»Wer mir den Ehstand angreift«, rief er aus, »wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun.

Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.

Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.

Unauflöslich muß sie sein; denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist.

Und was will man von Unglück reden?

Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er sich unglücklich zu finden.

Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht.

Sich zu trennen gibts gar keinen hinlänglichen Grund.

Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden.

Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.

Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht.

Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?« so sprach er lebhaft und hätte wohl noch lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Postillons die Ankunft der Herrschaften verkündig hätten, welche wie abgemessen von beiden Seiten zu gleicher Zeit in den Schloßhof hereinfuhren.

Als ihnen die Hausgenossen entgegeneilten, versteckte sich Mittler, ließ sich das Pferd an den Gasthof bringen und ritt verdrießlich davon.

Die Gäste waren bewillkommnet und eingeführt; sie freuten sich, das Haus, die Zimmer wieder zu betreten, wo sie früher so manchen guten Tag erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten.

Höchst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart.

Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schönen Gestalten zählen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Blüte abgehn möchte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein entschiedenes Zutrauen.

Auch dieses Paar zeigte sich höchst bequem in der Gegenwart.

Ihre freie Weise, die Zustände des Lebens zu nehmen und zu behandeln, ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit, und ein hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne daß man irgendeinen Zwang bemerkt hätte.

Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden.

Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man sogar an ihren Kleidern, Gerätschaften und allen Umgebungen sehen konnte, machten gewissermaßen mit unsern Freunden, ihrem ländlichen und heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der sich jedoch sehr bald verlor, indem alte Erinnerungen und gegenwärtige Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespräch alle geschwind zusammenverband.

Es währte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging.

Die Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück und fanden daselbst, indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen und Zuschnitte von Frühkleidern, Hüten und dergleichen zu mustern anfingen, genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen Reisewagen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen.

Erst zu Tische kam man wieder zusammen.

Die Umkleidung war geschehen, und auch hier zeigte sich das angekommene Paar zu seinem Vorteile.

Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und doch schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Bequemlichkeit eingeweiht.

Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint.

Man bediente sich der französischen Sprache, um die Aufwartenden von dem Mitverständnis auszuschließen, und schweifte mit mutwilligem Behagen über hohe und mittlere Weltverhältnisse hin.

Auf einem einzigen Punkt blieb die Unterhaltung länger als billig haften, indem Charlotte nach einer Jugendfreundin sich erkundigte und mit einiger Befremdung vernahm, daß sie ehstens geschieden werden sollte.

»Es ist unerfreulich«, sagte Charlotte, »wenn man seine abwesenden Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundin, die man liebt, versorgt glaubt; eh man sichs versieht, muß man wieder hören, daß ihr Schicksal im Schwanken ist, und daß sie erst wieder neue und vielleicht abermals unsichre Pfade des Lebens betreten soll«.

»Eigentlich, meine Beste«, versetzte der Graf, »sind wir selbst schuld, wenn wir auf solche Weise überrascht werden.

Wir mögen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir immer wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen.

In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da er erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung klingt bei uns nach.

In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen noch hören«.

»Es muß doch so schlimm nicht sein«, sagte Charlotte lächelnd, »da man sieht, daß auch Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl gern darauf wieder eine Rolle spielen mögen«.

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte der Graf.

»Eine neue Rolle mag man gern wieder übernehmen, und wenn man die Welt kennt, so sieht man wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese entschiedene, ewige Dauer zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an sich trägt.

Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlägen zu neuen Gesetzen hervortat, behauptet: eine jede Ehe solle nur auf fünf Jahre geschlossen werden.

Es sei, sagte er, dies eine schöne, ungrade, heilige Zahl und ein solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen, einige Kinder heranzubringen, sich zu entzweien und, was das Schönste sei, sich wieder zu versöhnen.

Gewöhnlich rief er aus: wie glücklich würde die erste Zeit verstreichen!

Zwei, drei Jahre wenigstens gingen vergnüglich hin.

Dann würde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das Verhältnis länger dauern zu sehen, die Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man sich dem Termin der Aufkündigung näherte.

Der gleichgültige, ja selbst der unzufriedene Teil würde durch ein solches Betragen begütigt und eingenommen.

Man vergäße, wie man in guter Gesellschaft die Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und fände sich aufs angenehmste überrascht, wenn man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, daß er schon stillschweigend verlängert sei.

So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so waren ihr dergleichen Äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht angenehm.

Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein allzufreies Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen behandelt; und dahin gehört doch gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet.

Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespräch abzulenken; da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, daß Ottilie alles so gut eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu dürfen.

Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch Blick und Wink, daß alles auf das trefflichste geriet, obgleich ein paar neue, ungeschickte Bedienten in der livree staken.

Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend, über diesen Gegenstand sich zu äußern fort.

Ihm, der sonst nicht gewohnt war, im Gespräch irgend lästig zu sein, lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten, sich von seiner Gemahlin getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen alles, was eheliche Verbindung betraf, die er doch selbst mit der Baronesse so eifrig wünschte.

»Jener Freund«, so fuhr er fort, »tat noch einen andern Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten werden, wenn entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum drittenmal verheiratet wäre.

Denn was eine solche Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich, daß sie die Ehe für etwas Unentbehrliches halte.

Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie sich in ihren frühern Verbindungen betragen, ob sie Eigenheiten habe, die oft mehr zur Trennung Anlaß geben als üble Eigenschaften.

Man habe sich also wechselseitig zu erkundigen; man habe ebensogut auf Verheiratete wie auf Unverheiratete achtzugeben, weil man nicht wisse, wie die Fälle kommen können«.

»Das würde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren«, sagte Eduard; »denn in der Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Mängeln«.

»Bei einer solchen Einrichtung«, fiel die Baronesse lächelnd ein, »hätten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen glücklich überstiegen und könnten sich zu der dritten vorbereiten«.

»Ihnen ists wohl geraten«, sagte der Graf; »hier hat der Tod willig getan, was die Konsistorien sonst nur ungern zu tun pflegen«. »Lassen wir die Toten ruhen«, versetzte Charlotte mit einem halb ernsten Blicke.

»Warum?« versetzte der Graf, »da man ihrer in Ehren gedenken kann.

Sie waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnügen für mannigfaltiges Gute, das sie zurückließen«.

»Wenn nur nicht gerade«, sagte die Baronesse mit einem verhaltenen Seufzer, »in solchen Fällen das Opfer der besten Jahre gebracht werden müßte!« »Jawohl«, versetzte der Graf, »man müßte darüber verzweifeln, wenn nicht überhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte.

Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht«.

Charlotte, welche froh war, daß das Gespräch sich wendete, versetzte heiter:» nun!

Wir müssen uns ja ohnehin bald genug gewöhnen, das Gute stück- und teilweise zu genießen«.

»Gewiß«, versetzte der Graf, »Sie haben beide sehr schöner Zeiten genossen.

Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das schönste Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden Zeiten noch von so hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr.

Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet, und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!« »Da sich so manches verändert hat«, sagte Charlotte, »können wir wohl soviel Schönes mit Bescheidenheit anhören«.

»Eduarden habe ich doch oft im stillen getadelt«, sagte der Graf, »daß er nicht beharrlicher war; denn am Ende hätten seine wunderlichen Eltern wohl nachgegeben; und zehn frühe Jahre gewinnen ist keine Kleinigkeit«.

»Ich muß mich seiner annehmen«, fiel die Baronesse ein.

»Charlotte war nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem Umhersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn auch heimlich zum Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr sie ihn manchmal quälte, sodaß man ihn leicht zu dem unglücklichen Entschluß drängen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr zu entwöhnen«.

Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar für ihre Fürsprache.

»Und dann muß ich eins«, fuhr sie fort, »zu Charlottens Entschuldigung beifügen: der Mann, der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn näher kannte, gewiß liebenswürdiger, als ihr andern gern zugestehen mögt«.

»Liebe Freundin«, versetzte der Graf etwas lebhaft, »bekennen wir nur, daß er Ihnen nicht ganz gleichgültig war, und daß Charlotte von Ihnen mehr zu befürchten hatte als von einer andern.

Ich finde das einen sehr hübschen Zug an den Frauen, daß sie ihre Anhänglichkeit an irgendeinen Mann solange noch fortsetzen, ja durch keine Art von Trennung stören oder aufheben lassen«.

»Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Männer noch mehr«, versetzte die Baronesse; »wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich bemerkt, daß niemand mehr Gewalt über Sie hat als ein Frauenzimmer, dem Sie früher geneigt waren.

So habe ich gesehen, daß Sie auf die Fürsprache einer solchen sich mehr Mühe gaben, um etwas auszuwirken, als vielleicht die Freundin des Augenblicks von Ihnen erlangt hätte«.

»Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen«, versetzte der Graf; »doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schöne Paar auseinandersprengte, ein wahrhaft prädestiniertes Paar, das, einmal zusammengegeben, weder fünf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweite oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte«.

»Wir wollen versuchen«, sagte Charlotte, »wieder einzubringen, was wir versäumt haben«.

»Da müssen Sie sich dazuhalten«, sagte der Graf.

»Ihre ersten Heiraten«, fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, »waren doch so eigentlich rechte Heiraten von der verhaßten Art, und leider haben überhaupt die Heiraten verzeihen Sie mir einen lebhafteren Ausdruck etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse, und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut.

Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu haben, damit eins wie das andere nunmehr seiner Wege gehe«. In diesem Augenblick machte Charlotte, die ein für allemal dies Gespräch abbrechen wollte, von einer kühnen Wendung Gebrauch; es gelang ihr.

Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der Hauptmann konnten daran teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlaßt sich zu äußern, und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung genossen, woran der in zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichtum, die bunteste, in Prachtgefäßen schön verteilte Blumenfülle den vorzüglichsten Anteil hatte.

Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach Tische besuchte.

Ottilie zog sich unter dem Vorwande häuslicher Beschäftigung zurück; eigentlich aber setzte sie sich nieder zur Abschrift.

Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; später gesellte sich Charlotte zu ihm.

Als sie oben auf die Höhe gelangt waren und der Hauptmann gefällig hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte der Graf zu Charlotten: »dieser Mann gefällt mir außerordentlich.

Er ist sehr wohl und im Zusammenhang unterrichtet.

Ebenso scheint seine Tätigkeit sehr ernst und folgerecht.

Was er hier leistet, würde in einem höhern Kreise von viel Bedeutung sein«.

Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen.

Sie faßte sich jedoch und bekräftigte das Gesagte mit Ruhe und Klarheit.

Wie überrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: »diese Bekanntschaft kommt mir sehr zu gelegener Zeit.

Ich weiß eine Stelle, an die der Mann vollkommen paßt, und ich kann mir durch eine solche Empfehlung, indem ich ihn glücklich mache, einen hohen Freund auf das allerbeste verbinden«.

Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel.

Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu bändigen, behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine Art von scheinbarer Fassung.

Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr: »wenn ich von etwas überzeugt bin, geht es bei mir geschwind her.

Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt, und mich drängts, ihn zu schreiben.

Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend wegschicken kann«.

Charlotte war innerlich zerrissen.

Von diesen Vorschlägen sowie von sich selbst überrascht, konnte sie kein Wort hervorbringen.

Der Graf fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den Hauptmann zu sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzusehr in die Augen fiel.

Es war Zeit, daß der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem Grafen entfaltete.

Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie verlieren sollte!

Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshütte.

Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen hergegangen.

Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein mochte, bemerkte bald in einem tastenden Gespräch, daß Eduard sich zu Ottiliens Lobe weitläufig herausließ, und wußte ihn auf eine so natürliche Weise nach und nach in den Gang zu bringen, daß ihr zuletzt kein Zweifel übrigblieb, hier sei eine Leidenschaft nicht auf dem Wege, sondern wirklich angelangt.

Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben, stehen doch stillschweigend miteinander, besonders gegen junge Mädchen, im Bündnis.

Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem weltgewandten Geiste nur allzugeschwind dar.

Dazu kam noch, daß sie schon heute früh mit Charlotten über Ottilien gesprochen und den Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders bei seiner stillen Gemütsart, nicht gebilligt und den Vorschlag getan hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach einer gutartigen Gespielin umsehe, die an die zweite Kindesstatt eintreten und alle Vorteile mitgenießen solle.

Charlotte hatte sichs zur Überlegung genommen.

Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemüt diesen Vorschlag bei der Baronesse ganz zur vorsätzlichen Festigkeit, und um so schneller dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie äußerlich Eduards Wünschen.

Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese Selbstbeherrschung in außerordentlichen Fällen gewöhnt uns, sogar einen gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt, indem wir soviel Gewalt über uns selbst üben, unsre Herrschaft auch über die andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir äußerlich gewinnen, für dasjenige, was wir innerlich entbehren, gewissermaßen schadlos zu halten. An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art heimlicher Schadenfreude über die Dunkelheit der andern, über das Bewußtlose, womit sie in eine Falle gehen.

Wir freuen uns nicht allein über das gegenwärtige Gelingen, sondern zugleich auch auf die künftig überraschende Beschämung.

Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur Weinlese auf ihre Güter mit Charlotten einzuladen und die Frage Eduards, ob sie Ottilien mitbringen dürften, auf eine Weise, die er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte, zu beantworten.

Eduard sprach schon mit Entzücken von der herrlichen Gegend, dem großen Flusse, den Hügeln, Felsen und Weinbergen, von alten Schlössern, von Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so weiter, wobei er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum voraus laut über den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische Gemüt Ottiliens machen würden.

In diesem Augenblick sah man Ottilien herankommen, und die Baronesse sagte schnell zu Eduard, er möchte von dieser vorhabenden Herbstreise ja nichts reden; denn gewöhnlich geschähe das nicht, worauf man sich so lange voraus freue.

Eduard versprach, nötigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu gehen, und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte voran.

Eine herzliche Freude drückte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er küßte ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen drückte, die er unterwegs zusammengepflückt hatte.

Die Baronesse fühlte sich bei diesem Anblick in ihrem Innern fast erbittert.

Denn wenn sie auch das, was an dieser Neigung strafbar sein mochte, nicht billigen durfte, so konnte sie das, was daran liebenswürdig und angenehm war, jenem unbedeutenden Neuling von Mädchen keineswegs gönnen.

Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine völlig andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet.

Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann, den er auf eine verständige und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen Abend an seine Seite gebracht hatte.

Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von daher wenig Unterhaltung, ebensowenig an Eduard, der, erst durstig, dann aufgeregt, des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien unterhielt, die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beinahe unmöglich ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.

Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen.

Sie bemerkte Charlottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards Verhältnis zu Ottilien im Sinn hatte, so überzeugte sie sich leicht, auch Charlotte sei bedenklich und verdrießlich über ihres Gemahls Benehmen, und überlegte, wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken gelangen könne.

Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der Graf, der den Hauptmann recht ergründen wollte, brauchte bei einem so ruhigen, keineswegs eitlen und überhaupt lakonischen Manne verschiedene Wendungen, um zu erfahren, was er wünschte.

Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indes Eduard, aufgeregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend an der andern Seite des Saals nebeneinander hin und wider gingen.

Ihr Schweigen und müßiges Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine Stockung in die übrige Gesellschaft.

Die Frauen zogen sich zurück auf ihren Flügel, die Männer auf den andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern durchs Gespräch verführen, noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben.

Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer entwickelte:» ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich.

Ich habe sie heute im Gehen Beobachtet; noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte Ehrenbezeugung der Aarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken«.

Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter zwei vertrauten Männern.

Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurück und kamen auf die Hindernisse, die man ehemals den Zusammenkünften dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe sie sich gegeben, welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu können, daß sie sich liebten.

»Erinnerst du dich«, fuhr der Graf fort, »welch Abenteuer ich dir recht freundschaftlich und uneigennützig bestehen helfen, als unsre höchsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem weitläufigen Schlosse zusammenkamen?

Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein Teil der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespräch verstreichen«.

»Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt«, sagte Eduard.

»Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten«.

»Die«, versetzte der Graf, »mehr an den Anstand als an meine Zufriedenheit gedacht und eine sehr häßliche Ehrenwächterin bei sich behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward«.

»Ich habe mich noch gestern«, versetzte Eduard, »als Sie sich anmelden ließen, mit meiner Frau an die Geschichte erinnert, besonders an unsern Rückzug.

Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden.

Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wußten, so glaubten wir auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den übrigen, vorbei gehen zu können.

Aber wie groß war beim Eröffnen der Türe unsere Verwunderung!

Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schliefen.

Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber, im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die ausgestreckten Stiefel weg, ohne daß auch nur einer von diesen schnarchenden Enakskindern erwacht wäre«.

»Ich hatte große Lust zu stolpern«, sagte der Graf, »damit es Lärm gegeben hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir gesehen haben!« In diesem Augenblick schlug die Schloßglocke zwölf.

»Es ist hoch Mitternacht«, sagte der Graf lächelnd, »und eben gerechte Zeit.

Ich muß Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen Sie mich heute, wie ich Sie damals führte; ich habe der Baronesse das Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.

Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns solange nicht gesehen, und nichts ist natürlicher, als daß man sich nach einer vertraulichen Stunde sehnt.

Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon finden, und auf alle Fälle werde ich über keine Stiefel wegzustolpern haben«.

»Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen«, versetzte Eduard; »nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf dem Flügel.

Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst für Händel anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen«.

»Nur ohne Sorge!« sagte der Graf; »die Baronesse erwartet mich.

Sie ist um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein«.

»Die Sache ist übrigens leicht«, versetzte Eduard und nahm ein Licht, dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang führte.

Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.

Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurückließ.

Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer.

Er hörte reden und horchte.

Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: »ist Ottilie schon zu Bette?« »Nein«, versetzte jene, »sie sitzt noch unten und schreibt«.

–»So zünde Sie das Nachtlicht an«, sagte Charlotte, »und gehe Sie nur hin: es ist spät.

Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen«.

Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe.

›Sie beschäftigt sich für mich! dachte er triumphierend.

Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein.

Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.

Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab.

Sie wiederholte sich aber- und abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um gewendet hatte.

Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen.

Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden!

Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.

Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als sie bei ihr selten stattfand.

Sie warf sich auf den Sofa und überließ sich ganz ihrem Schmerz.

Eduard seinerseits konnte von der Türe nicht weg; er pochte nochmals, und zum drittenmal etwas stärker, sodaß Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr.

Der erste Gedanke war, es könne, es müsse der Hauptmann sein; der zweite, das sei unmöglich.

Sie hielt es für Täuschung, aber sie hatte es gehört, sie wünschte, sie fürchtete es gehört zu haben.

Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür.

Sie schalt sich über ihre Furcht.

Wie leicht kann die Gräfin etwas bedürfen! sagte sie zu sich selbst und rief gefaßt und gesetzt: »ist jemand da?« Eine leise Stimme antwortete: »ich bins«.

–»Wer?« entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.

Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür.

Etwas lauter klang es ihr entgegen:» Eduard!« Sie öffnete, und ihr Gemahl stand vor ihr.

Er begrüßte sie mit einem Scherz.

Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren.

Er verwickelte den rätselhaften Besuch in rätselhafte Erklärungen.

»Warum ich denn aber eigentlich komme«, sagte er zuletzt, »muß ich dir nur gestehen.

Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu küssen«.

»Das ist dir lange nicht eingefallen«, sagte Charlotte.

»Desto schlimmer«, versetzte Eduard,» und desto besser!« Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen.

Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, daß er nicht ihren Schuh küßte, und daß, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande ohne Vorsatz und Anstrengung die Art und Weise der Liebhaberinnen fortführen.

Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie kaum entgegen; aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt.

Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.

Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.

Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an.

Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.

Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefaßt kennen.

Eduard war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.

Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben.

Sie brachten einen Teil der Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen Teil daran nahm.

Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte.

Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam, hätte ein aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der einzelnen die Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen können.

Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen, das ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten, dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschämt und ruhig dem Hauptmann und Ottilien entgegentraten.

Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie allein recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden.

Ottilie war kindlich heiter, nach ihrer Weise konnte man sie offen nennen.

Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bei der Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte, was einige Zeit geruht und geschlafen hatte, nur zu fühlbar geworden, daß er eigentlich hier seine Bestimmung nicht erfülle und im Grunde bloß in einem halbtätigen Müßiggang hinschlendere.

Kaum hatten sich die beiden Gäste entfernt, als schon wieder neuer Besuch eintraf, Charlotten willkommen, die aus sich selbst herauszugehen, sich zu zerstreuen wünschte; Eduarden ungelegen, der eine doppelte Neigung fühlte, sich mit Ottilien zu beschäftigen; Ottilien gleichfalls unerwünscht, die mit ihrer auf morgen früh so nötigen Abschrift noch nicht fertig war.

Und so eilte sie auch, als die Fremden sich spät entfernten, sogleich auf ihr Zimmer.

Es war Abend geworden.

Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die Fremden, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den Teichen zu machen.

Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte.

Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse.

Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbäumen angebunden, auf die man schon bei künftigen Anlagen gerechnet hatte.

Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den Bäumen ein architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach diejenigen, die über den See fahren, zu steuern hätten.

»Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?« fragte Eduard.

»Ich sollte denken, bei meinen Platanen«.

»Sie stehen ein wenig zu weit rechts«, sagte der Hauptmann. »Landet man weiter unten, so ist man dem Schlosse näher; doch muß man es überlegen«.

Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein Ruder ergriffen.

Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und faßte das andre Ruder; aber als er eben im Abstoßen begriffen war, gedachte er Ottiliens, gedachte, daß ihn diese Wasserfahrt verspäten, wer weiß erst wann zurückführen würde.

Er entschloß sich kurz und gut, sprang wieder ans Land, reichte dem Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich flüchtig entschuldigend, nach Hause.

Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe.

Bei dem angenehmen Gefühle, daß sie für ihn etwas tue, empfand er das lebhafteste Mißbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen.

Seine Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke.

Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln.

Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme.

Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezündet.

Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit.

Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben.

Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch.

»Wollen wir kollationieren?« sagte sie lächelnd.

Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte.

Er sah sie an, er besah die Abschrift.

Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief!

»Um Gottes willen!« rief er aus, »was ist das?

Das ist meine Hand!« Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte.

Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen.

Eduard hob seine Arme empor: »du liebst mich!« rief er aus, »Ottilie, du liebst mich« und sie hielten einander umfaßte.

Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.

Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.

Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.

Charlotte mit dem Hauptmann trat herein.

Zu den Entschuldigungen eines längeren Außenbleibens lächelte Eduard heimlich.

›O wie viel zu früh kommt ihr! sagte er zu sich selbst.

Sie setzten sich zum Abendessen.

Die Personen des heutigen Besuchs wurden beurteilt.

Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer schonend, oft billigend.

Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, daß er, der sonst über die scheidende Gesellschaft immer das strengste Zungengericht ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.

Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: »man muß nur Ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle liebenswürdig vor!« Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah vor sich hin.

Der Hauptmann nahm das Wort und sagte:» mit den Gefühlen der Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas Ähnliches.

Man erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an Einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet«.

Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der Erinnerung dessen zu überlassen, was diesen Abend zwischen ihr und dem Hauptmann vorgegangen war.

Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen.

Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit.

Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Wildhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille.

Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen.

Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen.

Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten.

Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und regieren lasse.

Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein.

Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs Herz.

›Sagt er das mit Vorsatz?‹ dachte sie bei sich selbst.

›Weiß er schon davon?

Vermutet ers?

Oder sagt er es zufällig, so daß er mir bewußtlos mein Schicksal vorausverkündigt? Es ergriff sie eine große Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse zurückzukehren. Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt.

Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wußte, der nach dem Schlosse führte.

Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als Scharlotte mit einer Art von Ängstlichkeit den Wunsch wiederholte, bald am Lande zu sein.

Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine Bemühungen, wieder loszukommen, waren vergebens.

Was war zu tun?

Ihm blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht genug war, und die Freundin an das Land zu tragen.

Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen.

Er hielt sie fest und drückte sie an sich.

Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung.

Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme und drückte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihrem Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand und rief: »Charlotte, werden Sie mir vergeben?« Der Kuß, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben, brachte Charlotten wieder zu sich selbst.

Sie drückte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf.

Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie aus: »daß dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können wir nicht verhindern; aber daß sie unser wert sei, hängt von uns ab.

Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich.

Ich wollte es verschweigen, bis es gewiß wäre; der Augenblick nötigt mich, dies Geheimnis zu entdecken.

Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut haben, unsre Lage zu ändern, da es von uns nicht abhängt, unsre Gesinnung zu ändern«.

Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf zu stützen, und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.

Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin Eduards empfinden und betrachten mußte.

Ihr kam bei diesen Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter Charakter zu Hülfe.

Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewußt zu sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja sie mußte über sich selbst lächeln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte.

Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan.

Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber.

Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt.

Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.

Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.

Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich auszuziehen.

Die Abschrift des Dokuments küßte er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt.

›O, daß es ein andres Dokument wäre! sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm auch schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt sei.

Bleibt es ja doch in seinen Händen!

Und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?

Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor.

Die warme Nacht lockt ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen.

Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit.

Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern.

Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe.

›Mauern und Riegel‹, sagt er zu sich selbst, ›trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt.

Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewißheit!

Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind.

Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die frühsten Nebel bewältigte.

Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen.

Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben.

Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering.

Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie im Laufe des Tages.

Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen.

Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr; es soll schon alles fertig sein, und für wen?

Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne.

Auch an dem neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens Geburtstage gerichtet werden.

In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr.

Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche.

Wie verändert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen Umgebungen!

Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr.

Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.

Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wünscht den traurigen Folgen zuvorzukommen.

Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe, übermäßig gefördert werden, hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben berechnet.

Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zustande gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse genommen.

Aber sie muß gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung mehr als sonst üben und im Auge haben; denn nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen.

Es war viel angefangen und viel zu tun.

Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen!

Sie beraten sich und kommen überein, man wolle die planmäßigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder aufnehmen und zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom Vorwerksverkauf zurückgeblieben waren.

Es ließ sich fast ohne Verlust durch Zession der Gerechtsame tun; man hatte freiere Hand; man leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck.

Eduard stimmte gern bei, weil es mit seinen Absichten übereintraf.

Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht und sich vorgesetzt, und männlich steht ihr der Freund mit gleichem Sinn zur Seite.

Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt.

Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft, sie beraten sich darüber.

Charlotte schließt Ottilien näher an sich, beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Mädchens.

Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen.

Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung, daß Luciane ein so ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten; denn die Großtante, davon unterrichtet, will sie nun ein für allemal zu sich nehmen, sie um sich haben, sie in die Welt einführen.

Ottilie konnte in die Pension zurückkehren, der Hauptmann entfernte sich wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser.

Ihr eigenes Verhältnis hoffte Charlotte zu Eduard bald wiederherzustellen, und sie legte das alles so verständig bei sich zurecht, daß sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte: in einen frühern, beschränktern Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen.

Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den Weg legte.

Er bemerkte gar bald, daß man ihn und Ottilien auseinanderhielt, daß man ihm erschwerte, sie allein zu sprechen, ja sich ihr zu nähern, außer in Gegenwart von mehreren; und indem er hierüber verdrießlich war, ward er es über manches andere.

Konnte er Ottilien flüchtig sprechen, so war es nicht nur, sie seiner Liebe zu versichern, sondern sich auch über seine Gattin, über den Hauptmann zu beschweren.

Er fühlte nicht, daß er selbst durch sein heftiges Treiben die Kasse zu erschöpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten und den Hauptmann, daß sie bei dem Geschäft gegen die erste Abrede handelten, und doch hatte er in die zweite Abrede gewilligt, ja er hatte sie selbst veranlaßt und notwendig gemacht.

Der Haß ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr.

Auch Ottilie entfremdete sich einigermaßen von Charlotten und dem Hauptmann.

Als Eduard sich einst gegen Ottilien über den letztern beklagte, daß er als Freund und in einem solchen Verhältnisse nicht ganz aufrichtig handle, versetzte Ottilie unbedachtsam: »es hat mir schon früher mißfallen, daß er nicht ganz redlich gegen Sie ist.

Ich hörte ihn einmal zu Charlotten sagen: wenn uns nur Eduard mit seiner Flötendudelei verschonte!

Es kann daraus nichts werden und ist für die Zuhörer so lästig.

Sie können denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gern akkompagniere«.

Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, daß sie hätte schweigen sollen; aber es war heraus.

Eduards Gesichtszüge verwandelten sich.

Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen; er war in seinen liebsten Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne die mindeste Anmaßung bewußt.

Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von Freuden behandelt werden.

Er dachte nicht, wie schrecklich es für einen Dritten sei, sich die Ohren durch ein unzulängliches Talent verletzen zu lassen.

Er war beleidigt, wütend, um nicht wieder zu vergeben.

Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.

Die Notwendigkeit, mit Ottilien zu sein, sie zu sehen, ihr etwas zuzuflüstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage.

Er entschloß sich, ihr zu schreiben, sie um einen geheimen Briefwechsel zu bitten.

Das Streifchen Papier, worauf er dies lakonisch genug getan hatte, lag auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergeführt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kräuseln.

Gewöhnlich, um die Hitze des Eisens zu versuchen, bückte sich dieser nach Papierschnitzeln auf der Erde; diesmal ergriff er das Billet, zwickte es eilig, und es war versengt.

Eduard, den Mißgriff bemerkend, riß es ihm aus der Hand.

Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte nicht ganz so zum zweitenmal aus der Feder.

Er fühlte einiges Bedenken, einige Besorgnis, die er jedoch überwand.

Ottilien wurde das Blättchen in die Hand gedrückt, den ersten Augenblick, wo er sich ihr nähern konnte.

Ottilie versäumte nicht, ihm zu antworten.

Ungelesen steckte er das Zettelchen in die Weste, die, modisch kurz, es nicht gut verwahrte.

Es schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den Boden.

Charlotte sah es und hob es auf und reichte es ihm mit einem flüchtigen Überblick.

»Hier ist etwas von deiner Hand«, sagte sie, »das du vielleicht ungern verlörest«.

Er war betroffen.

›Verstellt sie sich?‹ dachte er.

›Ist sie den Inhalt des Blättchens gewahr worden, oder irrt sie sich an der Ähnlichkeit der Hände? Er hoffte, er dachte das letztre.

Er war gewarnt, doppelt gewarnt; aber diese sonderbaren, zufälligen Zeichen, durch die ein höheres Wesen mit uns zu sprechen scheint, waren seiner Leidenschaft unverständlich; vielmehr, indem sie ihn immer weiter führte, empfand er die Beschränkung, in der man ihn zu halten schien, immer unangenehmer.

Die freundliche Geselligkeit verlor sich.

Sein Herz war verschlossen, und wenn er mit Eduard und Frau zusammenzusein genötigt war, so gelang es ihm nicht, seine frühere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben.

Der stille Vorwurf, den er sich selbst hierüber machen mußte, war ihm unbequem, und er suchte sich durch eine Art von Humor zu helfen, der aber, weil er ohne Liebe war, auch der gewohnten Anmut ermangelte. Über alle diese Prüfungen half Charlotten ihr inneres Gefühl hinweg.

Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewußt, auf eine so schöne, edle Neigung Verzicht zu tun.

Wie sehr wünschte sie, jenen beiden auch zu Hülfe zu kommen!

Entfernung, fühlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein solches Übel zu heilen.

Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege.

Sie sucht sich darüber im allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine paßt auch auf ihren eignen Zustand, den sie auszusprechen scheut.

Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurück in ihr eignes Herz.

Sie will warnen und fühlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte.

Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser.

Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschlüpfen, wirken auf Ottilien nicht; denn Eduard hatte diese von Charlottens Neigung zum Hauptmann überzeugt, sie überzeugt, daß Charlotte selbst eine Scheidung wünsche, die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke.

Ottilie, getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem erwünschtesten Glück, lebt nur für Eduard.

Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestärkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Tun, aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf Erden.

So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.

Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und zwar ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der sehr schöne Aussichten in die Ferne darwies; der andre hingegen, der ein entschiedenes Anerbieten für die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof- und Geschäftsstelle, den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt und andre Vorteile, sollte wegen verschiedener Nebenumstände noch geheimgehalten werden.

