Erster Teil
Der Club der Ermittlerinnen wieder in Aktion
Es war Dienstagabend, und ich spielte mit drei Bewohnern des Jugendheims Hope Street Mau-Mau. Ich liebte dieses Spiel.
Auf der ramponierten Couch mir gegenüber saßen Hector, ein Kind aus dem Barrio, vor zwei Tagen erst aus dem Jugendgefängnis entlassen; Alysha, still und hübsch und mit einer Familiengeschichte, die niemand gern hören würde; und Michelle, die mit vierzehn bereits ein Jahr hinter sich hatte, in dem sie ihren Körper auf den Straßen San Franciscos verkauft hatte.
»Herz«, erklärte ich, legte eine Acht ab und wechselte die Farbe, als Hector gerade die letzte Karte ablegen wollte.
»Verdammte Bullen-Lady«, stieß er hervor und stöhnte. »Wie kommt es, dass du mir jedes Mal ein Messer reinrammst, wenn ich Schluss machen will?«
»Damit du lernst, nie einem Bullen zu trauen, Schwachkopf.« Michelle lachte und warf mir ein verschwörerisches Lächeln zu.
Seit einem Monat verbrachte ich einen oder zwei Abende pro Woche im Jugendzentrum. Nach der grauenvollen Mordserie an Brautpaaren im Sommer war ich völlig zusammengebrochen. Ich nahm einen Monat Urlaub vom Morddezernat, lief zur Marina hinunter oder blickte aus der Sicherheit meiner Wohnung auf dem Potrero Hill hinaus auf die Bucht.
Nichts half. Kein Psychologe, auch nicht die Unterstützung meiner Freundinnen, Claire, Cindy und Jill. Auch nicht, dass ich wieder anfing zu arbeiten. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie aus dem Menschen, den ich liebte, langsam das Leben entwich. Immer noch fühlte ich mich für den Tod meines Partners verantwortlich. Nichts schien diese entsetzliche Leere füllen zu können.
Und dann bin ich hier gelandet – hier in der Hope Street.
Und die guten Neuigkeiten waren, dass mir das half.
Ich spähte über meine Karten hinweg zu Angela, einem Neuankömmling, die auf dem Metallstuhl am anderen Ende des Zimmers saß und ihre drei Monate alte Tochter wiegte. Das arme Mädchen, ungefähr sechzehn Jahre alt, hatte den ganzen Abend noch nicht viel gesagt. Ich nahm mir vor, mit Angela zu reden, ehe ich ging.
Die Tür öffnete sich, und Dee Collins, eine der Leiterinnen, kam herein. Eine Afroamerikanerin in konservativem grauem Kostüm folgte ihr. Die strengen Züge verrieten auf Anhieb, dass sie vom Jugendamt kam.
»Angela, deine Sozialarbeiterin ist da.« Dee kniete sich neben sie.
»Ich bin nicht blind«, sagte die Halbwüchsige.
»Wir müssen jetzt das Baby abholen«, erklärte die Sozialarbeiterin so hastig, als würde sie ihren Zug verpassen, wenn sie diese Aufgabe nicht schnell erledigte.
»Nein!« Angela drückte den Säugling an sich. »Ihr könnt mich hier in diesem Loch einsperren oder mich in den Knast nach Claymore zurückschicken, aber ihr nehmt mir nicht mein Baby weg.«
»Bitte, Schätzchen, nur für ein paar Tage«, versicherte ihr Dee Collins beschwichtigend.
Der Teenager legte schützend die Arme um das Baby, das offenbar spürte, dass etwas nicht stimmte, und anfing zu weinen.
»Mach keine Szene, Angela«, warnte die Sozialarbeiterin. »Du weißt, wie es abläuft.«
Sie ging auf Angela zu. Diese sprang vom Stuhl auf. Mit einem Arm presste sie das Baby an sich, in der rechten Hand hielt sie ein Glas Saft, aus dem sie getrunken hatte.
Mit blitzschneller Bewegung schlug sie das Glas gegen den Tisch, sodass es zersprang und sie nur den unteren Teil mit dem gezackten scharfen Rand hielt.
»Angela.« Ich stand auf. »Leg das Glas hin. Niemand wird dir dein Baby wegnehmen, wenn du es nicht willst.«
»Dieses Miststück will mein Leben ruinieren.« Sie blickte wütend um sich. »Erst lässt sie mich noch drei Tage nach meiner Entlassung in Claymore sitzen, dann kann ich endlich nach Hause zu meiner Mom gehen. Und jetzt will sie mir meine Tochter wegnehmen.«
Ich nickte und schaute ihr fest in die Augen. »Als Erstes musst du jetzt das Glas weglegen«, sagte ich. »Das verstehst du doch, Angela, richtig?«
Die Sozialarbeiterin trat einen Schritt vor, aber ich schob sie zurück und ging langsam zu Angela. Ich nahm ihr das Glas weg und dann behutsam auch das Baby.
»Sie ist alles, was ich habe«, flüsterte das Mädchen und brach in Schluchzen aus.
»Ich weiß.« Ich nickte. »Deshalb musst du ein paar Dinge in deinem Leben ändern, damit du sie zurückbekommst.«
Dee Collins wickelte ein Tuch um die blutende Hand des jungen Mädchens, dann nahm sie sie in die Arme. Die Sozialarbeiterin bemühte sich vergeblich, den weinenden Säugling zu beruhigen.
Ich ging zu ihr. »Das Baby wird hier in der Nachbarschaft untergebracht, mit täglichem Besuchsrecht. Übrigens habe ich hier nichts gesehen, was so erwähnenswert wäre, um in die Akte aufgenommen zu werden. Sie etwa?« Sie warf mir einen empörten Blick zu und drehte sich um.
Plötzlich meldete sich mein Piepser. Dreimal durchbohrte der hässlich quäkender Ton die angespannte Atmosphäre. Ich holte den Piepser heraus und las die Nummer. Jacobi, mein Expartner bei der Mordkommission. Was wollte der denn?
Ich entschuldigte mich und ging ins Büro der Heimleitung. Ich erreichte ihn in seinem Auto.
»Es ist etwas ziemlich Schlimmes geschehen, Lindsay«, verkündete er bedrückt. »Ich dachte, dass du Bescheid wissen solltest.«
Er berichtete mir von der schrecklichen Schießerei bei der La-Salle-Heights-Kirche. Ein elfjähriges Mädchen war getötet worden.
»O mein Gott«, stieß ich hervor. Mir wurde schwer ums Herz.
»Ich dachte, du wolltest vielleicht bei diesem Fall mitarbeiten«, sagte Jacobi.
Ich holte tief Luft. Seit drei Monaten war ich nicht mehr am Tatort eines Mordes gewesen. Nicht seit dem Tag, an dem der Brautpaar-Fall geendet hatte.
»Und? Ich höre nichts«, drängte Jacobi. »Willst du mitmachen, Lieutenant?« Zum ersten Mal sprach mich jemand mit meinem neuen Rang an.
Da wurde mir bewusst, dass meine Ferien vorüber waren. »Jawohl, natürlich will ich mitmachen«, stammelte ich.
Es begann zu regnen, als ich mit meinem Explorer vor der La-Salle-Heights-Kirche an der Harrow Street hielt, einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel von Bay View. Eine aufgebrachte Menge hatte sich versammelt – eine Mischung aus entsetzten Müttern aus der Umgebung und den üblichen Gruppen von Jugendlichen in aufreizender, schriller Kleidung – alle drängten sich um eine Hand voll Polizisten in Uniform.
»Hey, wir sind hier nicht im beschissenen Mississippi«, brüllte jemand, als ich mir den Weg durch die Menge bahnte.
»Wie viele denn noch?«, rief eine ältere weinende Frau. »Wie viele noch?«
Mit Hilfe meiner Dienstmarke gelangte ich an etlichen nervösen Polizisten vorbei nach vorn. Bei dem, was ich als Nächstes sah, stockte mir der Atem.
Die Fassade der weißen Holzkirche war durch ein groteskes Muster von Einschusslöchern und Rissen verunstaltet. In einer Wand gähnte ein riesiges Loch, wo ein großes Glasfenster herausgeschossen worden war. Bunte Glasscherben hingen wie Eiszapfen herab. Überall auf dem Rasen standen Kinder, offensichtlich unter Schock. Ein Notarztteam kümmerte sich um sie.
»O mein Gott«, stieß ich kaum hörbar hervor.
Ich sah den Polizeiarzt in der schwarzen Windjacke, der sich an der Vordertreppe über den Körper eines Mädchens beugte. Es waren auch etliche Beamte in Zivil in der Nähe. Einer von ihnen war mein Expartner Warren Jacobi.
»Willkommen zurück in der Welt, Lieutenant«, sagte Jacobi und betonte meinen neuen Rang.
Der Klang dieses Wortes versetzte mir immer noch einen leichten Schock. Von Anfang an hatte ich bei meiner Karriere das Ziel vor Augen gehabt, Leiterin der Mordkommission zu werden. Die erste weibliche Mordkommissarin in San Francisco, jetzt erster weiblicher Lieutenant. Nachdem mein alter Chef, Sam Roth, sich auf eigenen Wunsch auf einen bequemen Posten oben in Bodega Bay hatte versetzen lassen, hatte Chief Mercer mich zu sich gerufen. Ich habe die Wahl zwischen zwei Dingen, hatte er erklärt. Ich kann Ihnen einen langen unbezahlten Urlaub geben, damit Sie herausfinden, ob Sie imstande sind, unsere Arbeit wieder aufzunehmen. Oder ich kann Ihnen das geben, Lindsay. Damit schob er mir ein goldenes Abzeichen mit zwei Streifen über den Tisch. Ich glaube, ich hatte bis zu diesem Moment Mercer noch nie lächeln sehen.
»Das Lieutenant-Abzeichen macht es nicht leichter für dich, Lindsay, richtig?«, meinte Jacobi und spielte darauf an, dass sich unsere dreijährige partnerschaftliche Beziehung verändert hatte.
»Was liegt an?«, fragte ich ihn.
»Sieht so aus, als hätte ein einzelner Schütze von diesen Büschen aus gefeuert.« Er deutete auf ein dichtes Gebüsch neben der Kirche, etwa vierzig Meter entfernt. »Das Schwein hat die Kinder erwischt, als sie herauskamen. Hat aus vollen Rohren geschossen.«
Ich betrachtete die weinenden, unter Schock stehenden Kinder. »Hat jemand den Kerl gesehen? Mit Sicherheit, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Alle haben sich auf den Boden geworfen.«
Neben dem erschossenen Mädchen schluchzte eine verzweifelte Afroamerikanerin an der Schulter einer Freundin. Jacobi sah, dass ich auf das tote Mädchen starrte.
»Heißt Tasha Catchings«, sagte er leise. »Fünfte Klasse, drüben in St. Anne’s. Liebes Mädchen. Die Jüngste im Chor.«
Ich kniete mich neben die blutüberströmte Leiche. Ganz gleich, wie oft man es schon gemacht hat, es ist jedes Mal wieder ein herzzerreißender Anblick. Tashas weiße Schulbluse war voller Blut, gemischt mit Regen. Nur wenige Schritte neben ihr lag ihr regenbogenfarbener Rucksack im Gras.
»Nur sie?«, fragte ich ungläubig und betrachtete den Tatort. »Nur sie wurde getroffen?«
Überall waren Einschusslöcher, Glasscherben und zersplittertes Holz. Dutzende von Kindern waren hinaus auf die Straße gelaufen. So viele Schüsse und nur ein Opfer.
»Unser Glückstag, was?«, meinte Jacobi.
Paul Chin, einer meiner Männer bei der Mordkommission, befragte gerade auf der Treppe vor der Kirche einen großen Afroamerikaner in einem schwarzen Rollkragenpullover und Jeans. Ich hatte den Mann schon in der Nachrichtensendung gesehen, kannte sogar seinen Namen. Aaron Winslow.
Selbst unter Schock sah Winslow blendend aus – glattes Gesicht, das rabenschwarze Haar oben kurz geschnitten, gebaut wie ein erstklassiger Footballspieler. In San Francisco wusste jeder, was er für diese Nachbarschaft tat. Angeblich war er ein echter Held, und ich muss gestehen, so sah er auch aus.
Ich ging hinüber.
»Das ist Reverend Aaron Winslow«, stellte Chin ihn mir vor.
»Lindsay Boxer«, sagte ich und streckte die Hand aus.
»Lieutenant Boxer«, erklärte Chin. »Sie wird diesen Fall leiten.«
»Ich weiß, wie viel Arbeit Sie in dieser Nachbarschaft geleistet haben. Es tut mir sehr Leid. Mir fehlen schlichtweg die Worte.«
Seine Augen glitten zu dem ermordeten Mädchen. »Ich kenne sie von klein auf.« Seine Stimme war unvorstellbar sanft. »Ihre Mutter… hat Tasha und ihren Bruder allein erzogen. Sie ist ein verantwortungsvoller Mensch, wie die meisten hier in der Gegend. Und das sind alles Kinder. Chorprobe, Lieutenant.«
Ich wollte ihn nicht unterbrechen, aber ich musste. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Bitte.«
Mechanisch nickte er. »Selbstverständlich.«
»Haben Sie jemanden gesehen? Jemanden, der weggelaufen ist? Einen Schatten vielleicht, oder Umrisse?«
»Ich habe gesehen, woher die Schüsse kamen«, antwortete Winslow und deutete auf dasselbe Gebüsch, zu dem Jacobi gegangen war. »Ich habe das Mündungsfeuer gesehen und habe dafür gesorgt, dass sich alle auf den Boden warfen. Es war Wahnsinn.«
»Hat in letzter Zeit jemand gegen Sie oder Ihre Kirche Drohungen geäußert?«, fragte ich.
»Drohungen?« Winslow runzelte die Stirn. »Vor etlichen Jahren, als wir die ersten Zuschüsse für die Renovierung dieser Häuser erhielten.«
In diesem Moment schrie Tasha Catchings Mutter laut auf, als die Leiche der Kleinen auf eine Trage gehoben wurde. Alles war so unendlich traurig. Die Leute um uns wurden zunehmend nervöser. Beschimpfungen und Anklagen wurden laut. »Was steht ihr hier rum? Los, fangt den Mörder!«
»Ich gehe lieber mal rüber«, meinte Winslow. »Ehe die Sache aus dem Ruder läuft.« Er machte einen Schritt, drehte sich dann mit traurigem Gesicht um. »Vielleicht hätte ich das arme Kind retten können. Ich habe die Schüsse gehört.«
»Sie hätten unmöglich alle retten können«, versicherte ich ihm. »Sie haben getan, was Sie konnten.«
Er nickte. Dann sagte er etwas, das mich total schockierte. »Es war ein M-Sechzehn, Lieutenant. Dreißig-Schuss-Magazin. Das Schwein hat zweimal nachgeladen.«
»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte ich.
