigam galt.
Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlöbnis nicht beschleunigt worden.
Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.
Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen.
Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schönen Nachbarin abermals entgegen.
Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie umgab, in Übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise.
Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingestehn, halb willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig.
Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlaß.
Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.
Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten Maß.
Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten Verhältnissen stand.
Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus.
Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.
Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.
Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn immer geliebt habe.
Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will.
Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah.
Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab.
Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.
Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu wirken.
Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so heftig Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermählen.
Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören, sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.
Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin.
Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.
Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von Mancherlei Festen erschöpft.
Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden wäre.
Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte.
Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt.
Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.
Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an Geistes- und Glücksspielen zu ergötzen.
Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flußbette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser zubereiteten.
Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge.
In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren.
Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.
»Nimm dies zum Andenken!« rief sie aus.
»Störe mich nicht!« rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; »ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit«.
–»Ich störe dich nicht weiter«, rief sie; »du siehst mich nicht wieder!« Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang.
Einige Stimmen riefen: »rettet!
Rettet!
Sie ertrinkt«.
Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.
Über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser und schwamm der schönen Feinden nach.
Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist und es zu behandeln weiß.
Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es.
Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er faßte sie, wußte sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten und der Fluß wieder breit und gemächlich zu fließen anfing.
Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen, buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluß verlief.
Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spüren.
Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs Gebüsch lief, in die Augen leuchtete.
Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine einsame Wohnung und erreichte sie.
Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar.
Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus.
Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet.
Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell herbeigetragen.
Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung.
Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder ins Leben zu rufen.
Es gelang.
Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen.
So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung.
»Willst du mich verlassen«, rief sie aus, »da ich dich so wiederfinde?« »Niemals«, rief er, »niemals!« und wußte nicht, was er sagte noch was er tat.
»Nur schone dich«, rief er hinzu, »schone dich!
Denke an dich um deinet- und meinetwillen«.
Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie war.
Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber sie entließ ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch war, was ihn umgab, naß und triefend.
Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden.
In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern geputzt.
Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und fielen sich mit unmäßiger Leidenschaft, und doch halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme.
Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken völlig wieder her, und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.
Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem Augenblick der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren.
Hiebei muß das Herz das Beste tun, wenn eine solche Überraschung ertragen werden soll.
Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wiederbegegnen wollten.
»Sollen wir fliehen?
Sollen wir uns verbergen?« sagte der Jüngling.
»Wir wollen zusammenbleiben«, sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.
Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer.
Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe losgebracht worden.
Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen wiederzufinden.
Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhörte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie landeten!
Die Eltern der beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen.
Kaum hatten sie vernommen, daß die lieben Kinder gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor.
Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren.
»Wenn seh ich?« riefen die Mütter.
»Was seh ich?« riefen die Väter.
Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder.
»Eure Kinder!« riefen sie aus, »ein Paar«.
–»Verzeiht!« rief das Mädchen.
»Gebt uns Euren Segen!« rief der Jüngling.
»Gebt uns Euren Segen!« riefen beide, da alle Welt staunend verstummte.
»Euren Segen!« ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!
Der Erzählende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt, als er bemerken mußte, daß Charlotte höchst bewegt sei; ja sie stand auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die Geschichte war ihr bekannt.
Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer erzählte, doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt, nur im einzelnen mehr ausgebildet und ausgeschmückt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die Phantasie eines geist- und geschmackreichen Erzählers durchgehen.
Es bleibt zuletzt meist alles und nichts, wie es war.
Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten, und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar Verwandtes erzählt worden.
»Wir müssen uns hüten«, fuhr er fort, »daß wir nicht noch mehr Übles stiften.
Für das viele Gute und Angenehme, das wir hier genossen, scheinen wir den Bewohnerinnen wenig Glück zu bringen; wir wollen uns auf eine schickliche Weise zu empfehlen suchen«.
»Ich muß gestehen«, versetzte der Begleiter, »daß mich hier noch etwas anderes festhält, ohne dessen Aufklärung und nähere Kenntnis ich dieses Haus nicht gern verlassen möchte.
Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer durch den Park zogen, viel zu beschäftigt, sich einen wahrhaft malerischen Standpunkt auszuwählen, als daß Sie hätten bemerken sollen, was nebenher vorging.
Sie lenkten vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenüber anbot.
Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem Kahne dorthin begeben zu dürfen.
Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit der schönen Schifferin.
Ich versicherte ihr, daß ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten Mädchen die Stelle des Fährmanns vertreten, nicht so angenehm sei über die Wellen geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen; denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von ängstlicher Verlegenheit.
›Wenn Sie mich nicht auslachen wollen‹, versetzte sie freundlich, ›so kann ich Ihnen darüber wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst für mich dabei ein Geheimnis obwaltet.
Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich ein ganz eigener Schauer überfallen hätte, den ich sonst nirgends empfinde und den ich mir nicht zu erklären weiß.
Ich vermeide daher lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen, um so mehr, als sich gleich darauf ein Kopfweh an der linken Seite einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide‹.
Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte.
Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur von Steinkohlen entdeckte, die mich überzeugt, man würde bei einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden. Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie lächeln und weiß recht gut, daß Sie mir eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen; aber es ist mir unmöglich, von hier zu scheiden, ohne das schöne Kind auch die Pendelschwingungen versuchen zu lassen«.
Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord nicht seine Gründe dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung, bei seinen Wünschen verharrte.
Auch er gab wiederholt zu erkennen, daß man deswegen, weil solche Versuche nicht jedermann gelängen, die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müßte, da sich gewiß noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien.
Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern metallischen Substanzen, den er in einem schönen Kästchen immer bei sich führte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Fäden schwebend, über liegende Metalle zum Versuche nieder.
»Ich gönne Ihnen die Schadenfreude, Mylord«, sagte er dabei, »die ich auf Ihrem Gesichte lese, daß sich bei mir und für mich nichts bewegen will.
Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand.
Wenn die Damen zurückkehren, sollen sie neugierig werden, was wir Wunderliches hier beginnen«.
Die Frauenzimmer kamen zurück.
Charlotte verstand sogleich, was vorging.
»Ich habe manches von diesen Dingen gehört«, sagte sie, »aber niemals eine Wirkung gesehen.
Da Sie alles so hübsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es mir nicht auch anschlägt«.
Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn stet und ohne Gemütsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken war zu bemerken.
Darauf ward Ottilie veranlaßt.
Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangener, unbewußter über die unterliegenden Metalle.
Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja über alle seine Erwartung.
Der Lord selbst stutzte einigermaßen, aber der andere konnte vor Lust und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Versuche.
Ottilie war gefällig genug, sich in sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte, er möge sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich wieder einstelle.
Er, darüber verwundert, ja entzückt, versicherte ihr mit Enthusiasmus, daß er sie von diesem Übel völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart anvertraue.
Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber, die geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte.
Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf eine sonderbare Weise berührt worden war, doch den Wunsch zurückgelassen, daß man sie irgendwo wieder antreffen möchte.
Charlotte benutzte nunmehr die schönen Tage, um in der Nachbarschaft ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre bloß der Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten.
Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe, jeder Sorgfalt wert.
Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, höchst erfreulich dem Anblick, an Größe, Ebenmaß, Stärke und Gesundheit; und was noch mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte Ähnlichkeit, die sich immer mehr entwickelte.
Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden.
Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch das schöne Gefühl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward Ottilie dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder vielmehr eine andre Art von Mutter.
Entfernte sich Charlotte, so blieb Ottilie mit dem Kinde und der Wärterin allein.
Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersüchtig auf den Knaben, dem ihre Herrin alle Neigung zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Eltern zurückgekehrt.
Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen, und gewöhnte sich an immer weitere Spaziergänge.
Sie hatte das Milchfläschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es nötig, seine Nahrung zu reichen.
Selten unterließ sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie, das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar anmutige Penserosa.
Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen geschmückt, rühmlich entlassen.
Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne daß sie es bemerkten und wußten, scharf hatte beobachten lassen.
Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen; denn man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet, gebessert und gefördert, sodaß die Anlagen und Umgebungen, was ihnen an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunächst Genießbare ersetzten.
Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte gewöhnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszuführen, was er lange genug zu überdenken Zeit gehabt hatte.
Vor allen Dingen berief er den Major.
Die Freude des Wiedersehens war groß.
Jugendfreundschaften wie Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden Vorteil, daß ihnen Irrungen und Mißverständnisse, von welcher Art sie auch seien, niemals von Grund aus schaden und die alten Verhältnisse sich nach einiger Zeit wiederherstellen.
Zum frohen Empfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wünschen ihn das Glück begünstigt habe.
Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob nicht auch eine schöne Verbindung im Werke sei.
Der Freund verneinte es mit bedeutendem Ernst.
»Ich kann und darf nicht hinterhaltig sein«, fuhr Eduard fort; »ich muß dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken.
Du kennst meine Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen, daß sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat.
Ich leugne nicht, daß ich gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das mir ohne sie nichts weiter nütze war; allein zugleich muß ich dir gestehen, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln.
Das Glück mit ihr war so schön, so wünschenswert, daß es mir unmöglich blieb, völlig Verzicht darauf zu tun.
So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden.
Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Händen.
›So will ich mich denn selbst‹, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte soviel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, ›mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung möglich sei oder nicht.
Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer, der zu leben hofft.
Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeder belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe.
Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren‹.
Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege steht.
Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausführung liegt, kann ich nur für nichts bedeutend ansehen«.
»Du löschest«, versetzte der Major, »mit wenig Zügen alles aus, was man dir entgegensetzen könnte und sollte; und doch muß es wiederholt werden.
Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurückzurufen, überlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln.
Wie kann ich aber nur gedenken, daß euch ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich auszusprechen, daß ihr einander auf immer angehört, daß ihr um dieses Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr vereint für seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget«. »Es ist bloß ein Dünkel der Eltern«, versetzte Eduard, »wenn sie sich einbilden, daß ihr Dasein für die Kinder so nötig sei.
Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihülfe; und wenn der Sohn nach dem frühen Tode des Vaters keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat, so gewinnt er vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung für die Welt, durch zeitiges Anerkennen, daß er sich in andere schicken muß, was wir denn doch früher oder später alle lernen müssen.
Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf Ein Haupt so viele Güter zu häufen«.
Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard hastig in die Rede: »wir haben eine Torheit begangen, die ich nur allzuwohl einsehe.
Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen realisieren will, betriegt sich immer; denn jedes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten.
Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird!
Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben sein?
Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen?
In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück, und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Komplex des Lebens die Rede ist!« Der Major verfehlte nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrückliche Weise Eduarden die verschiedenen Bezüge zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgendeine Teilnahme zu erregen.
»Alles dieses, mein Freund«, erwiderte Eduard, »ist mir vor der Seele vorbeigegangen, mitten im Gewühl der Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts und links die Gefährten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen Feuer unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels.
Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht, durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun für immer.
In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis; und gehören wir denn nicht schon lange zueinander?
Wenn ich dir etwas schuldig geworden, so komme ich jetzt in den Fall, dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden, so siehst du dich nun imstande, mir es zu vergelten.
Ich weiß, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiß, du bist ihr nicht gleichgültig, und warum sollte sie deinen Wert nicht erkennen!
Nimm sie von meiner Hand, führe mir Ottilien zu!
Und wir sind die glücklichsten Menschen auf der Erde«.
»Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst«, versetzte der Major, »muß ich desto vorsichtiger, desto strenger sein.
Anstatt daß dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern möchte, erschwert er sie vielmehr.
Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweier Männer, die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu erscheinen«.
»Eben daß wir unbescholten sind«, versetzte Eduard, »gibt uns das Recht, uns auch einmal schelten zu lassen.
Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen würde.
Was mich betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich mir auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich und Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten.
Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig; will man mich mir selbst überlassen oder mir wohl gar entgegen sein, so muß ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle«.
Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als möglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die Form, den Geschäftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte.
Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche hervor, daß sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fühlte.
»Ich sehe wohl«, rief dieser endlich, »nicht allein von Feinden, sondern auch von Freunden muß, was man wünscht, erstürmt werden.
Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergreifen und gewiß bald und behende.
Dergleichen Verhältnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und bilden sich nicht, ohne daß manches falle, was steht, ohne daß manches weiche, was zu beharren Lust hat.