Auch unterrichtete der Hauptmann seine Freunde nur von jenen Hoffnungen und verbarg, was so nahe bevorstand.

Indessen setzte er die gegenwärtigen Geschäfte lebhaft fort und machte in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit ungehinderten Fortgang haben könnte.

Es ist ihm nun selbst daran gelegen, daß für manches ein Termin bestimmt werde, daß Ottiliens Geburtstag manches beschleunige.

Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne ausdrückliches Einverständnis, gern zusammen.

Eduard ist nun recht zufrieden, daß man durch das Vorauserheben der Gelder die Kasse verstärkt hat; die ganze Anstalt rückt auf das rascheste vorwärts.

Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, hätte jetzt der Hauptmann am liebsten ganz widerraten.

Der untere Damm war zu verstärken, die mittlern abzutragen und die ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich.

Beide Arbeiten aber, wie sie ineinanderwirken konnten, waren schon angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein ehemaliger Zögling des Hauptmanns, sehr erwünscht, der teils mit Anstellung tüchtiger Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sichs tun ließ, die Sache förderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobei sich der Hauptmann im stillen freute, daß man seine Entfernung nicht fühlen würde.

Denn er hatte den Grundsatz, aus einem übernommenen unvollendeten Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt sähe.

Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen.

So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne daß man es aussprach oder sichs recht aufrichtig bekannte.

Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es doch kein entschiedenes Fest werden.

Die Jugend Ottiliens, ihre Glücksumstände, das Verhältnis zur Familie berechtigten sie nicht, als Königin eines Tages zu erscheinen. Und Eduard wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, überraschen und natürlich erfreuen sollte.

Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande überein, als wenn an diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus gerichtet werden sollte, und bei diesem Anlaß konnte man dem Volke sowie den Freunden ein Fest ankündigen.

Eduards Neigung war aber grenzenlos.

Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte, so kannte er auch kein Maß des Hingebens, Schenkens, Versprechens.

Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren wollte, hatte ihm Charlotte viel zu ärmliche Vorschläge getan.

Er sprach mit seinem Kammerdiener, der seine Garderobe besorgte und mit Handelsleuten und Modehändlern in beständigem Verhältnis blieb; dieser, nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als mit der besten Art, sie zu überreichen, bestellte sogleich in der Stadt den niedlichsten Koffer, mit rotem Saffian überzogen, mit Stahlnägeln beschlagen und angefüllt mit Geschenken, einer solchen Schale würdig.

Noch einen andern Vorschlag tat er Eduarden.

Es war ein kleines Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen versäumt hatte.

Dies konnte man leicht verstärken und erweitern.

Eduard ergriff den Gedanken, und jener versprach, für die Ausführung zu sorgen.

Die Sache sollte ein Geheimnis bleiben.

Der Hauptmann hatte unterdessen, je näher der Tag heranrückte, seine polizeilichen Einrichtungen getroffen, die er für so nötig hielt, wenn eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird. Ja sogar hatte er wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die Anmut eines Festes gestört wird, durchaus Vorsorge genommen.

Eduard und sein Vertrauter dagegen beschäftigten sich vorzüglich mit dem Feuerwerk.

Am mittelsten Teiche vor jenen großen Eichbäumen sollte es abgebrannt werden; gegenüber unter den Platanen sollte die Gesellschaft sich aufhalten, um die Wirkung aus gehöriger Ferne, die Abspiegelung im Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu schwimmen bestimmt war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit anzuschauen.

Unter einem andern Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den Platanen von Gesträuch, Gras und Moos säubern, und nun erschien erst die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Höhe als Breite auf dem gereinigten Boden.

Eduard empfand darüber die größte Freude.

›Es war ungefähr um diese Jahrszeit, als ich sie pflanzte. Wie lange mag es her sein? sagte er zu sich selbst.

Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebüchern nach, die sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr ordentlich geführt hatte.

Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwähnt sein, aber eine andre häuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte, mußte notwendig darin angemerkt stehen.

Er durchblättert einige Bände, der Umstand findet sich.

Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt!

Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.

Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich erwartete Morgen, und nach und nach stellten viele Gäste sich ein; denn man hatte die Einladungen weit umhergeschickt, und manche, die das Legen des Grundsteins versäumt hatten, wovon man soviel Artiges erzählte, wollten diese zweite Feierlichkeit um so weniger verfehlen.

Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schloßhofe, ihren reichen Kranz tragend, der aus vielen stufenweise übereinander schwankenden Laub- und Blumenreifen zusammengesetzt war.

Sie sprachen ihren Gruß und erbaten sich zur gewöhnlichen Ausschmückung seidene Tücher und Bänder von dem schönen Geschlecht.

Indes die Herrschaft speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug weiter fort, und nachdem sie sich eine Zeitlang im Dorfe aufgehalten und daselbst Frauen und Mädchen gleichfalls um manches Band gebracht, so kamen sie endlich, begleitet und erwartet von einer großen Menge, auf die Höhe, wo das gerichtete Haus stand.

Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermaßen zurück.

Sie wollte keinen feierlichen, förmlichen Zug, und man fand Sich daher in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemächlich ein.

Charlotte zögerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht besser; denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so schien es, als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten, als wenn die Feierlichkeit bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen müßte.

Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit grünem Reisig und Blumen, nach Angabe des Hauptmanns, architektonisch ausgeschmückt; allein ohne dessen Mitwissen hatte Eduard den Architekten veranlaßt, in dem Gesims das Datum mit Blumen zu bezeichnen.

Das mochte noch hingehen; allein zeitig genug langte der Hauptmann an, um zu verhindern, daß nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfelde glänzte.

Er wußte dieses Beginnen auf eine geschickte Weise abzulehnen und die schon fertigen Blumenbuchstaben beiseitezubringen.

Der Kranz war aufgesteckt und weit umher in der Gegend sichtbar.

Bunt flatterten die Bänder und Tücher in der Luft, und eine kurze Rede verscholl zum größten Teil im Winde.

Die Feierlichkeit war zu Ende, der Tanz auf dem geebneten und mit Lauben umkreiseten Platze vor dem Gebäude sollte nun angehen.

Ein schmucker Zimmergeselle führte Eduarden ein flinkes Bauermädchen zu und forderte Ottilien auf, welche danebenstand.

Die beiden Paare fanden sogleich ihre Nachfolger, und bald genug wechselte Eduard, indem er Ottilien ergriff und mit ihr die Runde machte.

Die jüngere Gesellschaft mischte sich fröhlich in den Tanz des Volks, indes die Ältern beobachteten.

Sodann, ehe man sich auf den Spaziergängen zerstreute, ward abgeredet, daß man sich mit Untergang der Sonne bei den Platanen wieder versammeln wollte.

Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit dem Kammerdiener, der auf der andern Seite in Gesellschaft des Feuerwerkers die Lusterscheinungen zu besorgen hatte.

Der Hauptmann bemerkte die dazu getroffenen Vorrichtungen nicht mit Vergnügen; er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer mit Eduard sprechen, als ihn derselbe etwas hastig bat, er möge ihm diesen Teil der Feierlichkeit doch allein überlassen.

Schon hatte sich das Volk auf die oberwärts abgestochenen und vom Rasen entblößten Dämme gedrängt, wo das Erdreich uneben und unsicher war.

Die Sonne ging unter, die Dämmerung trat ein, und in Erwartung größerer Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit Erfrischungen bedient.

Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken, künftig von hier die Aussicht auf einen weiten und so mannigfaltig begrenzten See zu genießen.

Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das nächtliche Fest zu begünstigen, als auf einmal ein entsetzliches Geschrei entstand.

Große Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt, man sah mehrere Menschen ins Wasser stürzen.

Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Drängen und Treten der immer zunehmenden Menge.

Jeder wollte den besten Platz haben, und nun konnte niemand vorwärts noch zurück.

Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu tun; denn was war da zu tun, wo niemand hinreichen konnte.

Nebst einigen Entschlossenen eilte der Hauptmann herbei, trieb sogleich die Menge von dem Damm herunter nach den Ufern, um den Hülfreichen freie Hand zu geben, welche die Versinkenden herauszuziehen suchten.

Schon waren alle teils durch eignes, teils durch fremdes Bestreben wieder auf dem Trocknen, bis auf einen Knaben, der durch allzu ängstliches Bemühen, statt sich dem Damm zu nähern, sich davon entfernt hatte.

Die Kräfte schienen ihn zu verlassen, nur einigemal kam noch eine Hand, ein Fuß in die Höhe.

Unglücklicherweise war der Kahn auf der andern Seite, mit Feuerwerk gefüllt, nur langsam konnte man ihn ausladen, und die Hülfe verzögerte sich.

Des Hauptmanns Entschluß war gefaßt, er warf die Oberkleider weg, aller Augen richteten sich auf ihn, und seine tüchtige, kräftige Gestalt flößte jedermann Zutrauen ein; aber ein Schrei der Überraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins Wasser stürzte, jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter Schwimmer den Knaben bald erreichte und ihn, jedoch für tot, an den Damm brachte.

Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet seien.

Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten Knaben; Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur für sich zu sorgen, nach dem Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln.

Er zaudert, bis ihm gesetzte, verständige Leute, die ganz nahe gegenwärtig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beigetragen, auf das heiligste versichern, daß alle gerettet seien.

Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Tee und was sonst nötig wäre, verschlossen ist, daß ein solchen Fällen die Menschen gewöhnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet.

Eduard ist beschäftigt, jedermann zuzureden: man soll bleiben; in kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk soll beginnen.

Charlotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnügen zu verschieben, das jetzt nicht am Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick nicht genossen werden könne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten und dem Retter schuldig sei.

»Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun«, versetzte Eduard.

»Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen wäre nur eine hinderliche Teilnahme«.

Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich sogleich zum Weggehen anschickte.

Eduard ergriff ihre Hand und rief: »wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen!

Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut.

Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen«.

Charlotte schwieg und ging.

Einige folgten ihr, andere diesen; endlich wollte niemand der Letzte sein, und so folgten alle.

Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Platanen.

Er bestand darauf, zu bleiben, so dringend, so ängstlich sie ihn auch bat, mit ihr nach dem Schlosse zurückzukehren.

»Nein, Ottilie!« rief er, »das Außerordentliche geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege.

Dieser überraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen.

Du bist die Meine!

Ich habe dirs schon so oft gesagt und geschworen; wir wollen es nicht mehr sagen und schwören, nun soll es werden«.

Der Kahn von der andern Seite schwamm herüber.

Es war der Kammerdiener, der verlegen anfragte, was nunmehr mit dem Feuerwerk werden sollte.

»Brennt es ab!« rief er ihm entgegen.

