Epilog
Ich fliege davon
Vier Monate später…
Es war ein strahlender klarer Nachmittag im März, als wir alle zur La-Salle-Heights-Kirche gingen.
Beinahe fünf Monate nach der ersten blutigen Schießerei war jeder Riss und Kratzer in den Außenwänden abgeschliffen, ausgebessert und mit frischer weißer Farbe überpinselt worden. Ein weißer Vorhang verhüllte den Bogen, wo das schöne Glasfenster geleuchtet hatte. Er war eigens für die heutige Veranstaltung angebracht worden.
In der Kirche saßen die Würdenträger der Stadt Schulter an Schulter mit stolzen Gemeindemitgliedern, die sich heute hier versammelt hatten. Fernsehkameras waren in den Seitengängen aufgebaut und zeichneten alles für die Abendnachrichten auf.
Der Chor, in weiße Talare gekleidet, stimmte »I’ll Fly Away« an. Der Kirchenraum schien sich unter dem Klang der triumphierenden Stimmen zu weiten.
Einige Menschen klatschten im Takt der Musik, andere wischten sich Tränen aus den Augen.
Ich stand mit Claire, Jill und Cindy hinten. Mein Körper prickelte vor Staunen.
Nachdem der Chor verstummt war, betrat Aaron Winslow die Kanzel. In dem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd sah er so gut und stolz wie immer aus. Er war immer noch mit Cindy zusammen. Wir mochten sie, ja, wir hatten beide richtig gern. Die Leute wurden still. Er blickte im voll besetzten Kirchenschiff umher, lächelte und begann mit gesetzter Stimme: »Erst vor wenigen Monaten zerstörten die Kugeln eines Wahnsinnigen das Spiel unserer Kinder. Es war ein Albtraum. Ich musste mit ansehen, wie die Kugeln diese Gemeinde entweihten. Der Chor, der heute für Sie singt, wurde von Terror erschüttert. Wir alle haben uns gefragt: Warum? Wie war es möglich, dass nur das jüngste und unschuldigste Kind unseres Chores sterben musste?«
»Amen«, hallte es von den Dachbalken herab. Cindy flüsterte mir ins Ohr: »Er ist gut, nicht wahr? Der Beste, und er meint alles ernst.«
»Und die Antwort darauf lautet…«, fuhr Winslow fort. »Die einzige Antwort kann nur sein: Tasha Catchings sollte den Weg für uns alle bereiten, wenn wir ihr dereinst folgen.« Seine Blicke schweiften umher. »Wir alle hier sind verbunden. Alle, die Familien, die den Verlust erlitten haben, und jene, die hergekommen sind, um sich zu erinnern. Schwarz oder weiß– der Hass hat uns alle getroffen, aber wir gesunden und machen weiter. Ja, unbeirrbar machen wir weiter.«
In diesem Moment nickte er einer Gruppe Kinder in ihren Sonntagskleidern zu, die neben dem großen weißen Vorhang stand. Ein Mädchen mit Zöpfen, kaum zehn Jahre alt, zog an einer Schnur. Mit lautem Rauschen sank der Stoff zu Boden.
Strahlendes Licht erfüllte die Kirche. Alle Anwesenden sahen nach oben. Wo früher die zackigen Scherben ein Loch gebildet hatten, war jetzt wieder ein prächtiges buntes Glasfenster. Bewunderungsrufe wurden laut, dann klatschten alle. Leise stimmte der Chor eine Hymne an. Es war einfach verflucht schön und bewegend.
Als ich den Stimmen lauschte, rührte sich etwas in meinem Inneren. Ich schaute zu Cindy, Claire und Jill. Wie viel war geschehen, seit ich zum letzten Mal hier gestanden hatte. Seit Tasha Catchings ermordet worden war.
Mir kamen die Tränen. Ich spürte Claires Finger. Sie ergriff meine Hand und drückte sie. Dann schob Cindy ihren Arm in meine Armbeuge.
Jill lehnte sich von hinten an meine Schulter. »Ich habe mich geirrt«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Was ich damals gesagt habe, als sie mich in den OP gerollt haben, war falsch. Die Dreckskerle gewinnen nicht, sondern wir. Wir müssen nur das Ende des Spiels abwarten.«
Wir vier blickten zum schönen bunten Glasfenster hinauf. Ein sanfter Jesus, in weißem Gewand mit goldenem Heiligenschein, winkte seinen Jüngern zu. Vier seiner Jünger waren ein Stück zurückgeblieben. Eine Frau wartete mit ausgestrecktem Arm auf jemanden…
Ein kleines schwarzes Mädchen griff nach ihrer ausgestreckten Hand.
