KAPITEL 16

Jemand war im Zimmer. Als ich mich umdrehte, stand mein Engel schweigend in der Zimmerecke neben der Kommode. Sein Gesichtsausdruck war seltsam, als ob er mich zum ersten Mal sehen würde.
»Was ist?«, fragte ich leise.
»Für mich hat noch nie jemand gebetet.«
Ich streckte die Arme aus, er kam herüber und setzte sich zu mir.
»Ich hab immer deine Gebete gehört. Du hast gebetet, dass ich zu dir komme, wenn du schlecht geträumt hattest. Ich habe sogar mitbekommen, wie du dafür gebetet hast, dass sich ein perfekter, selbstloser, wunderbarer Traummann in dich verliebt. Aber für mich hast du noch nie gebetet.«
Meine Gedanken schwirrten. »Vielleicht war es an der Zeit, das mal zu tun.«
»Warum?«, fragte er.
»Du hast gesagt, dass Schutzengel verwundbar werden, wenn sie ihren Menschen beschützen. Ich mache alles schlimmer.«
»Schlag dir das ganz schnell wieder aus dem Kopf, Teagan. Uns wird nichts geschehen. Alles wird gut.«
Er klang gleichzeitig beruhigend und trotzig, als ob solche Probleme der Normalfall wären. Nichtsdestotrotz hatte ich ihn direkt in Hadrians Schusslinie gebracht, was alles andere als ein gutes Gefühl war.
Wortlos wischte er sanft meine Tränen weg. Ich beruhigte mich und schlief ein.
Als ich wieder wach wurde, war er weg, und wie ein heftiger Schlag traf mich der Gedanke an Claire. Und an meinen Traum. An meine Mutter, die mich mitten in der Nacht aufweckte und mir eine furchtbare Nachricht überbrachte, von der ich irgendwie schon wusste. Claire war tot. Nicht raus aus meinem Leben, weil sie sauer auf mich war. Nicht weg, weil sie immer noch im Wald war, wo ich sie zurückgelassen hatte.
Sie war fort.
Tot.
Irgendwie akzeptierte ich das, ohne es zu begreifen.
Ich griff zum Telefon. Wie erwartet war die Mailbox leer. In dieser Leere lag die schreckliche Wahrheit. Ich war versucht, in meinen E-Mails nachzusehen, aber Claire schickte mir nie Mails. Ich wollte aus dem Fenster gucken und sie unten im Auto auf mich warten sehen.
Ich wollte glauben, dass alles wie immer war.
Claire, die ihr Make-up im Spiegel überprüfte und mit schiefer Stimme zur Musik mitsang.
Claire, die den neusten Klatsch über irgendwen verbreitete, egal wen, Klatsch war immer gut, nur – nichts.
Ich merkte, dass ich zusammensackte, aber fühlte nicht, wie ich auf dem Boden aufkam. Meine Wangen waren nass. Wäre ich auch tot, wenn Garreth mich nicht weggeholt hätte? Ging es darum? Es schien alles so sinnlos, egal, wie man es betrachtete. Also hörte ich auf, es zu betrachten. Es tat zu weh.
Ich band mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und sah mich ausdruckslos in den Spiegel starren. Der Geruch von Speck waberte mir entgegen, als ich nach unten ging.
Meine Mutter stand am Herd und machte Frühstück. Sie wusste, dass ich keinen Bissen essen würde, aber als gute Mutter hielt sie das nicht davon ab, ihren Pflichten nachzukommen. Schweigend setzte ich mich an den Tisch und schnippte mit dem Finger gegen die aufgerollten Ecken der Zeitung.
Sie warf mir einen mütterlich-besorgten Blick zu und kümmerte sich weiter um den Speck. »Ich bin froh, dass du geschlafen hast. Das tut dir gut.« Sie stellte einen Teller mit gebratenem Speck vor mich hin, den ich nur anstarrte.
»Wenn Garreth nicht aufgetaucht wäre und mich nach Hause gebracht hätte, wäre ich … vielleicht auch …« Sie sah mich mit sanften Augen an, die sich mit Tränen füllten. Ich brauchte nichts weiter zu sagen.