»Für dich allein war es bestellt, Ottilie, und nun sollst du es auch allein sehen!

Erlaube mir, an deiner Seite sitzend, es mitzugenießen«.

Zärtlich bescheiden setzte er sich neben sie, ohne sie zu berühren.

Raketen rauschten auf, Kanonenschläge donnerten, Leuchtkugeln stiegen, Schwärmer schlängelten und platzten, Räder gischten, jedes erst einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen und immer gewaltsamer hintereinander und zusammen.

Eduard, dessen Busen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem Blick diese feurigen Erscheinungen.

Ottiliens zartem, aufgeregtem Gemüt war dieses rauschende, blitzende Entstehen und Verschwinden eher ängstlich als angenehm.

Sie lehnte sich schüchtern an Eduard, dem diese Annäherung, dieses Zutrauen das volle Gefühl gab, daß sie ihm ganz angehöre.

Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond aufging und die Pfade der beiden Rückkehrenden beleuchtete.

Eine Figur, den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg und sprach sie um ein Almosen an, da er an diesem Festlichen Tage versäumt worden sei.

Der Mond schien ihm ins Gesicht, und Eduard erkannte die Züge jenes zudringlichen Bettlers.

Aber so glücklich wie er war, konnte er nicht ungehalten sein, konnte es ihm nicht einfallen, daß besonders für heute das Betteln höchlich verpönt worden.

Er forschte nicht lange in der Tasche und gab ein Goldstück hin.

Er hätte jeden gern glücklich gemacht, da sein Glück ohne Grenzen schien.

Zu Hause war indes alles erwünscht gelungen.

Die Tätigkeit des Chirurgen, die Bereitschaft alles Nötigen, der Beistand Charlottens, alles wirkte zusammen, und der Knabe ward wieder zum Leben hergestellt.

Die Gäste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der Ferne zu sehen, als auch um nach solchen verworrnen Szenen ihre ruhige Heimat wieder zu betreten.

Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der nötigen Vorsorge tätigen Anteil genommen; alles war beruhigt, und er fand sich mit Charlotten allein.

Mit zutraulicher Freundlichkeit erklärte er nun, daß seine Abreise nahe bevorstehe.

Sie hatte diesen Abend so viel erlebt, daß diese Entdeckung wenig Eindruck auf sie machte; sie hatte gesehen, wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet war.

Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende Zukunft, aber keine unglückliche zu weissagen.

Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise des Hauptmanns gleichfalls angekündigt.

Er argwohnte, daß Charlotte früher um das Nähere gewußt habe, war aber viel zu sehr mit sich und seinen Absichten beschäftigt, als daß er es hätte übel empfinden sollen.

Im Gegenteil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und ehrenvolle Lage, in die der Hauptmann versetzt werden sollte.

Unbändig drangen seine geheimen Wünsche den Begebenheiten vor. Schon sah er jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien.

Man hätte ihm zu diesem Fest kein größeres Geschenk machen können.

Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den köstlichen kleinen Koffer auf ihrem Tische fand!

Sie säumte nicht, ihn zu eröffnen.

Da zeigte sich alles so schön gepackt und geordnet, daß sie es nicht auseinanderzunehmen, ja kaum zu lüften wagte.

Musselin, Batist, Seide, Schals und Spitzen wetteiferten an Feinheit, Zierlichkeit und Kostbarkeit.

Auch war der Schmuck nicht vergessen.

Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den Fuß zu kleiden; es war aber alles so kostbar und fremd, daß sie sichs in Gedanken nicht zuzueignen getraute.

Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden und ein dankbar gefühltes Blatt an die Freunde von ihm zurückgeblieben.

Er und Charlotte hatten abends vorher schon halben und einsilbigen Abschied genommen.

Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein; denn in dem zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mitteilte, war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die Rede, und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie doch die Sache schon für gewiß und entsagte ihm rein und völlig.

Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie über sich selbst ausgeübt, von andern fordern zu können.

Ihr war es nicht unmöglich gewesen, andern sollte das gleiche möglich sein.

In diesem Sinne begann sie das Gespräch mit ihrem Gemahl, um so mehr offen und zuversichtlich, als sie empfand, daß die Sache ein für allemal abgetan werden müsse.

»Unser Freund hat uns verlassen«, sagte sie; »wir sind nun wieder gegeneinander über wie vormals, und es käme nun wohl auf uns an, ob wir wieder völlig in den alten Zustand zurückkehren wollten«.

Eduard, der nichts vernahm, als was seiner Leidenschaft schmeichelte, glaubte, daß Charlotte durch diese Worte den früheren Witwenstand bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung Hoffnung machen wolle.

Er antwortete deshalb mit Lächeln: »warum nicht?

Es käme nur darauf an, daß man sich verständigte«.

Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: »auch Ottilien in eine andere Lage zu bringen, haben wir gegenwärtig nur zu wählen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr Verhältnisse zu geben, die für sie wünschenswert sind.

Sie kann in die Pension zurückkehren, da meine Tochter zur Großtante gezogen ist; sie kann in ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um mit einer einzigen Tochter alle Vorteile einer standesmäßigen Erziehung zu genießen«.

»Indessen«, versetzte Eduard ziemlich gefaßt, »hat Ottilie sich in unserer freundlichen Gesellschaft so verwöhnt, daß ihr eine andere wohl schwerlich willkommen sein möchte«.

»Wir haben uns alle verwöhnt«, sagte Charlotte, »und du nicht zum letzten.

Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert, die uns ernstlich ermahnt, an das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu versagen«.

»Wenigstens finde ich es nicht billig«, versetzte Eduard, »daß Ottilie aufgeopfert werde, und das geschähe doch, wenn man sie gegenwärtig unter fremde Menschen hinunterstieße.

Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir dürfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen.

Wer weiß, was Ottilien bevorsteht; warum sollten wir uns übereilen?« »Was uns bevorsteht, ist ziemlich klar«, versetzte Charlotte mit einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte, ein für allemal sich auszusprechen, fuhr sie fort: »du liebst Ottilien, du gewöhnst dich an sie.

Neigung und Leidenschaft entspringt und nährt sich auch von ihrer Seite.

Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede Stunde gesteht und bekennt?

Sollen wir nicht soviel Vorsicht haben, uns zu fragen, was das werden wird?« »Wenn man auch sogleich nicht darauf antworten kann«, versetzte Eduard, der sich zusammennahm, »so läßt sich doch soviel sagen, daß man eben alsdann sich am ersten entschließt abzuwarten, was uns die Zukunft lehren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache werden soll«.

»Hier vorauszusehen«, versetzte Charlotte, »bedarf es wohl keiner großen Weisheit, und soviel läßt sich auf alle Fälle gleich sagen, daß wir beide nicht mehr jung genug sind, um blindlings dahin zu gehen, wohin man nicht möchte oder nicht sollte.

Niemand kann mehr für uns sorgen; wir müssen unsre eigenen Freunde sein, unsre eigenen Hofmeister.

Niemand erwartet von uns, daß wir uns in ein Äußerstes verlieren werden, niemand erwartet, uns tadelnswert oder gar lächerlich zu finden«.

»Kannst du mirs verdenken«, versetzte Eduard, der die offne, reine Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern vermochte, »kannst du mich schelten, wenn mir Ottiliens Glück am Herzen liegt?

Und nicht etwa ein künftiges, das immer nicht zu berechnen ist, sondern ein gegenwärtiges?

Denke dir aufrichtig und ohne Selbstbetrug Ottilien aus unserer Gesellschaft gerissen und fremden Menschen untergeben – ich wenigstens fühle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veränderung zuzumuten«.

Charlotte ward gar wohl die Entschlossenheit ihres Gemahls hinter seiner Verstellung gewahr.

Erst jetzt fühlte sie, wie weit er sich von ihr entfernt hatte.

Mit einiger Bewegung rief sie aus: »kann Ottilie glücklich sein, wenn sie uns entzweit, wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreißt?« »Für unsere Kinder, dächte ich, wäre gesorgt«, sagte Eduard lächelnd und kalt; etwas freundlicher aber fügte er hinzu: »wer wird auch gleich das Äußerste denken!« »das Äußerste liegt der Leidenschaft zu allernächst«, bemerkte Charlotte.

»Lehne, solange es noch Zeit ist, den guten Rat nicht ab, nicht die Hülfe, die ich uns biete.

In trüben Fällen muß derjenige wirken und helfen, der am klarsten sieht.

Diesmal bin ichs.

Lieber, liebster Eduard, laß mich gewähren!

Kannst du mir zumuten, daß ich auf mein wohlerworbenes Glück, auf die schönsten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll?« »Wer sagt das?« versetzte Eduard mit einiger Verlegenheit.

»Du selbst«, versetzte Charlotte; »indem du Ottilien in der Nähe behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen muß?

Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht überwinden kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr betriegen können«.

Eduard fühlte, wie recht sie hatte.

Ein ausgesprochenes Wort ist fürchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur für den Augenblick auszuweichen, erwiderte Eduard: »es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast«.

»Meine Absicht war«, versetzte Charlotte, »mit dir die beiden Vorschläge zu überlegen.

Beide haben viel Gutes.

Die Pension würde Ottilien am gemäßesten sein, wenn ich betrachte, wie das Kind jetzt ist.

Jene größere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich bedenke, was sie werden soll«.

Sie legte darauf umständlich ihrem Gemahl die beiden Verhältnisse dar und schloß mit den Worten: »was meine Meinung betrifft, so würde ich das Haus jener Dame der Pension vorziehen aus mehreren Ursachen, besonders aber auch, weil ich die Neigung, ja die Leidenschaft des jungen Mannes, den Ottilie dort für sich gewonnen, nicht vermehren will«.

Eduard schien ihr Beifall zu geben, nur aber, um einigen Aufschub zu suchen.

Charlotte, die darauf ausging, etwas Entscheidendes zu tun, ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar widersprach, die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im stillen vorbereitet hatte, auf die nächsten Tage festzusetzen.

Eduard schauderte, er hielt sich für verraten und die liebevolle Sprache seiner Frau für ausgedacht, künstlich und planmäßig, um ihn auf ewig von seinem Glücke zu trennen.

Er schien ihr die Sache ganz zu überlassen; allein schon war innerlich sein Entschluß gefaßt.

Um nur zu Atem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der Entfernung Ottiliens abzuwenden, entschied er sich, sein Haus zu verlassen, und zwar nicht ganz ohne Vorbewußt Charlottens, die er jedoch durch die Einleitung zu täuschen verstand, daß er bei Ottiliens Abreise nicht gegenwärtig sein, ja sie von diesem Augenblick an nicht mehr sehen wolle.

Charlotte, die gewonnen zu haben glaubte, tat ihm allen Vorschub.

Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die nötige Anweisung, was er einpacken und wie er ihm folgen solle, und so, wie schon im Stegreife, setzte er sich hin und schrieb.

»Das Übel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder nicht, dies nur fühle ich: wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln soll, so muß ich Aufschub finden für mich, für uns alle.

Indem ich mich aufopfre, kann ich fordern.

Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter günstigern, ruhigern Aussichten zurück.

Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien.

Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen.

Sorge für sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur immer liebevoller, freundlicher und zarter.

Ich verspreche, kein heimliches Verhältnis zu Ottilien zu suchen.

Laßt mich lieber eine Zeitlang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will mir das Beste denken.

Denkt auch so von mir.

Nur, was ich dich bitte, auf das innigste, auf das lebhafteste: mache keinen Versuch, Ottilien sonst irgendwo unterzugeben, in neue Verhältnisse zu bringen!

Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir, und ich werde mich ihrer bemächtigen.

Ehrst du aber meine Neigung, meine Wünsche, meine Schmerzen, schmeichelst du meinem Wahn, meinen Hoffnungen, so will ich auch der Genesung nicht widerstreben, wenn sie sich mir anbietet«.

Diese letzte Wendung floß ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen.

Ja, wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich an zu weinen.

Er sollte auf irgendeine Weise dem Glück, ja dem Unglück, Ottilien zu lieben, entsagen!

Jetzt fühlte er, was er tat.

Er entfernte sich, ohne zu wissen, was daraus entstehen konnte.

Er sollte sie wenigstens jetzt nicht wiedersehen; ob er sie je widersähe, welche Sicherheit konnte er sich darüber versprechen?

Aber der Brief war geschrieben; die Pferde standen vor der Tür; jeden Augenblick mußte er fürchten, Ottilien irgendwo zu erblicken und zugleich seinen Entschluß vereitelt zu sehen.

Er faßte sich; er dachte, daß es ihm doch möglich sei, jeden Augenblick zurückzukehren und durch die Entfernung gerade seinen Wünschen näher zu kommen.

Im Gegenteil stellte er sich Ottilien vor, aus dem Hause gedrängt, wenn er bliebe.

Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab und schwang sich aufs Pferd.

Als er beim Wirtshause vorbeitritt, sah er den Bettler in der Laube sitzen, den er gestern nacht so reichlich beschenkt hatte.

Dieser saß behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte sich ehrerbietig, ja anbetend vor Eduarden.

Eben diese Gestalt war ihm gestern erschienen, als er Ottilien am Arm führte; nun erinnerte sie ihn schmerzlich an die glücklichste Stunde seines Lebens.

Seine Leiden vermehrten sich; das Gefühl dessen, was er zurückließ, war ihm unerträglich; nochmals blickte er nach dem Bettler: »o du Beneidenswerter!« rief er aus; »du kannst noch am gestrigen Almosen zehren und ich nicht mehr am gestrigen Glücke!« Ottilie trat ans Fenster, als sie jemanden wegreiten hörte, und sah Eduarden noch im Rücken.

Es kam ihr wunderbar vor, daß er das Haus verließ, ohne sie gesehen, ohne ihr einen Morgengruß geboten zu haben.

Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen weiten Spaziergang mit sich zog und von mancherlei Gegenständen sprach, aber des Gemahls, und wie es schien vorsätzlich, nicht erwähnte. Doppelt betroffen war sie daher, bei ihrer Zurückkunft den Tisch nur mit zwei Gedecken besetzt zu finden.

Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Fällen. Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum erstenmal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen, als wenn sie abgesetzt wäre.

Die beiden Frauen saßen gegeneinander über; Charlotte sprach ganz unbefangen von der Anstellung des Hauptmanns und von der wenigen Hoffnung, ihn bald wiederzusehen.

Das einzige tröstete Ottilien in ihrer Lage, daß sie glauben konnte, Eduard sei, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm nachgeritten.

Allein da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen unter dem Fenster, und als Charlotte einigermaßen unwillig fragte, wer ihn hieher bestellt habe, so antwortete man ihr, es sei der Kammerdiener, der hier noch einiges aufpacken wolle.

Ottilie brauchte ihre ganze Fassung, um ihre Verwunderung und ihren Schmerz zu verbergen.

Der Kammerdiener trat herein und verlangte noch einiges.

Es war eine Mundtasse des Herrn, ein paar silberne Löffel und mancherlei, was Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein längeres Außenbleiben zu deuten schien.

Charlotte verwies ihm sein Begehren ganz trocken: sie verstehe nicht, was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles, was sich auf den Herrn beziehe, selbst im Beschluß.

Der gewandte Mann, dem es freilich nur darum zu tun war, Ottilien zu sprechen und sie deswegen unter irgendeinem Vorwande aus dem Zimmer zu locken, wußte sich zu entschuldigen und auf seinem Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie auch zu gewähren wünschte; allein Charlotte lehnte es ab, der Kammerdiener mußte sich entfernen, und der Wagen rollte fort.

Es war für Ottilien ein schrecklicher Augenblick.

Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf geraume Zeit entrissen war, konnte sie fühlen.

Charlotte fühlte den Zustand mit und ließ sie allein.

Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern.

Sie litt unendlich.

Sie bat nur Gott, daß er ihr nur über diesen Tag weghelfen möchte; sie überstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wiedergefunden, glaubte sie, ein anderes Wesen anzutreffen.

Sie hatte sich nicht gefaßt, sich nicht ergeben, aber sie war nach so großem Verluste noch da und hatte noch mehr zu befürchten.

Ihre nächste Sorge, nachdem das Bewußtsein wiedergekehrt, war sogleich, sie möchte nun, nach Entfernung der Männer, gleichfalls entfernt werden.

Sie ahnte nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Aufenthalt neben Charlotten gesichert war; doch diente ihr das Betragen Charlottens zu einiger Beruhigung.

Diese suchte das gute Kind zu beschäftigen und ließ sie nur selten, nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wußte, daß man mit Worten nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag, so kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des Bewußtseins, und brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache.

So war es für diese ein großer Trost, als jene gelegentlich mit Bedacht und Vorsatz die weise Betrachtung anstellte: »wie lebhaft ist«, sagte sie, »die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe über leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen!

Laß uns freudig und munter in das eingreifen, was die Männer unvollendet zurückgelassen haben; so bereiten wir uns die schönste Aussicht auf ihre Rückkehr, indem wir das, was ihr stürmendes, ungeduldiges Wesen zerstören möchte, durch unsre Mäßigung erhalten und fördern«.

»Da Sie von Mäßigung sprechen, liebe Tante«, versetzte Ottilie, »so kann ich nicht bergen, daß mir dabei die Unmäßigkeit der Männer, besonders was den Wein betrifft, einfällt.

Wie oft hat es mich betrübt und geängstigt, wenn ich bemerken mußte, daß reiner Verstand, Klugheit, Schonung anderer, Anmut und Liebenswürdigkeit selbst für mehrere Stunden verlorengingen und oft statt alles des Guten, was ein trefflicher Mann hervorzubringen und zu gewähren vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte!

Wie oft mögen dadurch gewaltsame Entschließungen veranlaßt werden!« Charlotte gab ihr recht, doch setzte sie das Gespräch nicht fort; denn sie fühlte nur zu wohl, daß auch hier Ottilie bloß Eduarden wieder im Sinne hatte, der zwar nicht gewöhnlich, aber doch öfter, als es wünschenswert war, sein Vergnügen, seine Gesprächigkeit, seine Tätigkeit durch einen gelegentlichen Weingenuß zu steigern pflegte.

Hatte bei jener Äußerung Charlottens sich Ottilie die Männer, besonders Eduarden, wieder herandenken können, so war es ihr um desto auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des Hauptmanns wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache sprach, wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards frühern Versicherungen sich vorstellen mochte.

Durch alles dies vermehrte sich die Aufmerksamkeit Ottiliens auf jede Äußerung, jeden Wink, jede Handlung, jeden Schritt Charlottens. Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu wissen.

Charlotte durchdrang indessen das einzelne ihrer ganzen Umgebung mit scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Gewandtheit, wobei sie Ottilien beständig teilzunehmen nötigte.

Sie zog ihren Haushalt ohne Bänglichkeit ins Enge; ja, wenn sie alles genau betrachtete, so hielt sie den leidenschaftlichen Vorfall für eine Art von glücklicher Schickung.

Denn auf den bisherigen Wege wäre man leicht ins Grenzenlose geraten und hätte den schönen Zustand reichlicher Glücksgüter, ohne sich zeitig genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und Treiben, wo nicht zerstört, doch erschüttert.

Was von Parkanlagen im Gange war, störte sie nicht.

Sie ließ vielmehr dasjenige fortsetzen, was zum Grunde künftiger Ausbildung liegen mußte; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Ihr zurückkehrender Gemahl sollte noch genug erfreuliche Beschäftigung finden.

Bei diesen Arbeiten und Vorsätzen konnte sie nicht genug das Verfahren des Architekten loben.

Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet vor ihren Augen und die neuentstandenen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt und beraset.

An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit vollbracht, was zur Erhaltung nötig war, besorgt, und dann machte sie einen Abschluß da, wo man mit Vergnügen wieder von vorn anfangen konnte.

Dabei war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur; denn in allem beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet werde oder nicht.

Nichts interessierte sie an allem als diese Betrachtung.

Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben versammelte und die darauf abzielte, den weitläufig gewordenen Park immer rein zu erhalten.

Eduard hatte schon den Gedanken gehegt.

Man ließ den Knaben eine Art von heiterer Montierung machen, die sie in den Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und gesäubert hatten.

Die Garderobe war im Schloß; dem verständigsten, genausten Knaben vertraute man die Aufsicht an; der Architekt leitete das Ganze, und ehe man sichs versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses Geschick. Man fand an ihnen eine bequeme Dressur, und sie verrichteten ihr Geschäft nicht ohne eine Art von Manöver.

Gewiß, wenn sie mit ihren Scharreisen, gestielten Messerklingen, Rechen, kleinen Spaten und Hacken und wedelartigen Besen einherzogen, wenn andre mit Körben hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine beiseitezuschaffen, andre das hohe, große, eiserne Walzenrad hinter sich herzogen, so gab es einen hübschen, erfreulichen Aufzug, in welchem der Architekt eine artige Folge von Stellungen und Tätigkeiten für den Fries eines Gartenhauses sich anmerkte; Ottilie hingegen sah darin nur eine Art von Parade, welche den rückkehrenden Hausherrn bald begrüßen sollte.

Dies gab ihr Mut und Lust, ihn mit etwas Ähnlichem zu empfangen.

Man hatte zeither die Mädchen des Dorfes im Nähen, Stricken, Spinnen und andern weiblichen Arbeiten zu ermuntern gesucht.