Das Mädchen ähnelte Tasha Catchings.
Zwei Wochen später, an einem Freitagabend, hatte ich meine Freundinnen zum Abendessen eingeladen. Jill erklärte, sie hätte großartige Neuigkeiten, die sie mit uns teilen wolle.
Ich kam mit Tüten voller Lebensmittel vom Markt zurück und öffnete unten in der Eingangshalle meinen Briefkasten. Die üblichen Kataloge und Rechnungen. Ich wollte schon alles einstecken und weitergehen, da fiel mir ein weißer Umschlag auf, mit roten und blauen Pfeilen, wie man ihn in jedem Postamt kaufen kann.
Mein Herz machte einen Satz, als ich die Schrift erkannte.
Der Poststempel: Cabo San Lucas, Mexico.
Ich stellte die Tüten ab, setzte mich auf die Treppenstufen, riss den Umschlag auf und zog ein zusammengefaltetes, liniertes Blatt Papier heraus und ein kleines Polaroid-Foto.
»Meine wunderschöne Tochter«, begann der Brief in krakeliger Handschrift.
Inzwischen weißt du wohl alles. Ich bin bis hierher in den Süden gefahren, aber ich habe aufgehört wegzulaufen.
Zweifellos weißt du jetzt, was an dem Tag vor dem Präsidium geschehen ist. Ihr modernen Bullen seid uns alten Kerlen weit überlegen. Ich wollte, dass du weißt, dass ich keine Angst hatte, dass alles rauskommen könnte. Ich habe noch ein paar Tage gewartet, um zu sehen, ob die Geschichte veröffentlicht wurde. Ich habe dich sogar einmal im Krankenhaus angerufen. Ja, das war ich… Ich wusste, dass du nichts von mir hören wolltest, aber ich musste erfahren, ob es dir gut ging. Aber natürlich – bei dir ist alles bestens.
Diese Worte reichen nicht aus, um dir zu sagen, wie Leid es mir tut, dass ich dich wieder enttäuscht habe. Ich habe mich in vielen Dingen geirrt. Eines davon ist, dass man nicht alles hinter sich lassen kann. Das wusste ich in dem Augenblick, als ich dich wiedersah. Warum habe ich mein ganzes Leben gebraucht, um eine so einfache Lektion zu lernen?
Aber in einem Punkt hatte ich Recht, und der ist wichtiger als alles andere. Niemand ist so groß, dass er nicht ab und zu Hilfe braucht… sogar vom eigenen Vater.«
Unterschrieben war der Brief mit: »Dein blöder Vater.« Und darunter: »Der dich innigst liebt…«
Ich blieb sitzen und las den Brief noch mal, dabei kämpfte ich gegen die Tränen an. Marty hatte also doch noch einen Ort gefunden, wohin ihm nichts folgte und wo ihn niemand kannte. Ich musste schwer schlucken bei den Gedanken, dass ich ihn wohl nie wieder sehen würde.
Ich betrachtete das grobkörnige Foto.
Da war Marty… in einem grauenvoll scheußlichen Hawaii-Hemd vor einem ziemlich ramponiert aussehenden Fischerboot, auf einem etwa dreieinhalb Meter langen Gerüst. Unter dem Foto stand: »Neuer Start, neues Leben. Das Boot habe ich gekauft und eigenhändig gestrichen. Eines Tages fange ich dir einen Traum…«
Im ersten Moment musste ich lachen… Was für ein Irrer, dachte ich, und schüttelte den Kopf. Was, zum Teufel, verstand Marty von Booten? Oder vom Angeln? Mein Vater war dem Meer nie näher als bis zum Fisherman’s Wharf gekommen, als er dort auf Streife war.
Und dann fiel mir etwas ins Auge.
Im Hintergrund des Fotos, hinter der stolzen Gestalt meines Vaters, unterhalb des Masts und des blauen Himmels…
Ich kniff die Augen zusammen, um die Schrift auf dem blauen Bootskörper deutlicher zu erkennen.
Ein einziges Wort stand da. In klaren weißen Buchstaben, mit der Hand geschrieben.
Das Boot hieß Butterblume.