Montag
1
Wie der Wagen dorthin gekommen war, wusste im Nachhinein niemand. Aber als der Morgen dämmerte, stand er plötzlich im Wendehammer am Ende des Charlottenwegs. Keine zwei Meter von der Garageneinfahrt entfernt geparkt, verdeckte er für Besucher die Sicht auf den gepflasterten Weg zur Haustür – und für die Bewohner verschandelte er den Ausblick auf die idyllischen Pferdekoppeln, die von dichten Baumreihen begrenzt wurden.
Auf dem kleinen Hügel rechts erhob sich hinter den Pappeln ein klotziges Mietshaus, das schon zur Nachbarstraße gehörte, und links dämmte der Grünstreifen den Lärm der nahen Königsallee, auf der schon der Berufsverkehr eingesetzt hatte.
»Was ist das für eine Kiste?«, fragte Irmhild Sonnenschein mit einem Nicken in Richtung Fenster, als sie in die Küche trat.
Ihr Lebensgefährte, der gerade den Kaffee eingoss, zog die Schultern hoch. »Stand schon da, als ich die Rollläden hochgezogen habe.«
Während die kleine Frau im Stehen ein wenig von der heißen Brühe abtrank, schielte sie über den Rand der Tasse zu dem blauen Kleinlaster hinaus. Auf der verschrammten Seitenwand stand die verblasste Reklameschrift eines Malerbetriebs, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Führerhaus und Ladefläche waren leer.
»Hast du Anstreicher bestellt?«, wollte sie wissen.
Der Mann schüttelte den Kopf: »Wir haben uns ja noch nicht mal auf eine Farbe geeinigt …«
Sie stellte die Tasse ab, küsste ihren Gatten kurz auf den Mund und trat in den Korridor, um eine ihrer gediegenen Kostümjacken überzustreifen und sich den Aktenkoffer zu greifen. Dann steckte sie noch einmal ihre leicht ergrauten Locken durch die Tür: »Sorgst du dafür, dass dieses Monster verschwindet? Da ist nicht mal ein Nummernschild dran.«
Kennzeichen heißt das, dachte er.
»Vielleicht kannst du den Abschleppdienst noch anrufen, bevor du zum Zahnarzt fährst. Ich muss jetzt leider los. Aber mach dir keinen Stress. Reicht ja schon, dass du gleich eine Sitzung beim Doc hast, du Armer.«
Seine Wurzelbehandlung – unangenehme Sache, an die er nur ungern erinnert wurde. Er blickte auf die große Bahnhofsuhr an der Küchenwand und nickte. Ihm blieb noch genug Zeit bis zu seinem Termin. »Ich kümmere mich darum.«
Eine Minute später erschien Irmhild Sonnenscheins Dienstwagen im Wendehammer. Sie winkte noch einmal, setzte sich nach vorne zum Fahrer in den Benz und entschwand seinen Blicken.
Beißner aß in aller Ruhe seine Käseschnitte auf, putzte die gleichmäßigen Reihen seiner Zähne und zog sich das Telefon heran. Ein Blick durchs Fenster, dann wählte er die Telefonnummer, die auf der Seitenwand des Pritschenwagens stand.
Nach sieben oder acht Klingelzeichen hob jemand ab: »Hallo?«
Der Stimme nach musste die Frau am anderen Ende schon über siebzig sein. Beißner schluckte seinen Ärger herunter und erklärte freundlich, um was es ging.
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Vor zehn Jahren ist mein Mann gestorben und da habe ich die Firma aufgelöst und den Wagen verkauft.«
»Wissen Sie noch, an wen?«
»Das waren zwei junge Männer aus Litauen oder Lettland. Aber wie sie hießen? Vergessen. Und die Unterlagen habe ich mittlerweile alle entsorgt.«
»Trotzdem Dank für die Auskunft. Und entschuldigen Sie die Störung.« Er legte auf und holte das gelbe Branchenbuch aus dem Flur. Staunte darüber, wie viele Abschleppunternehmen es in Bochum gab. Er wählte jenes, das für die Stadtverwaltung die Falschparker aus der Innenstadt entfernte.
»Beißner. Irgendjemand hat ein Schrottauto vor dem Haus der Oberbürgermeisterin geparkt. Charlottenweg 37. Ich möchte, dass Sie das Teil so schnell wie möglich entfernen.«
»Moment: Steht der Wagen auf einer öffentlichen …«
»Das ist hier eine Anliegerstraße. Die einzigen Anlieger auf dreihundert Meter Entfernung sind wir. Das Auto steht zum Teil auf unserem Boden, hat kein Kennzeichen und ein Fahrer ist nicht zu sehen. Es muss weg.«
»Aber …«
»Wollen Sie der Oberbürgermeisterin etwa diese Bitte abschlagen?«
»Schon gut. Wir kommen und sehen, was sich machen lässt.«
Beißner lächelte, als er den Hörer weglegte. Kaum eine Kommune im Umkreis ließ so rigide abschleppen wie Bochum. Wenn die Stadt dem Unternehmen ihre Gunst entzog, konnte die Firmenleitung das Handtuch werfen.
Beißner räumte das Geschirr in die Spülmaschine und beseitigte alle weiteren Spuren des Frühstücks. Dann rief er in seiner Kanzlei in Hattingen an: »Anke, wann habe ich heute den ersten Termin?«
»Um drei.«
»Das Haus in der Königsteiner Straße?«
»Genau.«
»Der Vertrag ist fertig?«
»Chef!«
»Schon gut. Sie sind …«
»Eine Perle, ich weiß.«
Zufrieden drückte Beißner die Verbindung weg. Er mochte seine schlagfertige Sekretärin. Sie hielt ihm alle nervigen Arbeiten vom Hals.
Nach einem Blick auf seinen Junkers-Chronografen stellte er fest, dass er sich sputen musste.
Vor dem Spiegel korrigierte er noch schnell den Sitz seiner Krawatte, zog das Jackett an und legte den leichten Mantel über den Arm. Dann schaltete er die Alarmanlage scharf und trat vor die Haustür. Gönnte dem Schrotthaufen, wie Irmhild ihn genannt hatte, noch einen Blick: Na, so alt war die Kiste doch noch nicht. Dann ließ er das Garagentor hochfahren. Seinen Mantel warf er auf den Beifahrersitz seines roten Mercedes Cabrio, ließ die 245 Pferde kurz aufheulen und den Wagen rückwärts aus der Garage gleiten. Sobald er das Tor passiert hatte, fuhr er die Außenspiegel aus und schnallte sich ordnungsgemäß an.
Zeitgleich kurvte ein gelber Abschleppwagen quietschend auf den Wendehammer. Der Fahrer, ein untersetzter Mittdreißiger, sah zunächst den unrechtmäßig parkenden Kleinlaster und beobachtete dann das glänzende Cabrio, das sacht aus der Garage rollte. Angeberschlitten, dachte er. Brauchen diese alten Säcke doch nur als Dosenöffner.
Keiner der beiden Männer bemerkte das schwarze Kabel. Es führte von dem abgestellten Lieferwagen durch die Gosse an der Garageneinfahrt vorbei und verschwand in dem Buschwerk, das den Wendehammer begrenzte.
Langsam näherten sich die Hinterräder des Cabrios dem Kabel und glitten fast zärtlich darüber. In derselben Sekunde explodierte die glatte Front des Magirus-Deutz. Der Luftdruck war so stark, dass er den Sportwagen aus dem Weg fegte und noch im Nussbaumweg etliche Fensterscheiben zerfetzte. Der folgende Splitterregen aus geschrotetem Metall verwandelte die rechte Seite des Benz in ein Sieb. Beißners Zahnarzt würde heute vergeblich auf diesen Patienten warten.
2
»Theo, mach endlich!«
»Gleich, Papa, ich muss nur noch …«
Mager seufzte und bemühte sich, sein jüngstes Kind nicht anzuschreien: »Hör mal, dein Raumschiff kannst du heute Nachmittag noch fertig bauen. Aber Mama und ich müssen arbeiten. Und du musst in die Kita! Und vorher gibt es Frühstück. Mit leerem Magen …«
»Aber ich hab keinen Hunger. Und ihr frühstückt doch lieber im Büro, weil Kalle immer Brötchen mitbringt. Die sind nämlich viel leckerer als Mamas Biobrot. Ich will auch mit euch Brötchen …«
»Das geht nicht, weil wir beim Frühstück schon über die Arbeit reden. Und weil in der Kita um neun Uhr die Tür abgeschlossen wird und Mama erst drei Vaterunser beten muss, bis man euch doch noch reinlässt.«
»Wer ist dieser Vater Unsel?«
»Vaterunser heißt das. Das ist der Anfang eines Zauberspruchs, den die Christen gerne aufsagen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Also, lass jetzt die Legosteine liegen!«
»Aber …«
Mein Gott, dachte der bärtige Atheist unwillkürlich, wer hat dem Kind bloß dieses Wort beigebracht?
»Wo bleibt ihr denn?«, rief Karin Jacobmayer aus der Küche. »Theo, deine Milch wird kalt! Und Klaus muss noch …«
Kurz entschlossen packte Mager seinen Sprössling unter den Armen und hob ihn hoch. Theo reagierte mit lautem Geschrei und heftigem Strampeln und versuchte, sich am Türpfosten festzuhalten. Mühsam zog Mager ihn weiter und stolperte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Konnte das Blag nicht ein einziges Mal gehorchen?
Als er mit seiner Last unten ankam, war er schweißgebadet. Nur noch drei Schritte bis zur Küche, doch an der Garderobe passierte es. Theo erwischte Magers Lederjacke und testete ihre Qualitäten als Notbremse. Schon stimmte er ein lautes Freudengeheul an, als man durch das Gebrüll hindurch ein heftiges Ratschen hörte.
Mager ließ das Kind los und blickte entsetzt auf das nagelneue Kleidungsstück. Vom Kragen bis zum Saum klaffte in dem sonnengelben Futter ein Riss.
»Mensch, Kalle, du Knallkopf!«
»Ich bin nicht Kalle, ich bin Theo!«
»Daran musst du dich gewöhnen«, meldete sich die Kindsmutter aus der Küche. »Dein Vater ist jetzt in einem Alter …«
Mager schubste Theo beiseite, packte die ruinierte Jacke und stürmte los, um sie Karin unter die Nase zu halten: »Ich bin vor allem in einem Alter, in dem ich mal ordentliche Klamotten tragen sollte!«
»Finde ich auch«, meinte Karin und ließ ihre rote Mähne auf und ab wippen. Demonstrativ musterte sie das T-Shirt und die ausgefransten Jeans ihres Mannes. Beide waren einmal tiefschwarz gewesen, hatten sich aber inzwischen den grauen Strähnen in Magers Bart und Haupthaar angepasst.
»Lenk nicht ab! Das Teil war nagelneu. Bis vor einer halben Minute, als dein Sohn …«
»… unser Sohn …«
»… dieses Blag da die Jacke von der Garderobe gerissen hat!«
Karin zog die Schultern hoch: »Wer kauft auch schon eine Lederjacke, wenn der Aufhänger am Futter befestigt ist statt am Kragen!«
»Ja, klar, ich bin wieder schuld. Und warum kommst du nicht wie jede gute Hausfrau mit, wenn ihr Mann neue Klamotten braucht? Und was ist mit dem Theater, das Theo immer …«
»Wie hast du mich genannt? Hausfrau? Bei dir piept es wohl!«
Karin warf das Messer auf den Tisch, mit dem sie gerade fettarmen Quark auf Theos Dinkelbrot strich: »Hier, mach du deinem Sohn das Frühstück! Hättest die Jacke eben vernünftig auf einen Bügel hängen sollen.«
»Verstehst du nicht? Die ist im …«
Mager fing einen warnenden Blick seiner zweiten Ehefrau auf und ließ seinen Satz anders enden. »Die ist hinüber! Zweihundertfünfzig Euronen sind futsch.«
»Unsinn. Die kannst du umtauschen.«
»Bestimmt nicht«, jammerte Mager. »Diese Sondergrößen sind immer zuerst weg.«
»Sondergrößen?«, fragte Karin erstaunt. »Ach ja, die Ärmel. Von Größe kann man dabei aber nicht reden. Auch nicht von Länge. Eher von extra kurz. Damit du nicht darin ertrinkst. Und dafür hast du fünfhundert Mark …«
Mager gab es auf und goss sich, noch immer stehend, eine Tasse Kaffee ein. Dabei fiel ihm auf, dass der Sohn sich verdünnisiert hatte.
Eilig stellte er den Becher ab und walzte los. Schon halb auf der Treppe, fiel ihm auf, dass die Toilettentür weit offen stand. Ihr Sohn saß mit heruntergelassenen Hosen auf dem Thron und versuchte, aus einem Stück Toilettenpapier eine flugfähige Schwalbe zu basteln.
»Wieso sitzt du hier herum?«
»Papa«, sagte Theo tadelnd. »Wenn ihr euch schon am frühen Morgen streitet, bekomme ich Durchfall.«
Einen Augenblick schwankte der Erzeuger zwischen Lachanfall und Kindsmord. Kurz bevor die zweite Reaktion siegen konnte, klingelte das Telefon. Immer noch kochend drückte Mager die grüne Taste: »Ja?«
»Guten Morgen, Väterchen!«, meldete sich Kalle. »Was ist? Wir warten!«
»Dein Bruder hat gerade …«
»Uninteressant«, unterbrach ihn sein Erstgeborener. »In Bochum ist gerade eine Bombe explodiert. Vor dem Haus der Oberbürgermeisterin!«
»Woher weißt du das schon wieder?«
»Woher wohl? Atze!«
Atze war ein Freak, der von morgens bis nachts den Äther über dem Ruhrgebiet abhörte und Wichtiges gegen Geld weitergab. Wenn die Polizei ihre Nachrichtenwege wie geplant digitalisierte und verschlüsselte, musste er sich einen anderen Zusatzverdienst zu Hartz IV suchen.
»Ich bin schon unterwegs!«, versicherte Mager und atmete erleichtert auf: Jetzt musste sich Karin darum kümmern, den widerspenstigen Sohn pünktlich in die Tagesstätte zu bringen.
Eilig räumte der Bärtige seine ruinierte Lederjacke aus und stopfte alles, was er fand, in die Taschen ihrer Vorgängerin. Hätte er auf seine Ehefrau gehört, wäre das abgeschabte Stück schon vor Monaten in der Kleiderkammer der Obdachlosenhilfe gelandet. Aber jetzt zeigte sich, dass sich Sturheit auch mal auszahlte.
»Gesegnete Mahlzeit«, knurrte er, trank noch einen Schluck Kaffee und warf einen wütenden Blick auf den Sohn, der jetzt brav am Tisch saß und sein Biobrot mampfte. Verräter, dachte er und verschwand im Treppenhaus.
3
»Morgen, Hiltrud. Was liegt an?«
»Wird voll heute, Frau Sonnenschein.«
Die Oberbürgermeisterin beugte sich über den Terminkalender, den die Sekretärin ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte: Zuerst war die Steuergruppe angesagt, dann gab es bis mittags Einzelgespräche im 15-Minuten-Takt, anschließend hatte sie einen Kindergarten und eine eiserne Hochzeit zu besuchen, bevor sie sich zur Montagsrunde mit dem Personalrat traf.
Die Sekretärin wartete geduldig ab und musterte – zum wievielten Mal eigentlich – die gestochen scharfen Reptilienfotos, die gerahmt an der Wand hinter dem Schreibtisch hingen. Am besten gefiel ihr das mittlere Bild, ein Chamäleon. Ob die Sonnenschein sich manchmal wünschte, sie wäre Fotografin geworden?
»In Ordnung, Hiltrud. Haben Sie noch mal den Catering-Service kontaktiert? Ich möchte sicher sein …«
»Alles erledigt. Die Leute kommen um Punkt achtzehn Uhr zu Ihnen ins Haus.«
»Und die Putzkolonne ist bis dahin fertig?«
»Selbstverständlich.«
»Okay. Ich möchte, dass unsere jüdischen Gäste bestens bewirtet werden. Zur Steuergruppe: Haben die Herren noch Themenwünsche angemeldet?«
»Bis jetzt nicht.«
»Gut.«
»Nur …«
»Ja?«
Hiltrud Ehlers deutete auf einen dünnen roten Schnellhefter, der unter der Postmappe lag: »Sie wollten doch diese Bauamtssache zur Sprache bringen!«
Ja, Potthoff, dieser Idiot, dachte die Oberbürgermeisterin. Wurde Zeit, Klartext zu reden. Aber ausgerechnet heute?
»Das passt zeitlich nicht mehr. Das machen wir nächste Woche in aller Ruhe.«
Die Sekretärin nickte und ließ ihre Chefin allein in deren Büro.
Sonnenschein setzte sich und öffnete die Mappe mit den Unterlagen für die Runde mit den Wahlbeamten und Amtsleitern. Eigentlich war diese Truppe ihr Generalstab, ohne den nichts lief – aber der neumodische Begriff Steuergruppe hörte sich gleich viel demokratischer an.
Die Telefonanlage blinkte auf und die OB drückte die Sprechtaste: »Ja?«
»Frau Sonnenschein, die Vorsitzende des Personalrats. Es sei dringend.«
Sonnenschein blickte auf die Uhr. Wenn Otters mit dem Hinweis ›dringend‹ kam, gab es Probleme. Und die Frau war zäh.
»Fünf Minuten. Mehr kann ich ihr jetzt nicht geben.«
Eine Frau Mitte vierzig kam herein, bunte Bluse, Jeans, Ledersandalen, ein wenig abgehetzt. Als Hausmeisterin eines Gymnasiums hatte sie längst alle falsche Ehrfurcht vor echten oder eingebildeten Autoritäten verloren. Dementsprechend forsch trat sie auf.