Auch diese Tugenden hatten zugenommen seit jenen Anstalten zu Reinlichkeit und Schönheit des Dorfes.

Ottilie wirkte stets mit ein, aber mehr zufällig, nach Gelegenheit und Neigung.

Nun gedachte sie es vollständiger und folgerechter zu machen. Aber aus einer Anzahl Mädchen läßt sich kein Chor bilden wie aus einer Anzahl Knaben.

Sie folgte ihrem guten Sinne, und ohne sichs ganz deutlich zu machen, suchte sie nichts, als einem jeden Mädchen Anhänglichkeit an sein Haus, seine Eltern und seine Geschwister einzuflößen.

Das gelang ihr mit vielen.

Nur über ein kleines, lebhaftes Mädchen wurde immer geklagt, daß sie ohne Geschick sei und im Hause nun ein für allemal nichts tun wolle.

Ottilie konnte dem Mädchen nicht feind sein, denn ihr war es besonders freundlich.

Zu ihr zog es sich, mit ihr ging und lief es, wenn sie es erlaubte.

Da war es tätig, munter und unermüdet.

Die Anhänglichkeit an eine schöne Herrin schien dem Kinde Bedürfnis zu sein.

Anfänglich duldete Ottilie die Begleitung des Kindes; dann faßte sie selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich nicht mehr, und Nanny begleitete ihre Herrin überallhin.

Diese nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute sich über das schöne Gedeihen.

Die Beeren- und Kirschenzeit ging zu Ende, deren Spätlinge jedoch Nanny sich besonders schmecken ließ.

Bei dem übrigen Obste, das für den Herbst eine so reichliche Ernte versprach, gedachte der Gärtner beständig des Herrn und niemals, ohne ihn herbeizuwünschen.

Ottilie hörte dem guten alten Manne so gern zu.

Er verstand sein Handwerk vollkommen und hörte nicht auf, ihr von Eduard vorzusprechen.

Als Ottilie sich freute, daß die Pfropfreiser dieses Frühjahrs alle so gar schön gekommen, erwiderte der Gärtner bedenklich: »ich wünsche nur, daß der gute Herr viel Freude daran erleben möge.

Wäre er diesen Herbst hier, so würde er sehen, was für köstliche Sorten noch von seinem Herrn Vater her im alten Schloßgarten stehen.

Die jetzigen Herren Obstgärtner sind nicht so zuverlässig, als sonst die Kartäuser waren.

In den Katalogen findet man wohl lauter honette Namen.

Man pfropft und erzieht und endlich, wenn sie Fürchte tragen, so ist es nicht der Mühe wert, daß solche Bäume im Garten stehen«.

Am wiederholtesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er Ottilien sah, nach der Rückkunft des Herrn und nach dem Termin derselben.

Und wenn Ottilie ihn nicht angeben konnte, so ließ ihr der gute Mann nicht ohne stille Betrübnis merken, daß er glaube, sie vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr das Gefühl der Unwissenheit, das ihr auf diese Weise recht aufgedrungen ward.

Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen.

Was sie zusammen zum Teil gesäet, alles gepflanzt hatten, stand nur im völligen Flor; kaum bedurfte es noch einer Pflege, außer daß Nanny immer zum Gießen bereit war.

Mit welchen Empfindungen betrachtete Ottilie die späteren Blumen, die sich erst anzeigten, deren Glanz und Fülle dereinst an Eduards Geburtstag, dessen Feier sie sich manchmal versprach, prangen, ihre Neigung und Dankbarkeit ausdrücken sollten!

Doch war die Hoffnung, dieses Fest zu sehen, nicht immer gleich lebendig.

Zweifel und Sorgen umflüsterten stets die Seele des guten Mädchens.

Zu einer eigentlichen, offnen Übereinstimmung mit Charlotten konnte es auch wohl nicht wieder gebracht werden.

Denn freilich war der Zustand beider Frauen sehr verschieden. Wenn alles beim alten blieb, wenn man in das Gleis des gesetzmäßigen Lebens zurückkehrte, gewann Charlotte an gegenwärtigem Glück, und eine frohe Aussicht in die Zukunft öffnete sich ihr; Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen alles; denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden, und in dem gegenwärtigen Zustande fühlte sie eine unendliche Leere, wovon sie früher kaum etwas geahnet hatte.

Denn ein Herz, das sucht, fühlt wohl, daß ihm etwas mangle; ein Herz, das verloren hat, fühlt, daß es entbehre.

Sehnsucht verwandelt sich in Unmut und Ungeduld, und ein weibliches Gemüt, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus seinem Kreise herausschreiten, tätig werden, unternehmen und auch etwas für sein Glück tun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt.

Wie konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre eigne Überzeugung die Sache für bekannt annahm und als entschieden voraussetzte, daß ein freundschaftliches, ruhiges Verhältnis zwischen ihrem Gatten und Ottilien möglich sei.

Wie oft aber lag diese nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den Knieen vor dem eröffneten Koffer und betrachtete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts gebraucht, nichts zerschnitten, nichts gefertigt.

Wie oft eilte das gute Mädchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle ihre Glückseligkeit gefunden hatte, ins Freie hinaus, in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach.

Auch auf dem Boden mochte sie nicht verweilen.

Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den See; dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den bewegten Wellen schaukeln, las, träumte sich in die Fremde, und immer fand sie dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe geblieben, er dem ihrigen.

Daß jener wunderlich tätige Mann, den wir bereits kennengelernt, daß Mittler, nachdem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Teil noch seine Hülfe angerufen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit zu beweisen, zu üben geneigt war, läßt sich denken.

Doch schien es ihm rätlich, erst eine Weile zu zaudern; denn er wußte nur zu wohl, daß es schwerer sei, gebildeten Menschen bei sittlichen Verworrenheiten zu Hülfe zu kommen als ungebildeten.

Er überließ sie deshalb eine Zeitlang sich selbst; allein zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten und eilte, Eduarden aufzusuchen, dem er schon auf die Spur gekommen war.

Sein Weg führte ihn zu einem angenehmen Tal, dessen anmutig grünen, baumreichen Wiesengrund die Wasserfülle eines immer lebendigen Baches bald durchschlängelte, bald durchrauschte.

Auf den sanften Anhöhen zogen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen hin.

Die Dörfer lagen nicht zu nah aneinander, das Ganze hatte einen friedlichen Charakter, und die einzelnen Partieen, wenn auch nicht zum Malen, schienen doch zum Leben vorzüglich geeignet zu sein.

Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen, bescheidenen Wohnhause, von Gärten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen.

Er vermutete, hier sei Eduards gegenwärtiger Aufenthalt, und er irrte nicht.

Von diesem einsamen Freunde können wir soviel sagen, daß er sich im stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und dabei mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte.

Er konnte sich nicht leugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wünsche, daß er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.

Dann schwankte seine Einbildungskraft in allen Möglichkeiten herum.

Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen können, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen.

Hier sollte sie still für sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich sein und, wenn ihn eine selbstquälerische Einbildungskraft noch weiter führte, vielleicht mit einem andern glücklich sein.

So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Tränen und Heiterkeit, zwischen Vorsätzen, Vorbereitungen und Verzweiflung.

Der Anblick Mittlers überraschte ihn nicht.

Er hatte dessen Ankunft längst erwartet, und so war er ihm auch halb willkommen.

Glaubte er ihn von Charlotten gesendet, so hatte er sich schon auf allerlei Entschuldigungen und Verzögerungen und sodann auf entscheidendere Vorschläge bereitet; hoffte er nun aber von Ottilien wieder etwas zu vernehmen, so war ihm Mittler so lieb als ein himmlischer Bote.

Verdrießlich daher und verstimmt war Eduard, als er vernahm, Mittler komme nicht von dorther, sondern aus eignem Antriebe.

Sein Herz verschloß sich, und das Gespräch wollte sich anfangs nicht einleiten.

Doch wußte Mittler nur zu gut, daß ein liebevoll beschäftigtes Gemüt das dringende Bedürfnis hat, sich zu äußern, das, was in ihm vorgeht, vor einem Freunde auszuschütten, und ließ sich daher gefallen, nach einigem Hin- und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.

Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: »o, ich wüßte nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte!

Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe.

Ich habe den unschätzbaren Vorteil, mir denken zu können, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht.

Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt.

Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich sein!

Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir zu nähern.

Ich schreibe süße, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen.

Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und das will ich halten.

Aber was bindet sie, daß sie sich nicht zu mir wendet?

Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von ihr zu fordern, daß sie mir nicht schreiben, keine Nachricht von sich geben wolle?

Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich, und doch finde ich es unerhört, unerträglich.

Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine Arme zu werfen?

Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das.

Wenn sich etwas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Türe.

Sie soll hereintreten!

Denk ich, hoff ich.

Ach!

Und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche müsse möglich werden.

Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, daß ich eine Art von Versicherung hätte, sie denke mein, sie sei mein.

Eine einzige Freude bleibt mir noch.

Da ich ihr nahe war, träumte ich nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne, sind wir im Traume zusammen, und sonderbar genug: seit ich andre liebenswürdige Personen hier in der Nachbarschaft kennengelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir sagen wollte: siehe nur hin und her! Du findest doch nichts Schöneres und Lieberes als mich.

Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Träume.

Alles, was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch- und übereinander.

Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige; beide löschen einander aus, beide verschlingen sich.

Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der Phantasie.

Manchmal tut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe, dann fühl ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich über alle Beschreibung geängstet bin.

Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält mich; aber sogleich verändert sich ihr Bild, ihr schönes, rundes, himmlisches Gesichtchen verlängert sich: es ist eine andre.

Aber ich bin doch gequält, unbefriedigt und zerrüttet.

Lächeln Sie nicht, lieber Mittler, oder lächeln Sie auch! O ich schäme mich nicht dieser Anhänglichkeit, dieser, wenn Sie wollen, törigen, rasenden Neigung.

Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heißt.

Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennenlernte, bis ich sie liebte und ganz und eigentlich liebte.

Man hat mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Rücken den Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stümpere nur in den meisten Dingen.

Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich als Meister zeigen kann.

Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens übertrifft.

Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein tränenreiches; aber ich finde es mir so natürlich, so eigen, daß ich es wohl schwerlich je wieder aufgebe«.

Durch diese lebhaften, herzlichen Äußerungen hatte sich Eduard wohl erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, daß er, vom schmerzlichen Widerstreit überwältigt, in Tränen ausbrach, die um so reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war. Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen schmerzlichen Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise verschlagen sah, äußerte aufrichtig und derb seine Mißbilligung.

Eduard – hieß es solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner Manneswürde schuldig sei, solle nicht vergessen, daß dem Menschen zur höchsten Ehre gereiche, im Unglück sich zu fassen, den Schmerz mit Gleichmut und Anstand zu ertragen, um höchlich geschätzt, verehrt und als Muster aufgestellt zu werden.

Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefühlen, wie Eduard war, mußten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen.

»Der Glückliche, der Behagliche hat gut reden«, fuhr Eduard auf; »aber schämen würde er sich, wenn er einsähe, wie unerträglich er dem Leidenden wird.

Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der starre Behagliche nicht anerkennen.

Es gibt Fälle, ja, es gibt deren!

Wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist.

Verschmäht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiß, keineswegs, die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen.

Selbst im Sprüchwort sagt er: tränenreiche Männer sind gut. Verlasse mich jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist!

Ich verwünsche die Glücklichen, denen der Unglückliche nur zum Spektakel dienen soll.

Er soll sich in der grausamsten Lage körperlicher und geistiger Bedrängnis noch edel gebärden, um ihren Beifall zu erhalten, und, damit sie ihm beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator mit Anstand vor ihren Augen umkommen.

Lieber Mittler, ich danke Ihnen für Ihren Besuch; aber Sie erzeigten mir eine große Liebe, wenn Sie sich im Garten, in der Gegend umsähen.

Wir kommen wieder zusammen.

Ich suche gefaßter und Ihnen ähnlicher zu werden«.

Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er so leicht nicht wieder anknüpfen konnte.

Auch Eduarden war es ganz gemäß, das Gespräch weiter fortzusetzen, das ohnehin zu seinem Ziele abzulaufen strebte.

»Freilich«, sagte Eduard, »hilft das Hin- und Widerdenken, das Hin- und Widerreden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefühlt, wozu ich mich entschließen sollte, wozu ich entschlossen bin.

Ich sehe mein gegenwärtiges, mein zukünftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und Genuß habe ich zu wählen.

Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung, die so notwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung!

Ich will nicht weiter ausführen, warum ich glaube, daß sie zu erlangen sein wird.

Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns glücklich!« Mittler stockte.

Eduard fuhr fort: »Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen.

Sehen Sie dieses Glas!

Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten.

Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen.

Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat«.

»O wehe mir«, rief Mittler, »was muß ich nicht mit meinen Freunden für Geduld haben!

Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das Schädlichste, was bei den Menschen einkehren kann, verhaßt bleibt.

Wir spielen mit Voraussagungen und Träumen und machen dadurch das alltägliche Leben bedeutend.

Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster nur noch fürchterlicher«.

»Lassen Sie in dieser Ungewißheit des Lebens«, rief Eduard, »zwischen diesem Hoffen und Bangen dem bedürftigen Herzen doch nur eine Art von Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach steuern kann«.

»Ich ließe mirs wohl gefallen«, versetzte Mittler, »wenn dabei nur einige Konsequenz zu hoffen wäre, aber ich habe immer gefunden: auf die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und versprechenden allein ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube für sie ganz allein lebendig«.

Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen geführt sah, in denen er sich immer unbehaglicher fühlte, je länger er darin verweilte, so nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen hieß, etwas williger auf.

Denn was wollte er überhaupt Eduarden in diesem Augenblicke noch entgegensetzen?

Zeit zu gewinnen, zu erforschen, wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach seinen eignen Gesinnungen zu tun übrigblieb.

Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefaßt und heiter fand.

Sie unterrichtete ihn gern von allem, was vorgefallen war; denn aus Eduards Reden konnte er nur die Wirkung abnehmen.

Er trat von seiner Seite behutsam heran, konnte es aber nicht über sich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur im Vorbeigehn auszusprechen.

Wie verwundert, erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er daher, als Charlotte ihm in Gefolg so manches Unerfreulichen endlich sagte: »ich muß glauben, ich muß hoffen, daß alles sich wieder geben, daß Eduard sich wieder nähern werde.

Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie mich guter Hoffnung finden«.

»Versteh ich Sie recht?« fiel Mittler ein.

»Vollkommen«, versetzte Charlotte.

»Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht!« rief er, die Hände zusammenschlagend.

»Ich kenne die Stärke dieses Arguments auf ein männliches Gemüt.

Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt, wiederhergestellt!

Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fürwahr die beste Hoffnung ist, die wir haben können.

Doch«, fuhr er fort, »was mich betrifft, so hätte ich alle Ursache, verdrießlich zu sein.

In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe nicht geschmeichelt.

Bei euch kann meine Tätigkeit keinen Dank verdienen.

Ich komme mir vor wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen tat, der aber selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte.

Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine Bemühungen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären«.

Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu tun, was herzustellen sei.

Er wollte das nicht eingehen.

»Alles ist schon getan«, rief er aus.

»Schreiben Sie!

Ein jeder Bote ist so gut als ich.

Muß ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich nötiger bin.

Ich komme nur wieder, um Glück zu wünschen; ich komme zur Taufe«.

Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden.

Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine Übereilung war schuld an manchem Mißlingen.

Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er.

Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.

Der Brief konnte ebensogut für Nein als für Ja entscheiden.

Er wagte lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen, als er das Blatt gelesen, versteinert bei folgender Stelle, womit es sich endigte: »gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine Gattin abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme schlossest.

Laß uns in dieser seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels verehren, die für ein neues Band unserer Verhältnisse gesorgt hat in dem Augenblick, da das Glück unseres Lebens auseinanderzufallen und zu verschwinden droht«.

Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, würde schwer zu schildern sein.

In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum auszufüllen.

Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite Aushülfe.

Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten.

Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, daß er nicht mehr sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich machen könne.

Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen Entschluß verheimlichte.

Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein Testament auf; es war ihm eine süße Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu können.

Für Charlotten, für das Ungeborne, für den Hauptmann, für seine Dienerschaft war gesorgt.

Der wieder ausgebrochene Krieg begünstigte sein Vorhaben.

Militärische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen.

Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner Anführung ist der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß.

Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden, betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurück.

Sie hatte nichts weiter zu sagen.

Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht.

Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzuteilen gedenken.

Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben, gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und Preises würdig erscheint.

So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau, verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wußte.

Schon sein Äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und Neigung erweckte.

Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu groß, bescheiden ohne ängstlich, zutraulich ohne zudringend zu sein.

Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein günstiger Einfluß.

Die Fremden ließ man ihn gewöhnlich empfangen, und er wußte einen unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen wenigstens dergestalt darauf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequemlichkeit daraus entsprang.

Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache zur Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung, Charlotten dennoch innig berührte.

Wir müssen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Dingen einen Anstoß gab, die sonst vielleicht lange geruht hätten.

Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte.

Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden.

Der übrige Raum war geebnet.

Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pförtchen führte, war das übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und blühte.

Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besäet werden.

Niemand konnte leugnen, daß diese Anstalt beim sonn- und festtätigen Kirchgang eine heitere und würdige Ansicht gewährte.

Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der anfänglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewesen, hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philomon, mit seiner Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah, der noch überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.

Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht; denn die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten.

Von ebensolcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestätte vor mehreren Jahren ausbedungen und dafür der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte.

Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu widerrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiterzahlen werde, weil die Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.

Charlotte, die Urheberin dieser Veränderung, wollte den jungen Mann selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut seine und seines Prinzipals Gründe darlegte und der Gesellschaft manches zu denken gab.

»Sie sehen«, sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte, »Sie sehen, daß dem Geringsten wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die Seinigen aufbewahrt.

Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es eine Art von Trost, ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als der Schmerz währt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.

Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und schützen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer für mehrere Jahre.

Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben Begüterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der für mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt werden kann.

Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute.

Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.

Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhügel als im Denkmal, denn dieses ist für sich eigentlich nur wenig; aber um dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten, Verwandte, Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Mißwollende auch von der Seite seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.

Ich halte deswegen dafür, daß mein Prinzipal völlig recht habe, die Stiftung zurückzunehmen; und dies ist noch billig genug, denn die Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofür gar kein Ersatz zu denken ist.

Sie sollen das schmerzlich süße Gefühl entbehren, ihren Geliebten ein Totenopfer zu bringen, die tröstliche Hoffnung, dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen«.

»Die Dache ist nicht von der Bedeutung«,versetzte Charlotte, »daß man sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte.

Meine Anstalt reut mich so wenig, daß ich die Kirche gern wegen dessen, was ihr entgeht, entschädigen will.

Nur muß ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre Argumente haben mich nicht überzeugt.

Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige, starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse.

– Und was sagen Sie hierzu?« richtete sie ihre Frage an den Architekten.

»Ich möchte«, versetzte dieser, »in einer solchen Sache weder streiten noch den Ausschlag geben.

Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am nächsten liegt, bescheidentlich äußern.

Seitdem wir nicht mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken, da wir weder reich noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten Sarkophagen zu verwahren, ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz für uns und für die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie gewiesen sind, so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie, meine gnädige Frau, eingeleitet haben, zu billigen.

Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich nichts natürlicher und reinlicher, als daß man die zufällig entstandenen, nach und nach zusammensinkenden Hügel ungesäumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen, einem jeden leichter gemacht werde«.

»Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles so vorübergehen?« versetzte Ottilie.

»Keineswegs!« fuhr der Architekt fort; »nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen.

Der Baukünstler, der Bildhauer sind höchlich interessiert, daß der Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von ihrer Hand eine Dauer seines Daseins erwarte; und deswegen wünschte ich gut gedachte, gut ausgeführte Monumente, nicht einzeln und zufällig ausgesäet, sondern an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen können.

Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den Kirchen persönlich zu ruhen, so stelle man wenigstens dort oder in schönen Hallen um die Begräbnisplätze Denkzeichen, Denkschriften auf.

Es gibt tausenderlei Formen, die man ihnen vorschreiben, tausenderlei Zieraten, womit man sie ausschmücken kann«.

»Wenn die Künstler so reich sind«, versetzte Charlotte, »so sagen Sie mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines kleinlichen Obelisken, einer abgestutzten Säule und eines Aschenkrugs herausfinden?

Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich rühmen, habe ich immer nur tausend Wiederholungen gesehen«.

»Das ist wohl bei uns so«, entgegnete ihr der Architekt, »aber nicht überall.

Und überhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung eine eigne Sache sein.

Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten Gegenstand zu erheitern und bei einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu geraten.

Was Entwürfe zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele gesammelt und zeige sie gelegentlich; doch bleibt immer das schönste Denkmal des Menschen eigenes Bildnis.

Dieses gibt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem, was er war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten; nur müßte es aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewöhnlich versäumt wird.

Niemand denkt daran, lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht, so geschieht es auf unzulängliche Weise.

Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heißt man eine Büste.

Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig wiederzubeleben!« »Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen und zu wollen«, versetzte Charlotte, »dies Gespräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt.

Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht, steht es für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die eigentliche Grabstätte bezeichne.

Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfindung bekennen?

Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren.

Gedenkt man, wieviel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute!

Wir begegnen dem Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten, ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden.

Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen ihre trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.