Durch Überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale läßt sich immer wieder ein Gegengewicht legen.
Entschließe dich also, mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen!
Laß dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal von uns reden, uns sodann, wie alles übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und uns gewähren lassen, wie wir können, ohne weitern Teil an uns zu nehmen«.
Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß Eduard ein für allemal die Sache als etwas Bekanntes und Vorausgesetztes behandelte, daß er, wie alles anzustellen sei, im einzelnen durchsprach und sich über die Zukunft auf das heiterste, sogar in Scherzen erging.
Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: »wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung überlassen, daß alles sich von selbst wieder finden, daß der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so wäre dies ein sträflicher Selbstbetrug.
Auf diese Weise können wir uns unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wiederherstellen; und wie sollte ich trösten können, da ich unschuldig die Schuld an allem bin!
Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veränderung bei uns eingetreten.
Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die Verhältnisse zu unserm Glücke zu leiten.
Magst du die Augen von den schönen und freundlichen Aussichten abwenden, die ich uns eröffne, magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Entsagen gebieten, insofern du dirs möglich denkst, insofern es möglich wäre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen, in die alten Zustände zurückzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu übertragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entspränge?
Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu besuchen, mit mir zu leben?
Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer peinlich sein.
Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns nur in einer traurigen Lage befinden.
Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, daß Jahre, daß Entfernung solche Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Züge auslöschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will.
Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch unserm äußern und innern Zustande nach das allenfalls abwarten könnten, was soll aus Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten, kalten Welt jämmerlich herumdrücken müßte!
Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich, ohne uns glücklich sein könnte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben, das stärker ist als jedes andre, das ich, wenn ichs auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in Betrachtung und Überlegung ziehen will«.
Diese Aufgabe war so leicht nicht zu lösen, wenigstens fiel dem Freunde hierauf keine hinlängliche Antwort ein, und es blieb ihm nichts übrig, als wiederholt einzuschärfen, wie wichtig, wie bedenklich und in manchem Sinne gefährlich das ganze Unternehmen sei, und daß man wenigstens, wie es anzugreifen wäre, auf das ernstlichste zu bedenken habe.
Eduard ließ sichs gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn der Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie über die Sache völlig einig geworden und die ersten Schritte getan seien.
Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen.
Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb.
Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe.
Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne Rückhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben ausmalte.
Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr.
Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen.
Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wünschten; eine Scheidung war gewiß zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reisen.
Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu genießen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu prüfen und zu bestätigen hoffen.
Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und die irdischen wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten, daß alle Teile zufrieden sein könnten.
Worauf jedoch Eduard am allermeisten zu fußen, wovon er sich den größten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da das Kind bei der Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben erziehen, ihn nach seinen Einsichten leiten, seine Fähigkeiten entwickeln können.
Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen Namen Otto gegeben.
Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, daß er keinen Tag länger anstehen mochte, der Ausführung näherzutreten.
Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein Haus besaß, wo er verweilen und die Rückkunft des Majors abwarten wollte.
Doch konnte er sich nicht überwinden, daselbst sogleich abzusteigen, und begleitete den Freund noch durch den Ort.
Sie waren beide zu Pferde, und in bedeutendem Gespräch verwickelt ritten sie zusammen weiter.
Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen.
Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein.
In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung ihrer Gesinnung nötigen.
Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte nicht anders, als daß er ihren entschiedenen Wünschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte.
Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem Lauernden schnell verkündigt würde, sollten einige Kanonenschläge losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen.
Der Major ritt nach dem Schlosse zu.
Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr vielmehr, daß sie gegenwärtig oben auf dem neuen Gebäude wohne, jetzt aber einen Besuch in der Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht so bald nach Hause komme.
Er ging in das Wirtshaus zurück, wohin er sein Pferd gestellt hatte.
Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und rein erblickte.
Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht.
Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit.
So gelangte sie zu den Eichen bei der Überfahrt.
Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr zu lesen.
Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen.
Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, daß sie zu Lande noch einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe; aber sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, daß die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen.
Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.
Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.
Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen.
Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen.
Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden.
Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiß auch nie an der seinigen.
Er bitte sie um ihre Einwilligung.
Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin.
Eduard erblickt es und staunt.
»Großer Gott!« ruft er aus, »wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen.
Ist dies nicht die Bildung des Majors?
Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen«.
»Nicht doch!« versetzte Ottilie; »alle Welt sagt, es gleiche mir«.
–»Wär es möglich?« versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich.
Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen.
Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien.
»Du bists!« rief er aus, »deine Augen sinds.
Ach!
Aber laß mich nur in die deinigen schaun.
Laß mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab.
Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken, daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz drücken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können?
Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muß, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen?
Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt!
Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen.
Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!«
»Horch!« rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hören glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.
Es war ein Jäger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte.
Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.
Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte.
Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.
»Entferne dich, Eduard!« rief Ottilie«.
»O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.
Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind.
Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vorgreifen.
Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir entsagen.
Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns erwarten.
Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet.
Wie manches kann vorkommen, das eine Erklärung fordert.
Ist es wahrscheinlich, daß ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg seiner Unterhandlungen verkünde?
Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick.
Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann ihr entgegengegangen sein, denn man wußte, wo sie hin war.
Wie vielerlei Fälle sind möglich!
Laß mich!
Jetzt muß sie kommen.
Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben«.
Ottilie sprach in Hast.
Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen.
sie war glücklich In Eduards Nähe und fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen müsse.
»Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!« rief sie aus, »kehre zurück und erwarte den Major!« »Ich gehorche deinen Befehlen«, rief Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme schloß.
Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste an ihre Brust.
Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.
Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.
Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht um den See.
Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen.
Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Haaren nach dem Kinde.
Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt.
Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen.
Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen, verschwindet in diesem Drange.
Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.
Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.
Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.
In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz.
Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen!
Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente.
Sie sucht Hülfe bei sich selbst.
So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört.
Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt.
Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand.
Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach!
Und kein Lebendiges.
Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz.
Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben.
Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind. Alles vergebens!
Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüt sie nicht hülflos.
Sie wendet sich nach oben.
Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht.
Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt.
Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen.
Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach dem Platanen.
Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie übergibt ihm das Kind.
Der auf alles gefaßte Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise nach gewohnter Art.
Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das höchste Unglück wie das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände; und nur, als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verläßt sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dies alles geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten, so fällt sie, ohne den Sofa erreichen zu können, erschöpft aufs Angesicht über den Teppich hin.
Eben hört man Charlotten vorfahren.
Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurückzubleiben, er will ihr entgegnen, sie vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer.
Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Mädchen des Hauses stürzt ihr mit Geschrei und Weinen entgegen.
Der Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal.
Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben!
Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu täuschen.
Sie hat sich auf ihren Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundin Kniee herangehoben, über die ihr schönes Haupt hingesenkt ist.
Der ärztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemühen, er bemüht sich um die Frauen.
So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer.
Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben zurückkehre; sie verlangt es zu sehen.
Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist frei; ruhig und schön liegt es da.
Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich bis nach dem Gasthof erschollen.
Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Angebäude etwas zu holen lief, verschaffte er sich nähere Nachricht und ließ den Chirurgen herausrufen.
Dieser kam, erstaunt über die Erscheinung seines alten Gönners, berichtete ihm die gegenwärtige Lage und übernahm es, Charlotten auf seinen Anblick vorzubereiten.
Er ging hinein, fing ein ableitendes Gespräch an und führte die Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwärtigte, dessen gewisse Teilnahme, dessen Nähe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche übergehen ließ.
Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tür, er wisse alles und wünsche eingelassen zu werden.
Der Major trat herein; ihn begrüßte Charlotte mit einem schmerzlichen Lächeln.
Er stand vor ihr.
Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so saßen sie gegeneinander über, schweigend, die Nacht hindurch.
Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie atmete sanft; sie schlief, oder sie schien zu schlafen.
Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus einem dumpfen Traum zu erwachen.
Charlotte blickte den Major an und sagte gefaßt: »erklären Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um teil an dieser Trauerszene zu nehmen?« »Es ist hier«, antwortete der Major ganz leise, wie sie gefragt hatte als wenn sie Ottilien nicht aufwecken wollten, »es ist hier nicht Zeit und Ort, zurückzuhalten, Einleitungen zu machen und sachte heranzutreten.
Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, daß das Bedeutende selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert verliert«.
Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung, insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens, insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war.
Er trug beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hörte gelassen zu und schien weder darüber zu staunen noch unwillig zu sein.
Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser Stimme, sodaß er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken: in einem Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in ähnlichen habe ich mir immer gesagt: wie wird es morgen sein?
Ich fühle recht wohl, daß das Los von mehreren jetzt in meinen Händen liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir außer Zweifel und bald ausgesprochen.
Ich willige in die Scheidung.
Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet.
Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.
Doch was sag ich!
Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg bringen.
Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammengedacht?
Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern gesucht?
Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans?
Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden?
Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre Gattin glücklich gemacht hätte?
Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde!
Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewußtsein erwacht.
Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat?
Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt.
Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles zu ersetzen.
An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.
Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major.
Sagen Sie Eduarden, daß ich in die Scheidung willige, daß ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten überlasse, daß ich um meine künftige Lage unbekümmert bin und es in jedem Sinne sein kann.
Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich bedenke, daß ich berate«.
Der Major stand auf.
Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg.
Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand.
»Und für mich, was darf ich hoffen?« lispelte er leise.
»Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben«, versetzte Charlotte.
»Wir haben nicht verschuldet, unglücklich zu werden, aber durch nicht verdient, zusammen glücklich zu sein«.
Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können.
Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene.
So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte.
Er wußte bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre.
Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell den Entschluß seiner Gattin verkündigte, wieder nach jenem Dorfe und sodann nach der kleinen Stadt zurückzukehren, wo sie das Nächste überlegen und einleiten wollten.
Charlotte saß, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete Ottilie sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend.
Erst erhob sich von dem Schoße, dann von der Erde und stand vor Charlotten.
»Zum zweitenmal« so begann das herrliche Kind mit einem unüberwindlichen, anmutigen Ernst»zum zweitenmal widerfährt mir dasselbe.
Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft Ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.
Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis zu machen.
Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemel an dich gerückt; du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte.
Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und, wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst mich bewußt fühlte.
Damals sprachst du mit einer Freundin über mich; du bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du schildertest meine abhängige Lage und wie mißlich es um mich stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte.
Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst.
Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.
Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren, und nach einem schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand auf, der jammervoller ist als der erste.
Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr; ich vernehme, wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere über mich selbst; aber wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Totenschlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.
Ich bin entschlossen, wie ichs war, und wozu ich entschlossen bin, mußt du gleich erfahren.
Eduards werd ich nie!
Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin.
Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!
Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maßregeln.
Laß den Major zurückkommen; schreibe ihm, daß keine Schritte geschehen.
Wie ängstlich war mir, daß ich mich nicht rühren und regen konnte, als er ging.
Ich wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so frevelhaften Hoffnungen entlassen«.
Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte durch Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen.
Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: »nein!« rief Ottilie mit Erhebung; »sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen!
In dem Augenblick, in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung gewilligt, büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen«.
Wenn sich in einem glücklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte, Freunde, Hausgenossen, mehr als nötig und billig ist, von dem unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander ihre Vorsätze, Unternehmungen, Beschäftigungen wiederholt mitteilen und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleichsam ratschlagend behandeln, so findet man dagegen in wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch bedürfe fremden Beistandes, fremder Bestätigung am allermeisten, daß sich die einzelnen auf sich selbst zurückziehen, jedes für sich zu handeln, jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander die einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das Erreichte wieder zum Gemeingut werden.
Nach so viel wundervollen und unglücklichen Ereignissen war denn auch ein gewisser stiller Ernst über die Freundinnen gekommen, der sich in einer liebenswürdigen Schonung äußerte.
Ganz in der Stille hatte Scharlotte das Kind nach der Kapelle gesendet.
Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.
Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes bedurfte.
Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu lassen.
Sie wußte, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte nach und nach die Szene, die dem Unglück vorhergegangen war, herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils durch Briefe des Majors erfahren.
Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das augenblickliche Leben.
Sie war offen, ja gesprächig, aber niemals war von dem Gegenwärtigen oder kurz Vergangenen die Rede.
Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wußte viel; das kam jetzt alles zum Vorschein.
Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer die stille Hoffnung nährte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.
Allein bei Ottilien hing es anders zusammen.