»Morgen, Frau Otters. Wo brennt’s?«
»Morgen!« Die Personalratsfrau legte als Antwort ein paar Blatt Papier auf den Tisch, eng beschrieben, mit dem Kopiervermerk der Stadt versehen. »Die Personalabteilung will jetzt doch die letzten Reinigungsdienste privatisieren. Hier das neueste Rechenmodell.«
Sonnenschein nahm die Blätter, überflog sie, prüfte das Datum, hob fragend beide Augenbrauen. »Wie sind Sie denn daran gekommen?«
»Dienstgeheimnis«, erwiderte Otters und lächelte. »Aber Fakt ist: Die Sache ist echt. Und Sie haben dem Personalrat versprochen, diese Pläne zu stoppen!«
Die OB nickte zustimmend. Solange die Bezirksregierung der Stadt keine neue Einsparung befahl, wollten Rat und Verwaltung auf weitere Privatisierungen verzichten.
»Ich weiß gar nicht, warum Herr Vandrey schon wieder rechnet«, überlegte Sonnenschein laut.
»Kann ich Ihnen sagen«, kam es prompt zurück. »Eine der vier großen Reinigungsfirmen gehört seinem Schwager, eine zweite seiner Cousine. Muss ich noch mehr erläutern?«
Verdammter Filz. Unausrottbar. Und in einer Großstadt wie Bochum konnte sie nicht alles selbst kontrollieren. »Verstehe. Ich gehe der Sache nach. Und solange Arnsberg uns nicht dazu zwingt …«
»Danke.«
Die Tür hatte sich noch nicht hinter der Personalratsvorsitzenden geschlossen, da vertiefte sich die OB wieder in die Akten und nahm sich das Rechtsgutachten zum Anschluss der Stadtautobahn an die A 40 vor. Das Projekt war älter als die Hälfte der Bochumer Bürger, aber ein einziger findiger Rechtsanwalt hatte jeden Fehler der Verwaltung gnadenlos ausgenutzt und den Verkehrsplanern immer wieder in die Suppe gespuckt. Als sie noch nicht OB war, hatte ihr der Typ in gewissem Sinne sogar imponiert – aber inzwischen zeugten endlose Staus am Ende des Donezk-Rings davon, dass man das Teil fertig bauen musste. Leider saßen im Planungsamt noch dieselben Vierer-Juristen wie damals.
Zehn Minuten später hatten sich die Dezernenten und Amtschefs – allesamt Männer – sowie Sonnenscheins Stellvertreterin versammelt. Lina Tenberge war mit achtunddreißig die jüngste der drei Bürgermeisterinnen. Kühl und entschlossen, aber nicht ohne Reize. Mit ihrem faltenlosen Antlitz und der makellosen Figur wäre sie all den jungen Hühnern, die sich um den Titel Germany’s Next Topmodel bewarben, eine heiße Konkurrentin gewesen und zog nicht nur im Rathaus so manch neidischen oder sehnsüchtigen Blick auf sich.
Tenberge gehörte zu den drei Frauen, die der OB zur Seite stehen sollten, und war die einzige aus derselben Partei wie die First Lady. Nach alter Bochumer Sitte wurde nämlich auch die schwarze Opposition stets mit einem Bürgermeisteramt bedacht, und seit die Bunten als Koalitionspartner gebraucht wurden, bekamen auch sie einen dieser Posten.
Dieses ›Bochumer Modell‹ hatte sich über Jahrzehnte bewährt. Die Auserwählten fühlten sich gebauchpinselt, weil sie ein hohes Amt erhalten hatten, und ihre Fraktionen waren damit im Streitfall bereits halb entwaffnet: Weil sie ja offiziell zur Stadtspitze gehörten, verbot sich jedes ernsthafte Aufbegehren von selbst. Auch die diversen Oberbürgermeister profitierten von diesem Verfahren, denn sie konnten Repräsentationspflichten zweiter und dritter Güte an ihre dankbaren Hilfskeulen weiterreichen. Zu sagen hatten diese Möchtegern-Stellvertreterinnen im Grunde genommen aber nichts.
»Alle da?«
Sonnenschein sah in die Runde. Wer noch fehlte, war wie immer Hartmut Potthoff, der schwergewichtige Boss des Bauamtes. Anfangs hatte der Mann stets seine Verspätungen damit entschuldigt, der altersschwache Paternoster würde wegen seines Gewichts nur zentimeterweise vorankommen – aber dieser altertümliche Endlosaufzug war schon seit Jahren außer Betrieb. Wurde wirklich höchste Zeit, diesem selbstherrlichen Fettkloß einen Denkzettel zu verpassen, dachte die OB.
Sie räusperte sich: »Also gut. Frau Bürgermeisterin, meine Herren!«
Es klopfte kurz an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, steckte Sonnenscheins Sekretärin ihren Kopf durch den Türspalt. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber da ist ein äußerst wichtiger Anruf für Sie, Frau Sonnenschein.«
Die OB atmete übertrieben seufzend aus. »Kann das nicht warten? Wer ist es denn?«
»Die Polizei. Man wollte mir nicht sagen, worum es geht. Aber es sei sehr dringend.«
Die kleine Frau mit dem hohen Amt erhob sich mit einer Geste der Entschuldigung und ging direkt an den Apparat im Vorzimmer, um das Gespräch entgegenzunehmen.
In diesem Moment traf Potthoff ein. Er atmete schwer, weil er offensichtlich die Treppe genommen hatte, und auf seiner Glatze glänzte ein leichter Schweißfilm.
Als er Sonnenschein noch im Vorzimmer sah, stutzte er. Und gemeinsam mit der Sekretärin wurde er Zeuge, wie die Augen der Oberbürgermeisterin sich plötzlich weiteten. Ihr Gesicht entfärbte sich und sie stammelte: »Wie bitte? Lukas? Tot?«
Dann sank sie, die rechte Hand vor den Mund gepresst, auf einen Stuhl und schluchzte los.
4
Auf dem Hof galt Magers erster Blick dem Zustand seines Dienstwagens, der hinter dem Nachbarhaus stand. Auf den Scheiben des silbergrauen Skodas perlte der Tau des Sommermorgens und die Hecktür war noch geschlossen – Kalle hatte noch nicht einmal begonnen, die Ausrüstung zu verladen. Offenbar hatte der Bursche inzwischen völlig vergessen, was mit dem Begriff ›Tempo‹ gemeint war.
Der Bärtige eilte an der Durchfahrt zur Straße vorbei und enterte die kleine Treppe, die zum zweiten der beiden Vorderhäuser führte. Als er die Tür aufstieß, prallte er mit seinem Erstgeborenen zusammen, der mit Kamera und Gerätekoffer beladen war.
»Wo bleibst du denn?«, fuhr ihn der Sohn an. »Wir müssen als Erste in Bochum sein.«
»Und warum ist der Wagen noch nicht startklar?«
»Soll ich alles …«
»Sollst du, Kalle. Genau das ist dein Job. Du bist hier nur Assistent! Und wenn hier einer herummeckern darf, dann bin ich das. Verstanden? Ist wenigstens mein Kaffee fertig?«
Kalle fehlten die Worte. Was war bloß los mit dem Alten? War in letzter Zeit nur noch auf Konfrontationskurs.
»Und was ist mit Susanne?«
»Die telefoniert gerade mit dem WDR.«
»Wunderbar. Dann ist ja doch noch Zeit für einen Kaffee. Sieh zu, dass du inzwischen den Wagen fit bekommst.«
Mager schob sich an seinem Sohn vorbei in die Firma. Sie bestand noch immer aus einer Nasszelle und drei Arbeitsräumen, von denen der größte sein Filmarchiv und das inzwischen veraltete Mischpult barg: Videosequenzen wurden längst am Computer geschnitten.
Die Luft war so stickig, dass er in seiner Lederjacke sofort einen Schweißausbruch bekam. Überhaupt war die Kutte bei diesem Wetter völlig ungeeignet. Zum Glück hing noch seine Jeansjacke über der Stuhllehne.
Während er Geldbörse, Handy und Zigaretten zum zweiten Mal an diesem Morgen umpackte, warf er einen Blick in das Büro der Chefin. Susanne schwebte, die Füße auf der Tischkante und einen Telefonhörer am Ohr, in ihrem Kippsessel und legte warnend einen Finger auf die Lippen.
Der Kameramann verstand. Beim Sender gab es seit zwei Jahren eine Chefin vom Dienst, deren Durchsetzungsvermögen sich gewaschen hatte. Und wenn sie am Telefon ihre Anweisungen durchgab, hatten die Auftragnehmer – egal ob Männlein oder Weiblein – zu schweigen.
»Maria?«, flüsterte Mager.
Susanne nickte und legte ihre freie Hand über das Mikro: »Das Dossier von der Sonnenschein!«
»Ausdrucken?«
»Mach!«
Mager nickte, goss sich einen Kaffee ein und verzog sich in sein Archiv. Hier saß er immer noch am liebsten: Erstens schätzte er diesen Raum, weil er dort noch rauchen durfte, zweitens lagerten hier sämtliche Filmrollen aus der 16-mm-Zeit und drittens ging das Fenster zum Hof hinaus.
Von da aus hatte er einen guten Blick auf das Hinterhaus, das in seinem privaten Wertesystem das Reich des Bösen war.
Während sein Computer hochfuhr und Kalle draußen die Scheiben des Skoda polierte, zündete Klaus-Ulrich Mager sich die erste Zigarette des Tages an und schaute hinaus. Dieser Hinterhof tief im Westen Dortmunds symbolisierte beruflich die letzten fünfundzwanzig Jahre, also fast die Hälfte seines Lebens – und privat noch viel mehr. Denn durch eine bizarre Verknüpfung von Lebensentscheidungen und Zufällen wohnten hier auch jene drei Frauen auf engstem Raum zusammen, mit denen er insgesamt über dreißig Jahre seines Lebens geteilt hatte.
Sein unbestreitbarer Lebensmittelpunkt war das Vorderhaus, in dem er gerade saß. Hier residierte die PEGASUS FILM UND VIDEO GbR, die er einst mit seiner Jugendliebe Susanne Ledig gegründet hatte. Gemeinsam wollten sie mit sozialkritischen Reportagen die Macht der Herrschenden erschüttern – und mussten oftmals froh sein, für irgendeine Baumarktkette eines dieser Endlos-Videos über die Vorzüge einer neuen Schleifmaschine drehen zu dürfen. Und es war verdammt lang her, dass sie mit ihrem roten Lada-Kombi durchs Ruhrgebiet gezogen waren, um der Polizei bei Ermittlungen gegen den blühenden Rathausfilz und machtgeile Politiker zu helfen. Natürlich auf die ihnen eigene Art und Weise.
Inzwischen war Susanne Alleininhaberin der Firma und zudem in jener Partei gelandet, die es nach Magers Meinung schon seit neunzig Jahren nicht mehr verdiente, in den Medien als ›rot‹ bezeichnet zu werden. Dieser Schritt hatte PEGASUS manchen lukrativen Auftrag verschafft, Susanne aber zu Kompromissen veranlasst, die ihren Kameramann bisweilen an den Rand der Alkoholsucht trieben. Umso mehr schätzte Mager es, dass die Chefin trotz des Aufschwungs bescheiden über den Büros im ersten Stock des PEGASUS-Hauptquartiers wohnte – in dessen Dachgeschoss er selbst ein paar Jahre gehaust hatte.
Während Karins Schwangerschaft wäre Mager am liebsten ins Hinterhaus gezogen. Dort hatten sich einst die entscheidenden Dramen seiner gescheiterten Ehe mit Kalles Mutter Mechthild abgespielt. Aber diese weigerte sich beharrlich, ihre Zwingburg zu verlassen, und terrorisierte nun dort ihren zweiten Ehemann, einen berufsmüden Lehrer, der zu spät gemerkt hatte, dass es noch schlimmere Menschen gab als seine Schüler.
Kurz vor Theos Geburt aber wurde das rechte Vorderhaus frei: Die türkische Familie, die dort viele Jahre gewohnt hatte, bezog ein schickes Eigenheim am Ende der Steinhammerstraße und bot ihre alte Hütte zum Verkauf an. Bevor Mechthild und ihr neuer Ehemann davon Wind bekommen konnten, renovierten Mager und Karin den Bau und verfügten dort über mehr Platz, als ihnen das Hinterhaus geboten hätte. Zudem war Magers zweite Gattin heilfroh darüber, nicht in Räumen leben zu müssen, in denen auf ewig der Ungeist ihrer Vorgängerin herumspuken würde. Es reichte schon, dass Mechthild und die Bewohner der beiden Vorderhäuser dieselbe Hofeinfahrt benutzen mussten. Dadurch waren Konflikte geradezu vorprogrammiert.
»Klaus!«
Susanne stand im Flur, Ungeduld in den Augen. »Fertig?«
»Gleich …« Hektisch klickte er sich durch mehrere Verzeichnisse und suchte den Ordner, in dem Artikel und Notizen über Ruhrgebietspolitiker gespeichert waren. Die Datei mit dem Namen Sonnenschein suchte er vergeblich.
»Mach schon!«
»Ja doch. Bin gleich soweit!«
Susanne war weniger zuversichtlich. Energisch schob sie seinen Schreibtischstuhl zur Seite: »Weg da, ich mach’s schon. Sonst kommt noch eine Neuauflage des Kommunistischen Manifests aus dem Drucker.«
Minuten später saßen sie zu dritt im Wagen. Kalle steuerte das Fahrzeug geschickt durch die enge Ausfahrt, zog den Octavia dann nach rechts und raste viel zu schnell die enge Steinhammerstraße entlang in Richtung A 40, die in Dortmund immer noch B 1 hieß.
»Und was sagt der Sender?«, wollte Mager wissen.
»Maria meinte, mit etwas Glück kommen wir heute in die Tagesschau!«
»Beachtlich«, konstatierte Mager, ohne wirklich daran zu glauben. Sie hatten es in roter Vorzeit zwar mehrfach in die Aktuelle Kamera des DDR-Fernsehens geschafft, aber in die Tagesschau erst ein einziges Mal – und das nur für Sekunden. Vielleicht nehmen die ja jetzt einen ganzen Bericht? Wäre richtig gut, dachte er und versuchte auszurechnen, wie sich das auf die Firmenkonten auswirken würde. »Auch wenn’s nicht klappt: Von mir aus können die Bochumer jede Woche einen von ihren Promis in die Luft jagen.«
5
Kriminalhauptkommissar Horst Lohkamp begann auch diesen Montag mit einer Kulthandlung, die er seit dem Frühjahr jeden Morgen mit wachsendem Genuss vollzog: Noch im Schlafanzug trat er an den großen Kalender, der in der Küche hing, und ergänzte seinen persönlichen Countdown um eine weitere Zahl. Begonnen hatte er mit vierhundertvierundzwanzig, aber jetzt …
»Zweihundertzwanzig«, verkündete er seiner Gattin, während er sich ein Tässchen koffeinfreien Kaffee einschüttete. »Wenn man die Wochenenden, den Urlaub und den Freizeitausgleich abzieht, habe ich allerhöchstens noch hundert Tage zu arbeiten.«
»Freie Wochenenden? Urlaubsausgleich? Und wovon träumst du nachts?«
»Von dir, Liebste«, versicherte er und begab sich auf den Balkon seiner Eigentumswohnung, die in einem der schöneren Viertel von Recklinghausen lag.
»Zieh dir doch wenigstens den Morgenmantel über«, empfahl ihm die Gattin. »Muss doch nicht jeder sehen, dass du noch im Schlafanzug deinen Kaffee trinkst.«
»Ach Gabi«, sagte er und ließ sich ächzend in einem der bequemen Liegestühle nieder. »Erstens wohnen wir im zweiten Stock, da sieht mich sowieso keiner. Zweitens habe ich Urlaub. Und was die Leute an der Nordseestraße über mich denken, ist mir schon seit vielen Jahren egal.«
»Aber mir ist nicht egal, was sie über mich denken!«
»Häng doch ein Plakat ans Fenster«, grinste er und hob die Kaffeetasse. »Horst soll sich anziehen, hört aber nicht auf mich. Dann bist du aus dem Schneider.«
Er kicherte, legte die Beine hoch und schlug die Zeitung auf, um sich den Vorberichten über die neue Bundesligasaison zu widmen. Doch er kam nicht über die Überschriften hinaus. Drinnen schlug das Telefon an, und Sekunden später erschien Gabi, um ihm den Hörer zu reichen.
»Bochum. Der Präsident will dich sprechen«, raunte sie. »Bist du da?«
»Wo soll ich sonst sein?«
»Ich könnte sagen, du bist gerade mit dem Hund raus.«
»Aber wir haben doch …«
»Das weiß Flenner doch nicht!«
Lohkamp sah seine Frau einen Augenblick sprachlos an. Dann sagte er: »Ach Gabi, jetzt weiß ich wieder, warum ich dich geheiratet habe. Nein, gib ruhig her!«
Er setzte die Stummschaltung außer Funktion und meldete sich.