»Garreth. Ein ungewöhnlicher Name. Ich würde mich gerne bei ihm dafür bedanken, dass er dich heil nach Hause gebracht hat. Man könnte fast glauben, du hast einen Schutzengel.« Sie wandte sich wieder dem in der Pfanne blubbernden Speck zu. Ich wurde rot.
Wenn sie wüsste.
Ich hatte immer angenommen, sie würde mich beschützen wollen, aber zu meiner Überraschung ging alles ganz leicht. Unwillkürlich lächelte ich bei der Vorstellung, dass sie Garreth kennenlernen und mögen würde, aber das Lächeln war schnell wieder verschwunden.
»Claires Freund ist anscheinend völlig am Ende«, sagte sie vorsichtig. »Er hat der Polizei erzählt, dass er sie noch aufhalten wollte. Ich verstehe nicht, wie ein paar von den Jugendlichen völlig unbemerkt aufs Dach klettern konnten.«
»Dach?«
Mom setzte sich mir gegenüber hin und schob mir den unberührten Teller hin, um mich zum Essen zu bewegen.
»Das Gebäude ist halb verfallen und hätte vor Jahren abgesperrt werden sollen, aber das hat die Jugendlichen noch nie ferngehalten.« Sie griff nach meiner Hand. »Claire ist abgerutscht und vom Dach gefallen. So hat es jedenfalls Mrs Meyers letzte Nacht erzählt. Ich wollte dir die Einzelheiten ersparen, und du hast nicht gefragt, da habe ich den Mund gehalten.«
Sie machte sich über ihre Speckportion her, ich stocherte in meiner rum. Einerseits war ich froh, dass sie nichts beschönigte. Ich wollte Bescheid wissen. Ich wollte wissen, womit ich zu rechnen hatte, sollte Hadrian tatsächlich seine Finger im Spiel gehabt haben. Ich biss ein kleines Stück Speck ab und zerkrümelte den Rest mit den Fingern. Die Stücke rieselten auf den fettigen Teller hinab wie ockerfarbenes Konfetti.
Mom begann leise den Tisch abzuräumen, dabei beugte sie sich zu mir hinunter und gab mir einen zärtlichen Kuss. Wahrscheinlich war das alles für sie genauso schwer. Noch jemand für immer verschwunden, der uns nahestand. Weg. Einfach so. Ich sah meine Mutter an und hätte wohl irgendwas sagen sollen, aber ich fand keine Worte. Sie wandte sich der Spüle zu und hielt sich an der alltäglichen Routine fest. Die letzte Nacht lief wieder und wieder vor meinem inneren Auge ab. Was hätte ich anders machen können?
Ich seufzte tief und ließ den Kopf in die Hände sinken, dabei fiel mir auf der Zeitung das Datum auf. Es war Sonntag. Noch vier Tage mit Garreth. In mir brodelte es. Und zwar so sehr, dass ich langsam die Kontrolle verlor. Es tat mir weh, dass ich nicht mal richtig um Claire trauern konnte. Eigentlich hätte ich aus Trauer um meine beste Freundin hysterisch weinen müssen. Acht Jahre Freundschaft. Weg. Und Hass füllte die Lücke.
Mein Kopf schoss ruckartig nach oben. Wieder die Zahl acht. Claire und ich hatten uns in der dritten Klasse kennengelernt. Damals war sie acht, ich knapp neun. Acht Jahre später ist sie tot, und ich liebe einen Engel und versuche, die Menschheit zu retten. Acht. Ein Oktagramm hat acht Spitzen. Garreths Stern. Er darf acht Tage zusammen mit mir verbringen. Als Mensch. Claires Leben war vorbei. Wenn ein Leben zu Ende geht, stirbt eine Inkarnation. Die Spitze des Richterspruchs. Acht Leben. In meinem Kopf drehte sich alles und ließ sich nicht aufhalten. Es hatte alles so sein sollen. Letzte Nacht. Es hatte genau so …
Die Küche bewegte sich. Dann kippte sie. Meine Mutter drehte sich um die eigene Achse und rief meinen Namen. Die Bratpfanne flog plötzlich durch die Luft und verteilte überall Fett- und Seifenspritzer. Als mein Kopf auf den Boden knallte, wurde alles schwarz.