Sie hatte das Geheimnis ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie war von ihrer frühen Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden.
Durch ihre Reue, durch ihren Entschluß fühlte sie sich auch befreit von der Last jenes Vergehens, jenes Mißgeschicks.
Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerläßlich. So verfloß einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen- und Baumgruppen nur traurige Empfindungen täglich in ihnen beiden erneuerten.
Daß man den Ort verändern müsse, war allzu deutlich, wie es geschehen solle, nicht so leicht zu entscheiden.
Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben?
Eduards früherer Wille schien es zu gebieten, seine Erklärung, seine Drohung es nötig zu machen; allein wie war es zu verkennen, daß beide Frauen mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anstrengung sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden?
Ihre Unterhaltungen waren vermeidend.
Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, öfters wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand, wenigstens durch die Empfindung mißdeutet.
Man fürchtet sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am ersten verletzbar und verletzte am ersten.
Wollte man den Ort verändern und sich zugleich, wenigstens auf einige Zeit, voneinander trennen, so trat die alte Frage wieder hervor, wo sich Ottilie hinbegeben solle.
Jenes große, reiche Haus hatte vergebliche Versuche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtochter unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen zu verschaffen.
Schon bei der letzten Anwesenheit der Baronesse und neuerlich durch Briefe war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden; jetzt brachte sie es abermals zur Sprache.
Ottilie verweigerte aber ausdrücklich, dahin zu gehen, wo sie dasjenige finden würde, was man große Welt zu nennen pflegt.
»Lassen Sie mich, liebe Tante«, sagte sie, »damit ich nicht eingeschränkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen, was zu verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht wäre.
Ein seltsam unglücklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos wäre, ist auf eine fürchterliche Weise gezeichnet.
Seine Gegenwart erregt in allen, die ihn sehen, die ihn gewahr werden, eine Art von Entsetzen.
Jeder will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder ist neugierig und ängstlich zugleich.
So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure Tat geschehen, jedem furchtbar, der sie betritt.
Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren.
Wie groß und hoch vielleicht zu entschuldigen ist gegen solche Unglückliche die Indiskretion der Menschen, ihre alberne Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmütigkeit!
Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Mädchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm beschäftigte, es in der besten Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte, als das arme Kind bange und immer bänger zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt, aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Unglückselige ward, da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefühl, so wahr und lebhaft, ist noch lebendig.
Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hüten, daß ich nicht zu ähnlichen Auftritt Anlaß gebe«.
»Du wirst aber, liebes Kind«, versetzte Charlotte, »dem Anblick der Menschen dich nirgends entziehen können.
Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche Gefühle zu finden war«.
»Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante«, versetzte Ottilie.
»Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir tätig sein können.
Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entschieden ist.
Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich.
Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die göttlichen nicht zu scheuen brauche«.
»Ich müßte mich sehr irren«, versetzte Charlotte, »wenn deine Neigung dich nicht zur Pension zurückzöge«.
»Ja«, versetzte Ottilie, »ich leugne es nicht; ich denke es mir als eine glückliche Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden.
Und sehen wir nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer sittlicher Unfälle sich in die Wüsten zurückzogen, dort keineswegs, wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren?
Sie wurden zurückgerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu führen; und wer konnte es besser als die in den Irrgängen des Lebens schon Eingeweihten!
Sie wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!« »Du wählst eine sonderbare Bestimmung«, versetzte Charlotte. »Ich will dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit«.
»Wie sehr danke ich Ihnen«, sagte Ottilie, »daß Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung gönnen wollen.
Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir glücken.
An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Prüfungen ich ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich nachher erfahren mußte.
Wie heiter werde ich die Verlegenheiten der jungen Ausschößlinge betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen lächeln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen Verirrungen herausführen.
Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen vorzustehen; es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu fordern, je mehr man empfangen hat.
Nur der Unglückliche, der sich erholt, weiß für sich und andere das Gefühl zu nähren, daß auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen werden soll«.
»Laß mich gegen deinen Vorsatz«, sagte Charlotte zuletzt nach einigem Bedenken, »noch einen Einwurf anführen, der mir der wichtigste scheint.
Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.
Die Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehülfen sind dir bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und unentbehrlicher sein.
Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern ohne dich leben mag, so wird er auch künftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten können.
Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden«.
»Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren«, versetzte Ottilie, »und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten.
So gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein ungeheures Übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann«.
Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geäußert, zur stillen Überlegung.
Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das leiseste, angeforscht, ob nicht eine Annäherung Ottiliens zu Eduard denkbar sei; aber auch nur die leiseste Erwähnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht schien Ottilien aufs tiefste zu rühren, ja sie sprach sich einst, da sie es nicht umgehen konnte, hierüber ganz deutlich aus.
»Wenn dein Entschluß«, entgegnete ihr Charlotte, »Eduarden zu entsagen, so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens.
In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht.
Tue jetzt, was du deinen Zuständen am gemäßesten hältst; prüfe dich, ja verändre lieber deinen gegenwärtigen Entschluß: aber aus dir selbst, aus freiem, wollendem Herzen.
Laß dich nicht zufällig, nicht durch Überraschung in die vorigen Verhältnisse wieder hineinziehen; dann gibt es erst einen Zwiespalt im Gemüt, der unerträglich ist.
Wie gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst und ein neues Leben anfängst, das dich wer weiß auf welche Wege leitet, so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich für alle Zukunft Eduarden entsagen kannst.
Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schließen wir einen Bund, daß du dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in eine Unterredung, wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir drängen sollte«.
Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.
Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der Seele, daß er Ottilien nur so lange entsagen könne, als sie sich von Charlotten nicht trennte.
Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstände so verändert, es war so mancherlei vorgefallen, daß jenes vom Augenblick ihm abgedrungene Wort gegen die folgenden Ereignisse für aufgehoben zu achten war; dennoch wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen noch etwas vornehmen, das ihn verletzen könnte, und so sollte Mittler in diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.
Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten öfters, obgleich nur auf Augenblicke, besucht.
Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beider Gatten höchst unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn; aber immer nach seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich nun im stillen über den Entschluß Ottiliens.
Er vertraute der lindernden, vorüberziehenden Zeit, dachte noch immer die beiden Gatten zusammenzuhalten und sah diese leidenschaftlichen Bewegungen nur als Prüfungen ehelicher Liebe und Treue an.
Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster Erklärung schriftlich unterrichtet, ihn auf das inständigste gebeten, Eduarden dahin zu vermögen, daß keine weiteren Schritte geschähen, daß man sich ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemüt des schönen Kindes sich wieder herstelle.
Auch von den spätern Ereignissen und Gesinnungen hatte sie das Nötige mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die schwierige Aufgabe übertragen, auf eine Veränderung des Zustandes Eduarden vorzubereiten.
Mittler aber, wohl wissend, daß man das Geschehene sich eher gefallen läßt, als daß man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, überredete Charlotten, es sei das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu schicken.
Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht.
Ottilie packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, daß sie weder das schöne Köfferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte.
Die Freundin schwieg und ließ das schweigende Kind gewähren.
Der Tag der Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den ersten Tag bis in ein bekanntes Nachtquartier, den zweiten bis in die Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben.
Das leidenschaftliche Mädchen hatte sich gleich nach dem Tode des Kindes wieder an Ottilien zurückgefunden und hing nun an ihr wie sonst durch Natur und Neigung, ja sie schien durch unterhaltende Redseligkeit das bisher Versäumte wieder nachbringen und sich ihrer geliebten Herrin völlig widmen zu wollen.
Ganz außer sich war sie nun über das Glück, mitzureisen, fremde Gegenden zu sehen, da sie noch niemals außer ihrem Geburtsort gewesen, und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern, Verwandten, um ihr Glück zu verkündigen und Abschied zu nehmen.
Unglücklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und empfand sogleich die Folgen der Ansteckung.
Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf; sie hatte den Weg schon gemacht, sie kannte die Wirtleute, bei denen sie einkehren sollte; der Kutscher vom Schlosse führte sie; es war nichts zu besorgen.
Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die Ottilie im Schloß bewohnt hatte, wieder für Eduarden einrichten, gerade so wie vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen.
Die Hoffnung, ein altes Glück wiederherzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt.
Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden über die Sache zu unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tisch gestemmt.
Er schien sehr zu leiden.
»Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder?« fragte Mittler.
»Es plagt mich«, versetzte jener; »und doch kann ich es nicht hassen, denn es erinnert mich an Ottilien.
Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm gestützt, und leidet wohl mehr als ich.
Und warum soll ich es nicht tragen wie sie?
Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen, wünschenswert; denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen begleitet, vor der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die großen Eigenschaften, die nötig sind, um es zu ertragen«.
Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit seinem Anbringen nicht zurück, das er jedoch stufenweise, wie der Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz gereift war, historisch vortrug.
Eduard äußerte sich kaum dagegen.
Aus dem wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, daß er jenen alles überlasse; sein gegenwärtiger Schmerz schien ihn gegen alles gleichgültig gemacht zu haben.
Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wider.
Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich beschäftigt.
Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft des Liebenden sich lebhaft ergangen.
Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er so oft betreten; er dachte, er überlegte, oder vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur.
Er mußte sie sehn, sie sprechen.
Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht sein.
Er widerstand nicht, er mußte.
Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich Tag und Stunde, wann Ottilie reisen würde.
Der Morgen brach an; Eduard säumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie übernachten sollte.
Er kam nur allzuzeitig dort an; die überraschte Wirtin empfing ihn mit Freuden; sie war ihm ein großes Familienglück schuldig geworden.
Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verschafft, indem er dessen Tat, wobei er allein gegenwärtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn brachte und die Hindernisse einiger Mißwollenden überwand.
Sie wußte nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.
Sie räumte schnell in ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich Garderobe und Vorratskammer war, möglichst zusammen; allein er kündigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen sollte, und ließ für sich eine Kammer hinten auf dem Gange notdürftig einrichten.
Der Wirtin erschien die Sache geheimnisvoll, und es war ihr angenehm, ihrem Gönner, der sich dabei sehr interessiert und tätig zeigte, etwas Gefälliges zu erweisen.
Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange Zeit bis zum Abend hin!
Er betrachtete das Zimmer ringsumher, in dem er sie sehen sollte; es schien ihm in seiner ganzen häuslichen Seltsamkeit ein himmlischer Aufenthalt.
Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien überraschen, ob er sie vorbereiten sollte!
Endlich gewann die letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb.
Dies Blatt sollte sie empfangen.
»Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe.
Du mußt nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu befürchten.
Ich werde mich nicht zu dir drängen.
Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.
Bedenke vorher deine Lage, die meinige.
Wie sehr danke ich dir, daß du keinen entscheidenden Schritt zu tun vorhast; aber bedeutend genug ist er.
Tu ihn nicht!
Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege nochmals: kannst du mein sein, willst du mein sein?
O du erzeigst uns allen eine große Wohltat und mir eine überschwengliche.
Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen.
Laß mich die schöne Frage mündlich tun und beantworte sie mir mit deinem schönen Selbst.
An meine Brust, Ottilie!
Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehörst!« Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwärtig sein.
Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte.
Wird sie noch dieselbe sein?
Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert?
Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.
Mit flüchtiger Feder setzte er noch hinzu:» ich höre dich kommen.
Auf einen Augenblick leb wohl!« er faltete den Brief, überschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spät.
Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen.
Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück und holte sie glücklich weg.
Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast anzuweisen.
Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren.
Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt.
Heftig drängte er an der Türe; sie gab nicht nach.
O wie hätte er gewünscht, als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen!
Vergebens!
Er verbarg sein Gesicht an den Türpfosten.
Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurück.
Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.
Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegeneinander.
Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor- oder zurückzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige Schritte zurück bis an den Tisch.
Auch er trat wieder zurück.
»Ottilie«, rief er aus, »laß mich das furchtbare Schweigen brechen!
Sind wir nur Schatten, die einander gegenüberstehen?
Aber vor allen Dingen höre!
Es ist ein Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest.
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.
Lies, ich bitte dich, lies ihn!
Und dann beschließe, was du kannst«.
Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn.
Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelegen, und so legte sie ihn leise weg; dann drückte sie die flachen, in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was er verlangen oder wünschen mochte.
Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.
Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
Es sah völlig aus, als würde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.
Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der Einsamen.
Er ging auf dem Vorsaal auf und ab.
Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.
Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel ab.
Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wußte nicht, was sie tun sollte.
Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der ihn ablehnte.
Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.
Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Tränen benetzte.
Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Nähe Liebende eine Nacht zu.
Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und trat in das Zimmer.
Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurück und winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Lächeln.
Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten.
Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich gegenüber.
Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf und richtete sich auf ihre Füße.
Sie lehnt das Frühstück ab, und nun tritt Eduard vor sie.
Er bittet sie inständig, nur ein Wort zu reden, ihren Willen zu erklären.
Er wolle allen ihren Willen, schwört er; aber sie schweigt. Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehören wolle.
Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu einem sanften Nein!
Er fragt, ob sie nach der Pension wolle.
Gleichgültig verneint sie das.
Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht sies mit einem getrosten Neigen des Hauptes.
Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem Wagen.
Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung.
Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pferde sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah!
Sie eilte bis zur Türschwelle.
Ottilie steigt aus und nähert sich mit Eduarden.
Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beider Ehegatten, drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer.
Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er kann sich nicht erklären, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu helfen.
Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie hineintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände standen da.
Es erschien so weitläufig als unerfreulich.
Man hatte alles weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig, wo man es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen.
Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt.
Charlotte bemüht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine Antwort.
Sie läßt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und eilt zu Eduarden.
Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht.
Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag.
Das übrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert.
Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet.
Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er sie verlassen.
Die dreie scheinen sich wieder gegeneinander zu finden, aber Ottilie fährt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint.
Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major.
Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt.
Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden kleinsten Umstand, und so erfährt Charlotte, was begegnet, was die Lage so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt.
Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl.
Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, daß man das Kind gegenwärtig nicht bestürmen möge.
Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich.
Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen.
Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen.
Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert.
Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, daß Ottilie sich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdrücklicher Bedingung, daß die beiden Männer für den Augenblick zusammen eine Reise machen.
Der Major hat für seinen Hof ein auswärtiges Geschäft, und Eduard verspricht, ihn zu begleiten.
Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem wenigstens etwas geschieht.
Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt.
Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es.
Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?
Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken, jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte.
Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegenwart.
Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.
»Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von selbst versteht?
Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.
Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.
Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu entfernen.
Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.
Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir.
Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.
Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.
Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit Überlegung eingeht, vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl gedrungen, über mich genommen.
Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.
Beruft keine Mittelsperson!
Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise und Trank genießen soll, als ich höchstens bedarf.
Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.
Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlaßt mir selbst!« die längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte.
Wie erwünscht für Eduard!
Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen, hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.
»Wie töricht«, rief er aus, »das Unentbehrlichste, Notwendigste vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre!
Und was soll es heißen?
Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.
So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.
Diesmal aber will ich bleiben.
Warum soll ich mich entfernen?
Ist sie nicht schon von mir entfernt?
Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.
Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben«.
Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte.
Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.
Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.
Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus.
Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander.
Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie standen, sie saßen nebeneinander.
Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins.
Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt.
Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.
Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.
Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie völlig beruhigen konnte.
Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es erlangt, allein zu speisen.
Niemand als Nanny bediente sie.
Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr, als man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt.
Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, Örtlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm allein bequem und behaglich ist.
Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich.
So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde fast alles wieder in dem alten Gleise.
Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art.
Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei, war verzeihlich.
Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück.
Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.
Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals blühen gesehen.
Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die Abendsitzungen waren meistens regelmäßig.
Eduard las gewöhnlich, lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar heiterer, wenn man will, als jemals.
Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch Gefühl, Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder auflösen wollte.
Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiß war, daß sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.
Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war ausgelöscht.
Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war verschwunden.
Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so wie Eduards Flöte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments wieder wie vormals zusammentraf.
So rückte man dem Geburtstage Eduards näher, dessen Feier man vor einem Jahre nicht erreicht hatte.
Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem Behagen diesmal gefeiert werden.
So war man, halb stillschweigend halb ausdrücklich, miteinander übereingekommen.
Doch je näher diese Epoche heranrückte, vermehrte sich das Feierliche in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr empfunden als bemerkt hatte.
Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner angedeutet, die Sommergewächse aller Art zu schonen, und sich besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in unmäßiger Menge blühten.
Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.
Als sie das übrige mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon ein Teil herausgenommen war.
Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt sehen, besonders da sie auch für alle kleineren Stücke des Anzugs gesorgt fand.
Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe und so manches andere war noch übrig.
Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.
Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode heraus und ließ das Kind wählen, das hastig und ungeschickt zugriff und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen Hausgenossen ihr Glück zu verkünden und vorzuzeigen.
Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten; sie öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.
Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.
Noch eins fügte sie hinzu es war das Porträt ihres Vaters und verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schlüssel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.
Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege geworden.
Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche Geschäftigkeit bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Lächeln, wie es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt.
Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit hinbrachte, aus der sie sich nur für die Zeiten, wo sie erschien durch Geisteskraft emporhielt.
Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger geblieben als sonst gewöhnlich.
Der hartnäckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewissen Moment gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.
Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten aus.
Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er hoffte das Schicksal des guten Mädchens auf irgendeine andere günstige Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und führte sich nach seiner Weise klug genug auf.
Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlaß fand, sein Räsonnement über Materien zu äußern, denen er eine große Wichtigkeit beilegte.
Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich gewöhnlich nur handelnd gegen sie.
Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter gesehen haben, so rollte sie ohne Rücksicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte.
Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgenden Schmuck auseinanderlegend und ihrem Mädchen manches andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen geschickt befolgte.
Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
»Der Mensch ist von Hause aus tätig«, sagte er; »und wenn man ihm zu gebieten versteht, so fährt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus.
Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann, als daß ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sähe.
Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darüber nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er aus Müßiggang und langer Weile vornimmt.
Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote in der Kinderlehre wiederholen läßt.
Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot.
›Du sollst Vater und Mutter ehren‹. Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuüben.
Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
›Du sollst nicht töten.
Als wenn irgendein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern totzuschlagen!
Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen totschlägt.
Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und Totschlag zu verbieten?
Wenn es hieße: sorge für des andern Leben, entferne, was ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn beschädigst, denke, daß du dich selbst beschädigst: das sind Gebote, wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern statthaben und die man bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem was ist das? nachschleppt.
Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich!
Was?
Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche Mysterien reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen aufregen, die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt heranbringen!