»Kunkol hier, guten Morgen!«, flötete die Vorzimmerdame. »Der Herr Polizeipräsident möchte Sie sprechen. Momeeentchen, ich stelle duarch!« Drei Takte des Bochumer Jungenliedes ertönten, dann war der Chef selbst dran: »Morgen, Herr Lohkamp. Die WM gut überstanden?«
»Danke, ja. Der Objektschutz an den WM-Hotels war wunderbar. Und meine Enkelin freut sich über die vielen Autogramme.«
»Sehen Sie, so schön kann unsere Arbeit sein. Hat ja auch alles geklappt, unsere Polizei kann sich sehen lassen.«
Komm, dachte Lohkamp, erzähl mir, was du wirklich willst! Und Flenner tat ihm den Gefallen: »Aber jetzt ist die Kacke am Dampfen, wie man hier im Ruhrpott sagt.«
Angeber, dachte Lohkamp. Er selbst stammte aus Wanne-Eickel, aber der Präses war irgendwo im wilden Ostwestfalen geboren, wo es noch Dorfmeisterschaften im Baumstammsägen gab. Doch dann hörte er genau zu, was Flenner ihm von der Explosion im Bochumer Süden zu erzählen hatte.
»Schlimm«, sagte Lohkamp. »Aber was habe ich damit zu tun?«
»Ich brauche Sie für die Sonderkommission.«
Der Hauptkommissar schluckte. Die letzte Dienststelle, an die ihn Flenner geschickt hatte, war die Polizeiinspektion in Bochum-Wattenscheid gewesen – ein Ort, an dem gescheiterte Karrieren endeten. Sollte er nun, auf seine alten Tage, noch nach Bagdad?
»Wie Sie sich vielleicht erinnern«, wandte Lohkamp ein, »haben Sie mich vor zwei Jahren zur besonderen Verfügung des Innenministeriums freigestellt.«
»Ich weiß, ich weiß. Sie haben da ja auch ein paar aufsehenerregende Erfolge erzielt. Aber ich habe mich schon mit Düsseldorf verständigt. Man gibt Sie für diese Aufgabe frei.«
Die wissen ja selbst nicht, was sie mit mir noch anfangen sollen, dachte Lohkamp. Laut sagte er: »Außerdem habe ich noch Urlaub.«
»Den haben Sie doch seit dem Ende der WM!«
»Stimmt. Aber seit heute feiere ich meine hundertsechsunddreißig Überstunden ab. Das sind fast vier Wochen. Und in zweihundertzwanzig Kalendertagen werde ich pensioniert.«
»Glückwunsch. Aber mit Leuten wie Ihnen wird der Fall rechtzeitig gelöst, sodass Sie die Überstunden noch vor Ihrer Pensionierung absitzen können.«
Schleimbeutel, dachte Lohkamp. Und von Polizeiarbeit hat der noch immer keine Ahnung. Es war Zeit für das finale Argument: »Außerdem: Bei Sprengstoffgeschichten ermitteln nicht wir, sondern der Generalbundesanwalt.«
»Genau das ist es doch«, versicherte der Präses und senkte die Stimme, als ob er damit unerwünschte Lauscher ausschalten könnte. »Was wird passieren? Der GBA schickt uns einen Oberaufseher, BKA und LKA stellen ihm noch ein paar Kofferträger zur Seite – aber die eigentliche Arbeit müssen doch wieder unsere Leute leisten.«
So respektlos hatte sich der Präses vor dem Regierungswechsel in Berlin und Düsseldorf noch nie über das Bundes- und Landeskriminalamt geäußert – zumindest nicht in seiner Gegenwart.
»Bitte, Herr Flenner. Das war doch immer so. Was ist daran neu? Wozu brauchen Sie ausgerechnet mich?«
Das Schweigen in der Leitung sprach Bände: Flenner hatte Schiss, am Telefon etwas gegen die neuen Herren dieser Dienste zu sagen. Dann flüsterte er: »Die jetzige Landesregierung hat doch alles umgekrempelt. In Düsseldorf sitzen lauter neue Leute, alle regierungstreu, aber nicht unbedingt echte Spitzenkräfte. Von Karlsruhe wollen wir erst gar nicht reden. Und deshalb brauche ich für die Soko ein paar unserer eigenen Leute, die einen klaren Blick und Mut zum eigenen Urteil haben.«
Jetzt war Lohkamp wirklich verblüfft. Zum ersten Mal traute dieser Polizeichef ihm so etwas wie Sachverstand zu – und verlangte als Qualitätsmaßstab den Mut zum Widerspruch.
Flenner musste einen äußerst delikaten Tathintergrund wittern. Die Frage war, ob die Soko diesen Hintergrund aufklären oder vertuschen sollte.
Wie auch immer, einerseits reizte ihn der Fall, andererseits gefiel es ihm auf seinem Balkon viel besser.
»Herr Flenner, ich glaube, ich feiere lieber meine Überstunden ab.«
Kleine Pause, dann drang ein resigniertes Seufzen aus der Leitung: »Verstehe. Offenbar haben diese Leute ja doch Recht.«
»Welche Leute? Womit?«, hakte der Mann im Schlafanzug reflexartig nach.
»Na ja.« Flenner legte noch eine Pause ein. »Was ich Ihnen jetzt sage, entspricht nicht meiner eigenen Meinung. Aber es gibt etliche jüngere Kolleginnen und Kollegen, die den KHK Lohkamp schon abgehakt haben. Da kursieren Begriffe wie ›Burn-out‹, ›amtsmüde‹, ›reif fürs Archiv‹.«
Flenners Stimme triefte von geheucheltem Mitleid.
»Aber ich kann Sie gut verstehen. So kurz vor der Pension möchte man sich nicht zum Gespött machen.«
Lohkamp spürte, wie sein Magen rebellierte. Diese Arschgeigen! Kriegen es selbst nicht gebacken, aber reißen das Maul auf.
»Wer ist denn noch in der Soko?«, hörte er sich fragen.
»Hoffmann, Thalbach, Eilig …«
»Was ist mit Hardenberg? Ein guter Mann. Und wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Frau Langer aus Hagen – wenn Sie die kriegen könnten.«
»Ihre frühere Assistentin?«
»Ja. Sie erinnern sich: Sie hat die Geschichte mit dem türkischen Mädchen sauber gelöst!«
Jetzt musste der Präses schlucken: Bei den Ermittlungen gegen eine Nazi-Truppe war sein eigenes Ziehkind aus dem Polizeibüro II, der politischen Polizei, gewaltig abgestürzt.
»Die Langer kann ich Ihnen nicht versprechen. Da muss ich mit der Präsidentin in Hagen reden. Aber Hardenberg geht klar.«
»Und was ist mit meinem alten Büro? Zusammen mit …«
»Das Türschild mit Ihrem Namen hängt schon!«
Lohkamp zögerte eine weitere Sekunde. Noch konnte er Nein sagen. Aber mit Hardenberg zusammen – das machte Spaß. Der Junge kam aus der mittleren Beamtenlaufbahn und hatte mit Bestnote seinen Kommissar gemacht. Mit ihm im Team würde er die Burn-out-Schwätzer schon zum Schweigen bringen.
»Gut, ich bin dabei. Aber höchstens dreißig Tage. Ich will nicht erst im Winter an die Nordsee.«
»Versprochen.«
»Wo soll ich mich melden?«
»Am Tatort.« Flenner gab die Adresse durch. »Vorerst leitet dort der Chef des 11. Kommissariats.«
»In Ordnung. Ich bin in anderthalb Stunden da.«
»Prima, Herr Lohkamp. Und: danke.«
Meine Güte, dachte der Hauptkommissar. In Bochum geht einigen Leuten der Arsch auf Grundeis. Aber er selbst hatte vorher noch ein anderes Problem zu lösen: »Gabi?«
Seine Frau erschien, ein Stück Tapete in der Hand. Mit einem dicken Filzstift geschrieben stand da: Ich will ans Meer. Aber Horst …
Er stand auf und nahm sie in den Arm: »Schreib: … braucht noch einen letzten guten Fall.«
»Idiot!«, sagte sie und boxte ihm gegen die Brust. »Überleg doch! Du hast ihm mindestens doppelt so oft widersprochen wie mir. Also eigentlich immer. Du hast Ergebnisse geliefert, die er nicht gewollt hat. Und du hast nie vor ihm auf dem Teppich gelegen, um seine Schuhe zu küssen. Darum hasst er dich.«
»Und was soll mir passieren?«
»Überleg doch: Es gibt immer noch Polizisten, die dir deine Ermittlungen in dem Punkermord nicht verziehen haben. Seit den Vernehmungen in der Polizeikaserne bist du Nestbeschmutzer und Kameradenschwein. Und jetzt zieht er dich wieder in eine Sache hinein, an der du dir nur die Finger verbrennen kannst. Du musst allen auf die Füße treten, die in Bochum was zu sagen haben.«
»Und wenn schon«, wiegelte Lohkamp ab und nahm seine Frau in den Arm. »Meine Pension wird es schon nicht kosten.«
6
PEGASUS verließ den Sheffield-Ring genau unter der Königsallee und folgte der Abbiegespur in Richtung Süden. Charlottenweg, dachte Mager und blickte auf das Display des Navigationsgerätes. Er erinnerte sich, dass sie hin und wieder hier spazieren gegangen waren, als Karin noch in dieser Gegend wohnte. Etwas an der Topografie dieser Straße war nun zu kompliziert für das schlichte Gemüt der Navi-Tante namens Marlene, wenn sie eine Zielangabe ohne Hausnummer bekam.
Als sie am höchsten Punkt der Königsallee die Markstraße überquerten, fiel es Mager ein: »Die Straße besteht aus zwei Teilen. Und man kommt von dem einen nicht direkt in den anderen, weil irgendein Großbauer oder Lottokönig …«
»Wir sind richtig, Vadda!«, unterbrach ihn Kalle und deutete auf die dunkle Rauchsäule, die links von ihnen aus einer Talsenke aufstieg.
Mager reagierte sofort: »Rechts ran! Ich will den Qualm haben!«
Nach einem Blick in den Rückspiegel stoppte Kalle und setzte den Wagen auf dem Radweg einige Dutzend Meter zurück. »Okay?«
Der Alte stand schon neben dem Wagen und peilte die Lage: »Wo ist die Trittleiter?«
»Im Büro. Du hast sie doch gebraucht, als …«
»Und du hast sie wieder einzupacken!«
Kalle warf einen flehenden Blick zum Himmel, aber außer dem satten Blau des Sommermorgens gab es kein hilfreiches Zeichen.
»Hühnerleiter!«, kommandierte der Kameramann.
Der Sohn hielt ihm die ineinander verschränkten Hände hin. Ächzend kletterte Mager auf das Wagendach und versuchte, sich aufzurichten. Dabei schwankte er ein wenig und Kalle sah seinen Erzeuger schon stürzen. »Soll ich nicht doch lieber …«
»Klappe«, knurrte Mager und streckte die Hand aus: »Kamera!«
Während der Bärtige die angewinkelte Kamerahand unter dem Ellenbogen abstützte, stand Kalle bereit, um ihn notfalls aufzufangen. Doch Mager stand jetzt wie ein Denkmal auf dem Octavia, nahm die Rauchsäule ins Visier und zoomte sich an das Geschehen heran. Aber mehr als das rote Dach eines Löschfahrzeugs bekam er nicht in den Sucher.
Eine Minute später saßen alle drei wieder im Wagen und düsten Richtung Süden.
»Demnächst wenden!«, empfahl die geduldige Stimme der Navigation. Mager schaute schon jetzt zur anderen Straßenseite hinüber, aber der dicht bewachsene Mittelstreifen verbarg die Einfahrt zum Charlottenweg.
Bis zur nächsten Kreuzung dauerte es noch eine halbe Minute, dann lenkte Kalle den Skoda mit einem engen Halbkreis in die Gegenrichtung. Marlene reagierte einen Augenblick später: »In dreihundert Metern rechts abbiegen. Dann haben Sie Ihr Ziel erreicht.«
Kalle drosselte die Geschwindigkeit, setzte den Blinker und bog rechts ab, aber nach nur zehn Metern war die Fahrt zu Ende: Ein Streifenwagen blockierte die Einfahrt.
»WDR!«, rief Susanne, doch die Polizisten schüttelten einträchtig die Köpfe: »Sie können hier nicht durch.«
Als die Chefin die Tür öffnen wollte, meldete sich Mager: »Lass es. Ich weiß was Besseres. Wir nehmen den Hintereingang!«
Er dirigierte Kalle in den Nussbaumweg. Die Straße wurde auf beiden Seiten von Einfamilienhäusern in Reih und Glied gesäumt, bis sie endlich eine weite Rechtskurve nahm. In ihrem Scheitelpunkt erhob sich ein weiß-blaues, verklinkertes Monster, drei Etagen rechts, zwei Etagen links, umgeben von einer großen Rasenfläche – und ohne einen Zaun, der den Weg auf die Rückseite versperrte. Mager strich sich zufrieden über das bärtige Kinn: »Genau dahinter müsste Sonnenscheins Haus liegen!«
Hinter dem Klinkerbau hatte sich eine Horde Schaulustiger versammelt, deren Zahl noch wuchs. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis der Eigentümer Eintritt nahm und eine Pommesbude aufstellte. In diesem Gewimmel hatte PEGASUS Mühe, eine halbwegs gute Schussposition zu finden: Mal standen ein paar Johannisbeerbüsche im Weg, mal eine Brombeerhecke, dann wieder versperrte ein zu groß gewachsener Zuschauer Mager den Blick.
»Du bist für diesen Job einfach zu klein, Vadda«, konstatierte Kalle.
»Aber nicht zu blöd!«, konterte der Kameramann und schob eine grauhaarige Dame sacht zur Seite: »Junge Frau, wir sind vom WDR. Wenn Sie so freundlich wären …«
Susanne drängte sich ebenfalls in die Lücke und prüfte über Magers Schulter hinweg die Aussicht: »Zuerst einen Schwenk über das Tal. Dann das Haus, den Abschleppwagen und den Schrotthaufen dahinter. Anschließend Feuerwehr und Polizisten. Da unten auf der Wiese.«
»Ja, Mama«, maulte Mager. »Ich weiß, dass Polizisten nicht auf den Wolken reiten!«
Die Arbeit des Fernsehteams fand nicht nur Zustimmung. Es vergingen keine zwei Minuten, da stapfte ein kleiner Mann mit spärlichen Locken und Lodenjacke heran. Als er den Mund öffnete, hielt Susanne Ledig ihm das Mikrofon vor die Nase und fing den bemerkenswerten Satz ein: »Das ist Privatgelände!«
Susanne nickte dem informationsfreudigen Bürger freundlich zu: »Stimmt. Und wir sind das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Wo ist das Problem?«
Einem Augenblick lang stockte dem Gelockten der Atem. Dann fand er seinen Text wieder: »Sie dürfen hier nicht einfach eindringen!«
»Wir sind nicht eingedrungen. Es gibt weder einen Zaun noch ein Tor.«
»Trotzdem ist es privat.«
»Gut. Und Sie sind der Eigentümer?«
»Nein, aber …«
»Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: Sie rufen den Eigentümer an und informieren ihn – und wir tun weiter unsere Arbeit und informieren Deutschland. Okay?«
Während Kalle ein Taxi heranrief und die erste Kassette mit Aufnahmen vom Tatort zum Sender schickte, ließ Mager sich auf dem Rasen nieder und zündete sich eine Kippe an. Normalerweise konnte man diese Ecke Bochums beinahe als idyllisch ansehen und die Grundstückspreise und Mieten waren entsprechend hoch. Viel Grün und wenig Lärm wurden hier geboten – etwas anderes als gebrauchte Pommesschalen im Rinnstein vor dem Haus und die S-Bahn nach hinten raus.
Mehr als fünf oder sechs Lungenzüge waren Mager nicht vergönnt. Susanne führte die erste Interviewpartnerin heran: jene Dame, an der sie sich vorbeigedrängelt hatten, um eine bessere Sicht auf den Tatort zu haben.
»Frau Hahn, was haben Sie von den Ereignissen mitbekommen?«
»Es war schrecklich«, sagte sie. »Mein Mann und ich saßen wie jeden Morgen, wenn das Wetter schön ist, auf dem Balkon und frühstückten in aller Ruhe und unterhielten uns über …«
Komm schon, Alte, dachte Mager. Tante Theas achtzigster Geburtstag interessiert hier nicht! Er versuchte, das Blabla der Dame auszublenden.
»Als mein Mann gerade vorschlug, im nächsten Jahr eine Kreuzfahrt durch die Karibik zu machen …«
Susannes Gesicht blieb freundlich, während sie geduldig abwartete, dass die gute Frau zum Thema kam.
»Also, nein, so erschrocken war ich das letzte Mal, als bei unserer Silberhochzeit plötzlich jemand den Tisch mit dem Dessert umkippte. Das schöne Tiramisu und all die leckeren Puddingsoßen, von dem Geschirr mal ganz zu schweigen.«
»Danke für Ihren Kommentar«, sagte Susanne.
Dann drehte sie sich um und suchte nach einem brauchbaren Augen- und Ohrenzeugen. Erst beim vierten Versuch fand sie einen älteren Herrn, der sich an etwas Konkretes erinnern konnte: Er war nachts gegen drei Uhr aufgewacht, weil er seine Blase leeren musste, und konnte danach nicht wieder einschlafen.
»Senile Bettflucht, sagt meine Tochter. Schließlich bin ich auf den Balkon gegangen, um mir noch eine zu rauchen.«
Guter Mann, dachte Mager erfreut, du bist der lebende Beweis dafür, dass man durchs Rauchen nicht automatisch mit sechzig in der Urne landet.
»Ich habe aber nur noch gehört«, fuhr der Weißhaarige fort, »dass da unten ein Wagen wegfuhr.«
»Da unten – das ist vor Frau Sonnenscheins Haus?«
»Genau. Also, da ist ein Pkw weggefahren. Ich habe ihn gehört und die Scheinwerfer gesehen. Aber vor Sonnenscheins Haus stand, glaube ich, ein Lkw.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Na ja, da glänzte ein Autodach im Mondlicht. Genaueres konnte ich nicht erkennen, aber Pkws sind zu flach. Die kann ich von meinem Balkon aus nicht sehen …«
»Danke schön, Herr Körner!«
Als Mager wieder vorne stand, um das Geschehen im Charlottenweg zu verfolgen, kam plötzlich Bewegung in die dort versammelten Polizisten.