Meine Mutter klopfte sacht an die Tür. »Teagan? Bist du fertig?«
Ich strich meinen Rock glatt und starrte das Gesicht des Mädchens vor mir im Spiegel an. Etwas war anders an ihr, vielleicht die Augen. Ich beugte mich vor, um tiefer in die im Spiegel gefangenen grünen Augen zu schauen. Nein, sie war da.
Besser auf Nummer sicher gehen.
»Ja, Mom. Ich bin so weit.«
Ich öffnete die Tür und sah das warme Lächeln meiner Mutter. Unwillkürlich lächelte ich zurück.
»Du siehst hübsch aus. Was macht dein Kopf? Das hat ganz schön gerummst, als du gefallen bist. Dein Kopf hat nur knapp die Tischkante verfehlt.«
Ich betastete meinen Hinterkopf und zuckte zusammen. »Noch wund, aber alles in Ordnung.«
»Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil du so lange geschlafen hast, aber vermutlich ist das normal. Du hast eine schlimme Nacht hinter dir. Nimm lieber noch ein Aspirin. In ein paar Minuten fahren wir zur Kirche. Dir geht’s auch wirklich gut?«
Ich nickte, sie lächelte mir wieder zu, diesmal etwas angespannter. Dann drehte sie sich um und ging auf leise klickenden Absätzen die Treppe hinunter. Das Haus roch immer noch nach gebratenem Speck. Der Geruch brachte mir den Morgen wieder in Erinnerung. Auf einmal wollte ich nur noch raus an die frische Luft, weg von dem Geruch, der mir den Magen umzudrehen drohte.
Als wir auf dem Weg zur Kirche im Auto saßen, klarte mein Kopf allmählich auf. Das Hämmern ließ nach, denken wurde wieder möglich. Dankenswerterweise sah meine Mutter davon ab, die kurze Autofahrt mit unsinnigem Smalltalk zu überbrücken. Ich dachte an Claire, aber auf eine betäubte, distanzierte Art, was mich zugleich erleichterte und entsetzte. Alle möglichen Fragen kamen mir in den Sinn, was sollte ich zu ihren Eltern sagen, oder ging es, gar nichts zu sagen? Würde Ryan da sein? Würden Brynn und ihre Anhängsel es wagen, dort aufzutauchen?
Heute war die Trauerfeier. Morgen folgte dann die Leichenschau, am Tag danach die Beerdigung. In meinem Kopf ging alles drunter und drüber, die Gedanken verschnürten sich zu einem riesigen Knoten. Die Verantwortung lag schwer auf meinen Schultern, so viel hing von mir ab, dass ich das Gefühl hatte, eigentlich wäre ich besser woanders.
Als wir in der Nähe der Kirche um eine scharfe Kurve fuhren, bemerkte ich im Seitenspiegel einen grauen Jeep. Er lag zwei Autos hinter uns, konnte aber mit dem eigenwilligen Fahrstil meiner Mutter mühelos mithalten. Ich lächelte.
Die Kirche war alt und hatte Holzbänke, die durch jahrelanges Sitzen glatt poliert waren und unsere Hinterteile taub werden ließen. Die Kirche strömte einen alten, tröstlichen Geruch aus, den ich nie ganz benennen konnte, den ich aber seit meiner Kindheit jeden Sonntag eingeatmet hatte. Manchmal roch es nach Weihrauch, besonders an Feiertagen, aber das ließ sich in keinster Weise mit Garreths verführerischem Duft vergleichen. Ich schloss die Augen, um mich besser an den Geruch seiner Haut erinnern zu können. Dann öffnete ich die Augen und sah mich in der Hoffnung nach ihm um, ihn irgendwo stehen zu sehen, aber die Kirche war zu voll.
Menschen drängten herein und suchten sich Plätze auf den Kirchenbänken. Ich wollte ihre unbehaglichen Blicke vermeiden und starrte unverwandt zu Boden. Trotzdem spürte ich, dass ich beobachtet wurde, und hörte das Flüstern von Claires Verwandten, die auf mich zeigten. Die Sonne ging langsam unter und tauchte alles in ein warmes orangefarbenes und lila Licht, den Raum, die Nasen der Leute in der vierten Reihe, das kleine Kabinett mit der Hostie neben dem Altar.