»Desert Storm«, antwortete er ausweichend. »Ich war Feldkaplan. Nie und nimmer werde ich dieses schreckliche Geräusch vergessen. Niemand kann das.«
Ich hörte trotz des Lärms der aufgebrachten Menge, wie jemand meinen Namen rief. Es war Jacobi. Er stand bei den Büschen hinter der Kirche.
»He, Lieutenant, sieh dir das mal an!«
Während ich hinüberging, fragte ich mich, was für ein Mensch eine derartig schreckliche Tat begehen konnte. Ich hatte über hundert Morde bearbeitet. Für gewöhnlich ging es dabei um Drogen, Geld oder Sex. Aber das hier… sollte absichtlich ein Schock sein.
»Lass das überprüfen«, sagte Jacobi. Er stand vorgebeugt über einer Patronenhülse.
»M-Sechzehn, wette ich«, sagte ich.
Jacobi nickte. »Aha, die junge Dame hat sich im Urlaub schlau gemacht. Remington, zweidreiundzwanziger Kaliber.«
»Lieutenant junge Dame, für dich.« Ich grinste. Dann sagte ich ihm, weshalb ich Bescheid wusste.
Überall lagen leere Patronenhülsen herum. Wir standen im Gebüsch und zwischen den Bäumen und waren von der Kirche aus nicht zu sehen. Die Patronenhülsen lagen an zwei Stellen, im Abstand von ungefähr vier Metern.
»Man kann sehen, wo er anfing zu schießen«, sagte Jacobi. »Ich schätze mal, von hier aus. Dann hat er die Stellung gewechselt.«
Vom ersten Patronenhaufen zog sich eine deutliche Linie zur Seite der Kirche. Direkt vor uns das bunte Glasfenster… all die Kinder, die zur Straße gehen… Jetzt war mir klar, weshalb niemand den Täter gesehen hatte. Sein Versteck war absolut sicher.
»Als er nachgeladen hat, ist er hierher gegangen«, erklärte Jacobi.
Ich ging hinüber und hockte mich neben den zweiten Haufen leerer Patronenhülsen. Irgendetwas ergab keinen Sinn. Von hier konnte ich die Fassade der Kirche sehen, auch die Treppenstufen, auf denen Tasha Catchings gelegen hatte – aber nur mit Mühe.
Ich blickte durch ein imaginäres Zielfernrohr auf die Stelle, wo Tasha gewesen sein musste, als sie getroffen wurde. Man konnte sie kaum klar erkennen. Auf gar keinen Fall konnte er die Kleine absichtlich aufs Korn genommen haben. Sie war aus einem höchst ungewöhnlichen Winkel getroffen worden.
»Ein Zufallstreffer«, meinte Jacobi. »Ein Querschläger?«
»Was liegt dahinter?«, fragte ich und blickte auf die Büsche. Dann bahnte ich mir einen Weg, von der Kirche weg, durchs Gebüsch. Niemand hatte den Schützen gesehen, daher war er offensichtlich nicht über die Harrow Street entkommen. Das Gebüsch war ungefähr sieben Meter tief.
Am Ende stand ich vor einem ein Meter fünfzig hohen Maschendrahtzaun, der Begrenzung des Kirchengrundstücks. Der Zaun war nicht hoch. Ich kletterte mühelos darüber.
Ich befand mich vor den eingezäunten Gärten hinter kleinen Reihenhäusern. Einige Menschen hatten sich dort versammelt und schauten neugierig zu mir herüber. Rechts von mir war der Spielplatz der Whitney-Young-Siedlung.
Jacobi hatte mich inzwischen eingeholt. »Nicht so schnell, Lou«, sagte er keuchend. »Da steht Publikum. Du lässt mich schlecht aussehen.«
»Warren, so muss der Kerl entkommen sein.« Wir blickten in beide Richtungen. Die eine führte zu einer schmalen Seitenstraße, die andere zu Reihenhäusern.
»Hat von Ihnen jemand irgendwas gesehen?«, rief ich einer Gruppe Schaulustiger auf einer Terrasse zu. Keine Antwort.
»Jemand hat auf die Kirche geschossen«, brüllte ich. »Ein kleines Mädchen wurde getötet. Bitte, helfen Sie uns. Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Alle standen da und hüllten sich in das abweisende Schweigen von Menschen, die nicht mit der Polizei reden wollen.
Dann trat langsam eine Frau vor. Sie war um die dreißig und schob einen Jungen vor sich her. »Bernard hat was gesehen«, sagte sie mit gepresster Stimme.
Bernard schien ungefähr sechs Jahre alt zu sein. Er hatte runde misstrauische Augen und trug ein gold-lilafarbenes Kobe-Bryant-Sweatshirt.
»Es war ein Van«, erklärte er. »Wie der von Onkel Reggie.« Er deutete auf den Weg, der zur Seitenstraße führte. »Da unten hat er geparkt.«
Ich kniete mich hin und schaute dem verängstigten Jungen in die Augen. »Welche Farbe hatte der Van, Bernard?«
»Weiß.«
»Mein Bruder hat einen weißen Dodge Minivan«, sagte Bernards Mutter.
»Und er hat wie der von deinem Onkel ausgesehen, Bernard?«, fragte ich.
»So ähnlich. Aber eigentlich nicht.«
»Hast du den Mann gesehen, der ihn gefahren hat?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab den Müll rausgetragen. Ich hab nur gesehen, wie er weggefahren ist.«
»Meinst du, du würdest das Auto wieder erkennen, wenn du es noch mal siehst?«
Bernard nickte.
»Weil es so wie das von deinem Onkel ausgesehen hat?«
Er zögerte. »Nein, weil hinten ein Bild drauf ist.«
»Ein Bild? Du meinst wie eine Reklame?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Die Vollmondaugen blickten suchend umher. Dann leuchteten sie auf. »Wie das da!« Er deutete auf den Pick-up in der Einfahrt des Nachbarn. Auf dessen hinterer Stoßstange klebte ein Band mit der Aufschrift: »Cal Golden Bear.«
»Du meinst so ein Aufkleber?«, bohrte ich nach.
»Ja, aber auf der Tür.«
Ich legte dem Jungen die Hände auf die Schultern. »Wie hat dieser Aufkleber ausgesehen, Bernard?«
»Wie Mufasa, der König der Löwen.«
»Ein Löwe?« In Gedanken ging ich sämtliche Möglichkeiten durch, die mir auf die Schnelle einfielen: Sportclubs, College Logos, Firmen…
»Ja, wie Mufasa«, wiederholte Bernard. »Nur, dass er zwei Köpfe gehabt hat.«
Weniger als eine Stunde später drängte ich mich durch die Menge, die sich vor dem Polizeipräsidium, der Hall of Justice, versammelt hatte. Ich war erschöpft und grauenvoll traurig, aber ich wusste, hier durfte ich das nicht zeigen.
In der Eingangshalle des mausoleumartigen grauen Granitbaus, wo ich arbeitete, wimmelte es von Reportern und Fernsehleuten, die jedem, der irgendein Abzeichen trug, ein Mikrofon vors Gesicht hielten. Die meisten Polizeireporter kannten mich, doch ich winkte ab und ging die Treppe nach oben.
Aber da packte mich jemand an der Schulter, und eine vertraute Stimme sagte: »Linds, wir müssen reden…«
Es war Cindy Thomas, eine meiner engsten Freundinnen, obgleich sie die führende Polizeireporterin beim Chronicle war. »Ich will dich jetzt nicht nerven, aber es ist wichtig«, sagte sie. »Wie wär’s um zehn bei Susie’s?«
Cindy hatte als kleine Reporterin bei der Lokalredaktion angefangen und es geschafft, sich durch List und Tücke in die Ermittlungen bei den Honeymoon-Morden einzuschleichen und anschließend maßgeblich zur Aufklärung beigetragen. Ich hatte Cindy, ebenso wie den anderen, das Gold auf meiner Polizeimarke zu verdanken.
Mir gelang ein Lächeln. »Ich komme.«
Im zweiten Stock betrat ich den Raum, der von Leuchtstoffröhren erhellt wurde und den die zwölf Leute der Mordkommission ihr Zuhause nannten. Lorraine Stafford wartete auf mich. Sie hatte sechs erfolgreiche Dienstjahre bei der Sittenpolizei hinter sich und war die Erste, die ich zu meiner Mitarbeiterin machte. Cappy McNeil war ebenfalls gekommen.
»Was kann ich tun?«, fragte Lorraine.
»Fragen Sie in Sacramento an, ob ein weißer Van als gestohlen gemeldet ist. Jedes Modell. Kalifornisches Nummernschild. Und eine allgemeine Anfrage wegen eines Aufklebers für die Stoßstange, auf dem ein Löwe, ganz gleich wie, abgebildet ist.« Sie nickte und wollte gehen.
»Moment, Lorraine«, hielt ich sie zurück. »Ein Löwe mit zwei Köpfen.«
Cappy kam mit, als ich mir eine Tasse Kaffee machte. Er war seit fünfzehn Jahren bei der Mordkommission, und ich wusste, dass er sich positiv über mich geäußert hatte, als Chief Mercer ihn wegen meiner Beförderung zum Lieutenant befragt hatte. Er schaute traurig und deprimiert drein. »Ich kenne Aaron Winslow. Ich habe mit ihm in Oakland Football gespielt. Er hat sein Leben diesen Kindern gewidmet. Er ist wirklich ein guter und großartiger Mensch, Lieutenant.«
Plötzlich steckte Frank Barnes vom Autodiebstahl den Kopf durch die Tür in unser Büro. »Achtung, Lieutenant. Schwergewicht ist auf dem Weg.«
Schwergewicht wurde im Polizeijargon der Polizeipräsident von San Francisco, Chief Earl Mercer, genannt.
Mercer stampfte herein, mit seinen ganzen hundertfünfzehn Kilo, gefolgt von Gabe Carr, einem bösartigen kleinen Wiesel, dem Pressesprecher der Polizei, und Fred Dix, der für die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung zuständig war.
Der Chief trug sein Markenzeichen, den dunkelgrauen Anzug, das blaue Hemd und die glänzenden goldenen Manschettenknöpfe. Ich hatte miterlebt, wie Mercer eine Reihe heikler Situationen gemeistert hatte – Bombenattentate in öffentlichen Verkehrsmitteln, behördeninterne Skandale, Serienmorde –, aber noch nie hatte ich sein Gesicht so angespannt gesehen. Er winkte mich in mein Büro und schloss wortlos die Tür hinter sich. Fred Dix und Gabe Carr waren bereits da.
»Gerade habe ich mit Winston Gray und Vernon Jones telefoniert«– zwei berühmte Stadträte –, »sie haben mir zugesichert, Zurückhaltung zu üben und uns etwas Zeit zu geben, um herauszufinden, um welche Sauerei es sich handelt. Aber ich muss eines klarstellen: Mit Zurückhaltung meinen sie: Bringt uns die Person oder Gruppe, die dafür verantwortlich ist, sonst haben wir zweitausend wütende Bürger im Rathaus.«
Sein Gesicht entspannte sich kaum sichtbar, als er mich anschaute. »Deshalb hoffe ich, Lieutenant, Sie haben uns etwas mitzuteilen…«
Ich berichtete ihm, was ich bei der Kirche ermittelt hatte und dass Bernard Smith das mutmaßliche Fluchtfahrzeug gesehen hatte.
»Van oder nicht«, mischte sich Fred Dix, der Mann des Bürgermeisters ein, »Sie wissen, wo Sie anfangen müssen. Bürgermeister Fernandez geht scharf gegen jeden vor, der in dieser Gegend rassistische oder sonstige Parolen gegen die Integration verbreitet. Derartige Bestrebungen müssen radikal ausgemerzt werden.«
»Sie scheinen ja ziemlich sicher zu sein, dass es sich um eines der üblichen Kraut-und-Rüben-Verbrechen handelt«, sagte ich.
»Eine Kirche zusammenschießen, ein elfjähriges Kind ermorden? Wo würden Sie denn anfangen, Lieutenant?«
»Das Gesicht des toten Mädchens wird in jeder Nachrichtensendung des Landes zu sehen sein«, warf der Pressesprecher ein. »Die Verbesserungen im Bay-View-Bezirk sind eine der Leistungen, auf die der Bürgermeister äußerst stolz ist.«
Ich nickte. »Hat der Bürgermeister etwas dagegen, wenn ich meine Augenzeugenbefragung vorher abschließe?«
»Machen Sie sich wegen des Bürgermeisters keine Sorgen«, erklärte Mercer scharf. »Im Augenblick haben Sie es nur mit mir zu tun. Ich bin in diesen Straßen aufgewachsen. Meine Eltern leben immer noch in West Portal. Ich brauche keine Nachrichtensendung, um das Gesicht dieses Kindes vor mir zu sehen. Sie leiten die Ermittlungen, wohin auch immer sie führen. Aber schnell. Und, Lindsay… mit absolutem Vorrang, verstehen Sie?«
Er wollte aufstehen. »Und was das Wichtigste ist – ich verlange absolute Geheimhaltung. Ich will über diese Ermittlungen nichts auf einer Titelseite lesen.«
Alle nickten. Mercer erhob sich, Dix und Carr ebenfalls. Er stieß lautstark die Luft aus. »Und jetzt müssen wir diese beschissene Pressekonferenz heil überstehen.«
Dix und Carr gingen hinaus, Mercer blieb noch im Raum. Er stützte die molligen Hände auf meinen Schreibtisch. Ich blickte zu dem Fleischberg auf.
»Lindsay, ich weiß, dass Sie nach dem letzten Fall viel auf dem Tisch zurückgelassen haben. Aber das ist alles vorbei und vergessen. Ich brauche Ihre geballte Einsatzkraft für diesen Fall. Eines der Dinge, die Sie zurückgelassen haben, als Sie sich für die Marke entschieden, war die Freiheit, wegen Ihrem persönlichen Schmerz die Arbeit zu vernachlässigen.«
»Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen.« Ich blickte ihm fest in die Augen. Im Laufe der Jahre hatte ich mit diesem Mann Differenzen gehabt, aber jetzt war ich bereit, ihm alles zu geben, was ich nur konnte. Ich hatte das tote kleine Mädchen gesehen. Ich hatte die kaputte Kirche gesehen. Mein Blut kochte. So hatte ich mich nicht gefühlt, seit ich meine »Auszeit« genommen hatte.
Chief Mercer schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln. »Schön, dass Sie wieder bei uns sind, Lieutenant.«
Nach einer recht stürmischen Pressekonferenz, die auf den Stufen des Präsidiums durchgeführt worden war, traf ich – wie abgemacht – Cindy bei Susie’s. Nach der Hektik im Präsidium war die entspannte, zum Zurücklehnen einladende Atmosphäre unseres Lieblingstreffpunkts ein wahrer Segen. Cindy schlürfte bereits ein Corona, als ich eintraf.