Ein schwarzer Benz fuhr an den Wendehammer heran, eine kleine Frau sprang heraus und wurde von einem Mann in Zivil davon abgehalten, zu dem beschädigten Haus zu rennen.
Mager ließ die Kamera laufen und schielte über das Display hinweg. Kein Zweifel, das war Lohkamp. Und die aufgeregte Frau musste Bochums OB sein.
»Zeig mal«, forderte Susanne, als er die Kamera absetzte. Zufrieden nickte sie die Sequenz ab. Dann musterte sie die Umgebung. Noch immer war kein anderes Aufnahmeteam in Sicht.
»Also gut. Kalle kann gleich das nächste Taxi rufen. Und wenn Lohkamp mit der Dame fertig ist, rufst du ihn an!«
7
Rauch – beißender, stinkender Rauch. Das war das Erste, was Lohkamp wahrnahm, als er in der Nähe des Tatortes seinen Ford Focus abstellte. Unter seinen Füßen knirschte Fensterglas. Die Wucht der Detonation hatte nicht allein Beißners Cabrio zerlegt, sondern auch die gesamte Vorderfront des Pritschenwagens. Von der Fahrerkabine war so gut wie nichts mehr übrig – nur die Lenksäule ragte aus dem Schrott heraus. Im Dach des Wohnhauses klafften Löcher, hinter denen geschwärzte Balken zu sehen waren, die Fensterhöhlen im Erdgeschoss waren leer, die Fassade von Rauchspuren überzogen. Der Attentäter hatte beim Sprengstoff nicht geknausert.
»Morgen, Horst!«
»Katharina!«
Lohkamp drückte der Oberkommissarin die Hand. Thalbach gehörte in seiner Werteskala zu den erfreulicheren Menschen in dem karrierebesessenen Kriminalkommissariat 11, das sich mit Mord und Totschlag beschäftigte.
»Da ist jemand auf Nummer sicher gegangen«, sagte sie. »Es hat sogar noch den Fahrer des Abschleppwagens erwischt.«
Der Wagen stand gut fünfzehn Meter von der Explosionsstelle entfernt. Das Blech des Führerhauses war auf der linken Seite mit Metallsplittern gespickt, das Fenster auf der Fahrerseite gesprungen.
»Wo ist der Mann?«
»Hat Schwein gehabt: Ein paar Splitter in Gesicht und Schulter. Die Sanis haben ihn in die Landesklinik gebracht. Die Seelenklempner werden mehr Arbeit mit ihm haben.«
Lohkamp holte tief Luft. Gegenüber den direkt Beteiligten hatte er bei fast allen Verbrechen eine Art Barriere vor sich aufgebaut, die ihn vor störenden Gefühlen schützte. Aber die unbeteiligten Opfer dauerten ihn von Jahr zu Jahr mehr.
»Tote?«
»Ein Mann. Nicht besonders erfreulich. Der Kopf hing in den Bäumen und war noch zu identifizieren. Der Rest liegt in der Gegend herum. Brettschneider hat seine Freude daran.« Sie deutete auf den beleibten Rechtsmediziner, den einst die Macht der Liebe aus München in den Ruhrpott gelockt hatte – auch wenn er immer behauptete, er sei nur gekommen, weil er lieber tote Preußen als tote Bayern auf dem Tisch hatte.
»Wer ist … war der Tote?«
»Lukas Beißner. Lebensgefährte der OB. Rechtsanwalt in Hattingen.«
Lohkamp ging ein paar Schritte auf den Abschleppwagen zu. Die Wucht der Explosion hatte ihn offenbar erwischt, als er gerade einen großen Bogen im Wendehammer ziehen wollte.
Lohkamp blickte den Weg zurück, den er zu Fuß gegangen war. Das nächste Haus lag rund dreihundert Meter entfernt in der Talsohle. »Wer wohnt dort?«
»Der Bauer, dem das ganze Land hier mal gehört hat oder noch gehört. Frau, zwei Töchter und drei Gestalten, die da Schwarzarbeit machen.«
»Und dort oben?«
Der Hauptkommissar deutete den Hang hinauf, der von einer Reihe Pappeln gesäumt war. Durch die Bäume schimmerte die weiß-blaue Klinkerfassade eines größeren Wohnhauses und hinter Zaun und Hecke reckten ein paar Dutzend Menschen die Hälse.
»Darum kümmern wir uns später. Wenn Hardenberg und die anderen kommen.«
Lohkamp nickte und kramte nach seinen Zigaretten: »Ist dir an dem blauen Wagen etwas aufgefallen?«
»Klar. Hat keine Kennzeichen«, lächelte sie und wurde ernst: »Horst?«
»Ja?«
Thalbach sah ihn durchdringend an: »Warum hat Flenner dich zum Chef der Soko gemacht?«
Er sah ihr in das blasse Gesicht und fühlte sich für einen Moment wie ein Kameradenschwein. Katharina war Mitte dreißig und hätte seiner Meinung nach längst Hauptkommissarin werden müssen, aber ihre Karriere war auf schwer erklärbare Weise ins Stocken geraten: Geburt ihres Sohnes, Trennung von dem Vater des Kindes, Gemunkel über eine Änderung ihrer sexuellen Orientierung – der übliche Mist, den die Neidhammel in der Behörde gern als Waffe benutzten.
»Wärst du dran gewesen?«
»Sagen wir so: Ich warte darauf.«
»Habe ich nicht gewusst«, sagte er und sah ihr direkt in die Augen. »Und tut mir leid. Eigentlich habe ich sogar noch Urlaub. Meine Frau meint deshalb, dass der Präses hier etwas besonders Dreckiges vermutet und mich in Teufels Küche bringen will.«
Thalbachs Stirn lag noch immer in Falten: »Und was meinst du?«
Lohkamp zündete seine Zigarette an und zuckte dann mit den Schultern. »Ich habe keinen Schimmer, Katharina. Aber wenn hier jemand gegrillt werden soll, dann bin ich das.«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen. Über den schmalen Feldweg rauschte ein dicker Mercedes heran und stoppte dicht vor der Absperrung. Ehe der Fahrer aussteigen und den Schlag öffnen konnte, sprang eine Frau um die fünfzig heraus und rannte auf die Explosionsstelle zu.
»Halt!«, schrie Lohkamp. »Bleiben Sie hier!«
Die Frau schien ihn gar nicht wahrzunehmen und wollte sich an ihm vorbeidrängen. Aber der Hauptkommissar war stärker: »Frau Sonnenschein! Sie können da nicht hin.«
»Lukas«, schluchzte sie, »wo ist er? Ich muss zu ihm!«
Katharina Thalbach fasste sie an den Armen: »Frau Sonnenschein, es tut mir so leid.«
»Bitte, ich muss …«
»Nein. Glauben Sie mir«, redete die Polizistin ihr zu und blickte ihr fest in die Augen. »Es ist wirklich besser so. Behalten Sie ihn im Gedächtnis, wie Sie ihn zuletzt gesehen haben.«
Sonnenschein gab nur noch einen gequälten, halb erstickten Laut von sich und sackte merklich in sich zusammen. Thalbach ahnte, dass sie jetzt keine verwertbaren Informationen von ihr erhalten würde. Sanft führte sie die Frau zu einem Notarztwagen.
Lohkamp ging derweil auf den Fahrer der OB zu, der rauchend an der Limousine lehnte. »Haben Sie eine Ahnung?«, fragte Lohkamp und deutete zum Explosionsort hinüber. Dabei kramte er in seinen Taschen nach seinem Dienstausweis.
»Lassen Sie stecken. Ich habe Sie schon mal im Präsidium gesehen«, sagte der Fahrer und schaute ebenfalls zu dem Platz hinüber, an dem Beißner gestorben war. »Sie meinen, wer das getan hat? Und warum?«
»Ja. Als Fahrer bekommen Sie doch eine Menge mit, Herr …«
»Harnisch. Wie die Ritterrüstung. Klar, ich weiß mehr als mancher andere. Aber nix, was für einen Bombenanschlag reicht.«
Er dachte ein paar Sekunden lang nach und schüttelte den Kopf: »Hat’s hier im Ruhrpott noch nie gegeben. Oberbürgermeister werden vielleicht hintenrum abgesägt. Und merken es erst, wenn ihnen auf dem Parteitag plötzlich ein paar Stimmen fehlen. Aber umgebracht?«
»Wenn Ihre Chefin nicht gemeint war, muss Herr Beißner das Ziel gewesen sein.«
»Beißner?« Der Fahrer warf achtlos den Rest seines Zigarillos auf den Boden. »Glaube ich nicht. Der schiebt … Der hat eine ruhige Kugel geschoben. Notar in Hattingen. Die Kanzlei liegt ganz nah bei seinem Lieblingsitaliener. Hat ab und zu sein Siegel unter einen Kaufvertrag gesetzt und einen Ehevertrag unterschrieben. Ansonsten schlug er die Zeit wohl damit tot, sein Geld zu zählen. Der war doch aus allem raus.«
»Kann sein. Aber was war heute? Wann haben Sie Ihre Chefin abgeholt?«
»Kurz vor acht.« Er sah noch einmal zu Sonnenscheins Haus hinüber. »Der blaue Lastwagen stand dort schon. War die Bombe da drin?«
Lohkamp nickte: »Wie’s aussieht vor dem Motorblock.«
»Und was ist mit dem Kabel vor der Einfahrt?«
Der Blick des Polizisten wurde starr: »Was für ein Kabel?«
»Als sie einstieg …«
»Wie stieg sie ein? Wo?«
»Normalerweise fahre ich vorwärts in die Garageneinfahrt. Aber heute kam mir meine Chefin schon auf der Straße entgegen, als ich ankam. Dann stieg sie vorne bei mir ein.«
»Moment. Müssen Sie ihr nicht die Tür aufhalten?«
Harnisch zeigte seine vom Nikotin verfärbten Zähne: »Sie mag das nicht. Wir ziehen diese Show nur ab, wenn wir offiziell irgendwo vorfahren. Sonst mach ich ihr nur von innen die Tür auf.«
»Aktenkoffer?«
»Wirft sie manchmal nach hinten, heute hat sie ihn vorne in den Fußraum gestellt.«
»Und jetzt das Kabel!«
Harnisch dachte noch eine Sekunde nach und erklärte: »Als ich ihr die Tür aufdrückte, hab ich es gesehen. Direkt in der Rinne vor dem abgesenkten Bordstein da drüben.« Er wies mit seinem Zeigefinger – leicht gelb wie die Zähne – in die entsprechende Richtung. »Ich wollte sie eigentlich noch danach fragen, aber sie fragte mich direkt nach meiner Meinung zu den Neuverpflichtungen des VfL. Und dabei habe ich das Kabel völlig vergessen.«
Lohkamp sah ihm fest in die Augen und Harnisch hielt seinem Blick stand.
»War das etwa der Zünder?«
»Vermutlich. Irgendwo in dem Gebüsch muss ein Akku stehen, der den Strom lieferte. Unsere Experten untersuchen das noch.«
»Au Backe!«, sagte Harnisch und steckte sich den nächsten braunen Lungentorpedo an. »Mit anderen Worten: Wenn ich nicht vergessen hätte, nach dem Kabel zu fragen …«
Lohkamp legte die Hand auf seine Schulter: »Lassen Sie’s sein. Das Grübeln ändert nichts. Sie sind Chauffeur, kein Bodyguard!«
8
Zufrieden registrierte Mager, dass Lohkamp sein Gespräch beendet hatte, und wandte sich seinem Ältesten zu: »Handy!«
Kalle ruhte betont lässig auf einer der Campingliegen, die ihnen in ihrem Ausguck zur Verfügung standen. Dieser befand sich auf einem Balkon im dritten Stockwerk des Klinkerbaus am Nussbaumweg. Von hier aus hatten die PEGASUS-Leute in zwei Richtungen gute Sicht: auf den Wendehammer vor dem Haus der OB und zu dem Bauernhof in der Talsenke.
Auch die Konkurrenz war inzwischen aufgetaucht. Mager hatte schon zwei andere Kamerateams und ein paar Hörfunkreporter ausgemacht, die unten auf der Wiese oder im Garten des Nachbarbungalows standen und von dort aus den Tatort beglotzten. Im Vergleich zu denen, die am Boden arbeiteten, besaß PEGASUS einen Platz in der Königsloge.
»Mach schon«, knurrte Mager und ließ sich das Mobiltelefon anreichen, als hätte er im Stadtparkrestaurant frische Austern geordert. Dann wählte er Lohkamps private Handynummer. Amüsiert sah er von oben aus zu, wie der Hauptkommissar plötzlich begann, in seinen Taschen zu kramen.
»Ja.«
»Klaus-Ulrich hier.«
»Sehe ich auf dem Display. Mach’s kurz. Bin im Dienst.«
»Weiß ich.«
»Woher das denn?«
»Ich bin keine fünfzig Meter entfernt. Zwanzig Meter höher als du. Hinter den Pappeln.«
»Ich guck jetzt nicht hoch«, brummte Lohkamp. »Habe heute schon genug Schreckliches gesehen.«
»Beleidige meine Chefin nicht, die ist auch hier. Was ist passiert?«
»Autobombe.«
»Tote?«
»Lukas Beißner, der Lebensgefährte der OB.«
»Alter? Beruf?«
»Ende fünfzig. Anwalt.«
»Galt der Anschlag ihm?«
»Woher soll ich das wissen? Und glaubst du etwa, die Schwarzen im Rat würden jetzt schon Bomben schmeißen?«
Mager stöhnte genervt auf. So klischeehaft, wie der Polizist ihn einschätzte, dachte er auch wieder nicht. Glaubte er jedenfalls.
»Weitere Geschädigte?«
»Fahrer Abschleppwagen. Leichte Schnittwunden.«
»Auslöser Explosion?«
»Vermutlich Kontaktschleife. Mehr jetzt nicht. Wartet auf die Pressekonferenz. Irgendwann am Nachmittag. Ende.«
Mager trennte die Verbindung und gab die Daten an Susanne Ledig weiter, die an einem Campingtisch saß und bereits ihren Nachrichtentext in den Laptop tippte. Dann scheuchte er seinen Sohn aus dem Liegestuhl: »Los, hoch! Ablösung! Jetzt passt du mal auf, was da unten passiert!«
Unwillig stemmte sich Kalle hoch und nahm seinen Platz an der Balkonbrüstung ein, während Mager dem Wohnungsinhaber eine leere Kaffeetasse entgegenstreckte: »Herr Ruhmann – wären Sie so nett, noch ein Kännchen zu kochen?«
Der Mann mit dem Pferdeschwanz nickte und verschwand in der Küche. Mager grinste zufrieden. Immerhin kassierte der Wohnungsinhaber für den Platz auf dem Balkon fünfzig Euro pro Stunde, hatte sich aber von dem Kameramann breitschlagen lassen, zusätzlich seine DSL-Leitung und seine Kaffeevorräte zur Verfügung zu stellen. Wenn Magers Kreislauf nicht nur die Hitze, sondern auch den exzessiven Koffeinmissbrauch aushielt, würde sich der Nettoverdienst des Mannes mit dem Schwanzkopf in engen Grenzen halten.
Während Kalle gelangweilt auf den Tatort hinabblickte, an dem es im Moment absolut nichts Spannendes zu sehen gab, fläzte sich Mager in der Mittagssonne: »Meine Herren, ist dieser Job schön! Kalle, du Faulpelz, tu doch mal was für dein Geld und berichte uns, was sich da unten so tut.«
Einen Augenblick lang herrschte eine gefährliche Stille, und Susanne, die noch an ihrem Campingtisch saß, blickte beunruhigt von ihrer Arbeit auf. Die Art und Weise, wie Mager an diesem Tag seinen Sohn herumkommandierte, hätte ihm in einer normalen Firma eine Abmahnung wegen Mobbings eingetragen.
Doch Kalle war die Ruhe selbst. Immerhin hatte er in den letzten Jahren mit dem PEGASUS-Job sein komplettes Studium an der Uni Bochum finanziert. Sein Pech bestand darin, dass der Bedarf an Lehrern mit der Fächerkombination Geschichte und Philosophie derzeit äußerst gering war. Hinzu kam, dass Kalles Forschungen ein recht einseitiges Interesse verrieten: Er hatte sich vor allem um die Historie und die Gedankenwelt von Rebellen, Ketzern und Anarchisten gekümmert.
Den Prüfern im ersten Staatsexamen war dieses Schmalspurwissen gerade mal ein knappes Befriedigend wert gewesen, sodass Kalles Chancen, in den Schuldienst berufen zu werden, gegen null tendierten. Zum Ausgleich hatte er nach langer Suche einen Doktorvater für eine Arbeit über die volkstümlichen Räuberbewegungen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gefunden. Die Arbeit an seiner Dissertation über Leute wie den Schinderhannes und den Stülpner Karl finanzierte er damit, dass er weiterhin die Drecksarbeit bei PEGASUS erledigte.
»Kalle!«, quengelte Mager. »Ich höre nichts!«
»Pardon, Väterchen«, hörte Susanne ihren jüngsten Mitarbeiter säuseln. »Ich musste erst meine Eindrücke ordnen …«
Mager richtete sich auf und sah seinen Sohn alarmiert an.