Weit besser wäre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht willkürlich bestraft würde, als daß man vor Kirch und Gemeinde davon plappern läßt«.
In dem Augenblick trat Ottilie herein.
»Du sollst nicht ehebrechen«, fuhr Mittler fort.
»Wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: du sollst Ehrfurcht haben vor der ehelichen Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück eines heitern Tages.
Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst du suchen, es aufzuklären; du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen, und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern, indem du ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich verbindet?« Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um so ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer gehen.
»Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot«, sagte Charlotte mit erzwungenem Lächeln.
»Alle die übrigen«, versetzte Mittler, »wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen«.
Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: »sie stirbt!
Das Fräulein stirbt!
Kommen Sie!
Kommen Sie!« Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet, und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her ging, rief jubelnd aus: »sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein Brautschmuck, ganz Ihrer wert!« Ottilie vernahm diese Worte und sank auf den Sofa.
Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten; man kommt.
Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine Erschöpfung.
Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert.
Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was Ottilie heute genossen habe.
Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt, Ottilie habe nichts genossen.
Nanny scheint ihm ängstlicher als billig.
Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie nichts genieße.
Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen; verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so gut geschmeckt.
Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in Gesellschaft des Arztes.
Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt, wie es schien, in der Ecke des Sofas.
Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß man das Köfferchen herbeibringe.
Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden, bequemen Stellung.
Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl.
Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und überschwemmt sie mit stummen Tränen.
So bleibt er lange.
Endlich ruft er aus: »soll ich deine Stimme nicht wieder hören?
Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren?
Gut, gut!
Ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!« Sie drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen Bewegung der Lippen: »versprich mir zu leben!« ruft sie aus, mit holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück.
»Ich versprech es!« rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden.
Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu bestatten, Charlotten anheim.
Der Major und Mittler standen ihr bei.
Eduards Zustand war zu bejammern.
Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermaßen besinnen konnte, bestand er darauf, Ottilie sollte nicht aus dem Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt werden; denn sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein.
Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterließ, was er verboten hatte.
Er verlangte nicht, sie zu sehen.
Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte die Freunde.
Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis genötigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwürfen überhäuft, war entflohen.
Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer sich zu sein.
Ihre Eltern nahmen sie zu sich.
Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man mußte sie einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.
Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu entreißen, aber nur zu seinem Unglück; denn es ward ihm deutlich, es ward ihm gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.
Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie, in jener Kapelle beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde.
Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, daß sie im offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewölbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende Lampe gestiftet werden sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und schien sich in alles ergeben zu haben.
Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.
Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten ihres Schmucks beraubt.
Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt hätte.
Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen, und die aufgehende Sonne rötete nochmals das himmlische Gesicht. Die Begleitenden drängten sich um die Träger, niemand wollte vorausgehn, niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letztenmale ihre Gegenwart genießen.
Knaben, Männer und Frauen, keins blieb ungerührt.
Untröstlich waren die Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten empfanden.
Nanny fehlte.
Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des Begräbnisses verheimlicht.
Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging.
Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzubald inne, was vorging, und da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen, sie verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da, weil sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.
Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg durchs Dorf hin.
Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher, vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.
Überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd, stürzte hinab.
Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen Seiten.
Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre niederzusetzen.
Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern zerschmettert.
Man hob es auf; und zufällig oder aus besonderer Fügung lehnte man es über die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.
Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Hände berührt, als das Mädchen aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrin hinaufstaunte.
Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude: »ja, sie hat mir vergeben!
Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebärde, ihren Mund.
Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich freundlich anblickte!
Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: dir ist vergeben!
Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen, Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben«.
Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und sahen hin und wider, und kaum wußte jemand, was er beginnen sollte.
»Tragt sie nun zur Ruhe!« sagte das Mädchen; »sie hat das Ihrige getan und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen«.
Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte zur Kirche, zur Kapelle.
So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes, zu ihren Füßen das Köfferchen, in ein starkes eichenes Behältnis eingeschlossen.
Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar liebenswürdig dalag.
Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal angezündeten Lampe fleißig warten.
Sie verlangte dies so eifrig und hartnäckig, daß man ihr nachgab, um ein größeres Gemütsübel, das sich befürchten ließ, zu verhüten.
Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht, als das schwebende Licht, sein volles Recht ausübend, einen helleren Schein verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt in die Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer altertümlicher und ahnungsvoller, als er je hätte glauben können, ihm entgegendrangen.
Nanny saß an der einen Seite des Sarges.
Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die verblichene Herrin.
Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt und Blick nach der Entseelten hingeneigt.
Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.
Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natürlich war sie auch diesmal!
Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und ausgestoßen worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt.
Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber die Tränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, daß er, über den Fluß ihrer Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm in einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte.
Seine Tränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Händedruck von Nanny Abschied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und getrosten Mutes.
Er war auf mancherlei Verirrungen gefaßt; er dachte schon, sie werde ihm von nächtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig und sich völlig selbstbewußt.
Sie erinnerte sich vollkommen aller früheren Zeiten, aller Zustände mit großer Genauigkeit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem gewöhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die Begebenheit beim Leichenbegängnis, die sie mit Freudigkeit oft wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie gesegnet, ihr verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.
Der fortdauernd schöne, mehr schlaf- als todähnliche Zustand Ottiliens zog mehrere Menschen herbei.
Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören; manche, um darüber zu spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich glaubend dagegen zu verhalten.
Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Berührung des frommen Körpers wieder gesund geworden; warum sollte nicht auch ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein?
Zärtliche Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgendeinem Übel behaftet waren, und sie glaubten eine plötzliche Besserung zu spüren.
Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und Erleichterung gesucht hätte.
Der Zudrang wuchs, und man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.
Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.
Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter fähig zu sein.
Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage.
Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.
Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen vereinigen.
Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden.
Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren?
Aber doch drückt es ihn tief.
Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.
Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.
Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.
»Ach!« sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, »was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!
Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen.
Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich zurück und mein Versprechen.
Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.
Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum«.
Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?
Endlich fand man ihn tot.
Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.
Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung, genau die Umstände, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.
Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorsichtigkeit anklagen.
Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.
Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien Übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen, in glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig ahnungsreich übergeben hatte.
Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen preisgeben.
Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.
Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.
So ruhen die Liebenden nebeneinander.
Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.