Hier war schon viel geschehen – direkt an diesem Tisch. Cindy, Jill Bernhardt, stellvertretende Bezirksstaatsanwältin, und Claire Washburn, Leiterin der Gerichtsmedizin und meine beste Freundin. Wir hatten im vergangenen Sommer begonnen, uns zu treffen, weil es so aussah, als hätte das Schicksal uns in Verbindung mit den Honeymoon-Morden zusammengeführt. Im Laufe der Zeit waren wir enge Freundinnen geworden.
Ich gab unserer Kellnerin Loretta das Zeichen, ein Bier zu bringen, und ließ mich mit einem erschöpften Lächeln Cindy gegenüber nieder. »Hallo…«
»Hallo.« Sie lächelte zurück. »Schön, dass du kommen konntest.«
»Bin froh, dass ich da bin.«
Über der Bar strahlte der Fernseher die Übertragung von Chief Mercers Pressekonferenz aus. »Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Schützen um einen Einzeltäter handelt«, erklärte Mercer unter einem Blitzlichtgewitter.
»Warst du da noch dabei?«, fragte ich Cindy und trank einen Schluck von dem eiskalten Bier.
»Ja, da war ich dabei«, antwortete sie. »Stone und Fitzpatrick waren auch da. Sie schreiben die Meldung.«
Verblüfft schaute ich sie an. Tom Stone und Suzie Fitzpatrick waren auch Polizeireporter und Cindys Konkurrenten. »Verlierst du den Biss? Vor sechs Monaten wärst du vor Aufregung noch fast geplatzt.«
»Ich gehe mit einem anderen Blickwinkel dran.« Sie zuckte die Schultern.
Eine Hand voll Menschen drängte sich vor der Bar, um die Sendung zu sehen. Ich trank noch einen Schluck Bier. »Du hättest das arme kleine Mädchen sehen sollen, Cindy. Elf Jahre alt. Sie hat im Chor gesungen, und dann lag da ihr regenbogenfarbener Rucksack mit dem Schulkram im Gras.«
»Du weißt doch, wie’s ist, Lindsay.« Cindy schenkte mir ein ermunterndes Lächeln. »Schlichtweg eine Sauerei.«
»Ja.« Ich nickte. »Aber es wäre zur Abwechslung mal schön, einem Opfer auf die Beine helfen und es nach Hause schicken zu können. Nur ein einziges Mal möchte ich so einer Kleinen ihren Rucksack überstreifen.«
Cindy tätschelte liebevoll meinen Handrücken. Dann strahlte sie. »Ich habe heute Jill getroffen. Sie hat Neuigkeiten für uns. Sie ist ganz aufgeregt. Vielleicht geht Bennet in Pension, und sie kriegt den Chefsessel. Wir sollten uns alle mit ihr treffen.«
»Unbedingt, wolltest du mir das sagen, Cindy?«
Sie schüttelte den Kopf. Im Hintergrund war bei der Pressekonferenz der Teufel los. Mercer versprach eine schnelle und effektive Ermittlung. »Du hast ein Problem, Linds…«
»Nein, ich kann dir nichts geben, Cindy. Mercer hält alle Fäden in der Hand. Ich habe ihn noch nie so aufgebracht erlebt. Tut mir Leid.«
»Ich habe dich nicht hergebeten, um etwas zu bekommen, Lindsay.«
»Cindy, wenn du etwas weißt, sag’s mir.«
»Ich weiß, dass dein Boss den Mund nicht so voll nehmen und solche Versprechen machen sollte.«
Ich blickte auf den Fernsehschirm. »Mercer…?«
Im Hintergrund hörte ich seine Stimme. Er versicherte, dass die Schießerei ein Einzelfall sei und wir bereits Anhaltspunkte hätten und dass jeder zur Verfügung stehende Polizist an diesem Fall mitarbeiten würde, bis wir den Mörder zur Strecke gebracht hätten.
»Er teilt der Welt mit, dass ihr diesen Kerl fasst, ehe er wieder zuschlägt.«
»Ja und?«
Unsere Blicke trafen sich. »Ich glaube, er hat es bereits getan.«
Der Mörder spielte Desert Command, und er war ein Meister darin.
Peng, peng, peng… peng, peng.
Leidenschaftslos schaute er durch das beleuchtete Infrarot-Zielfernrohr, als vermummte Gestalten in Sicht kamen. Auf seinen Fingerdruck hin gingen die dunklen, labyrinthähnlichen Gänge des Bunkers der Terroristen in orangeroten Flammen auf. Schemenhafte Gestalten stürzten durch die engen Gänge. Peng, peng, peng.
Er war der Champion in diesem Spiel. Phantastische Hand-Auge-Koordination. Niemand konnte ihm das Wasser reichen.
Sein Finger zuckte am Abzug. Aasfresser, Sandwürmer, Kameltreiber. Na los, komm schon her!… Peng, peng… Die dunklen Korridore hinauf… Er brach durch eine Eisentür und stieß dahinter auf eine ganze Gruppe. Sie spielten Karten und rauchten eine Wasserpfeife. Seine Waffe spuckte einen todbringenden orangefarbenen Strahl aus. Gesegnet seien die Friedensbringer! Er grinste.
Wieder setzte er das Zielfernrohr ans Auge und spielte geistig noch mal die Szene vor der Kirche durch. Ja, da war das Gesicht des kleinen Schokoladentörtchens, die Zöpfe und der regenbogenfarbene Rucksack.
Peng. Peng. Auf dem Bildschirm explodierte die Brust einer Gestalt. Noch ein tödlicher Treffer, dann hatte er den Rekord! Geschafft! Er blickte auf den Spielstand. Zweihundertsechsundsiebzig tote Feinde!
Er trank einen großen Schluck Corona und grinste. Ein neuer persönlicher Rekord. Dieses Ergebnis war es wert, festgehalten zu werden. Er gab seine Initialen ein: F.C.
Er stand vor dem Spielautomaten der Playtime Arcade in West Oakland und drückte noch auf den Abzug, als das Spiel längst beendet war. Er war der einzige Weiße in der Spielhalle, der Einzige. Deshalb kam er hierher.
Plötzlich erschien oben auf den vier großen Fernsehmonitoren dasselbe Gesicht. Ihm lief es eiskalt über den Rücken, Wut stieg in ihm auf.
Es war Mercer, dieses großmäulige Arschloch, der Boss sämtlicher Bullen in San Francisco. Er tat, als hätte er alles genau durchschaut.
»Wir sind der Ansicht, dass es sich um einen Einzeltäter handelt«, verkündete Mercer. »Ein isoliertes Verbrechen…«
Du hast ja keine Ahnung. Er lachte.
Warte bis morgen … dann wirst du schon sehen. Warte nur!
»Ich möchte betonen, dass wir unter keinen Umständen dulden werden, dass unsere Stadt durch rassistische Angriffe terrorisiert wird«, fuhr der Polizeipräsident fort.
Unsere Stadt! Verächtlich spuckte er auf den Boden. Was weißt du schon über diese Stadt? Du gehörst nicht hierher.
Er befühlte die C-1-Granate in seiner Jackentasche. Wenn er wollte, könnte er hier alles in die Luft jagen. Hier und jetzt!
Aber es gab Arbeit, die getan werden musste.
Morgen.
Er war auf der Jagd nach einem weiteren persönlichen Rekord.
Am nächsten Morgen untersuchten Jacobi und ich noch mal den Tatort bei der La-Salle-Heights-Kirche ab.
Die ganze Nacht hindurch hatte ich mich hin und her gewälzt und mir wegen eines Falls Sorgen gemacht, von dem mir Cindy erzählt hatte, weil er auf ihrem Schreibtisch gelandet war. Es ging um eine ältere allein stehende Afroamerikanerin, die in der Gustave-White-Siedlung gewohnt hatte. Vor drei Tagen hatte die Polizei in Oakland sie unten in der Waschküche gefunden. Sie hing an einem Rohr, ihre Kehle war von einem Elektrokabel zugeschnürt.
Anfänglich vermutete die Polizei Selbstmord. An der Leiche waren keine Abschürfungen oder Spuren eines Kampfes zu erkennen. Aber am nächsten Tag fand man bei der Obduktion unter den Fingernägeln flockenartige Rückstände. Es handelte sich um winzige Fetzen menschlicher Haut. Die arme Frau hatte verzweifelt jemanden gekratzt.
Laut Cindy hatte sie sich nicht selbst aufgehängt.
Man hatte die Frau gelyncht.
Als ich am Tatort bei der Kirche stand, hatte ich das ungute Gefühl, Cindy könnte Recht haben. Vielleicht handelte es sich hier nicht um den ersten, sondern den zweiten Mord aus Rassenhass.
Jacobi kam zu mir. Er hielt den zusammengerollten Chronicle hoch. »Schon gesehen, Boss?«
Die Titelseite wurde von einer schrillen Schlagzeile beherrscht: ELFJÄHRIGE VOR KIRCHE ERMORDET – POLIZEI RATLOS
»Deine Freunde!«, stieß Jacobi wütend aus. »Immer auf unsere Kosten!«
»Nein, Warren.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Freunde haben so billige Tricks nicht nötig.«
Hinter uns war Charlie Clappers Mannschaft der Spurensicherung tätig. Sie suchten sorgfältig den Boden ab, auf dem sich der Scharfschütze bewegt hatte. Sie fanden etliche Fußabdrücke, die jedoch nicht zu identifizieren waren. Jede leere Patronenhülse musste auf Fingerabdrücke untersucht werden. Sie würden auch jedes Staubkörnchen und jede Stofffaser von der Stelle einsammeln, wo das mutmaßliche Fluchtfahrzeug geparkt hatte.
»Irgendwelche neuen Ergebnisse zum weißen Van?«, fragte ich Jacobi. Eigenartigerweise war es ein schönes Gefühl, wieder mit ihm zusammenzuarbeiten.
Er schüttelte den Kopf. »Ein Hinweis war, dass ein paar Penner an dem Abend in dieser Ecke ein Kaffeekränzchen gehabt haben. Bis jetzt haben wir nur das.« Er entfaltete das Phantombild von Bernard Smiths Beschreibung: Ein zweiköpfiger Löwe, der Aufkleber auf der Hintertür des Vans.
Jacobi verzog die Lippen. »Sind wir hinter dem Pokémon-Killer her, Lieutenant?«
In diesem Moment sah ich Aaron Winslow aus der Kirche kommen. Eine Gruppe von Demonstranten, die hinter der Polizeiabsperrung vierzig Meter entfernt stand, wollte zu ihm. Als er mich sah, spannten sich seine Züge an.
»Die Leute wollen unbedingt helfen. Die Einschusslöcher übermalen, eine neue Fassade bauen«, sagte er. »Sie wollen diesen scheußlichen Anblick nicht ertragen.«
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber die Tatortermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«
Er holte tief Luft. »Ich lasse alles immer wieder im Kopf ablaufen. Ich habe genau in der Schusslinie gestanden, Lieutenant, und war viel besser zu sehen als die kleine Tasha. Wenn der Schütze jemandem wehtun wollte, warum hat er nicht auf mich geschossen?«
Winslow kniete nieder und hob eine rosa Haarspange vom Boden auf. »Irgendwo habe ich gelesen, dass ›Mut im Überfluss vorhanden ist, wo Schuld und Wut ungehindert ausströmen‹.«
Winslow nahm es sehr schwer. Er tat mir Leid. Ich mochte ihn. Er rang sich ein Lächeln ab. »Aber dieser Dreckskerl schafft es nicht, unsere Arbeit zunichte zu machen. Wir geben nicht klein bei. Wir werden den Gottesdienst für Tasha hier in dieser Kirche abhalten.«
»Wir wollen der Familie unser Beileid aussprechen«, sagte ich.
»Sie wohnt da drüben. Haus A.« Er deutete zur Siedlung. »Ich nehme an, man wird Sie herzlich aufnehmen, da einer von ihnen zu Ihren Leuten gehört.«
Verblüfft schaute ich ihn an. »Entschuldigung, wie war das?«
»Haben Sie nicht gewusst, Lieutenant, dass Tasha Catchings Onkel Polizist ist?«
Ich besuchte die Catchings in ihrer Wohnung, sprach ihnen mein Beileid aus und fuhr zurück ins Präsidium. Das Ganze war unglaublich deprimierend.
»Mercer sucht Sie«, rief Karen, unsere langjährige Sekretärin, als ich ins Büro kam. »Er klingt stinksauer. Aber so klingt er eigentlich immer.«
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie die Falten im Doppelkinn des Chiefs immer tiefer wurden, während er die Schlagzeilen vom Nachmittag las. Das ganze Präsidium sprach schon darüber, dass das Mordopfer von La Salle Heights mit einem unserer Kollegen verwandt war.
Auf meinem Schreibtisch warteten mehrere Nachrichten auf mich. Bei den Telefonnotizen stieß ich ganz unten auf Claires Namen. Tasha Catchings Obduktion müsste inzwischen abgeschlossen sein. Ich wollte Mercer hinhalten, bis ich etwas Konkretes zu melden hatte, deshalb rief ich Claire an.
Claire Washburn war die klügste und gewissenhafteste Pathologin, die die Stadt je gehabt hatte, und außerdem war sie zufällig meine beste Freundin. Das wussten alle, die mit der Polizei zu tun hatten, und auch, dass sie die Abteilung reibungslos leitete, während der Chefgerichtsmediziner Righetti, ein vom Bürgermeister ernannter Bürohengst, im ganzen Land zu forensischen Tagungen reiste und an seinem politischen Profil arbeitete. Wenn man wollte, dass in der Pathologie etwas getan wurde, ging man zu Claire.
Und wenn ich jemanden brauchte, der mir den Kopf wusch oder mich zum Lachen brachte, oder nur eine Schulter zum Ausheulen, dann ging ich ebenfalls zu ihr.
»Wo hast du dich denn versteckt, Baby?«, begrüßte mich Claire. Ihre Stimme klang immer fröhlich, wie poliertes Messing.