»Ich sehe«, reportierte Kalle ungerührt, »eine wunderschöne Sommerlandschaft am Rande einer westfälischen Großstadt: Hochhäuser am Horizont, satte Baumwipfel in Augenhöhe und tief unter mir eine saftige Wiese.«
Kalle grinste, pflückte aus Magers Brusttasche Zigaretten und Feuerzeug und gönnte sich eine von den Harten, die sein Vater seit beinahe vierzig Jahren rauchte.
»Außerdem«, fügte er hinzu, »habe ich im Moment eine faszinierende Vision.« Sein Blick glitt senkrecht vom Balkon an der Hauswand hinab.
»Tief unter mir«, schilderte er in geradezu schwärmerischem Tonfall, »in dem satten Grün der Wiese, die dieses von Schimmel durchsetzte Haus umgibt, erkenne ich eine Einbuchtung. Insgesamt etwa einssiebzig lang, nicht ganz einen halben Meter breit, dreißig bis vierzig Zentimeter tief.«
Grinsend drehte er sich jetzt zu seinem Erzeuger um, der gespannt lauschte.
»Und in dieser Grube, da liegt ein alternder dicker Mann, die wässrigen Augen starr in den Himmel gerichtet, Bart, Brille und seine wenigen Tröpfchen Gehirnmasse ringsum auf dem Rasen verstreut. Und auf dem Bauch des Mannes liegt ein Schild mit der Aufschrift: Ich Blödmann habe meinen Sohn ein einziges Mal zu oft schikaniert.«
Mager schwieg schockiert, aber Kalle war noch nicht fertig: »Väterchen, hast du vielleicht eine Idee, wie ein derart friedlicher Mensch wie ich zu solchen Visionen kommt?«
9
Nur mühsam gelang es Oberkommissarin Thalbach, die Oberbürgermeisterin vom Tatort wegzuführen. Sonnenschein wurde erst ein wenig ruhiger, als die Injektion wirkte, die ihr der Notarzt verpasst hatte.
»Wissen Sie, wo Sie vorübergehend unterkommen können?«, startete Thalbach einen vorsichtigen Versuch, Sonnenscheins Trauernebel zu durchdringen. »Haben Sie Verwandte oder gute Freunde in der Nähe?«
Die Lockenfrau blickte sie einen Augenblick so leer an, als wären diese Fragen völlig belanglos. Dann aber glitt ihr Blick an der Polizistin vorbei auf ihr ruiniertes Haus und erst langsam schien sie es zu realisieren: Sie hatte – zumindest für Wochen und Monate – kein Zuhause mehr. Ihre Mundwinkel zuckten.
Mein Gott, dachte Thalbach, die ist voll hinüber. Und sie überlegte, ob sie nicht doch die Polizeipsychologin heranholen sollte, die schon so manchem Menschen über schlimme Erfahrungen hinweggeholfen hatte.
Aber je länger die kleine Frau zu dem hinübersah, das mal ihr Zuhause gewesen war, desto mehr schien sie wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Ihre Schultern bebten: »Was soll ich nur machen? Wo … wo soll ich denn jetzt wohnen?«
Die Beantwortung der Frage wurde der Polizistin abgenommen: Ein nagelneuer kleiner Volvo mit zivilem Kennzeichen preschte heran und hielt dicht vor den beiden Frauen an. Heraus sprang Lina Tenberge, perfekt gestylt und energisch. Ohne Thalbach zu beachten, legte sie Sonnenschein den Arm um die Schulter: »Irmhild, Liebes, es ist ja so traurig!«
Die Polizistin hatte plötzlich die Vision, als Statistin in einer Seifenoper zu stehen. Wenn das echtes Mitgefühl sein sollte …
Die OB sah im ersten Moment so aus, als wollte sie wirklich in Tränen ausbrechen, doch dann fasste sie sich: »Danke, Lina. Gut, dass du kommst.«
»Das ist doch selbstverständlich! Wie schrecklich das alles ist! Ich helfe dir, wo ich nur kann. Deine offenen Termine habe ich fast alle abgesagt. Den verbliebenen Rest übernehme ich. Du brauchst dir, was das betrifft, um nichts Sorgen machen.«
Sonnenschein nickte und wirkte dabei wie ein verlorenes Kind.
»Danke. Weißt du, wo … wo ich im Moment wohnen kann?«
»In einem Gästehaus der Uni. Habe ich schon arrangiert. Du bekommst da vorerst ein kleines Appartement. Eine vernünftige Telefonleitung wird bereits installiert. Soll ich dich rüberfahren?«
»Moment«, schaltete Thalbach sich ein. »So einfach geht das nicht!«
Die Blondine, schon halb zum Gehen gewandt, sah die Polizistin an, als musterte sie einen lästigen Bettler. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihre Pläne umwarf. »Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf?«
Thalbach blieb unbeeindruckt und wies mit dem Kopf zum Explosionsort hinüber: »Frau … äh, wie war Ihr Name?«
»Lina Tenberge. Ich bin die Stellvertreterin der Oberbürgermeisterin.«
»Frau Tenberge, wir wissen bis dato nicht mal, wem der Anschlag galt. Falls Frau Sonnenschein das Ziel war und die Täter merken, dass sie lebt, werden sie einen neuen Versuch starten. Es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern! Das werden Sie doch sicher verstehen. Warten Sie kurz hier.«
Sie lief zu Lohkamp hinüber und zog ihn aus dem Gespräch mit dem Rechtsmediziner heraus: »’tschuldigung. Aber es eilt.«
Lohkamp hörte ihr zu und nickte: »In Ordnung. Darum kümmern wir uns am besten sofort.« Er schaute sich suchend um.
»Lass Hardenberg und Klemm mit den beiden Frauen fahren. Die sind ein eingespieltes Team. Sie sollen sofort melden, wo Sonnenschein untergekommen ist. Die können ihr auch helfen, sich einzurichten. Gegen Abend werden sie abgelöst. Noch was: Was weißt du über Beißner?«
»Nix!«
»Dann geht’s dir wie mir. Der Fahrer konnte mir auch nicht viel sagen. Tu mir den Gefallen und fahr ins Präsidium. Ich will alles über ihn wissen. Fang bei Google an und geh dann in unsere elektronischen Archive. Und vergiss die Straftäterdatei nicht.«
»In Ordnung. Bis später.«
Lohkamp lächelte. Hier oben hatte er alles im Griff. Schaun wir mal, was das Bäuerchen da unten weiß. Und er setzte sich in Bewegung.
Das eintönige Rauschen, das von der Königsallee herüberdrang, wurde von dem dumpfen Knattern eines Motors unterbrochen. Direkt über den Baumreihen tauchte ein Transporthubschrauber der Bundespolizei auf und kreiste über dem Tal. Dann hatte sich der Pilot entschieden und setzte auf der größten Wiesenfläche zur Landung an.
Noch bevor der EC 155 den Boden berührte, stoben sieben oder acht Pferde aus dem Baumschatten in der Nähe des lärmenden Fluginstruments hervor. Angeführt von einer schlanken schwarz-braunen Stute rannten sie in wildem Galopp den Weidezaun entlang auf die Straße zu.
»Ach du liebe Scheiße«, murmelte einer der Polizisten, die an der rot-weißen Polizeiabsperrung neben dem Bauernhaus standen.
In diesem Augenblick hob das Leittier ab. Die Stute hatte den Moment verpasst, in dem sie noch hätte abbiegen können. Mit lautem Wiehern versuchte sie, über das Gatter zu springen, das den Weg auf die Straße versperrte. Während die anderen Pferde scheuten und nach rechts flüchteten, blieb die Schwarz-Braune mit den Hinterhufen am obersten Querbalken der Sperre hängen. Die vorderen Kniegelenke schlugen hart aufs Pflaster, das Tier überschlug sich und prallte auf die Straße vor dem Bauernhaus.
Lohkamp, die beiden Polizisten und die Zuschauer hinter der Absperrung standen wie gelähmt, während der französische Eurocopter ein halbes Dutzend in weiße Kittel gehüllte Gestalten ausspuckte.
»Sind die Leute denn des Wahnsinns?«
Ein kleiner dicker Mann mit rot angelaufenem Gesicht stürzte aus dem Bauernhaus auf die Straße und näherte sich vorsichtig dem Pferd, das mit gebrochenen Vorderläufen auf der Seite lag.
»Kacke, verfluchte! Ausgerechnet Flöhchen!« Er näherte sich dem Widerrist der Stute und tätschelte vorsichtig ihren Hals, den Blick auf die geschundenen Läufe gerichtet. Dann rief er dem jüngeren der beiden Polizisten zu: »Gib mal deine Knarre!«
Der Beamte wich erschrocken zurück. Der kapiert es nicht, dachte Lohkamp und streckte die Hand aus. »Gib sie mir. Ich nehm’s auf meine Kappe.«
»Haben Sie keine eigene Waffe?«
»Liegt im Büro. Mach schon. Du siehst doch, wie das Tier leidet!«
Zögernd reichte der Kollege seine Dienstpistole herüber. Lohkamp nahm sie, lud durch und blickte den Bauern an: »Wo muss ich ansetzen?«
Der kleine dicke Mann schluchzte und zeigte auf eine Stelle gleich hinter dem Ohr: »Hier!«
Lohkamp presste die Mündung in das Fell des Tieres und blickte den Bauern an. Dann drückte er ab.
10
PEGASUS hätte das Drama vor dem Bauernhaus beinahe verpasst. Sie hatten die Sequenz mit der Oberbürgermeisterin und der unbekannten Trösterin im Kasten und schickten sich an, ihre Zelte abzubrechen, als der Hubschrauber über der Königsallee heranschwirrte. Während der ersten Runde, die der Pilot über dem Tal drehte, wurde Mager munter: In seinem Kopf lief plötzlich der Film ab, der den spektakulären Absturz einer Concorde in Paris zeigte und das Ende der zivilen Überschall-Fliegerei eingeläutet hatte. Instinktiv riss er seine Kamera wieder hoch, zoomte den Helikopter heran und ließ seine Sony durchlaufen, solange der Akku noch hielt. Aber als das Pferd sich am Boden wälzte, machte die Kamera schlapp.
»Mensch, was ist dieser Pilot bescheuert!«, keuchte Mager, als der dumpfe Knall des Schusses zu ihnen herüberwehte. »Und die Bundespolizei wird für den Gaul eine schöne Stange Geld hinlegen müssen.«
Einige Sekunden war es still auf dem Balkon und Mager beugte sich über die Balkonbrüstung: »Und diese Idioten von der Konkurrenz standen wieder mal an der falschen Stelle!«
Während Susanne mit dem Balkonbesitzer über den Mietpreis feilschte, packten Vater und Sohn in seltener Eintracht ihre Arbeitsgeräte zusammen. Der Alte war mit der Aufarbeitung ihres Dreherfolges noch nicht fertig: »Aber diese Bochumer sind auch nicht bei Trost. Wie war das noch? Vor dreißig Jahren – vierundsiebzig oder fünfundsiebzig – während der Jagd auf Baader-Meinhof …«
Kalle holte tief Luft und verdrehte die Augen, aber der Kameramann war dadurch nicht zu stoppen.
»Damals haben sich zwei Streifenwagenbesatzungen gegenseitig beschossen. In einem Wäldchen an der Unistraße. Ein Anwohner hatte eine verdächtige Person ausgemacht und rief sofort die 110 an. Kurz darauf trafen zwei Streifenwagen ein – der eine auf der Unistraße und der andere in der Siedlung hinter dem Wäldchen. Beide Besatzungen stürmten in die Büsche, genau aufeinander zu. Und als sie im Gestrüpp Schritte hörten, eröffneten sie das Feuer. Auf die eigenen Kollegen.«
Susanne hatte sich mit dem Gastgeber inzwischen geeinigt und ließ sich eine Quittung über hundertfünfzig Euro unterschreiben. Ihre Angestellten schnappten sich die silberfarbenen Metallkoffer und steuerten das Treppenhaus an.
»Und wie ging die Schießerei aus?«, wollte der Sohn wissen.
»Wie alles in Bochum. Fünfzig Schüsse und kein Treffer. Schade um die Munition.«
Auf dem Weg in die Bochumer Innenstadt planten sie die Schnittbilder – kurze Filmsequenzen, die zur Untermalung des Berichttextes dienten. Mager fiel sofort das hässliche Rathaus ein, unter dessen Balkon einst halb Bochum dem letzten deutschen Reichskanzler zugejubelt hatte. Dann die große Glocke, mit der Krupp auf der Weltausstellung in Paris seinen friedlichen Charakter hatte demonstrieren wollen. Und der versteckte Platz hinter dem Anbau, den Bochum erst nach langem Zögern nach einer von den Nazis ermordeten Zigeunerin benannt hatte.
»Ist mal wieder typisch!«, grollte Mager. »Für solche Namen sucht man in Bochum immer Orte aus, an denen keine Häuser stehen.«
»Hä?«, machte Kalle.
»Genau wie der Donezk-Ring. Der Name steht zwar auf dem Stadtplan, aber kein Bochumer muss die russische Stadt als Adresse erdulden. Tolle Vergangenheitsbewältigung.«
»Deine ständige Meckerei kann ich auch nicht ewig erdulden!«, fauchte Susanne.
»Verstehe ich«, heuchelte Mager. »Mit einem Parteibuch wie deinem hätte ich auch ein schlechtes Gewissen!«
»Und du hast schlechtes Wissen«, warf der Sohn ein. »Donezk ist ukrainisch!«
Bald glitt der PEGASUS-Skoda in die Tiefgarage unter dem Rathaus. Der Bau war schlecht ausgeleuchtet und so verwinkelt, dass Kalle schon nach zwei Kurven das Gefühl hatte, nie wieder ans Tageslicht zurückzufinden. Auf der fünften Sohle fanden sie endlich einen freien Parkplatz und quetschten sich samt ihrer Ausrüstung in den nächsten Aufzug. Die Kabine beförderte sie ins Foyer des Erweiterungsbaus hinter dem Rathaus, in dem nicht nur ein paar Ämter untergebracht waren, sondern auch Stadtbibliothek und Volkshochschule.
»Die Ratsfraktionen?«, echote die Pförtnerin nach Magers Frage. »Die finden sie drüben. Im Altbau. Aber ob sie jemanden in der Mittagspause antreffen …«
Durch den Hintereingang betraten sie das Rathaus und suchten die Büros der Ratsfraktionen. Bei der Sonnenschein-Partei tippte eine einsame Sekretärin auf einer PC-Tastatur herum – ihre verheulten Augen ersparten jede weitere Nachfrage. Ein Ratsherr der Radwegepartei, seit Kurzem Sonnenscheins Koalitionspartner, äußerte sich vor ihrer Kamera entsetzt über die Zunahme der Gewalt in der Politik, war aber nicht bereit, konkreter zu werden. Mager hätte ihn gern an die Bomben auf Belgrad erinnert, aber die Fragen stellte seine Chefin.
Die Schwarzen zeigten sich zutiefst entsetzt und forderten eine schnelle Aufklärung der Hintergründe. Die Linken befanden sich schon in der Mittagspause – aber an der verschlossenen Tür hing immerhin ein Trauerflor.
»Diesen Schwachsinn hätten wir uns schenken können!«, konstatierte Kalle.
»Bochum ist eben Provinz«, konstatierte Mager. »Wohin gehen wir: Grieche oder Chinese?«
Bevor Susanne und Kalle ihm antworten konnten, klopfte dem Kameramann plötzlich jemand auf die Schulter. Mager drehte sich um und sah ein von wildem Bartwuchs umwuchertes Gesicht, das mindestens so alt war wie sein eigenes.
»Mann«, staunte er, »wie viele Jahre ist das her?«
»Mindestens fünfundzwanzig.«
Susanne schaute Mager fragend an und der stellte den Mann vor: »Erich Angel, einst für Spartakus im Studentenparlament.«
»Und jetzt für die Demokratische Liste im Rat der Stadt.«
»So etwas gibt es hier?«
»Gibt es. Und was treibst du in meinem Revier?«
Mager stellte das Team und ihr Anliegen vor. Sein Exgenosse kraulte sich ratlos den Bart: »Wenn ihr ein Statement haben wollt, könnt ihr eins hören. Aber ich weiß auch nicht mehr als die meisten in diesem Haus. Bin gerade dabei, meine Fühler auszustrecken. Und warte die Pressekonferenz der Polizei ab.«
»Verstehe.« Susanne lächelte ihn an. »Aber die Bochumer Innereien sind uns nicht allzu geläufig. Wie wäre es mit ein paar Hintergrundinformationen?«
»Gern – aber nicht jetzt. Habt ihr morgen Mittag Zeit? Auf ein Salätchen vorm Konkret oder Orlando?«
»Orlando«, entschied Mager und fing sich einen Blick seiner Chefin ein.
»Wartet!« Der Ratsherr zückte eine Visitenkarte: »Falls euch was dazwischenkommt …«
Winkend zog er davon.
Mager nahm seine Kamera wieder auf und meinte nicht ohne Stolz: »Ist doch gut, wenn man so viele Leute kennt.«
»Ja«, antwortete Susanne. »Nur schade, dass du im falschen Verein warst. Meine Leute sitzen im Bundestag.«
»Stimmt. Aber die haben vergessen, wo das Ruhrgebiet überhaupt liegt.«
11
Kurz nach ein Uhr flog ein zweiter Hubschrauber nach Bochum ein. An Bord befanden sich eine Vertreterin des Generalbundesanwalts und eine kleine Gruppe von Ermittlern, die sich auf einer Wiese am Polizeipräsidium absetzen ließen. Sprengstoffdelikte gehörten automatisch zum Ermittlungsbereich von Bundesanwaltschaft und BKA, wo man ohnehin stets glaubte, den Bochumer Provinzbullen auf die Sprünge helfen zu müssen. Kaum eingetroffen, verlangten die Damen und Herren eine ausführliche Zwischenbilanz – was bedeutete, dass Lohkamp und ein paar seiner Leute vorzeitig vom Tatort in die Backsteinfestung hinter dem Bergbaumuseum zurückkehren mussten.