Die ersten fünf Minuten der Predigt bekam ich noch mit, dann gingen meine Gedanken wie immer ihre eigenen Wege. Diesmal blendete ich die Worte des Pfarrers allerdings geradezu bewusst aus. Er hatte keine Ahnung, wie Claire gewesen war, ich fand das unerträglich. Meine Augen suchten den Raum ab, ich erwiderte das Lächeln einer Frau in einem violetten Kostüm.
Was würde wohl passieren, wenn ich nach vorne zum Altar gehen und allen erzählen würde, wie Claire gestern Nacht gewesen war?
Hey, Leute. Claire hat mich zu einer wilden Party geschleppt, ihr hättet ihre weißen Augen sehen sollen. Sie hat sogar gefälschte Ausweise besorgt. Was soll ich sagen, sie hat die letzten Momente ihres Lebens mit wunderbaren, liebevollen Freunden verbracht. Mit mir? Ach was. Ich habe sie im Stich gelassen und bin mit meinem Freund abgehauen, der übrigens Flügel hat und mir hilft, den teuflischen Plan eines bösen Engels gegen die Menschen zu vereiteln. Wenn ihr also glaubt, eines Tages in den Himmel zu kommen, dann seid lieber nicht so sicher, weil unsere Zukunft in meinen Händen liegt!
Vielleicht war es doch klüger, dem Pfarrer die Bühne zu überlassen.
Ich wäre auf dem Weg in die Klapsmühle, bevor meine Mutter noch erklären könnte, dass ich am Morgen mit dem Kopf aufgeknallt war oder warum ich nach gebratenem Speck rieche.
Die tief stehende Sonne hatte die Gesichter in den Glasfenstern verdunkelt, sodass nur noch die Umrisse zu sehen waren. Neugierig betrachtete ich die leeren Ovale.
Merkwürdigerweise waren die Roben und Gewänder noch zu sehen, aber die Gesichter verschwunden, sie sahen hohl und gruselig aus.
Wie aufs Stichwort begann es draußen zu regnen, was die gedämpfte Atmosphäre in der Kirche noch verstärkte. Fasziniert sah ich den an den Fenstern herablaufenden Tropfen zu, die die Farben aus dem Glas wuschen, alles grau aussehen ließen und die gesichterlosen Konturen verwischten, von denen ich meine Augen nicht lassen konnte.
Besonders eine Gestalt hielt mein Interesse gefangen. Praktischerweise befand sie sich direkt über unserer Kirchenbank, was den unerwünschten Blickkontakt mit anderen Anwesenden vermied. Das auf Glas gemalte Abbild verschwand nicht wie die anderen im Regenschleier. Es zeigte einen wunderschönen Engel mit ausgestreckten weißen Flügeln, der schützend über meinem Platz zu schweben schien. Zuerst dachte ich an meinen Engel und war sicher, dass das etwas zu bedeuten hatte. Aber dann merkte ich, dass die Gestalt ein weibliches Gesicht hatte. Das war nicht Garreth. Das war ich.
In dem Moment knuffte mich meine Mutter in die Seite und zeigte auf das Bild. »Guck mal, Teagan, der Engel da sieht genauso aus wie du. Ist das nicht merkwürdig?«
Da hatte sie recht. Meine Mutter hörte aufmerksam dem Pfarrer zu und senkte dann den Kopf zum Gebet, aber meine Augen blieben dort oben haften. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Glasengel abwenden. Der Regen war stärker geworden und verdunkelte das Glas. Ein vorbeifahrendes Auto unterbrach den Fluss meiner Gedanken. Die Rücklichter ließen den Engel rot aufglühen, was außer mir niemand zu bemerken schien. Ich sah mich um. Alle außer mir hatten die Köpfe gesenkt. Ich wandte den Blick zurück zum Fenster und erschauerte, als ich sah, dass der rote Schein auch die Regentropfen aufleuchten ließ, und sie wie blutige Tränen über die Wangen des Engels liefen.