»Normale Routinearbeit.« Ich zuckte die Schultern. »Personalbeurteilungen, Schreibkram… Morde mit rassistischem Hintergrund, die die Stadt spalten…«
»Darin bin ich Expertin.« Sie lachte. »Ich wusste, dass du kommst. Meine Spione haben mir berichtet, dass du einen selten beschissenen Fall übernommen hast.«
»Arbeitet einer dieser Spione vielleicht für den Chronicle und fährt einen ramponierten silberfarbenen Mazda?«
»Oder in der Staatsanwaltschaft und hat einen BMW fünfhundertfünfunddreißig. Wie, zum Teufel, soll denn sonst deiner Meinung nach irgendeine Information nach hier unten kommen?«
»Ich hab eine für dich, Claire. Es hat sich herausgestellt, dass der Onkel des toten Mädchens unsere Uniform trägt. Er gehört zum Nordrevier. Und das kleine Mädchen war ein Poster-Kind für das La-Salle-Heights-Projekt. Einserschülerin, nicht ein einziges Mal in Schwierigkeiten. Das ist Gerechtigkeit, ha! Dieses Schwein schießt hundert Löcher in die Kirche, und eine Kugel trifft ausgerechnet dieses Kind.«
»Irrtum, Schätzchen«, unterbrach mich Claire. »Es waren zwei.«
»Zwei…? Sie wurde zwei Mal getroffen?« Der Polizeiarzt hatte die Leiche doch genau untersucht. Wie konnte uns das entgangen sein?
»Wenn ich dich richtig verstehe, glaubst du, dass dieser Schuss so eine Art Unfall war, oder?«
»Was willst du mir schonend beibringen?«
»Schätzchen, ich glaube, du solltest mir hier unten einen Besuch abstatten.«
Die Pathologie befindet sich im Erdgeschoss des Präsidiums, und man erreicht sie durch einen Hintereingang der Eingangshalle und über einen asphaltierten Weg. Ich brauchte keine drei Minuten, um vom zweiten Stock die Treppen hinabzulaufen.
Claire wartete auf mich im Empfangsbereich vor ihrem Büro. Ihr sonst so strahlendes fröhliches Gesicht war besorgt, aber kaum sah sie mich, lächelte sie und schloss mich in die Arme.
»Wie geht’s denn so, Fremde?«, fragte sie, als sei der Fall Tausende von Meilen entfernt.
Claire besaß das Geschick, selbst in den kritischsten Situationen die Lage zu entschärfen. Ich habe stets bewundert, wie sie – allein durch ihr Lächeln – mich dazu brachte, ein Problem etwas lockerer und nicht so verbissen zu sehen.
»Bestens, Claire. Aber Berge von Arbeit.«
»Seit du Mercers Lieblingssklavin bist, sehe ich nicht mehr viel von dir.«
»Sehr witzig.«
Sie schaute mich mit ihren großen Augen an, die sagten: He, ich weiß, was du meinst, aber vielleicht auch weit mehr. Du musst dir für die Menschen, die dich lieben, Zeit nehmen, Mädchen. Aber ohne ein tadelndes Wort führte sie mich den langen sterilen, mit Linoleum ausgelegten Korridor zum Arbeitsraum der Pathologie hinunter, auch die Gruft genannt.
Sie schaute zu mir zurück und sagte: »Du hast so geklungen, als wärst du sicher, dass Tasha Catchings von einer verirrten Kugel getötet wurde.«
»Ja, das habe ich gedacht. Der Schütze hat drei Magazine auf die Kirche abgefeuert, und Tasha wurde als Einzige getroffen. Ich bin sogar an der Stelle gewesen, von der aus er geschossen hat. Vollkommen unmöglich, dass er auf sie freie Schusslinie hatte. Aber du hast doch gesagt, zwei…«
»Ja.« Sie nickte. Wir gingen durch die Kompressionstür in die kalte trockene Luft der Gruft. In der Eiseskälte und beim Geruch nach Chemikalien bekam ich immer eine Gänsehaut.
Auch dieses Mal. Man sah nur eine einzige Bahre. Und darauf lag ein kleines Häuflein, von einem weißen Laken bedeckt. Es nahm kaum die Hälfte der Bahre ein.
»Dann wappne dich!«, warnte Claire. Nackte Opfer nach der Obduktion sind nie ein schöner Anblick, starr und schrecklich blass.
Sie zog das Laken weg. Ich blickte dem Kind direkt ins Gesicht. Mein Gott, war die Kleine jung…
Ich betrachtete die zarte ebenholzfarbene Haut, so unschuldig, so völlig fehl am Platz in dieser kalten sterilen Umgebung. Am liebsten hätte ich ihre Wange gestreichelt. Sie hatte so ein niedliches Gesichtchen.
In der rechten Brust des Kindes war eine große runde Wunde zu sehen, jetzt allerdings von Blut gereinigt. »Zwei Kugeln«, erklärte Claire. »Praktisch eine direkt auf die andere, blitzschnell abgefeuert. Mir ist klar, weshalb der Polizeiarzt das nicht gesehen hat. Sie sind fast durch ein einziges Einschussloch eingedrungen.«
Wie grauenvoll. Mir wurde beinahe schlecht.
»Die erste Kugel ist durch das Schulterblatt ausgetreten.« Claire drehte behutsam den kleinen Leichnam auf die Seite. »Die zweite ist vom vierten Brustwirbel abgeprallt und hat sich in ihr Rückenmark gebohrt.«
Claire nahm eine Petri-Schale von einem Tisch und entnahm mit der Pinzette ein flaches rundes Bleistück, ungefähr so groß wie ein Vierteldollars. »Zwei Schüsse, Linds… der erste durchbohrte die rechte Herzkammer. Das reichte bereits. Wahrscheinlich war sie schon tot, als der zweite sie traf.«
Zwei Schüsse… die Chancen, dass beide Querschläger waren, standen eins zu einer Million. Ich rief mir den Tatort ins Gedächtnis zurück, wo Tasha vermutlich gestanden hatte, als sie die Kirche verlassen hatte, und die Schusslinie des Mörders im Gebüsch. Ein Querschläger war möglich, aber zwei…
»Haben die Leute von Charlie Clapper in der Kirche Spuren von Kugeln oberhalb der Kleinen gefunden?«, fragte Claire.
»Das weiß ich nicht.« Bei allen Mordermittlungen wurden die Einschusslöcher mit den entsprechenden Kugeln genauestens verglichen. »Ich werde es überprüfen.«
»Aus welchem Material war die Kirche gebaut? Holz oder Stein?«
»Holz.« Jetzt kapierte ich, worauf sie hinauswollte. Nie und nimmer würde eine Kugel aus einem M-16 von Holz abprallen.
Claire schob die Brille nach oben über die Stirn. Sie hatte ein fröhliches liebenswertes Gesicht, aber wenn sie sich einer Sache sicher war, so wie jetzt, strahlte es eine Überzeugung aus, die keinen Zweifel zuließ. »Lindsay, der Eintrittswinkel ist bei beiden Schüssen eindeutig von vorn und sauber. Ein Querschläger müsste eine ganz andere Schussbahn gehabt haben.«
»Ich habe mir ganz genau angesehen, wo der Schütze gewesen ist, Claire. Um diese Treffer zu landen, musste er ein verdammt guter Scharfschütze sein.«
»Du hast doch gesagt, dass die Einschüsse auf der Seite der Kirche irregulär waren.«
»Aber nach einem klaren Muster: Von rechts nach links. Und, Claire, außer Tasha wurde niemand verletzt. Fast hundert Schüsse, aber nur sie wurde getroffen.«
»Du bist davon ausgegangen, dass es sich um einen tragischen Unfall handelt, richtig?« Claire zog die Plastikhandschuhe aus und schleuderte sie in den dafür bereitstehenden Abfallbehälter. »Also, das war kein Unfall. Die beiden Kugeln sind nirgendwo abgeprallt. Sie wurden zielgenau abgefeuert. Tasha war sofort tot. Würdest du die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass dein Täter genau das getroffen hat, worauf er zielte?«
Ich rief mir nochmals den Tatort ins Gedächtnis. »Er hätte nur einen Sekundenbruchteil gehabt, um zu schießen, sie war höchstens einen halben Meter von der Kirchenwand entfernt.«
Claire seufzte. »Dann hat entweder Gott gestern diesem armen kleinen Mädchen nicht zugelächelt, oder du musst nach einem Superscharfschützen suchen.«
Die schockierende Möglichkeit, dass Tasha Catchings womöglich doch kein zufälliges Opfer sein könnte, machte mir auf dem Weg zurück ins Büro schwer zu schaffen. Dort wartete bereits eine Meute Detectives auf mich. Lorraine Stafford teilte mir mit, dass für die Suche nach dem Fluchtfahrzeug ein positives Ergebnis vorläge: ein 94er Dodge Caravan, der vor drei Tagen unten auf der Halbinsel in Mountain View als gestohlen gemeldet worden war. Ich sagte ihr, sie solle überprüfen, ob die Beschreibung passte.
Dann griff ich mir Jacobi und sagte ihm, er solle sein Bagel einpacken und mit mir kommen.
»Und wohin geht’s?«, fragte er stöhnend.
»Über die Bucht, rüber nach Oakland.«
»Mercer sucht Sie immer noch«, rief Karen, als wir auf den Korridor gingen. »Was soll ich ihm sagen?«
»Dass ich in einem Mordfall ermittle«, brüllte ich zurück.
Zwanzig Minuten später hatten wir die Bay Bridge hinter uns gelassen, die triste Skyline von Oaklands Innenstadt gesehen und fuhren nun vor das Polizeiverwaltungsgebäude an der Seventh Street. Oaklands Polizeihauptquartier war ein niedriger Bau aus Glas und Beton, im unpersönlichen Stil der frühen Sechzigerjahre. Das Morddezernat lag im ersten Stock, ein düsteres Büro, nicht größer als unseres und ebenso voll. Im Laufe der Jahre war ich hier schon etliche Male gewesen.
Lieutenant Ron Vandervellen stand auf und begrüßte uns, als man uns in sein Büro führte. »He, wie ich höre, sind Glückwünsche angesagt, Boxer. Willkommen in der Welt der sitzenden Lebensweise.«
»Ich wünschte, dem wäre so, Ron«, antwortete ich.
»Was bringt Sie hierher? Wollen Sie sich mal ansehen, wie es im echten Leben zugeht?«
Seit Jahren bestand zwischen den Morddezernaten von San Francisco und Oakland eine Art freundlicher Rivalität. Nach deren Meinung hatten wir es – auf der anderen Seite der Bucht – höchstens mal gelegentlich mit einem Vertreter für Computerzubehör zu tun, den man nackt und tot in seinem Hotelzimmer gefunden hatte.
»Gestern habe ich Sie in den Nachrichten gesehen.« Vandervellen lachte. »Sehr fotogen. Ich meine Sie…« Er grinste Jacobi an. »Und wem verdanke ich den Umstand dieses Promi-Besuchs?«
»Einem kleinen Vogel, der Chipman heißt«, antwortete ich. Estelle Chipman war die ältere Afroamerikanerin, die man laut Cindy in ihrer Waschküche erhängt aufgefunden hatte.
Er zuckte die Schultern. »Ich habe an die hundert ungeklärte Mordfälle, falls ihr nicht genug Arbeit habt.«
Ich war an Vandervellens Sticheleien gewöhnt, aber diesmal klang er besonders bissig. »Keine Umstände, Ron. Ich möchte mir nur ganz inoffiziell den Tatort ansehen, wenn das okay ist.«
»Klar, aber ich glaube, es wird nicht leicht sein, das mit eurer Schießerei bei der Kirche zu verknüpfen.«
»Und weshalb?«, wollte ich wissen.
Der Lieutenant stand auf, ging ins andere Büro und kam mit einer Akte wieder. »Meiner Meinung nach dürfte es ziemlich schwierig sein, zu erklären, wie ein offensichtlich rassistisch motivierter Mord wie eurer von einem der eigenen Leute begangen wurde.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich. »Estelle Chipmans Mörder war schwarz?«
Er setzte eine Lesebrille auf und blätterte in der Akte. Dann fand er das offizielle Dokument »Alameda County Gerichtsmedizin – Gutachten«.
»Lesen Sie das und weinen Sie bitterlich«, meinte er. »Hätten Sie angerufen, hätte ich Ihnen die Brückenmaut erspart. ›Hautpartikel unter den Fingernägeln des Opfers weisen auf eine hyperpigmentierte Epidermis hin, wie es für Nichtkaukasier typisch ist.‹ Während wir uns unterhalten, werden weitere Objektträger untersucht. Wollen Sie sich immer noch den Tatort anschauen?« Offensichtlich genoss Vandervellen diesen Moment.
»Macht’s Ihnen was aus? Jetzt, nachdem wir schon mal da sind?«
»Bitteschön, seien Sie meine Gäste. Es ist Krimmans Fall, aber der ist außer Haus. Ich bringe Sie hin. Zur Gus-White-Siedlung komme ich nicht mehr oft. Wer weiß? Vielleicht lerne ich ja unterwegs noch was von euch Superbullen.«
Die Gustave-White-Siedlung bestand aus sechs identischen Hochhäusern an der Redmond Street in West Oakland. Als wir hielten, meinte Vandervellen: »Anfangs ergab es keinen Sinn… die arme Frau war nicht krank, hatte keine offensichtlichen finanziellen Probleme, ging sogar zweimal die Woche in die Kirche. Aber manchmal geben Menschen einfach auf. Bis zur Obduktion sah alles eindeutig nach Selbstmord aus.«
Ich erinnerte mich an die Akte: Keine Zeugen, niemand hatte Schreie gehört, niemand hatte jemanden wegrennen sehen. Da war nur eine ältere Frau, die ziemlich zurückgezogen gelebt hatte und an einem Heizungsrohr im Keller hing, der Hals im rechten Winkel abgeknickt, die Zunge herausgestreckt.
In der Siedlung gingen wir sogleich ins Haus C. »Der Lift ist im Arsch«, sagte Vandervellen. Wir nahmen die Treppe nach unten. In dem mit Graffiti beschmierten Keller fanden wir ein handgeschriebenes Schild, auf dem stand: »Waschküche – Heizungskeller«.
»Da drin wurde sie gefunden.«
In der Waschküche waren kreuz und quer die gelben Absperrstreifen des Tatorts gespannt. Ein beißender, widerlicher Gestank füllte den Raum. Auch hier überall Graffiti. Was ansonsten noch hier gewesen war – die Leiche und die Elektroschnur, an der sie hing –, war bereits ins Leichenschauhaus geschafft oder als Beweis sichergestellt worden.
»Ich weiß nicht, was Sie zu finden hoffen«, meinte Vandervellen schulterzuckend.
»Das weiß ich auch nicht«, gestand ich. »Und es ist am späten Samstagabend passiert?«
»Laut Gerichtsmediziner so gegen zehn. Wir dachten, die alte Dame ist vielleicht heruntergekommen, um Wäsche zu waschen, und dass sie jemand überrascht hat. Der Hausmeister hat sie am nächsten Morgen gefunden.«
»Wie sieht’s mit Überwachungskameras aus?«, fragte Jacobi. »Die sind doch auf sämtlichen Korridoren und im Eingangsbereich.«
»Wie der Lift – kaputt.« Wieder zuckte Vandervellen die Schultern.