Die spinnen doch komplett, dachte Lohkamp, als ihn der Ruf ins Präsidium erreichte. Missmutig ließ er sich bergab treiben und näherte sich wieder dem Bauernhaus. Das tote Pferd war weggeschafft worden, die Blutflecken auf dem Boden mit Sägemehl getarnt, das sich langsam rot färbte. Statt des Bauern lag nun seine korpulente Frau im Wohnzimmerfenster und beobachtete das Treiben auf den Weiden. Dort war zum zweiten Mal eine Einsatzhundertschaft damit beschäftigt, jeden Quadratzentimeter nach Tatspuren abzusuchen. Unter Lohkamps Leitung hatten die Leute morgens bereits zweihundertachtundsiebzig verdächtige Objekte ausgemacht. Aber die BKA-Leute aus dem ersten Hubschrauber erbeuteten dicht am Haus noch zwei Radmuttern und eine kurze Metallstange, die mit einer grauen Masse befleckt war. Diese Fundstücke hielten sie nun dem Hauptkommissar triumphierend unter die Nase.
»So’n Quatsch!«, meldete sich die Bäuerin von ihrem Logenplatz aus. »Die Schrauben stammen von unserem alten Trecker, den mein Mann vor ein paar Wochen ausgeschlachtet hat. Und das andere Teil? Sieht aus wie die Gebissstange aus einem Pferdegeschirr. Und das graue Zeug da drauf ist kein Gehirn, sondern Taubenkacke!«
Bevor Lohkamp im Präsidium den Sitzungssaal aufsuchte, steuerte er die Räume des KK 11 an, wo Thalbach noch am Computer saß: »Was gefunden?«
Katharina nickte: »Beißner, Lukas Paul, 15. 11. 48 in Gütersloh. Studium in Bonn, Abschluss 1977 mit Gut.«
Lohkamp stieß einen anerkennenden Pfiff aus: Eine glatte Zwei war bei Juristen so selten wie ein Schalke-Sieg über Bayern. Aber wieso versauerte solch ein Mensch in Hattingen?
»Habe ich mich auch gefragt«, meinte Thalbach, »zumal er schon als junger Kerl ein paar richtig gute Stellen hatte, Rechtsdezernent in Duisburg und Bielefeld, Stadtdirektor in Gütersloh …«
»Und?«
»Nix ›und‹. Fehlanzeige. Vor acht Jahren hat er den öffentlichen Dienst verlassen und wurde in Hattingen Partner eines alteingesessenen Notars, dessen Kanzlei er jetzt allein weiterführt.«
»Und wieso ist er so weit weg vom Ruhm gelandet?«
Thalbach lächelte: »Erstens hat er in Hattingen nicht schlecht verdient. Und zweitens ist er wohl Romantiker gewesen. Vielleicht wollte er ja nur in Sonnenscheins Nähe sein.«
»Vielleicht reicht nicht«, murrte Lohkamp und kramte in seinen Jackentaschen nach einer Zigarette, die er sich in den Mundwinkel schob.
»Horst!«, mahnte Thalbach. »Wir haben …«
»Ich weiß. Aber trocken rauchen ist noch nicht verboten.«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf: »Und was sagen die Archive des BKA und der Landeskriminalämter zu Beißner?«
»Nichts!«
Drei Minuten später hatte sich im Sitzungssaal eine illustre Runde versammelt. Polizeipräsident Flenner übernahm höchstpersönlich den Vorsitz, obwohl er von Ermittlungsarbeit keine Ahnung hatte und auch nicht ansatzweise damit befasst war. Aber er wollte sich mit dem Verweis auf die reichlich aufgefahrenen Getränke als perfekter Gastgeber erweisen und gleichzeitig darüber wachen, dass der ›gute Ruf Bochums‹ nicht ruiniert wurde. Dabei ging es vor allem darum, die Führung der Bochumer Polizei, die regionalen Unternehmer sowie die lokalen Möchtegernpolitiker vor jedem Schuldvorwurf in Schutz zu nehmen.
Mit blumigen Worten begrüßte Flenner die Bundesanwältin Dorn und »die anderen Gäste aus Karlsruhe« und erteilte dann seinem neuen Lieblingsbeamten das Wort.
Lohkamp, der ausnahmsweise direkt zur Rechten des Präsidenten sitzen durfte, brauchte keine zehn Minuten, um die bis zu diesem Zeitpunkt rekonstruierten Geschehnisse und die eingeleiteten Ermittlungen zu referieren.
Die Bundesanwältin meldete sich. Im Sitzen größer als fast alle anderen Kerle am Tisch, thronte sie wie eine Sphinx dem Präses gegenüber, sehr beherrscht, mit durchgedrücktem Kreuz: »Wenn ich das richtig verstanden habe, dann suchen Sie ein Tatmotiv im Umfeld Ihrer Oberbürgermeisterin.«
Wie beiläufig pflückte sie sich beim Reden eine unsichtbare Fluse von ihrer Nadelstreifenjacke.
»Danach suchen wir noch gar nicht, Frau Dorn. Wir rekonstruieren, was passiert ist, und suchen zu diesem Zweck nach möglichen Zeugen.«
»Dabei helfen wir Ihnen gerne«, versicherte sie. »Aber was ist mit den Hintergrundermittlungen?«
»Woran denken Sie dabei?«
»Sprengstoffdelikte sind ja nicht allzu häufig. Und haben nur selten einen privaten Hintergrund …«
Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen und Lohkamp spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Kam jetzt die Besserwissernummer, die er schon einige Male erlebt hatte? Die meisten Karlsruher, die hier dienstlich eingefallen waren, hatten sich so aufgeführt, als wäre das Land zwischen Ruhr und Lippe plötzlich eine badisch besetzte Zone geworden.
»Aller Erfahrung nach werden solche Attentate meist aus politischen Motiven oder von kriminellen Organisationen begangen.«
»Frau Bundesanwältin, diese Rede können Sie sich für die Pressekonferenz sparen«, hörte Lohkamp sich sagen. »Wir sind zwar hier in Bochum, aber deswegen noch lange nicht blöd.«
Die Runde schwieg. Flenner rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her, die BKA-Leute spannten ihre Rückenmuskeln. Lediglich die Bundesanwältin lächelte, den Kopf mit dem langen Blondhaar ein wenig nach vorn geneigt, und sah Lohkamp geduldig an. Offenbar liebte sie es, sich mit Männern zu streiten, die kleiner waren als sie.
»Aber bisher«, fuhr Lohkamp ruhig fort, »haben wir weder ein Bekennerschreiben noch ein politisches Manifest zu dieser Tat erhalten.«
»So etwas kommt heutzutage nicht unbedingt mit der Post, sondern taucht oft zuerst im Internet auf. Aber überlegen Sie selbst: Wer könnte Ihre OB im Visier haben?«
»Gute Frage. Parallel dazu müssen wir jedoch herausfinden, ob der Anschlag der OB galt oder doch Beißner treffen sollte.«
»Der Mann ist sauber!«, unterbrach ihn die Nadelstreifenfrau.
»Wie schön, dass Sie das schon zu Beginn der Ermittlungen wissen. Ich meine …«
»Herr Lohkamp, wenn der Generalbundesanwalt ermitteln lässt, dann liegt die Leitung der Arbeit nicht bei Ihnen«, deutete Dorn dezent an. »Wir glauben, dass man Bochum endlich aus dem Dornröschenschlaf wecken muss.«
»Wie sollen wir das denn verstehen?«, platzte es aus Flenner heraus.
»Zum Beispiel so: Der Bundesinnenminister hat vor zwei Tagen eine neue Warnung vor islamistischen Terroristen herausgegeben.«
»Was hat Bochum damit zu tun?«
Von oben herab, die manikürten schlanken Hände vor sich auf der Tischplatte gefaltet, sah Dorn den Polizeipräsidenten beinahe geringschätzig an: »Haben Sie vergessen, dass einer der Terrorpiloten vom 11. September mehrere Jahre in Bochum gewohnt hat? Und dass Ihre Staatsschützer den Mann nicht mal auf dem Schirm hatten?«
Trotz der Sommerhitze überkam Lohkamp ein Frösteln.
»Die Arbeit des Polizeibüros II kann sich sehen lassen«, bockte Flenner.
»Ach ja? Sprechen wir gerade von der Mordserie unter den Neonazis Anfang 2000? Von den Ermittlungspannen? Kein Ruhmesblatt für Ihre Leute. Und erst recht nicht für den hiesigen Staatsschutz.«
»Wir haben mittlerweile 2006.«
»Danke für den Hinweis.« Sie sah kurz auf ihre Hände, als hätte sie dort einen Spickzettel versteckt. »Wie ist das mit den Protesten gegen den Neubau einer Synagoge? Waren das nur Rechtsradikale? Sie haben viel mehr Muslime in Bochum als Juden, aber eine richtige Moschee dürfen diese Leute nicht bauen, sondern müssen sich mit alten Wirtshäusern und Lagerhallen begnügen. Meinen Sie nicht, dass das für Unmut sorgt?«
Alle in der Runde saßen wie erstarrt.
»Haben Sie die Arbeit der Salafisten im Blick? In zwei dieser Hilfsmoscheen predigen diese Voll-Konservativen und werben Nachwuchs an.«
Verdammt, dachte Lohkamp. Die Frau wusste mehr über Bochum, als er ihr zugetraut hatte. Er beugte sich vor: »Haben Sie denn einen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass ein solcher Tatzusammenhang bestehen könnte?«
»Ja, Herr Lohkamp. Den habe ich in der Tat. Wen wollte Frau Sonnenschein heute Abend in ihrem Haus empfangen und bewirten?«
»Sagen Sie es mir. Ich lese nur den Lokalteil von Recklinghausen.«
»Das ist ein Fehler, Herr Kriminalhauptkommissar. Auch die täglichen Hausmitteilungen an alle Bochumer Polizisten haben es nicht für nötig befunden, eine besondere Sicherheitslage anzukündigen.«
Deutliche Unruhe im Saal – das war eine Frontalattacke gegen den Präsidenten und seine Nachrichtentruppe.
»Dann will ich sie mal aufklären. Frau OB Sonnenschein hat eine Gruppe alter Leute eingeladen, die 1937 und 38 als Kinder mit ihren Eltern nach Palästina und in die USA ausgewandert sind. Von den Nationalsozialisten vertrieben und ausgeplündert. Weil sie Juden sind. Sehen Sie da wirklich keinen Zusammenhang?«
Flenner hatte noch nie so wehrlos ausgesehen wie in diesem Moment. Er würde Mühe haben, bis zur öffentlichen Pressekonferenz seine Fassung zurückzugewinnen.
Acht Kameras und fast zwei Dutzend Mikrofone waren auf den Pressesprecher des Polizeipräsidenten gerichtet, als er ans Rednerpult trat. Mit einem leichten Lächeln schaute er auf die rund fünfzig Anwesenden hinab, die sich im Saal versammelt hatten. Solch ein Andrang herrschte in Bochum nur selten, aber als Spezialist im Lächeln und Lügen war Gaius Stahl routiniert genug, um die Situation zu meistern. Zunächst harrte er etliche stumme Sekunden am Mikrofon aus, ohne auf das Stimmengewirr im Publikum zu reagieren. Dann merkte man, dass er in diesem Tumult nichts sagen würde, und langsam ebbte der Lärm ab.
»Danke schön, meine Damen und Herren!«, tönte er sogleich in die Mikrofone. »Zuerst zu den Fakten: Heute Morgen gegen 8.37 Uhr erreichte uns die Meldung, dass sich vor dem Haus der Oberbürgermeisterin eine Explosion ereignet habe. Dabei wurden, wie sich später herausstellte, Frau Sonnenscheins Lebensgefährte, der Rechtsanwalt und Notar Lukas Beißner, getötet und der Fahrer eines Abschleppwagens schwer verletzt. Die Oberbürgermeisterin blieb unversehrt – sie befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Rathaus.«
Einige Presseleute meldeten sich mit Zwischenrufen zu Wort, aber Stahl schüttelte nur den Kopf und wartete, bis man ihn weiterreden ließ.
»Wie bei anderen Sprengstoffdelikten hat zunächst der Herr Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernommen und uns seine Mitarbeiterin Frau Bundesanwältin Dorn geschickt. Eine Gruppe von Spezialisten des BKA und des LKA arbeitet bereits am Tatort. Unterstützt wird sie von einer Sonderkommission der Bochumer Polizei unter Leitung des Ersten Kriminalhauptkommissars Lohkamp.«
Leichtes Raunen unter den wenigen ortsansässigen Journalisten, und einer von ihnen sagte halblaut und voller Erstaunen: »Wieso haben die den denn wieder ausgegraben?«
Ein paar Auswärtige sahen ihn verständnislos an, aber das war nicht die Stunde, ihnen die Geschichte einer verpfuschten Karriere zu erzählen. Immerhin war Lohkamp einst einer der Shootingstars für Terrorbekämpfung im Bundeskriminalamt gewesen, bevor er über Recklinghausen in Bochum-Wattenscheid gelandet war – und jetzt ohne festen Zuständigkeitsbereich mal hierhin und dorthin abgeordnet wurde.
Auch der Betroffene hatte das Gemurmel gehört und kniff, scheinbar amüsiert, die Augen zusammen. Doch in seiner Magengegend brodelte es. Er saß zusammen mit der Bundesanwältin, dem Polizeichef, zwei Leuten vom BKA und Sonnenscheins Stellvertreterin im Podium – aber so weit vom Rednerpult entfernt, dass jedem deutlich wurde, welche Rolle man ihm zugewiesen hatte.
Warum habe ich heute Morgen nicht Nein gesagt?, wurmte es Lohkamp.
»Sie werden verstehen«, sagte Stahl, »dass wir zu diesem frühen Zeitpunkt die meisten Geheimnisse dieses Verbrechens noch nicht aufklären konnten. Aber einiges haben wir bereits erreicht. Und dazu übergebe ich nun an die Vertreterin des Generalbundesanwalts …«
Dorn stand auf – lang, schlank, perfekt: »Meine Damen und Herren, Sprengstoffe gehören zu jenem exklusiven Kreis von Waffen, die am schwersten zu beschaffen und zu handhaben, aber zugleich am wirkungsvollsten sind. Schon deshalb sind Delikte, bei denen sie eingesetzt werden, zweifellos zu den besonders schweren Straftaten zu zählen.«
Blabla, dachte Lohkamp und wartete auf den Moment, an dem sie die Bombe mit den Islamisten zünden würde. Zugleich dachte er über Beißner nach. Wieso nur war er so unzufrieden damit, dass der Mann als sauber galt? War er schon so weit, dass er jeden Menschen für schuldig hielt, solange ihm nicht das Gegenteil bewiesen wurde? Dann wurde es wirklich Zeit für ihn.
»Welche Motivation für die heutige Tat vorliegt oder welcher Täterkreis in Betracht kommt, können wir gegenwärtig noch nicht sagen. Denn wir wissen nicht einmal, ob der Anschlag der Oberbürgermeisterin gegolten hat oder Herrn Beißner, dessen Tod wir sehr bedauern.«
Erstauntes Raunen im Auditorium und einige Journalisten sahen sich verblüfft an.
»Wir können allerdings auch einen terroristischen Hintergrund nicht ganz ausschließen.«
Dieser Satz riss selbst altgediente Presseleute aus dem Halbschlaf. Begeistert schrieben sie mit, was die Bundesanwältin an Indizien aufzählte. Das Sommerloch nach der Fußball-WM ließ sich mit diesen Hinweisen bestens füllen.
»Über den genauen Tathergang wird Sie nun der Leiter des BKA-Teams informieren.«
Einer der glatt rasierten Jungs aus Karlsruhe nahm nun ihren Platz ein und erzählte haargenau das, was Lohkamp intern berichtet hatte. Aber den Leuten im Saal war das zu wenig und der Mann von BLUT eröffnete die Fragerunde: »War die Explosion das Werk eines Selbstmordattentäters?«
»Nein.«
Eine Sekunde blitzte Bedauern darüber im Gesicht des Mannes auf, dass ihm soeben die beste Schlagzeile seiner Karriere entgangen war. Doch er gab noch nicht auf: »Wurde die Explosion durch Fernzündung ausgelöst?«
»Nein.«
»Wie dann?«
»Durch ein Kontaktkabel.«
Vor Verblüffung blieb es im Saal einen Moment still. Der Glattrasierte lächelte jetzt: »Diese Technik findet man heute noch manchmal an Nachttankstellen: Ein Wagen fährt über ein Kabel, an dessen einem Ende ein Akku hängt, der den Strom liefert, und am anderen Ende wird der Tankwart aus dem Halbschlaf geweckt.«
»Also eine vorsintflutliche Methode?«
»Würde ich so nicht sagen. Soweit ich die Bibel kenne, waren damals noch keine Kontaktkabel im Einsatz.«
Überrascht sah Lohkamp auf. Dass diese BKA-Fritzen Sinn für Humor hatten, war ihm neu.
»Aber eine ungenaue Methode.«
»Das ist korrekt«, bestätigte der Jungspund und erläuterte den Zuschauern, warum es Beißner und nicht Sonnenschein erwischt hatte. Anschließend verteilte er Fotos eines fabrikneuen Magirus-Pluto, also genau des Lastwagentyps, der vor dem Haus der OB gestanden hatte.