Es war klar, dass Jacobi und Vandervellen so schnell wie möglich wegwollten, aber mich zwang irgendetwas zu bleiben. Weshalb? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Aber meine Sinne vibrierten. Finde mich… dort drüben.
»Lassen wir mal den Rassismus beiseite«, sagte Vandervellen. »Wenn Sie nach einer Verbindung suchen, wissen Sie doch, wie ungewöhnlich es ist, dass ein Mörder mitten in einer Serie die Methode wechselt.«
»Danke«, erklärte ich spitz. Ich suchte den Raum mit den Augen ab. Nichts fiel mir auf. Nur dieses Gefühl. »Ich schätze, wir müssen unseren Fall ganz allein lösen. Aber wer weiß? Vielleicht ist auf unsrer Seite des Teichs schon was aufgetaucht.«
Vandervellen wollte gerade das Licht ausschalten, da fiel mir etwas ins Auge. »Moment mal«, sagte ich.
Wie durch einen Magneten angezogen, ging ich zum anderen Ende der Waschküche, zu der Wand, vor der Chipman gehangen hatte. Ich kniete nieder und tastete mit den Fingern die Betonwand ab. Hätte ich es nicht zuvor schon entdeckt, wäre es mir jetzt entgangen.
Eine primitive Zeichnung wie die eines Kindes, mit orangefarbener Kreide gemacht. Es war ein Löwe. Wie die Zeichnung Bernard Smiths, aber viel wilder. Der Körper des Löwen mündete in einen zusammengerollten Schwanz, aber das war kein Löwenschwanz… ein Reptil? Eine Schlange?
Und das war noch nicht alles.
Der Löwe hatte zwei Köpfe: der eine war ein Löwenkopf, der andere möglicherweise der einer Ziege.
Ich spürte einen Knoten in der Brust, Abscheu und Widerwillen, und die plötzliche Erkenntnis.
Jacobi trat hinter mich. »Was gefunden, Lieutenant?«
Ich holte tief Luft. »Pokémon.«
Und jetzt wusste ich Bescheid…
Zwischen den Fällen bestand höchstwahrscheinlich eine Verbindung. Bernard Smiths Beschreibung des Fluchtfahrzeugs war ein Treffer ins Schwarze. Wir hatten es offensichtlich mit einem Doppelmörder zu tun.
Ich war nicht überrascht, dass der aufgebrachte Chief Mercer darauf bestand, verständigt zu werden, sobald ich ins Büro käme.
Ich schloss die Tür zu meinem Büro, wählte seine Durchwahl und wartete auf das Sperrfeuer.
»Haben Sie eine Ahnung, was sich hier tut«, sagte er mit dem gesamten Gewicht seiner Autorität. »Was fällt Ihnen ein, den ganzen Tag draußen zu sein und meine Anrufe zu ignorieren? Sie sind jetzt Lieutenant Boxer. Ihre Aufgabe ist es, die Kommission zu leiten – und mich auf dem Laufenden zu halten.«
»Es tut mir Leid, Chief, aber –«
»Ein Kind wurde ermordet. Eine Gemeinde terrorisiert. Wir haben irgendeinen Irren da draußen, der versucht, diese Stadt in ein Inferno zu verwandeln. Bis morgen früh wird jeder afroamerikanische Führer von San Francisco eine Erklärung verlangen, was wir dagegen zu unternehmen gedenken.«
»Es geht noch weiter als das, Chief.«
Mercer holte Luft. »Weiter als was?«
Ich berichtete ihm, was ich im Keller in Oakland gefunden hatte. Von dem Löwensymbol, das bei beiden Verbrechen eine Rolle spielte.
»Wollen Sie damit sagen, dass zwischen beiden Verbrechen eine Verbindung besteht?«
»Ich sage nur, dass diese Möglichkeit besteht, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.«
Ich hörte, wie die Luft aus Mercers Lunge strömte. »Besorgen Sie ein Foto von der Zeichnung, die Sie an der Wand gesehen haben, und bringen Sie das ins Labor. Und auch die Zeichnung von dem, was der Junge in Bay View gesehen hat. Ich möchte wissen, was diese Zeichnungen bedeuten.«
»Das ist bereits in Arbeit«, erklärte ich.
»Und der Van? Das mutmaßliche Fluchtfahrzeug? Liegt da schon was vor?«
»Negativ.«
In Mercers Kopf schien sich eine Besorgnis erregende Möglichkeit abzuzeichnen. »Falls es sich um irgendeine Verschwörung handelt, werden wir nicht untätig dasitzen, während man die Stadt mit einer Terrorkampagne als Geisel hält.«
»Wir ermitteln wegen des Vans. Geben Sie mir etwas Zeit für das Symbol.« Ich wollte ihm von meinen schlimmsten Befürchtungen noch nichts sagen. Wenn Vandervellen Recht hatte, dass Estelle Chipmans Mörder schwarz war, und Claire Recht hatte, dass Tasha Catchings ganz bewusst als Ziel ausgesucht worden war, dann handelte es sich womöglich nicht um eine rassistisch motivierte Terrorkampagne.
Selbst am Telefon konnte ich sehen, wie sich die Falten in Mercers Doppelkinn vertieften. Ich bat ihn, ein Risiko einzugehen, ein großes Risiko. Schließlich hörte ich, wie er ausatmete. »Lassen Sie mich nicht im Stich, Lieutenant. Klären Sie Ihren Fall auf.«
Als ich auflegte, spürte ich, dass der Druck intensiver wurde.
Jetzt erwartete die Welt von mir, die Tür jeder Hass-Gruppe westlich von Montana einzutreten, dabei hatte ich aber erhebliche Zweifel.
Auf meinem Schreibtisch entdeckte ich eine Nachricht von Jill. »Wie wär’s mit einem Drink? Sechs Uhr?«, stand drauf. »Wir alle!«
Ein ganzer Tag mit diesem Fall… Wenn es etwas gab, das meine Ängste zu lindern vermochte, dann waren es Jill, Cindy, Claire und ein Krug Margaritas im Susie’s.
Ich hinterließ auf Jills Mailbox die Nachricht, dass ich kommen würde.
Mein Blick fiel auf eine verblasste blaue Baseballmütze, die auf dem hölzernen Kleiderständer in der Ecke meines Büros hing. Die Worte »Es ist himmlisch…« waren auf dem Schirm eingestickt. Die Mütze hatte Chris Raleigh gehört. Er hatte sie mir während eines phantastischen Wochenendes oben im Heavenly Valley geschenkt, wo für eine Zeit lang der Rest der Welt für uns verschwunden war und wir uns ganz dem hingeben konnten, was zwischen uns entstanden war.
»Bitte, hilf mir, dass ich den Fall nicht versaue«, flüsterte ich. Ich spürte, wie Tränen in meinen Augen brannten. Mein Gott, ich wünschte mir, er wäre jetzt bei mir! »Du elender Dreckskerl…« Ich schüttelte den Kopf. »Du fehlst mir so furchtbar.«
Ich brauchte nicht länger als eine Minute, nachdem ich mich in unserer Stamm-Nische im Susie’s niedergelassen hatte, als ich spürte, wie der Zauber zu wirken begann. Ja, alles wiederholte sich, das wurde mir klar.
Ein schwieriger Fall wurde noch verzwickter. Die Karaffe mit hochprozentigen Margaritas. Meine drei besten Freundinnen, alle hochrangige Vertreter des Gesetzes. Ich hatte die Befürchtung, unser Club der Ermittlerinnen war wieder im Geschäft.
»Ganz wie in den alten Zeiten?« Claire lächelte und rutschte ein Stück, um mir mehr Platz zu machen.
»Viel mehr, als du denkst.« Ich stöhnte. Dann goss ich mir einen schaumigen Cocktail ein. »O Gott, den habe ich ehrlich nötig.«
»Schwerer Tag?«, erkundigte sich Jill.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Reine Routine. Zuckerschlecken.«
»Dieser Papierkrieg treibt jeden in den Alkoholismus.« Claire zuckte die Schultern und leerte ihr Glas. »Prost. Wie schön, euch Weiber zu sehen.«
Eine spürbare Atmosphäre der Erwartung umgab die Gruppe. Ich trank einen Schluck und schaute in die Runde. Alle sahen mich an.
»Nichts da!« Beinahe hätte ich in meinen Drink gespuckt. »Ich kann nichts erklären, nicht mal ansatzweise.«
»Ich hab’s doch gleich gesagt!«, erklärte Jill mit rauer Stimme und bestätigendem Lächeln. »Die Zeiten haben sich geändert. Lindsay ist jetzt ein hohes Tier.«
»Das ist es überhaupt nicht, Jill. Es gibt eine Hackordnung. Mercer hat die Sache unter Verschluss gestellt. Außerdem habe ich gedacht, wir wären deinetwegen hier.«
In Jills scharfen blauen Augen funkelte es. »Die Vertreterin der Distriktstaatsanwaltschaft ist bereit, der geschätzten Kollegin aus dem zweiten Stock den Vortritt zu überlassen.«
»Herrgott, Leute, ich bin an diesem Fall erst seit zwei Tagen dran.«
»Aber in der Stadt wird über nichts anderes geredet, verdammt noch mal«, sagte Claire. »Möchtest du hören, was ich heute so gemacht habe? Na schön, um zehn eine Schädelöffnung, dann ein Vortrag in der Pathologie an der San Francisco University, dann –«
»Wir könnten über die globale Erwärmung sprechen«, schlug Cindy vor. »Oder über das Buch, das ich gerade lese: Der Tod Vishnus.«
»Es ist ja nicht so, dass ich nicht darüber reden will«, protestierte ich. »Der Fall ist aber Verschlusssache, streng vertraulich.«
»So vertraulich wie die Geschichte in Oakland, die ich dir erzählt habe?«, fragte Cindy.
»Darüber müssen wir reden«, sagte ich. »Danach.«
»Ich schlage dir einen Handel vor«, meinte Jill. »Du vertraust dich uns an, wie immer. Dann vertraue ich euch was an, und du beurteilst, was heißer ist. Der Gewinner zahlt für alle.«
Mir war bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich weich wurde. Wie konnte ich vor meinen Mädels ein Geheimnis wahren? Außerdem kam die Sache in sämtlichen Nachrichten – zumindest ein Teil davon. Und im gesamten Präsidium gab es keine klügeren Köpfe als diese Frauen.
Ich seufzte. »Aber alles bleibt unter uns.«
»Selbstverständlich«, sagten Jill und Claire wie aus einem Mund.
Ich schaute Cindy an. »Und das bedeutet, du gehst nicht damit zur Presse. Mit nichts, bis ich dir grünes Licht gebe.«
»Wieso habe ich das Gefühl, dass ich von dir immer erpresst werde?« Sie schüttelte den Kopf, nickte dann jedoch. »In Ordnung. Abgemacht.«
Jill füllte mein Glas. »Ich wusste, wir würden dich schließlich doch drankriegen.«
Ich trank einen Schluck. »Nein, ich hatte bereits vor, euch alles zu erzählen, als du gefragt hast: ›Schwerer Tag heute?‹«
Stück für Stück erläuterte ich ihnen den Fall, alles, was wir bisher wussten. Den Aufkleber, den Bernard Smith auf dem Fluchtfahrzeug gesehen hatte, die identische Zeichnung, die ich in Oakland entdeckt hatte. Die Möglichkeit, dass Estelle Chipman ermordet worden sein könnte. Claires Idee, dass Tasha Catchings doch kein Zufallsopfer war.
»Ich wusste es!«, rief Cindy und strahlte triumphierend.
»Du musst herausfinden, was dieses Löwenbild bedeutet«, meinte Claire eindringlich.
Ich nickte. »Bin schon dran. Volle Pulle.«
Jill, die Stellvertretende Bezirksstaatsanwältin, fragte: »Liegt irgendwas vor, das diese beiden Opfer tatsächlich in Verbindung bringt?«
»Bis jetzt nicht.«
»Was ist mit dem Motiv?«, bohrte sie nach.
»Alle halten es für ein Verbrechen aus Rassenhass, Jill.«
Sie nickte. »Und du?«
»So ganz allmählich drängt sich mir eine andere Sichtweise auf. Ich glaube, wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass jemand dieses Hass-Verbrechen-Szenario als Tarnung benutzt.«
Es folgte langes Schweigen.
»Ein rassistischer Serienmörder«, sagte Claire.
Ich war meine Neuigkeiten losgeworden, und jetzt saßen alle mit bedrückten Gesichtern da und dachten nach.
Ich nickte Jill zu. »Und jetzt du.«
Ehe Jill etwas sagen konnte, platzte Cindy heraus: »Bennett kandidiert nicht noch mal, richtig?«
Während der achtjährigen Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft hatte Jill sich zur Nummer Zwei emporgearbeitet. Sollte der alte Mann sich entschließen aufzuhören, war sie zwangsläufig die nächste Bezirksstaatsanwältin von San Francisco.
Jill lachte und schüttelte den Kopf. »Der sitzt hinter dem Eichenschreibtisch, bis er stirbt. Das ist die Wahrheit.«
»Und, du hast uns doch auch was mitzuteilen, mach schon!«, bohrte Claire.
»Du hast Recht«, gab Jill zu. »Hab ich…«
Jill blickte einer nach der anderen tief in die Augen, um die Spannung noch zu steigern. Ihre durchdringenden kobaltblauen Augen hatten nie so heiter dreingeschaut. Schließlich schlich sich ein spitzbübisches Lächeln in ihr Gesicht. Sie seufzte und sagte: »Ich bin schwanger.«
Wir saßen starr da und warteten darauf, dass sie zugab, sich einen Scherz mit uns erlaubt zu haben. Aber dem war nicht so. Sie blickte mit strahlenden Augen in die Runde. Mindestens dreißig Sekunden lang.
»D-d-das ist ein Scherz, oder?«, stammelte ich. Jill war die arbeitswütigste Frau, die ich kannte. Man konnte sie fast jeden Abend noch nach acht Uhr an ihrem Schreibtisch erwischen. Ihr Mann, Steve, war Anlageberater für die Bank of America. Beide hatten Blitzkarrieren hinter sich und waren leistungsorientiert: Mountain-Biking in Moab, Windsurfen auf dem Columbia River in Oregon. Ein Baby…
»He, manchmal treiben es Menschen miteinander!«, rief sie.
»Ich hab’s gewusst.« Claire schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich hab’s doch gleich gewusst, als ich den Blick in deinen Augen gesehen habe und dein strahlendes Gesicht. Ich habe zu mir gesagt: Da ist doch ein Braten in der Röhre! Du sprichst nämlich mit einer Expertin, wie du weißt. Wie weit?«
»Acht Wochen. Ende May ist Stichtag.« Jills Augen funkelten wie die eines jungen Mädchens. »Abgesehen von unseren Familien, seid ihr die Ersten, denen ich es gesagt habe. Das ist doch selbstverständlich.«
»Bennett wird Schokoladenkekse scheißen«, stieß Cindy lachend hervor.
»Er hat selbst drei Kinder. Und es ist ja nicht so, als würde ich aussteigen und in Petaluma Wein anbauen. Ich bekomme lediglich ein Baby.«
Unwillkürlich lächelte ich. Ein Teil von mir freute sich so für sie, dass ich am liebsten losgeheult hätte. Ein Teil von mir war sogar ein wenig neidisch. Doch größtenteils konnte ich es immer noch nicht glauben. »Das Kind sollte wissen, was ihm bevorsteht.« Ich grinste. »In den Schlaf wird es von Tonbandaufnahmen über kalifornische Gesetze gesungen werden.«
»Nie und nimmer.« Jill lachte empört. »Das werde ich nicht tun. Ich verspreche es feierlich. Ich werde eine richtig gute Mama sein.«
Ich stand auf und beugte mich über den Tisch zu ihr. »Es ist einfach großartig, Jill.« Einen Moment lang schauten wir uns nur an, unsere Augen waren feucht. Ich freute mich so verdammt für sie. Dann erinnerte ich mich an die Zeit, als ich aus Angst vor einer Blutkrankheit, die ich hatte, fast den Verstand verloren hatte. Damals hatte Jill ihre Arme entblößt und uns ihre schrecklichen Narben gezeigt. Sie hatte gestanden, dass sie sich auf der Highschool und der Universität ständig geschnitten hatte, da die Herausforderung, an die Spitze zu gelangen, ihr Leben so gnadenlos bestimmt hatte, dass sie den Frust nur an sich selbst auslassen konnte.
Wir umarmten einander und drückten uns fest.
»Hast du das längerfristig geplant?«, fragte Claire.
»Wir haben seit ein paar Monaten geübt«, antwortete Jill und setzte sich wieder. »Ich bin nicht sicher, ob es eine bewusste Entscheidung war, aber irgendwie schien es der richtige Zeitpunkt zu sein.« Sie blickte Claire an. »Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, als Lindsay mich zu euch in die Gruppe brachte, hast du über deine Kinder gesprochen… das hat in mir etwas geweckt. Ich erinnere mich, wie ich gedacht habe: ›Sie leitet die Gerichtsmedizin, sie ist eine der fähigsten Frauen, die ich kenne, hat eine Spitzenkarriere gemacht, aber sie redet nur über die Kinder.‹«
»Wenn man anfängt zu arbeiten, hat man ungeheuren Ehrgeiz und große Zielstrebigkeit. Als Frau hat man das Gefühl, man müsste sich unbedingt überall beweisen. Aber wenn man Kinder hat, ist es anders, natürlich. Dir wird klar, dass es nicht mehr allein um dich geht. Dir wird bewusst, dass du nicht länger etwas beweisen musst. Du hast es bereits getan.«
»Hey, von dem Gefühl will ich auch ein bisschen«, sagte Jill mit feuchten Augen.
»Ich habe euch das nie erzählt«, fuhr sie fort, »aber ich war schon einmal schwanger. Vor fünf Jahren.« Sie trank einen Schluck Wasser und schüttelte das dunkle Haar zurück. »Meine Karriere verlief im Schnellgang – ihr erinnert euch, da gab es die La-Frade-Anhörung –, und Steve hatte sich gerade erst selbstständig gemacht.«
»Damals war nicht die richtige Zeit, Schätzchen«, sagte Claire.
»Das war’s nicht«, erklärte Jill. »Ich wollte das Kind. Aber alles andere war so intensiv. Ich habe bis zehn Uhr abends im Büro geschuftet. Außerdem war Steve ständig unterwegs…« Sie machte eine Pause, ihre Augen verschleierten sich kurz. »Ich hatte leichte Blutungen. Der Arzt warnte, riet mir zurückzustecken. Ich versuchte es, aber alle machten wegen dieses Falls Druck, und ich war immer allein. Eines Tages spürte ich, wie mein Inneres explodierte. Ich habe es verloren… im vierten Monat.«
»O Gott!« Claire atmete durch. »Arme Jill.«
Jill holte Luft, bedrücktes Schweigen breitete sich aus.
»Und wie fühlst du dich jetzt?«, fragte ich.
»Ekstatisch…«, antwortete sie. »Körperlich kräftiger als je zuvor…« Sie schloss kurz die Augen, dann schaute sie uns wieder an. »Die Wahrheit ist: Ich bin ein komplettes Wrack.«
Ich griff nach ihrer Hand. »Was meint dein Arzt?«
»Er meint, wir würden alles ständig genau beobachten, und ich sollte die Sensationsfälle auf ein Minimum beschränken. Im Schongang laufen.«
»Hast du diesen Gang?«, fragte ich.
»Jetzt schon«, antwortete sie spitz.
»Wow!« Cindy lachte. »Jill hat plötzlich die Kunst des Blaumachens entdeckt.«
Ich sah, wie in Jills Augen ein wunderbare Verwandlung stattfand, etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte. Jill war immer erfolgreich. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, das bisher von Zielstrebigkeit bestimmt war. Jetzt aber sah ich, dass sie endlich glücklich war.
In ihren schönen Augen standen Tränen. Diese Frau hatte ich vor Gericht gesehen, wie sie gegen einige der zähesten Hurensöhne der Stadt angetreten war. Ich hatte gesehen, wie sie mit unbeirrbarer Entschlossenheit Mörder gejagt hatte. Ich hatte sogar die Narben ihrer Selbstverstümmelung auf den Armen gesehen.
Aber bis zu diesem Moment hatte ich Jill noch nie weinen sehen.
»Verdammt…« Ich lächelte und griff nach der Rechnung. »Ich schätze, ich zahle.«
Ich umarmte Jill noch ein paar Mal aufgeregt, dann machte ich mich auf den Heimweg zu meiner Wohnung am Potrero Hill.
Sie befand sich im ersten Stock eines renovierten blauen Hauses im viktorianischen Stil. Gemütlich und hell, mit einem Erker mit großen Fenstern, von dem aus man auf die Bucht schaute. Martha, meine anhängliche Border-Collie-Hündin, begrüßte mich an der Tür.
»Hallo, Süße«, sagte ich. Sie wedelte freudig mit dem Schwanz und sprang an mir hoch.
»Und wie war dein Tag?« Ich nahm ihren Kopf zwischen die Hände und barg mein Gesicht in ihrem weichen Fell.
Dann ging ich ins Bad, zog meine Dienstkleidung aus, band das Haar hoch, streifte das viel zu große Sweatshirt der Giants über und zog die Schlafanzughosen aus Flanell an, in denen ich lebte, wenn das Wetter kühl wurde. Ich fütterte Martha, machte mir eine Tasse Orangen-Ingwer-Tee und setzte mich auf die Kissen im Erker.
Martha legte den Kopf in meinen Schoß, ich trank einen Schluck Tee. Draußen blinkten in der Ferne die Lichter eines Flugzeugs im Anflug auf den Flughafen von San Francisco. Wieder dachte ich an das unglaubliche Bild von Jill als Mutter… ihre schlanke Figur mit dem sich wölbenden Bauch… die Party, die wir Mädels für sie ausrichten würden. Ich musste lachen und lächelte Martha an. »Jill wird Mama.«
Ich hatte Jill noch nie so glücklich gesehen. Erst vor wenigen Monaten waren auch meine Gedanken darauf ausgerichtet gewesen, ein Kind zu bekommen. Das wäre mein Herzenswunsch gewesen. Wie Jill gesagt hatte: Ich möchte dieses Gefühl auch haben. Aber es hatte nicht sein sollen…
In meiner Familie war offensichtlich Elternschaft nicht die natürliche Beschäftigung.
Meine Mutter war vor elf Jahren gestorben, als ich vierundzwanzig war und gerade in die Polizeiakademie eintrat. Man hatte bei ihr Brustkrebs festgestellt, und die letzten beiden Jahre meines Studiums hatte ich bei ihrer Pflege geholfen. Ich war zwischen den Seminaren zum Emporium gerast, wo sie gearbeitet hatte, um sie abzuholen. Ich hatte Essen gekocht und auf meine jüngere Schwester Cat aufgepasst.
Mein Vater, ein San-Francisco-Bulle, hatte sich verdrückt, als ich dreizehn war. Bis heute habe ich keine Ahnung, weshalb. Als ich größer wurde, hörte ich die Geschichten, wie er seinen Gehaltsscheck bei Buchmachern gelassen hatte, dass er meine Mutter durch ein Doppelleben hintergangen hatte, dass der Dreckskerl über ungemeinen Charme verfügte, dass er eines Tages sein Herz verloren hätte und danach nicht mehr die Uniform tragen konnte.
Meine letzte Nachricht stammte von Cat, danach war er unten in Redondo Beach und hatte sich mit einem Sicherheitsdienst selbstständig gemacht. Alte Kollegen in der Stadtmitte fragten mich immer noch zuweilen, wie es Marty Boxer ginge, und erzählten wilde Geschichten über ihn. Vielleicht war es gut, dass sich einige lachend an ihn erinnerten. Marty, der mal drei Zuhälter mit denselben Handschellen gefesselt hatte… Marty Boxer, der anhielt, um eine Wette abzuschließen, während der mutmaßliche Täter im Streifenwagen saß. Meine Gedanken kreisten nur darum, dass der Mistkerl mich im Stich gelassen hatte, so dass ich allein meine sterbende Mutter pflegen musste. Er war nie wiedergekommen.
Ich hatte meinen Vater seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Tag, an dem ich Polizistin wurde. Als ich an der Polizeiakademie graduierte, hatte ich ihn im Publikum entdeckt. Aber wir hatten kein Wort gewechselt. Ich vermisste ihn auch nicht mehr.
Mein Gott, es war ewig her, dass ich diese alte Narben angeschaut hatte. Mom war seit elf Jahren tot. Inzwischen hatte ich geheiratet und war geschieden worden. Ich hatte es bis zur Mordkommission geschafft. Jetzt leitete ich das Dezernat. Irgendwo auf dem Weg war ich auch dem Mann meiner Träume begegnet…
Ich hatte Recht gehabt, als ich Mercer erklärte, dass das alte Feuer wieder da sei.
Aber ich belog mich selbst, wenn ich mir einredete, dass Chris Raleigh der Vergangenheit angehörte.
Es waren immer die Augen, die ihn faszinierten. Er saß nackt auf dem Bett in dem kahlen, zellenähnlichen Raum und starrte auf die alten Schwarzweißfotos, die er schon tausend Mal betrachtet hatte.
Immer waren es die Augen… die verlöschenden Augen, die hoffnungslose Resignation.
Wie sie posierten, obwohl sie wussten, dass ihre Leben enden würden. Sogar, wenn die Henkersschlinge bereits um ihren Hals lag.
In dem lose gebundenen Album hatte er siebenundvierzig Fotos und Postkarten in chronologischer Reihenfolge gesammelt. Seit vielen Jahren. Das erste alte Foto, vom 9. Juni 1901, hatte ihm sein Vater geschenkt. Dez Jones, in Great River, Indiana, gelyncht. An den Rand hatte jemand etwas geschrieben. Die Schrift war verblasst. »Zu diesem Tanz bin ich neulich gegangen. Und hinterher haben wir so richtig gespielt. Dein Sohn Sam.« Im Vordergrund sah man Männer in Gehröcken mit Melone, und dahinter die schlaff herabhängende Leiche.
Er blätterte um. Frank Taylor, Mason, Georgia, 1911. Es hatte ihn fünfhundert Dollar gekostet, das Foto zu bekommen, aber es war jeden Penny wert. Der zum Tode verurteilte Mann stand hinten auf einer leichten Kutsche, die unter einer Eiche parkte. Sein starrer Blick war nur Sekunden vom Tod entfernt. Auf seinem Gesicht lag weder Widerstand noch Angst. Eine kleine Schar ordentlich gekleideter Männer und Frauen grinsten in die Kamera, als sähen sie gerade Lindbergh in Paris landen. Sie hatten sich fein gemacht wie zu einem Familienporträt.
Ihre Augen besagten, dass das Hängen etwas ganz Natürliches und Schickliches sei. Die Augen Taylors besagten, dass er schlichtweg nichts dagegen machen konnte.
Er stand vom Bett auf und trat vor den Spiegel. Er war schon immer kräftig, schlank und muskulös gewesen. Seit zehn Jahren betrieb er Gewichtheben. Er zuckte zusammen, als er die Bizepse anspannte und aus einem Kratzer Blut quoll. Er massierte die Wunde. Das alte Miststück hatte ihre Fingernägel in seine Brust geschlagen, als er das Kabel um die Heizungsrohre an der Decke gewickelt hatte. Es hatte kaum geblutet, aber er betrachtete den Kratzer angewidert. Er hasste es, wenn die Oberfläche seiner Haut verunstaltet war.
Er posierte vor dem Spiegel und betrachtete die wütende Löwen-Ziege, die auf seine Brust tätowiert war.
Schon bald würden diese dämlichen Arschlöcher sehen, dass es nicht nur um Hass ging. Sie würden sein Muster erkennen. Die Schuldigen mussten bestraft, der gute Ruf wiederhergestellt werden. Er hatte keine besondere Abneigung gegen einen von ihnen. Es war kein Rassenhass. Er kletterte zurück ins Bett und masturbierte vor dem Foto von Missy Preston, deren kleines Genick in Childers County, Tennessee, im August 1931 durch ein Seil gebrochen worden war.
Ohne zu stöhnen ejakulierte er. Nach dem starken Ausstoß zitterten ihm die Knie. Die alte Lady hatte den Tod verdient. Das Mädchen aus dem Kinderchor ebenfalls. Er war jetzt aufgepeitscht!
Wieder massierte er die Tätowierung auf der Brust. Schon bald lasse ich dich frei, mein liebes Tierchen…
Er schlug im Fotoalbum die letzte Seite auf, die leer war, direkt hinter Morris Tulo und Sweet Brown in Longbow, Kansas, 1956.
Diese Seite hatte er für das richtige Bild reserviert. Und jetzt hatte er es.
Er bestrich die Rückseite des Fotos mit Klebstoff, dann drückte er es auf die leere Seite.
Ja, genau dorthin gehörte es.
Er erinnerte sich, wie sie ihn angestarrt hatte. Diese traurige Unausweichlichkeit war in ihr Gesicht eingeätzt.
Die Augen…
Er bewunderte den Neuzugang: Estelle Chipman, Augen weit aufgerissen. Sie blickte direkt in die Kamera, Sekunden, ehe er den Hocker unter ihren Füßen umstieß.