Minuten später löste Stahl den Karlsruher ab, um die Pressekonferenz zu beenden: Die Leute hatten genug Futter für einen Sensationsartikel bekommen. »Wenn Sie keine Fragen mehr haben …«
Doch eine Hand hob sich. Der Ruhrgebietsreporter einer alternativen Tageszeitung aus Berlin hatte offenbar das Signal zum Abmarsch überhört: »Herr Polizeipräsident, Zeugen haben uns auf einen seltsamen Vorfall aufmerksam gemacht: Einer Ihrer Beamten soll lange nach der Explosion in der Nähe des Tatortes ein Pferd erschossen haben. Ist das ein neues Ritual der Bochumer Polizei?«
Raunen im Saal – und deutliche Irritation bei Flenner und Stahl. Ungefragt ergriff Lohkamp das Wort: »Ihre Information ist korrekt, Ihre Interpretation aber ganz und gar absurd.«
»Können Sie mir …«
»Gern«, unterbrach der Hauptkommissar den Frager. »Ein Hubschrauber musste auf einer Pferdekoppel landen. Die Tiere gerieten in Panik und eines hat sich dabei so sehr verletzt …«
»Das kann und darf nur ein Tierarzt feststellen.«
»Der Besitzer des Tieres, ein erfahrener Landwirt und Pferdezüchter, stand daneben. Und das Tier hatte, wie wir inzwischen wissen, beide Vorderbeine gebrochen. In solchen Fällen wäre es Tierquälerei …«
»Und dann hat einer der Beamten dem Bauern seine Dienstpistole geliehen?«
»Nicht dem Bauern, sondern mir.«
Erneuter Lärm im Saal.
»Haben Sie keine eigene Waffe?«
»Doch. Aber die liegt in meinem Schreibtisch. Weil ich sie gewöhnlich nicht brauche.«
Gelächter, aber es war noch nicht klar, auf wessen Kosten das ging.
»Haben Sie denn kein Mitleid mit dem Tier?«
Die Bundesanwältin griff plötzlich zum Mikrofon: »Wenn Sie erlauben, Herr Lohkamp?« Und dann versprühte sie geheuchelten Charme an den alternativ schreibenden Menschen: »Es ist Ihr gutes Recht, diesen Vorgang empörend zu finden. Aber veröffentlichen Sie den Artikel besser nicht unter Ihrem richtigen Namen«
»Wieso?«, fuhr der Bursche auf.
»Nun, wenn Sie sich wegen der Ermittlungen mit den Polizisten oder der Bundesanwaltschaft anlegen wollen – nur zu! Wir erleben das jeden Tag und halten das ganz locker aus. Aber wenn Sie ernsthaft fordern wollen, dass wir ein Pferd unnötig lange leiden lassen – dann steigen Ihnen sowohl Millionen Tierschützer als auch Ihr Chefredakteur aufs Dach.«
Gelächter im Saal, die Sache war ausgestanden. Lohkamp atmete auf.
Während die Journalisten ihre Sachen packten und zum Hauptausgang strebten, kramte Lohkamp nach seinen Zigaretten. Jemand berührte leicht seinen Arm: »Herr Lohkamp?«
Er wandte sich um und sah der Nadelstreifenfrau auf die silberne Brosche, die den Kragen ihrer weißen Bluse verschloss.
»Nehmen Sie mich mit?«
Wortlos ging er voran. Damit die wenigen überlebenden Raucher nicht für jede Zigarette durch die Eingangsschleuse mussten, hatte der PP es den »Paffern«, wie er sich neuerdings ausdrückte, erlaubt, zu diesem Zweck den Innenhof des Präsidiums aufzusuchen.
»Ich dachte, Sie rauchen nicht?«
»Gelegentlich doch. Ist heute erst meine Dritte.«
»Warum sind Sie dagegen, dass wir auch Beißner scannen?«, fragte Lohkamp, während er ihr Feuer reichte.
»Bin ich doch gar nicht. Aber der Mann sieht wirklich harmlos aus. Und die Suche nach einem politischen oder terroristischen Motiv erscheint mir zurzeit vordringlicher. Im Übrigen, Herr Lohkamp: Wollen Sie sich nicht bei mir bedanken?«
»Wofür?«
»Ich habe Sie rausgehauen.«
»Wegen der Tötung des Pferdes? Doch, das war sehr freundlich. Aber wo ist Ihr Dankeschön?«
»Wofür das denn?«
»Ich habe Ihren ungeschickten Piloten herausgehalten. Bei uns dürfte der Mann nicht mal den Vorhang für den Polizeikasper aufziehen!«
12
Klaus-Ulrich Mager fühlte sich an diesem Abend prächtig. Während Karin im Badezimmer darum kämpfte, dass Theo zumindest die wichtigsten Grundregeln der Körperpflege anwendete, saß der Kindsvater mit hochgelegten Füßen auf seinem Lieblingssessel. In der einen Hand hielt er ein Glas Rotwein, die andere umklammerte die Fernbedienung. Zur Stunde war das Dritte sein Favorit: Da gab es die Aktuelle Stunde und dann die vom Ersten übernommene Tagesschau. So viel PEGASUS-Präsenz hatte es auf dem Bildschirm schon lange nicht mehr gegeben.
Als die Wettervorhersage begann, tauchte auch die erschöpfte Mutter wieder auf: »Du bist dran. Heute musst du wieder nach Ägypten …«
Mager nickte. Zumindest politisch war auch der kleine Sohn auf dem besten Weg. Denn in Ägypten ging es um die Abenteuer eines sagenhaften Krokodils namens Riesenzahn, das sich durch eine Laune der Natur zum Vegetarier entwickelt hatte und zudem entflohene Sklaven und verschuldete Bauern vor den Häschern des Pharaos und der Hohepriester schützte. Die Guten trug es auf seinem Rücken über den Nil in Sicherheit und die Bösen stoppte und verjagte es meist allein dadurch, dass es den weit geöffneten Rachen und die makellos geputzten Zähne zeigte. Und hin und wieder, wenn die Abenteuerlust des Sohnes mit dem gewaltlosen Widerstand nicht mehr zufriedengestellt werden konnte, biss Riesenzahn die Bösen auch schon mal kräftig in den fetten Hintern.
Mager zog los und dachte sich auf der Treppe ein weiteres Abenteuer des Krokodils aus, das an diesem Abend einen klugen Handwerkersohn retten musste.
»Die sind blöd, diese hohen …«
»Hohepriester. Du kannst aber auch einfach Pfaffen sagen.«
Theo nickte – diesen Ausdruck kannte er. Doch nach einem Augenblick des Nachdenkens wurde er wissenschaftlich: »Was ich einfach nicht verstehe ist, dass Riesenzahn kein Fleisch isst. Wie kann es denn zu einer solchen Mution kommen?«
»Mutation heißt das. Kommt von dem lateinischen Wort mutari – sich ändern.«
»Ja – aber wie konnte Riesenzahn …«
»Schwere Frage. Darüber zerbrechen sich sogar weltberühmte Wissenschaftler den Kopf. Einige vermuten, das könnte mit der seit Jahrtausenden erhöhten Radioaktivität im Niltal und im Tanganjika-Graben zusammenhängen.«
»Und warum weißt du das nicht?«
»Woher soll ich etwas wissen, das noch nicht einmal die Experten herausgefunden haben?«
»Weil du mein Papa bist.«
»Aber um Papa zu werden, muss man nichts über Radioaktivität wissen.«
»Sondern?«
»Man muss eine nette, kluge und zärtliche Frau finden.«
»So eine wie Mama?«
»Genau.«
»Und dann?«
»Dann muss man Kinder wie dich rechtzeitig ins Bett bringen.«
Beschwingt eilte Mager ins Wohnzimmer zurück. Theos Fragenkette hatte ihn an jene angenehme Seite des Ehelebens erinnert, die in den letzten Wochen – stressbedingt – in der Familie Mager entschieden zu kurz gekommen war.
»Na, wie geht’s dir?«, säuselte er, als er das Wohnzimmer erreichte.
Karin saß auf der Couch, hatte sich der Fernbedienung bemächtigt und starrte fasziniert auf den Bildschirm. Dort linste die Kamera eines Gourmet-Kanals einem Chinesen über die Schulter, der einige Streifen Rindfleisch in einem Wok angebraten hatte und sie gerade mit einer gelbliche Soße ablöschte. Und Karin hielt dem Gatten statt einer Antwort ein leeres Weinglas hin.
»Sofort!«
Hoffnungsfroh schüttete er ihr und sich ein Schlückchen ein und rückte um zwei Handbreiten näher. Der Geruch ihres Körpers faszinierte ihn noch immer und als er mit seiner freien Tatze ihren Nacken berührte, schien neues Leben durch seinen alten Leib zu strömen. Sanft streichelte er mit den Fingerkuppen die verwundbare Stelle unter ihrem rechten Ohr.
»Wie wär’s …«, setzte er an, doch sie hob abwehrend ihre linke Hand: »Scht!«
Fasziniert sah sie zu, wie der Glatzköpfige ein Schneidebrett an den Kochtopf heranbalancierte. Er ließ ein buntes Ensemble exotischer Gemüseschnipsel in die Öffnung rieseln und verrührte alles sanft miteinander.
»Genial! Jetzt fehlt nur noch ein Hauch von frischem Ingwer.«
Mager seufzte unhörbar: Ingwer fand er überhaupt nicht genial. Stattdessen ließ er seine Finger ein Stück tiefer gleiten und schob sie sanft unter den Kragen von Karins T-Shirt.
»Ist was?«, fragte sein Weib.
»Nun ja«, setzte Klaus-Ulrich an und überlegte, wie deutlich er seine Vorstellungen von einem befriedigenden Programmwechsel erläutern sollte. »Ich weiß was …«
»Und was?«
Ein Déjà-vu-Erlebnis verklebte Mager den Mund: Vor vielen Jahren hatte er selbst, auf einer anderen Couch, dieselbe Frage gestellt. Und zur Antwort ein verheißungsvolles »Sagen – oder tun?« kassiert. Also entschloss er sich, nicht zu reden, sondern zu handeln. Seine rechte Hand setzte ihren Vormarsch fort.
»Mann, Klaus!«, fuhr Karin auf und schüttelte seine Finger ab. »Wir haben doch erst Montag!«
13
»Wer von euch war’s?«
Die heftigen Diskussionen im Montagsclub brachen ab, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Alle blickten den Mann an, der gerade das Hinterzimmer der Friedenseiche betreten hatte. Und dem schien die Wirkung seiner Frage zu gefallen. Er lächelte leicht, hängte seinen Schlapphut an den Garderobenständer und schüttelte die langen weißen Locken, in deren Mitte eine helle Lichtung glänzte. Dann ließ er sich auf dem Armsessel vor Kopf des langen Eichentisches nieder. Dieser Platz gehörte nur ihm, Carlo Uebermuth, dem Vorsitzenden des Clubs.
»Wie – wie meinst du das?«, fragte Dieter Flessek, der die Ratsfraktion jener Partei leitete, die seit 1946 in Bochum die Pöstchen vergab.
Er hatte in den letzten Jahrzehnten neben seinem Job als Schulleiter so viele Ämter an sich gezogen, dass ein normaler Mensch keine Zeit mehr gefunden hätte, zwischendurch auch noch vier Kinder zu zeugen.
»Du verstehst schon, was ich meine, Dieter. Wer von euch wollte Irmhild in die Luft jagen?«
Der Expädagoge blies die Backen auf: »Diese Frage enthält eine Unterstellung, die ich energisch zurückweisen muss!«
Uebermuth lächelte nur.
»Außerdem: Wer sollte daran schon Interesse haben?«
»Du selbst zum Beispiel!«, mischte sich Lina Tenberge ein. »Du hast doch bei der letzten Kandidatenwahl lange gezögert, weil du lieber in den Landtag wolltest.«
Schadenfrohes Gekicher lief um den Tisch. Als Flessek vor ein paar Jahren gemerkt hatte, dass ihn niemand nach Düsseldorf schicken wollte, war Sonnenschein als OB schon durch – und er noch immer Fraktionschef.
»Und was ist mit dir?«, fragte Flessek zurück und zwang sich, Tenberge in die Augen zu sehen. Viel Haut hatte sie in dieser Runde noch nie gezeigt, aber er gab die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages einen Blusenknopf mehr öffnete.
»Ich kann in Ruhe abwarten«, sagte Tenberge und lehnte sich, Gelassenheit demonstrierend, zurück. Die Bluse spannte sich über ihren Brüsten und Flessek musste schlucken. Körbchengröße B, dachte er, schön handlich und straff. Was anderes als die Hängetitten von …
»Ich bin erst achtunddreißig«, fügte Lina hinzu und sah ihm spöttisch in die Augen. »Siebzehn Jahre jünger als du. Mir läuft die Zeit nicht davon.«
»Ihr tut so, als wären wir hier bei der Mafia!« Hartmut Potthoff tippte sich mit seinem fleischigen Zeigefinger gegen die Stirn. »Dabei geht es hier nicht um unser persönliches Wohl, sondern um die Zukunft der Stadt!«
Mehrere Leute in der Runde verzogen das Gesicht. Potthoff war als Leiter des Bauamtes mindestens so korrupt wie alle seine Vorgänger zusammen. Und Uebermuth fand den Hinweis auf die Mafia gar nicht so unpassend.
»Moment mal!« Auf der anderen Seite des Tisches klopfte jemand mit der Spitze seines Kugelschreibers gegen ein leeres Bierglas – und alle merkten auf. Dort saßen nämlich die Vertreter der Stadtbank, zwei Vorstandsmitglieder und einer von den leitenden Angestellten, alle drei treue Parteisoldaten. Ihr Einfluss war enorm. Wie alle kommunalen Kassen musste auch die Stadtbank gemeinnützige Projekte fördern. Ohne diese Zuschüsse waren die Glanzstücke der Bochumer Kulturpolitik, das Schauspielhaus und die Symphoniker, in Gefahr – und wer das riskierte, wurde geteert und gefedert.
»Mit Irmhild«, begann der Hagerste des Finanztrios, der lange Zeit den Unterbezirk der Partei geleitet hatte, »haben wir sicher keinen genialen Griff getan.«
»Sie war ja auch nur dritte Wahl«, warf Flessek ein und goss sich ein weiteres Glas auf seine gepeinigte Leber.
»Und du nur die vierte«, grinste Tenberge. Vor Zorn wechselte Flesseks zerknittertes Gesicht die Farbe.
»Bitte, beherrscht euch, Genossen!«, mahnte Uebermuth, konnte aber selbst ein schadenfrohes Lächeln nicht unterdrücken. Säufer wie Flessek mochte er nicht. Politik musste man mit Verstand angehen und nicht mit der Leber. »Sonnenschein hat auch ihre starken Seiten. Mit ihr haben wir die Stimmenverluste bei den Kommunalwahlen gestoppt. Weil sie bei unserer Stammwählerschaft gut ankommt.«
»Aber dafür verärgert sie auch die Vertreter der Wirtschaft. Bochum ist ein sensibler Standort«, wandte der Hagere ein.
Alle nickten. Der Mann hatte Recht. Sonnenschein verletzte eine Menge Tabus. Uebermuth selbst hatte, bevor er für seine Verdienste in den Aufsichtsrat der Bank berufen worden war, jahrelang das Stadtarchiv im Sinne der konservativen Mafia gelenkt. Für eine Dokumentation über die Folgen der alliierten Bombenangriffe gab es jede Menge Lob. Dafür verschwanden Unterlagen über die Enteignung, Verfolgung und Vertreibung der Bochumer Juden im Keller des Archivs. Auch eine Geschichte über die Verfolgung von Widerstandskämpfern stand nie zur Debatte. Die Unterlagen über die in Bochum umgekommenen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hatten seine Vorgänger bereits in den Sechzigerjahren entsorgt. Aber was tat Irmhild Sonnenschein, kaum dass sie im Amt war?
»War das nicht peinlich«, warf jemand in die Debatte, »unser bestes Modehaus so zu blamieren? Mein Gott, wen interessiert es heute noch, ob ein Kaufhaus 1936 per Zeitungsannonce verkündet hat, dass sein Laden endlich judenfrei war.«
»Viel schlimmer«, schaltete sich Potthoff ein. »Denkt daran, dass sie Bochum als Standort des Zentrallagers für das größte Möbelhaus der Welt verhindert hat. Das hat uns mehrere Hundert Arbeitsplätze gekostet.«
Und dir ist ein saftiges Schmiergeld entgangen, dachte Lina Tenberge. Laut sagte sie: »Die Elche hätten ja auf einer der alten Zechenbrachen bauen können, statt ein paar ertragreiche Äcker zu betonieren. Damit wären uns auch wichtige Prozente bei der Kommunalwahl verloren gegangen.«
Uebermuth hob den Kopf: Dass Tenberge die amtierende OB verteidigte, kam selten vor.
»Aber«, sagte der ehemalige Vorsitzende des Unterbezirks, »wir sind hier nicht im Wilden Westen. Mit Methoden wie dem Bombenbau können wir uns nicht anfreunden. Wer so etwas tut, beschmutzt den Ruf der Stadt und schadet dem Wirtschaftsstandort Bochum.«
Er legte eine Pause ein und ließ seinen Blick über die anwesenden Vertreter der Politik gleiten, ehe er fortfuhr: »Wenn sich also herausstellt, dass wirklich jemand aus diesem Kreis dahintersteckt, dann ist unsere schöne Achse zwischen Parteiarbeit und Kulturförderung zerbrochen. Wir lassen euch dann mit eurem kaputten Haushalt vor die Hunde gehen.«
Beifall bei Uebermuth und auf der Stadtbankseite, Schweigen und tiefe Sorgenfalten bei den Amtsträgern. Schließlich begehrte Flessek offen auf: »Ihr vergesst wohl, wer euch diese tollen Posten zugeschanzt hat? Ohne uns …«
»Wenn’s um Posten geht, Dieter, solltest du den Mund halten. Du bist in vier Aufsichtsräten.«
»Das steht mir auch zu.«
»Wenn du das Geld an die Partei abführtest, das du laut Statuten zahlen musst.«
»Ich zahle …«
»Hör auf. Du zahlst nicht mal die Hälfte. Sonst könntest du deine ganzen Saufereien und Weibergeschichten gar nicht finanzieren.«
Im nächsten Augenblick sprang alles auf und schrie wütend durcheinander.