Sie posierten immer.
Am nächsten Morgen rief ich als Erstes Stu Kirkwood an, der im Dezernat für Gewaltverbrechen zuständig war. Ich fragte ihn persönlich nach irgendwelchen Hinweisen auf Gruppierungen von Typen, die vielleicht in der Bay Area tätig waren. Meine Leute hatten schon früher mit Stu geredet, aber ich brauchte etwas Handfestes – und zwar schnell.
Bis jetzt hatte Clappers Spurensicherungsmannschaft die Umgebung der Kirche ohne Resultat abgesucht. Einziges Ergebnis war, dass niemand etwas Negatives über Aaron Winslow gesagt hatte.
Kirkwood teilte mir telefonisch mit, dass ein paar organisierte, sich rassisch überlegen fühlende Gruppen von Nord-Kalifornien aus tätig seien, Trittbrettfahrer des Klans oder irgendwelcher verrückten Neo-Nazi-Skinheads. Er meinte, am besten sei es, die örtliche Abteilung des FBI zu kontaktieren, die diese Gruppen sehr viel genauer beobachtete. In seine Abteilung fiel eher das Klatschen von Schwulen.
Die Idee, zu diesem Zeitpunkt das FBI ins Spiel zu bringen, erfüllte mich nicht gerade mit Enthusiasmus. Ich bat Kirkwood, mir alles zu geben, was er hatte. Eine Stunde später erschien er mit einer Plastikkiste voller blauer und roter Aktenordner. »Hintergrund-Informationen.« Er zwinkerte mir zu und knallte die Kiste auf meinen Schreibtisch.
Angesichts der Aktenberge sanken meine Hoffnungen. »Haben Sie irgendwelche Ideen, Stu?«
Er zuckte mitfühlend die Schultern. »San Francisco ist nicht gerade eine Brutstätte für derartige Gruppen. Das meiste, was ich Ihnen hergeschleppt habe, scheint ziemlich harmlos zu sein. Diese Burschen scheinen sich hauptsächlich damit zu beschäftigen, ein paar Biere zu kippen und herumzuballern.«
Ich bestellte einen Salat, da ich wohl die nächsten Stunden am Schreibtisch verbringen würde, mit Recherchen über Leute, die gegen Juden und Afroamerikaner Parolen gröhlten. Ich holte eine Hand voll Akten heraus und schlug aufs Geratewohl eine auf.
Eine Gruppe, einer Bürgerwehr ähnlich, die in Greenview, kurz vor der Grenze zu Oregon, ihr Unwesen trieb. Die Patrioten Kaliforniens. Zusammenfassende Informationen des FBI: Typ von Aktivität: Miliz, sechzehn bis zwanzig Mitglieder. Waffen: geringfügige Bedeutung, kleine bis semi-automatische Waffen, über dem Ladentisch. Ganz unten stand: Bedrohung: niedrig/moderat.
Ich überflog die Akte. Einige Druckerzeugnisse mit Logos von gekreuzten Gewehren, wirre Vorwürfe vom Untergang der »weißen europäischen Minorität«, was in den Medien vertuscht würde, und von Regierungsprogrammen, wonach künstliche Befruchtung von Minoritäten befürwortet würde.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Mörder sich diesem Schwachsinn verschrieben hatte. Nein, das war nicht seine Wellenlänge. Unser Mann ging systematisch und waghalsig vor, war jedoch kein verblendeter Rambo aus der Provinz. Er hatte sich größte Mühe gegeben, die Morde wie Hass-Verbrechen aussehen zu lassen. Und er hatte seine Signatur hinterlassen.
Wie die meisten Serientäter wollte er, dass wir seine Handschrift erkannten.
Und er wollte, dass wir wussten, dass es weitere Morde geben würde.
Ich stöberte noch mehrere Akten durch. Nichts, was mir ins Auge fiel. Langsam hatte ich das Gefühl, dass es Zeitverschwendung war.
Plötzlich stürzte Lorraine in mein Büro. »Wir haben einen Durchbruch, Lieutenant. Wir haben den weißen Van gefunden.«
Ich schnallte meine Glock um und griff mir unterwegs Cappy und Jacobi, noch ehe Lorraine mir sämtliche Details berichtet hatte.
»Ein SWAT-Team soll sofort dorthin fahren!«, brüllte ich.
Zehn Minuten später hielten wir mit quietschenden Reifen vor einer provisorischen Straßensperre auf der San Jacinto, einer ruhigen Straße in einer reinen Wohngegend.
Ein Streifenwagen hatte auf einem Routineeinsatz einen Dodge Caravan entdeckt, der vor einem Haus im eleganten Forest Hill parkte. Die betreffenden Polizisten waren sicher, dass es der von uns gesuchte Wagen war, weil auf der Hecktür der Aufkleber mit dem zweiköpfigen Löwen war.
Vasquez, der jüngere Kollege, der den Van gemeldet hatte, deutete auf ein im Schatten von hohen Bäumen stehendes Fachwerkhaus, einen halben Block entfernt. Ja, der weiße Van parkte am Ende der Einfahrt. Das war doch verrückt! Dies hier war eine reiche Wohngegend, kein wahrscheinlicher Aufenthaltsort für Kriminelle und Mörder.
Aber der Van stand da.
Unser weißer Van.
Und Bernard Smiths Mufasa.
Gleich darauf fuhr ein SWAT-Fahrzeug, als Reparaturwagen für Kabelfernsehen getarnt, auf die Straße. Das Team wurde von Lieutenant Skip Arbichaut geführt. Ich hatte keine Ahnung, ob die Situation sich zu einer Belagerung entwickeln würde oder ob wir stürmen müssten.
»Cappy, Jacobi und ich gehen als Erste rein«, erklärte ich.
Es war eine Operation der Mordkommission, und ich würde niemand anderen der Gefahr aussetzen. Arbichaut ließ seine Männer ausschwärmen, zwei nach hinten, drei vorne, und einer mit einem Vorschlaghammer, falls wir die Tür aufbrechen mussten.
Wir schnallten die kugelsicheren Westen um und zogen schwarze Nylonjacken über, die uns als Polizei identifizierten. Ich entsicherte meine Glock-9mm. Es blieb keine Zeit, um nervös zu werden.
Der SWAT-Einsatzwagen kam langsam die Straße herabgefahren, drei Scharfschützen in schwarzen Westen waren auf seiner anderen Seite.
Cappy, Jacobi und ich folgten dem Wagen, um ihm Deckung zu geben, bis er vor dem Briefkasten mit der Nummer 610 hielt. Vasquez hatte Recht. Die Beschreibung passte haargenau auf den weißen Van.
Mein Herz raste. Ich war schon oft dabei, wenn wir uns gewaltsam Einlass verschaffen mussten, aber nie stand so viel auf dem Spiel. Vorsichtig schlichen wir uns zur Vorderseite des Hauses.
Drinnen brannte Licht, Geräusche vom Fernseher.
Auf mein Nicken hin schlug Cappy mit der Waffe gegen die Tür. »San Francisco Polizei.« Jacobi und ich gingen mit schussbereiten Waffen in die Hocke.
Keine Antwort.
Nach etlichen nervenzermürbenden Sekunden gab ich Ar-bichaut das Zeichen, die Tür aufzubrechen.
Da öffnete sich plötzlich die Tür einen Spalt breit.
»Keine Bewegung!«, rief Cappy und schwang die Waffe. »San Francisco Polizei.«
Eine Frau in hellblauem Gymnastikanzug stand mit großen Augen wie erstarrt auf der Schwelle. »O mein Gott!«, schrie sie, als sie unsere Waffen sah.
Cappy riss sie aus dem Haus, als Arbichauts SWAT-Team das Haus stürmte.
»Ist noch jemand im Haus?«, brüllte er.
»Nur meine Tochter«, schrie die verängstigte Frau. »Sie ist zwei Jahre alt.«
Das SWAT-Team stürmte an ihr vorbei ins Haus.
»Gehört dieser Van Ihnen?«, fragte Jacobi barsch.
Die Augen der Frau huschten zur Straße. »Worum geht es eigentlich?«
»Ist das Ihr Van?«, wiederholte Jacobi.
»Nein«, antwortete sie zitternd. »Nein…«
»Wissen Sie, wem er gehört?«
Sie schaute noch mal hin und schüttelte den Kopf. »Den habe ich nie im Leben gesehen.«
Es war alles falsch. Das sah ich. Die Gegend, die Plastikrutsche für das Kind auf dem Rasen, die völlig verstörte Frau im Gymnastikanzug. Ich stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Man hatte den Van hier abgestellt.
Plötzlich schoss ein grüner Audi die Straße herauf, gefolgt von zwei Polizeifahrzeugen. Der Audi musste unsere Straßensperre durchbrochen haben. Ein gut gekleideter Mann mit Schildpattbrille sprang heraus und rannte zum Haus. »Kathy, was, zum Teufel, ist hier los?«
»Steve…« Erleichtert fiel ihm die Frau um den Hals. »Das ist mein Mann. Ich habe ihn angerufen, als ich die vielen Polizisten vor unserem Haus gesehen habe.«
Der Mann betrachtete die acht Streifenwagen, den SWAT-Einsatzwagen und die Polizisten, die mit gezogenen Waffen dastanden.
»Was machen Sie bei meinem Haus? Das ist Wahnsinn! Totaler Irrsinn!«
»Wir glauben, dass dieser Van als Fluchtfahrzeug bei einem Mord verwendet wurde«, erklärte ich. »Wir haben jedes Recht, hier zu sein.«
»Bei einem Mord…?«
Zwei von Arbichauts Männern kamen aus dem Haus und zeigten an, dass alles in Ordnung sei. Allmählich kamen die Menschen aus den Häusern auf der anderen Straßenseite. »Seit zwei Tagen suchen wir intensiv nach diesem Van. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen so einen Schreck eingejagt habe. Aber es gab keine andere Möglichkeit sicherzugehen.«
Die Empörung des Manns wuchs. Sein Gesicht und sein Hals waren krebsrot. »Sie glauben tatsächlich, dass wir mit dieser Sache etwas zu tun hätten? Mit einem Mord?«
Ich fand, ich hatte die beiden genug verstört. »Die Schießerei bei der La-Salle-Heights-Kirche.«
»Haben Sie völlig den Verstand verloren? Sie haben uns verdächtigt, auf eine Kirche zu schießen?« Ungläubig starrte er mich mit offenem Mund an. »Wissen Sie Idioten eigentlich, welchen Beruf ich ausübe?«
Ich musterte seinen grauen Nadelstreifenanzug, das blaue Hemd mit Button-down-Kragen. Ich hatte das demütigende Gefühl, dass man mich soeben unsterblich blamiert hatte.
»Ich bin der Rechtsbeistand der Ortsgruppe der Anti-Diffamierungsliga Nordkaliforniens.«
Der Mörder hatte uns alle zu Idioten gemacht. Niemand in dieser Straße wusste etwas über den gestohlenen Van. Man hatte ihn absichtlich hier abgestellt, um uns zu blamieren. Als Clappers Spurensicherung alles Zentimeter für Zentimeter absuchte, wusste ich bereits, dass das Ergebnis gleich null sein würde. Ich schaute mir den Aufkleber ganz genau an und war sicher, dass das Bild exakt dem glich, das ich in Oakland gesehen hatte. Der eine Kopf war der eines Löwen, der andere ähnelte einer Ziege, der Schwanz wies auf eine Schlange hin. Aber was, zum Teufel, bedeutete das?
»Wenigstens haben wir herausgefunden, dass der Hurensohn über einen ausgesprochenen Sinn für Humor verfügt«, meinte Jacobi bissig.
»Ich freue mich, dass du sein Fan bist«, erwiderte ich.
Zurück im Präsidium wandte ich mich an Lorraine. »Ich möchte wissen, woher der Van stammt. Ich will wissen, wem er gehört hat, wer Zugang zu ihm hatte, jeden Kontakt, den der Besitzer einen Monat vor dem Diebstahl hatte.«
Ich kochte vor Wut. Wir hatten da draußen einen bösartigen Mörder, aber nicht den geringsten Hinweis darauf, was ihn zum Ticken brachte. War es eine organisierte Gruppe oder ein einsamer Wolf? Wir wussten, dass der Kerl ziemlich intelligent war. Seine Taten waren gut geplant, und wenn Ironie zu seiner Methode gehörte, war das Abstellen des Fluchtfahrzeugs vor diesem Haus wirklich ein Knüller gewesen.
Karen kam herein und teilte mir mit, dass Ron Vandervellen am Telefon sei. Der Kollege aus Oakland lachte. »Wie man hört, ist es Ihnen gelungen, eine echte Gefahr für unsere Gesellschaft zu überwältigen, die sich als Rechtsbeistand der Anti-Diffamierungsliga getarnt hatte.«
»Ich schätze, damit sind unsere Ermittlungen gleich gut, Ron«, gab ich zurück.
»Entspannen Sie sich, Lindsay. Ich rufe nicht an, um Ihnen die Pleite unter die Nase zu reiben.« Er wechselte den Tonfall. »Eigentlich wollte ich Ihnen den Tag so richtig verschönen.«
»Ich kann alles gebrauchen, Ron. Was haben Sie für uns?«
»Sie wissen doch, dass Estelle Chipman Witwe war, richtig?«
»Ich glaube, Sie haben es erwähnt.«
»Schön, wir haben Standardermittlungen über ihren Hintergrund durchgeführt und einen Sohn in Chicago gefunden. Er kommt her, um die Leiche zu holen. In Anbetracht der Umstände halte ich das, was er uns erzählt hat, nicht für einen reinen Zufall.«
»Was, Ron?«
»Ihr Mann ist vor fünf Jahren gestorben. Herzinfarkt. Und raten Sie mal, womit der Kerl seinen Lebensunterhalt verdient hat?«
Ich hatte das Gefühl, dass Vandervellen im Begriff war, den Fall entscheidend vorwärts zu bringen.
»Estelle Chipmans Mann war in San Francisco Polizist.«
Cindy Thomas parkte ihren Mazda gegenüber der La-Salle-Heights-Kirche und seufzte tief. Die weiße Holzfassade der Kirche war durch hässliche Einschusslöcher und Risse verunstaltet. Wo das schöne bunte Glasfenster gewesen war, hing jetzt eine schwarze Leinwand.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie zugesehen hatte, wie das Fenster enthüllt worden war. Sie war damals noch bei der Lokalredaktion gewesen. Der Bürgermeister, etliche örtliche Würdenträger, Aaron Winslow – sie alle hatten Reden darüber gehalten, wie diese wunderschöne Arbeit durch die Gemeinde bezahlt worden war. Sie erinnerte sich an das Interview mit Winslow und wie beeindruckt sie von seiner Leidenschaft, aber auch von der unerwarteten Bescheidenheit gewesen war.
Cindy bückte sich, um unter dem gelben Polizeiband hindurchzukriechen, und ging näher an die zerschossene Wand heran. Bei ihrer Arbeit für den Chronicle hatte sie mehrfach Artikel über Menschen schreiben müssen, die gestorben waren. Aber hier fühlte sie zum ersten Mal, dass die Menschheit auch ein wenig gestorben war.
Eine Stimme erschreckte sie. »Sie können so lange hinschauen, wie Sie wollen, es wird nicht schöner.«
Cindy wirbelte herum und stand vor einem sehr gut aussehenden Mann mit glattem Gesicht. Freundliche Augen. Sie kannte ihn. »Ich war hier, als das Fenster enthüllt wurde. Es brachte sehr viel Hoffnung.«
»Das tut es immer noch«, sagte Winslow. »Wir haben die Hoffnung nicht verloren. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen.«
Sie lächelte und schaute in seine tiefbraunen Augen.
»Ich bin Aaron Winslow«, sagte er und schob einen Stapel Kinderbücher unter den Arm, um ihr die Hand zu geben.
»Cindy Thomas.« Sein Händedruck war warm und freundlich.
»Sagen Sie nur nicht, dass unsere Kirche jetzt eine Sehenswürdigkeit bei der Vierzig-Meilen-Besichtigungstour ist.« Winslow ging zur Rückseite der Kirche. Cindy folgte ihm.
»Ich bin keine Touristin«, erklärte Cindy. »Ich wollte es nur sehen.« Sie schluckte. »Hören Sie, ich würde gern so tun, als sei ich gekommen, um mein Beileid auszusprechen… das habe ich getan. Aber ich arbeite auch für den Chronicle. Polizeireporterin.«
»Reporterin.« Winslow atmete tief durch. »Jetzt ergibt es einen Sinn. Seit Jahren war nichts, was hier vorging – Nachhilfe, Rechtschreibunterricht, ein landesweit anerkannter Chor –, wichtig genug, um darüber zu schreiben. Aber ein Wahnsinniger dreht durch, und jetzt will Nightlife eine Stadtversammlung abhalten. Was möchten Sie wissen, Ms Thomas? Was will der Chronicle?«
Seine Worte versetzten ihr einen kleinen Stich, aber er hatte Recht. Sie nahm es ihm nicht übel.
»Ich habe schon einmal einen Artikel über diese Kirche geschrieben. Als das Fenster enthüllt wurde. Es war ein ganz besonderer Tag.«
Er blieb stehen, musterte sie scharf und lächelte dann. »Es war ein ganz besonderer Tag. Und, Ms Thomas, eigentlich habe ich gewusst, wer Sie sind, als Sie auf mich zukamen. Ich erinnere mich an Sie. Sie haben mich damals interviewt.«
Jemand rief aus der Kirche heraus Winslows Namen. Eine Frau trat durch die Tür und erinnerte ihn daran, dass er um elf Uhr eine Besprechung hätte.
»So, haben Sie alles gesehen, was Sie sehen wollten, Ms Thomas? Dürfen wir Sie dann in einigen Jahren wieder hier erwarten?«
»Nein. Ich möchte wissen, wie Sie mit allem fertig werden. Diese Gewalt angesichts von all dem, was Sie hier geschafft haben. Und wie man in der Nachbarschaft darüber denkt.«
Winslow lächelte. »Ich gebe Ihnen einen kleinen Tipp. Ich bin kein Unschuldslamm. Ich habe zu viel Zeit in der realen Welt verbracht.«
Sie erinnerte sich daran, dass Aaron Winslows Glaube nicht durch ein abgeschiedenes Leben geformt worden war. Er kam von der Straße. Er war Feldkaplan gewesen. Erst vor wenigen Tagen hatte er sich in die Schusslinie geworfen und möglicherweise Leben gerettet.
»Sie sind hergekommen, um herauszufinden, wie diese Nachbarschaft auf den Angriff reagiert? Kommen Sie und sehen Sie selbst, wie. Morgen halten wir den Gedenkgottesdienst für Tasha Catchings ab.«
Vandervelles verblüffende Eröffnung ging mir den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf.
Beide Mordopfer waren mit Polizisten aus San Francisco verwandt.
Es musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Es war durchaus möglich, dass die Opfer rein zufällig ausgewählt waren und kein Zusammenhang zwischen ihnen bestand. Menschen in verschiedenen Städten, getrennt durch sechzig Jahre.
Oder es war der entscheidende Hinweis.
Ich griff zum Telefon und rief Claire an. »Du musst mir einen Riesengefallen tun«, sagte ich.
»Wie riesig?« Ich spürte, wie sie grinste.
»Du musst dir den Obduktionsbericht der Frau ansehen, die in Oakland erhängt wurde.«
»Kann ich machen. Schick ihn mir rüber. Dann werfe ich einen Blick darauf.«
»Jetzt kommt die Riesenbitte, Claire. Der Bericht liegt noch bei der Gerichtsmedizin in Oakland und ist noch nicht freigegeben.«
Ich wartete auf ihren Seufzer. »Das ist nicht dein Ernst, Lindsay. Ich soll meine Nase in eine Untersuchung stecken, die noch nicht abgeschlossen ist?«
»Hör zu, Claire. Ich weiß, dass es nicht dem Procedere entspricht, aber sie haben einige ziemlich wichtige Mutmaßungen angestellt, die für diesen Fall entscheidend sein könnten.«
»Kannst du mir sagen, wegen welcher Mutmaßung ich einem respektierten Kollegen auf die Zehen treten soll?«
»Claire, es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen. Es gibt ein Muster. Estelle Chipman war mit einem Polizisten verheiratet. Tasha Catchings Onkel war ebenfalls Bulle. Meine ganze Ermittlung hängt davon ab, ob wir es mit einem einzigen Mörder zu tun haben oder nicht. Oakland glaubt, dass ein Afroamerikaner beteiligt ist.«
»Ein Schwarzer?« Sie rang nach Luft. »Warum sollte ein Schwarzer etwas Derartiges tun?«
»Ich weiß es nicht. Aber es gibt verblüffend viele Indizien, die beide Verbrechen verbinden. Ich muss es wissen.«
Claire zögerte. »Und wonach, zum Teufel, soll ich suchen?«
Ich berichtete ihr von den Hautproben, die sie unter den Fingernägeln des Opfers gefunden hatten, und von der Schlussfolgerung des Pathologen.
»Teitleman ist ein guter Mann«, sagte Claire. »Ich traue seinen Ergebnissen wie meinen eigenen.«
»Ich weiß, Claire, aber er ist nicht du. Bitte. Es ist wichtig.«
»Eines kann ich dir sagen«, erklärte sie. »Wenn Art Teitleman seine Nase in meine vorläufigen Untersuchungen stecken würde, würde ich dafür sorgen, dass sein Parkschein gestempelt wird. Aber dann würde ich ihn höflich auffordern, sich wieder auf seine Seite der Bucht zu begeben. Ich würde das für niemand anderen tun, Lindsay.«
»Das weiß ich, Claire«, sagte ich dankbar. »Weshalb hätte ich mich sonst all die Jahre um deine Freundschaft bemüht?«
Am späten Nachmittag saß ich an meinem Schreibtisch, als sich von meinen Leuten einer nach dem anderen verabschiedete und nach Hause ging.
Ich konnte noch nicht gehen.
Ich zermarterte mir immer wieder den Kopf, um die Teile zusammenzufügen. Alles, was ich hatte, beruhte auf Vermutungen. War der Mörder schwarz oder weiß? Hatte Claire Recht, dass Tasha Catchings absichtlich getötet worden war? Aber das Löwensymbol war eindeutig da gewesen. Verknüpfe die Opfer, sagte mir mein Instinkt. Es gibt eine Verbindung. Aber welche, verdammt noch mal?
Ich warf einen Blick auf die Uhr und rief Simone Clark in der Personalabteilung an. Ich erwischte sie gerade, als sie nach Hause gehen wollte. »Simone, ich brauche Sie. Sie müssen mir morgen früh eine Akte heraussuchen.«
»Klar, von wem?«
»Ein Polizist, der vor acht oder zehn Jahren in Pension gegangen ist. Er hieß Edward Chipman.«
»Das ist schon ein Weilchen her. Die Akte dürfte draußen auf den Docks sein.« Die Abteilung lagerte alte Unterlagen bei einer Dokumenten-Lagerungsfirma. »Früher Nachmittag, okay?«
»Selbstverständlich, Simone. Tun Sie, was Sie können.«
Ich war immer noch voller nervöser Energie und legte noch einen Stapel von Kirkwoods Hass-Akten vor mich auf den Schreibtisch.
Willkürlich schlug ich eine auf. Americans for Constitutional Action… Pflüge und Querpfeifen, noch so eine durchgeknallte Miliz-Gruppe. Diese Arschlöcher, was für ein Haufen rechtsradikaler Wichser. Verschwendete ich meine Zeit? Nichts sprang mir ins Auge. Nichts gab mir Hoffnung, auf der richtigen Spur zu sein.
Geh heim, Lindsay, drängte mich eine innere Stimme. Vielleicht ergeben sich morgen neue Hinweise. Da ist der Van, Chipmans Akte… Mach Schluss für heute. Nimm Martha und jogge mit ihr.
Geh heim…
Ich stapelte die Akten und wollte gerade aufgeben, als die oberste meine Neugier erregte. Die Templer. Ein Ableger der Hell’s Angels draußen in Vallejo. Ursprünglich waren die Templer christliche Ritter aus der Zeit der Kreuzzüge. Ich schaute gleich nach der Einschätzung der Bedrohung durch das FBI: Gefahr – groß.
Ich nahm die Akte vom Stapel und las sie durch. Ein FBI-Bericht über eine Reihe ungelöster Verbrechen, an denen die Templer mutmaßlich beteiligt waren: Bankraub, brutale Auftragsschläger gegen Latinos und afroamerikanische Gangs.
Ich blätterte weiter. Polizeiberichte, Gefängnisunterlagen, Überwachungsfotos der Gruppe. Plötzlich entwich die Luft aus meiner Lunge.
Meine Augen hingen wie gebannt an einem Foto: Ein Haufen muskelbepackter, mit Tätowierungen übersäter Biker hockte vor einer Bar in Vallejo, die sie als Hauptquartier benutzten. Einer hing über seiner Maschine und drehte der Kamera den Rücken zu. Er hatte den Kopf kahl rasiert, eine Bandana um die Stirn gewickelt und trug eine ärmellose Jeansjacke.
Die Stickerei auf dem Rücken der Jacke war mir ins Auge gefallen.
Ich starrte auf einen zweiköpfigen Löwen mit einem Schlangenschwanz.
Südlich von der Market Street, in einer heruntergekommenen Gegend der Stadt mit vielen Lagerhäusern, schlich ein Mann in einer grünen Armeejacke im Schatten der Mauern entlang. Der Mörder.
Um diese Zeit, nachts, und in dieser verkommenen Gegend war niemand außer ein paar Pennern da, die um ein Feuerchen in einer Mülltonne hockten. Verlassene Lagerhäuser, kleine Buden und Läden, deren Leuchtschilder flackerten: SOFORT BAR FÜR SCHECKS… METALLBEARBEITUNG… EARL KING, KAUTIONEN, DER MANN, DEM SIE IN DER STADT AM MEISTEN VERTRAUEN.
Seine Blicke schweiften über die Straße zur Hausnummer 303 auf der Seventh hinüber, zu der halb verfallenen Pension, die er während der vergangenen drei Wochen sorgfältig ausspioniert hatte. Die Hälfte der Zimmer stand leer, die andere diente als Ruhestätte für Obdachlose, die nirgendwo anders hingehen konnten.
Er spuckte auf einen Müllhaufen auf der Straße, warf eine schwarze Adidas-Sporttasche über die Schulter, bog um die Ecke und ging weiter in Richtung Sixth und Townsend. Er überquerte die schmutzige Straße vor einem mit Brettern vernagelten Lagerhaus, an dem nur ein verkratztes Schild hing: AGUELLO’S… COMIDAS ESPANOL.
Der Mörder vergewisserte sich, dass er allein war, ehe er die Metalltür aufschob, von der die Farbe abblätterte. Dann ging er hinein. Sein Herz schlug ziemlich schnell. Tatsache war, dass er nach diesem Gefühl süchtig war.
Fauliger Gestank drang ihm in die Nase. Vor einem Notausgang lagen alte Zeitungen und ölverschmierte Kartons. Er drückte die Tür auf und nahm die Treppe, wobei er hoffte, niemandem von diesem obdachlosen Abschaum zu begegnen, der in diesen Lagerhallen nächtigte.
Er ging bis in den vierten Stock, dann schnell zum Ende des Korridors. Er öffnete eine Gittertür und trat auf die Feuerleiter hinaus. Von hier aus erreichte man problemlos das Dach.
Dort oben versanken die tristen Straßen, man sah nur die leuchtende Silhouette der Stadt. Er befand sich im Schatten der Bay Bridge, die über ihm wie ein riesiges Schiff aufragte. Er legte die schwarze Sporttasche neben den Luftschacht der Klimaanlage, öffnete den Reißverschluss und holte vorsichtig die Teile eines PSG-1-Präzisionsgewehrs heraus.
Bei der Kirche brauchte ich ein Maximum an flächendeckendem Beschuss. Hier habe ich nur einen Schuss.
Verkehr dröhnte über ihm über die Bay Bridge. Er schraubte den langen Lauf auf den Schaft und sicherte ihn. Für ihn war der Umgang mit Waffen so selbstverständlich wie der mit Messer und Gabel. Er konnte es im Schlaf.
Dann befestigte er das Infrarot-Zielfernrohr. Er schaute hindurch und sah bernsteinfarbene Schemen.
Er war so viel klüger als sie. Während sie nach weißen Vans und dämlichen Symbolen suchten, saß er hier oben und machte sich daran, die Katze aus dem Sack zu lassen. Heute Abend würden sie endlich kapieren.
Sein Herzschlag wurde langsamer, als er über die Straße auf die Rückseite der Pension mit der Nummer 303 schaute. Im dritten Stock war ein Zimmer schwach erleuchtet.
Das war’s. Der Moment der Wahrheit.
Er verlangsamte den Atemrhythmus und leckte sich die trockenen Lippen. Er zielte auf das Bild in seinem Kopf, das er im Geiste schon so lange vor sich sah. Der Anblick versetzte ihn in Hochstimmung.
Und dann, als alles stimmte, drückte er ab.
Klick…
Diesmal musste er die Tat nicht signieren. Sie würden es aufgrund des Schusses wissen. Und wegen des Ziels.
Morgen würde jeder Mensch in San Francisco seinen Namen kennen.
Chimäre.