Von dem Lärm alarmiert, rannte der Wirt herbei: »Was ist denn bei euch los?«
Jähes Schweigen. Dann sagte Uebermuth lächelnd: »Wir streiten uns, wer die nächste Runde bezahlt. Am besten, du setzt sie auf meinen Deckel.«
Während der Wirt die leeren Gläser einsammelte, herrschte verbissenes Schweigen. Potthoff trommelte mit den Kuppen seiner fleischigen Finger auf den Tisch und Flesseks Stirnglatze lief so rot an, als liefe darunter ein Atomreaktor heiß. Und kaum war der Mann mit der Schürze verschwunden, sprangen Potthoff und Flessek wieder auf. Da hob auf der Parteiseite ein Mann die Hand, der den ganzen Abend noch nichts gesagt hatte: »Schluss!«
Alle sahen ihn an. Klotzek war nicht nur Vorsitzender des vorörtlichen Fußballvereins, sondern auch Boss des Abschleppunternehmens, das am Morgen das Sprengstoffauto vor Sonnenscheins Grundstück entfernen sollte. »Ihr benehmt euch wie kleine Kinder!«
Widerwillig setzten sich alle wieder hin – die Gesichter noch vom Zorn gezeichnet.
»Denkt doch mal nach: Wer die Bombe gelegt oder auch nur bestellt hat, hat Scheiße gebaut. Aber ob man denjenigen findet, ist eine andere Sache.«
»Verdammt noch mal, irgendjemand wollte unsere OB in die Luft jagen!«
»Und einer meiner Fahrer ist wegen des Attentats reif für die Klapse!«, gab der Fuhrunternehmer zurück. »Aber überlassen wir die Ermittlung der Polizei. Ich bete zu Gott, dass keiner aus dieser Runde damit zu tun hat.«
»Ich wusste gar nicht, dass du fromm bist«, murmelte jemand. Ein leichtes Glucksen in der Runde zeigte, dass sich die aggressive Stimmung entspannte.
»Ach, komm, spar dir die Witze. Lasst uns lieber überlegen, wie Bochum aus dieser Scheiße rauskommt.«
»Das können wir doch erst, wenn wir wissen, wer es war«, wandte Lina Tenberge ein.
»Stimmt«, sagte eine tiefe Stimme. Sie gehörte Otto Trübes, dem Ältesten der Runde und Vorgänger auf Sonnenscheins Sessel. »Außerdem ist noch gar nicht klar, ob der Anschlag gegen Irmhild oder Lukas gerichtet war – kann ja sein, dass die Bombe vor dem falschen Haus explodiert ist!«
»Bitte?«, fragte einer der Herren von der Stadtbank.
»Ja. Woran die meisten hier gar nicht denken: Der Charlottenweg ist zweigeteilt. Irmhilds Haus liegt am Ende des alten Teils. Dahinter dann Felder. Altes Bauernland. In den Siebzigern hat man begonnen, von der Baumhofstraße aus einen neuen Abschnitt zu bauen, der auf das alte Straßenstück zuwachsen und mit ihm verbunden werden sollte.«
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Potthoff.
Otto Trübes lächelte: »Hartmut hat’s kapiert. Das Verbindungsstück zwischen den beiden Enden der Straße konnte nie gebaut werden, weil der dickköpfige Bauer nicht verkaufen wollte. Und dann hat jemand es gewagt, quer hinter das Ende des neuen Teils und ganz ohne Genehmigung ein wunderschönes …«
»Von wegen – ohne Genehmigung!«, protestierte Potthoff. »Ich habe eine.«
»Ja, ich weiß.« Trübes winkte ab. »Die hast du dir dann rückwirkend erteilt, als du Baurat wurdest.«
Mit einem Mal war es peinlich still im Raum. Jeder starrte vor sich.
Meine Güte, dachte Tenberge, so haben auch alle auf der goldenen Hochzeit von Oma und Opa geschwiegen – als jemand die vier unehelichen Kinder erwähnte, die der treue Gatte in diesen fünfzig Jahren nebenbei gezeugt hatte.
»Eigentlich«, sagte Trübes in diese Stille hinein, »hättest du den Knall heute Morgen doch hören müssen, Hartmut!«
Potthoff seufzte: »Ich musste früh weg. Ich habe es auch erst im Rathaus erfahren.«
Trübes lächelte verhalten und kraulte genüsslich seinen grauen Kinnbart. Aber die anderen kamen von selbst drauf und Flessek meldete sich als Erster: »Meinst du, Otto, es ging gar nicht um Irmhild? Sondern dass jemand den Hartmut wegpusten wollte?«
»Das weiß zurzeit nur der liebe Gott«, behauptete der Alt-OB. »Aber es gibt bestimmt ein Dutzend Leute mit einem brauchbaren Motiv!«
»Wenn’s danach ginge«, schoss Potthoff zurück, »müsstest du schon zwanzig Jahre tot sein!«
Die nächste Runde ging an ihn.
14
Gegen halb zehn am Abend saßen Hardenberg und Klemm noch immer im Haus der Nationen an der Ruhr-Uni fest und hofften auf Ablösung. Seit sie im zweiten Stock vor dem Notquartier der Oberbürgermeisterin Platz genommen hatten, waren mehr als zehn Stunden vergangen. Sonnenschein selbst hatten sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Statt ihrer war nur zwei Mal ihre Lieblingsärztin aufgetaucht. Neben der unvermeidlichen Instrumententasche hatte sie beim ersten Mal eine Pizzaschachtel mitgebracht und beim zweiten eine Papiertüte mit dem Werbeaufdruck von Bochums bekanntester Bäckerei. Und beim Weggehen hatte die Medizinerin den Polizisten eingeschärft, niemanden in das Dreizimmerappartement zu lassen: »Ganz egal, wer kommt!«
Aber nichts passierte. Die anderen Appartements auf diesem Flur waren während der Semesterferien unbewohnt und verschlossen.
Nicht einmal die Presseleute hatten bislang herausgefunden, wo sich die OB aufhielt. Und der Hausmeister, ein treuer Sonnenschein-Wähler, hatte geschworen, sie unter keinen Umständen zu verraten.
Langeweile machte sich breit und daran konnte auch der Ausblick nichts ändern. Ein etwa zehn Meter langer Korridor mit hellgrauen Wänden, von dem auf jeder Seite zwei blaue Türen abgingen. Am einen Ende gab es eine Glastür, die zur Feuertreppe führte und ansonsten nur einen Blick auf die Betonkolosse des Uni-Centers bot. Am anderen Ende sahen die Polizisten auf eine gläserne Schwingtür, durch die man den Aufzug und das Treppenhaus erreichte. Weder die Leuchtröhren an der Decke noch der blaugraue Teppichboden zeugten von gestalterischer Phantasie. Einen gewissen historischen Wert besaßen lediglich die sechs gerahmten Radierungen, die zwischen den Türen hingen: Ein Bochumer Kunstlehrer hatte darauf die Silhouetten von Zechen und Werkshallen verewigt, bevor diese im Zuge der ›Modernisierung‹ der Stadt abgerissen und durch Einkaufszentren ersetzt worden waren.
»Wahrscheinlich völlig überflüssig, hier zu sitzen«, hatte Hardenberg gesagt, als sie die ersten Stunden überstanden hatten.
»Weiß nicht. Aber wer’s ein Mal versucht, der tut’s auch ein zweites Mal.«
»Wenn nicht doch dieser Notar das Ziel war«, meinte er.
Da auch aus dem Präsidium keine neuen Informationen herüberkamen, saßen sie die meiste Zeit auf ihren Sesseln und entsafteten die Akkus ihrer Handys: Klemm textete mindestens zwanzig Kurznachrichten an ihren Freund und Hardenberg spielte Tetris, bis die Balken und Klötzchen auch ohne Display vor seinen Augen schwebten. Ab und zu traten sie mit ein paar Schritten zwischen den Glastüren die Spurrillen in der Auslegeware etwas tiefer, aber dadurch wurde die Lage auch nicht besser. Nach vier Stunden zog Hardenberg los, um im Uni-Center Coffee to go und zwei Döner zu besorgen, vier Stunden später war Kathrin Klemm mit der Versorgung an der Reihe. Dabei konnten sie noch von Glück sagen, dass der aufmerksame Hausmeister ihnen das Appartement neben der Unterkunft Sonnenscheins aufgeschlossen hatte, damit sie nicht die Toiletten im Kellergeschoss aufsuchen mussten.
»Wie spät?«, fragte Hardenberg irgendwann.
»Ist deine Uhr stehen geblieben?«
»Nein. Ich bin nur zu faul, den Arm zu heben und nachzusehen.«
»Idiot«, grinste Kathrin Klemm und zückte dann ihr DienstHandy, um im Büro der Soko ›Sonnenschein‹ anzurufen.
»Lohkamp!«
»Chef«, sagte Klemm. »Da Sie auch noch arbeiten, will ich mich ja nicht beschweren. Aber wir sitzen noch immer …«
»Au, verflucht!«, unterbrach sie der Hauptkommissar. »Alles klar, ich regele das. In einer halben Stunde werdet ihr abgelöst.«
Die Polizistin steckte das Handy ein und kassierte das fällige Lob ihres Kollegen: »Gut, dass du angerufen hast. Sonst säßen wir morgen früh noch hier.«
»Na ja«, wiegelte sie ab, »er hat sicher ’ne Menge am Hals.«
»Trotzdem!«, widersprach Hardenberg. »Früher wäre ihm das nicht passiert. Er geht eben auf die Rente zu.«
In der nächsten halben Stunde schwiegen sich die beiden wieder an. Ein paar Jahre zuvor hatte es mal so ausgesehen, als könnten sie das schönste Polizistenehepaar von Bochum werden. Aber auf die Dauer hatte es nicht funktioniert: Dass sie in Beruf und Privatleben dicht auf dicht zusammenhockten, war deutlich zu viel Nähe gewesen und hatte ihnen kaum Freiräume für unterschiedliche Interessen gelassen.
Dann hatte er in der Disco die Leiterin einer Kindertagesstätte kennengelernt und sie beim Joggen einen Nokia-Programmierer – und sie hatten das scheinbar Unmögliche geschafft, ihre Beziehung wieder auf das kollegiale Verhältnis zurückzuschrauben. Dabei war Klemm trotz des Trennungsschmerzes im Nachhinein froh, dass er zuerst abgesprungen war – es gab genügend Beispiele dafür, dass Polizisten ihre Eifersuchtsattacken mit der Dienstpistole bewältigen wollten.
Endlich hörten sie aus dem Treppenhaus das leichte Fauchen des Aufzugs und zwei uniformierte Kollegen betraten den Korridor. Der eine hatte zwei Colaflaschen unter den Arm geklemmt, der andere balancierte eine Tragetasche mit der Aufschrift Uni-Grill. Sofort war der kleine Korridor vom Geruch frischer Pommes frites erfüllt: »Sind wir hier richtig bei der Sonnenschein?«
»Ja«, sagte Hardenberg und musterte die beiden. »Wo kommt ihr denn her? Hab euch noch nie in Bochum gesehen!«
»Herne«, sagte der Dickere von beiden. Er schnallte seinen Gürtel mit dem Pistolenholster ab und ließ beide Teile auf den Boden poltern, ehe er sich setzte. »Zeitweilig zu euch abgeordnet. Weiß auch nicht, wieso.«
Während die beiden schmatzend ihre Abendmahlzeit in Angriff nahmen, teilte Hardenberg ihnen das Nötigste mit. Die beiden nickten so eifrig, als wüssten sie schon alles, hatten aber nur Augen für die von Fett triefenden Keulen und Flügel.
»Boah«, seufzte Hardenberg, als sie im Aufzug standen. »Dieser Hähnchenduft …«
»Zu viel Cholesterin«, sagte Klemm. »Und garantiert Massentierhaltung, vollgepumpt mit Antibiotika und Fischmehl. Du solltest ein wenig besser auf deine Gesundheit achten.«
Der Parkplatz vor dem Haus war nur schwach beleuchtet und angesichts der Semesterferien beinahe verwaist. Ein Peugeot aus Frankreich und ein polnischer Opel, dazu der Streifenwagen ihrer Ablösung, ihr eigenes zivil aussehendes Fahrzeug, ein Moped – und ein VW-Scirocco mit Dortmunder Kennzeichen. Hinter den leicht verdunkelten Fensterscheiben glühten zwei Zigaretten auf.
»Presse?«, fragte Klemm.
»Glaube ich nicht«, meinte Hardenberg, als er den Vectra startete. »Dann wären die zu uns hochgekommen. Wahrscheinlich nur zwei Typen, die ein paar Studentinnen aufreißen wollen.«
»Studentinnen? Warte mal! Die Eingänge zu den Studentenheimen liegen doch da drüben.«
Seufzend stellte Hardenberg den Motor wieder ab, als Klemm auf den roten Sportwagen zulief und an die Scheibe klopfte. Hardenberg sah noch, dass sie ihren Dienstausweis ans Fenster hielt – und dann schoss der Scirocco plötzlich davon und jagte auf die Ausfahrt zu.
Hardenberg drehte sofort wieder den Zündschlüssel, fuhr näher an die Kollegin heran und startete durch, noch bevor sie die Tür geschlossen hatte.
»Kennzeichen?«
»Dortmund Ida eins acht eins!«
An der Ausfahrt wandte sich der Verfolgte nach links, den Auffahrten der Universitätsstraße zu, die hier wie eine Autobahn ausgebaut war. An der ersten Kreuzung stand die Ampel auf Rot, aber der Scirocco ignorierte das Signal und flüchtete in Richtung Innenstadt.
»Blaulicht!«, kommandierte Hardenberg. »Und dann Fahndung!«
Der Scirocco war verdammt schnell, aber ihr Dienstwagen hatte auch einiges unter der Haube. Hardenberg begann bereits abzuschätzen, wann sie den Flitzer eingeholt hatten, da bog dieser mit kreischenden Reifen in Richtung Markstraße ab.
»Hacke!«, schrie Hardenberg und trat eine Sekunde zu spät auf die Bremse. Die Ausfahrt rauschte an ihnen vorbei, doch mit einem eleganten Powerslide kamen sie, den Kühler gegen die Fahrtrichtung gerichtet, vor der Zufahrt zum Stehen.
»Aufpassen!«, schrie Klemm, aber Hardenberg gab Gas und spielte für fünfzig Meter Geisterfahrer, um die Flüchtenden nicht aus den Augen zu verlieren. Die Hecklichter des Scirocco verschwanden gerade nach rechts, tauchten unter der Unistraße durch und fuhren auf der anderen Seite wieder hoch – zurück in Richtung Universität. Zwei scharfe Kurven, in denen Klemm Mühe hatte, sich aufrecht in ihrem Sitz zu halten. Dann erst konnte sie ihren Spruch zur Leitstelle abgeben: »Zielfahrzeug fährt jetzt in Richtung Langendreer. Kann jemand die Autobahnauffahrt sperren?«
Als hätte der Pilot des Scirocco die Durchsage gehört, schlug er einen weiteren Haken. Die Hecklichter des Roten verschwanden in dem Tunnel, der unter die Ruhr-Uni führte.
»Jetzt kriegen wir ihn!«, brüllte Hardenberg und setzte nach.
Hier wurde die Strecke gespenstisch: ein langes Betonflöz mit Abfahrten nach links und rechts, immer wieder ebene Abschnitte, die als Sprungschanze dienten, bevor der Wagen auf die nächste Senke krachte. Für zehn oder zwanzig Sekunden fühlte sich Klemm an Steve McQueen’s berühmte Raserei durch Frisco erinnert, aber der Ami hatte zweifellos die schönere Aussicht gehabt.
»Aufpassen!«, schrie Klemm Hardenberg zu, als das Ende des Tunnels auf sie zuraste. »Da unten wird es eng!«
Der Fahrer des Scirocco kannte sich jedenfalls aus: Kurzer, harter Stopp mit rauchenden Reifen, und eine Sekunde später zischte er schon auf der Gegenfahrbahn bergauf. Klemm war einen Moment lang versucht, die Pistole zu ziehen, musste sich aber am Armaturenbrett abstützen: Hardenberg bremste, der Vectra schlingerte, rutschte rückwärts gegen einen Bordstein, wurde von den gequälten Reifen hochgeworfen und krachte mit dem Heck gegen einen Betonpfeiler.
»Scheiße, verdammte!«, schrie der Polizist und gab wieder Gas. Das geschundene Gummi heulte auf, irgendwo hinten ratschte es heftig, etwas Blechernes schepperte auf die Fahrbahn. Kaum hatte der Wagen sich von seiner hinteren Stoßstange getrennt, schleuderte er nach rechts. Erneutes Krachen, die ganze Kiste wankte, kam scheinbar wieder auf die Beine, sie senkte sich dann endgültig schräg nach hinten, wo soeben noch das rechte Hinterrad gesessen hatte.
Fluchend sprangen sie aus dem Wagen und starrten dem Scirocco hinterher.