KAPITEL 7
Langsam öffnete ich die Augen und sah in das Sonnenlicht, das seine Strahlen in verschiedenen Längen und Mustern durch die Vorhänge schickte. Das helle Licht strich über meine Wangen und Augenlider und blendete mich. Einen Moment lang blieb ich noch in dem wunderbarsten aller Träume versunken, in dem warmen Licht, das Garreth ausstrahlte.
Mir taten alle Knochen weh, wahrscheinlich wegen der verqueren Stellung, in der ich vor meinem Computer eingeschlafen war. Garreth hatte mir eine Erklärung versprochen. Das wollte ich aber auch hoffen, denn mein eigener Verstand konnte mir nicht erklären, was da am frühen Morgen passiert war. Ich wickelte mich aus der warmen Decke und stand auf. Geistesabwesend zog ich eine abgewetzte Jeans an und fand im Schrank ein sauberes, nicht allzu verkrumpeltes T-Shirt. Während ich mir mit den Fingern durch die Haare kämmte und sie zu einem Pferdeschwanz zusammenband, grübelte ich über die vergangene Nacht nach.
Meine Mutter hatte diesen Samstag Dienst in der Bibliothek. Ich ging runter in die Küche und fand auf dem Tisch einen Zettel von ihr neben einem Stapel Gutscheine. Ihre in der Eile krakelige Schrift teilte mir mit, dass sie heute wieder lange arbeiten musste, und fragte, ob ich mit Pizza zum Abendessen einverstanden wäre. Anscheinend war sie zufrieden mit der blitzblanken Küche und wollte vermeiden, dass ich erneut alles einsaute.
Ich setzte mich an den Tisch und spielte mit den Coupons herum. Mein Blick landete wieder und wieder auf der tickenden Uhr über der Spüle. Wann würde ich Garreth endlich wiedersehen? Hoffentlich hatte der nächtliche Besuch tatsächlich stattgefunden!
Die Qual der Warterei musste ein Ende haben. Ich ging nach oben, um zu duschen und mich noch mal umzuziehen. Die Schminksachen meiner Mutter kamen auch wieder zum Einsatz. Seit ich wusste, was für eine Wirkung Make-up auf andere hatte, war die Verlockung groß. Ich fühlte mich sauber und wach und zu allen Schandtaten bereit.
Schon wieder machten sich meine Gedanken selbstständig und trieben zurück zu dem einen Thema. Wie aufs Stichwort klingelte es an der Haustür. Garreth stand lächelnd davor, und mein Herz klopfte ein überlautes »Hallo«.
»Wie ich sehe, bist du bereit.« Sein Grinsen reichte bis zu den Augenwinkeln.
»Warum auch nicht? Du wolltest doch heute ein Versprechen einlösen«, sagte ich leise. Die letzte Nacht war also kein Traum gewesen!
Er lächelte wieder, nahm meine Hand und ging mit mir zum Auto. Zum Glück verdeckten meine Rippen mein Herzflattern. Ich hatte keine Ahnung, wo er mit mir hinwollte oder welche Erklärungen er meinem armen Herz und meiner Seele zumuten würde. Aber ich vertraute ihm.
Wir fuhren in einvernehmlichem Schweigen, gelegentlich unterbrochen von Fragen nach den kleinen Dingen im Leben des anderen: Lieblingsfarbe (seine weiß, meine braun), Lieblingsbücher, -filme, -musik und so weiter. Er hatte eine riesige CD-Sammlung und fast den gleichen Geschmack wie ich. Das Gespräch blieb bei Alltagskram, kein Wort fiel über die Ereignisse der letzten Nacht. Vielleicht war es ja doch ein Traum gewesen? Ein sehr realer Traum. Aber ein Blick auf Garreth und ich wusste, dass alles so gewesen war. Das bestätigte schon allein die Tatsache, dass er mich abgeholt hatte.
Wir waren jetzt eine Meile weit aus der Stadt raus, an der Straße standen nur noch vereinzelt Häuser. Endlich fuhr Garreth langsamer und bog links in einen schmalen Weg ein, der mir noch nie aufgefallen war. Ich bekam schon wieder schweißnasse Hände und sah das Abbild von Schönheit neben mir verstohlen an. Wie war es möglich, dass ich mein ganzes Leben hier verbracht und keinen blassen Schimmer hatte, wo wir gerade hinfuhren? Leicht panisch fiel mir auf, dass das Auto kein Navi hatte. Der Weg wurde schmaler, wir drangen immer tiefer ins Dickicht ein, bis um uns herum nur noch Grün war.
Eben noch waren wir im hellen Sonnenlicht gefahren, jetzt herrschte graues Dämmerlicht, als ob es Nacht würde. Der Wald schloss sich immer enger um uns. Ich blickte durch das offene Dach des Jeeps nach oben und erwischte gerade noch einen letzten Rest Sonne, bevor die dichten Äste der Bäume sie auslöschten. Wir waren in einer anderen Welt.
Auf einer Lichtung hielt Garreth an und stieg aus. Als er sich zu mir umdrehte und mir seine Hand entgegenstreckte, wirkte er ein bisschen nervös. Der weiche Waldboden knirschte unter meinen Turnschuhen, und die Tür schloss sich mit einem leisen Echo. Mir stand der Mund offen. Wir waren in einem verzauberten Märchenwald gelandet, aus der Zeit gefallen.
»Das ist ja unglaublich.« Ich starrte die üppig wuchernde Umgebung an.
»Das ist auf dieser Welt mein Lieblingsort«, sagte Garreth lächelnd.
Die dichten Bäume verschluckten die Geräusche von uns Eindringlingen und verbargen unsere Anwesenheit unter einer Decke aus Kiefern und feuchter Erde. Die Sonne bahnte sich einen Weg durch ineinander verwachsenes Eichenlaub und Schierling. Ihr Licht wand sich zwischen den schweren Ästen hindurch.
Garreth führte mich weiter. Er nahm meinen Arm, vorsichtig suchten wir uns einen Weg durch ein Labyrinth aus Gebüsch und Zweigen, stiegen über knorrige Wurzeln, die sich aus der Erde wanden und den weichen Mulchteppich bis zum Äußersten dehnten.
Als sich meine Augen an die grüne Höhle gewöhnt hatten, blickte ich mich genauer um. Was ich sah, war atemberaubend und fremdartig.
»Wo gehen wir hin?«, fragte ich ein wenig zögernd.
»Du wirst schon sehen. Wir sind fast da.«
Hin und wieder knackte im Dickicht ein Zweig. Ich bekam jedes Mal einen Schreck, aber Garreth ließ meine Hand nicht los.
Als ob der Wald nicht schon beeindruckend genug war, stand auf einmal eine wunderschöne kleine Kapelle aus Stein vor uns. Das quadratische Gebäude sah aus wie ein Mini-1-Zimmer-Schloss. An drei Seiten war jeweils ein gotisches Glasfenster eingelassen, in der vierten Wand hing eine oben abgerundete, schwere alte Holztür. Grob in den grauen Stein über der Tür eingemeißelt stand: Saint Ann.
»Kommst du?« Garreths Stimme schreckte mich auf. Er wartete oben auf der Treppe am Eingang, die Hand auf den abgewetzten, matt glänzenden Türknauf gelegt.
»Ist das denn sicher?«, fragte ich zaudernd. Meine Stimme klang fremd, hier in der ungestörten Stille des Waldes. »Ich meine, besteht Einsturzgefahr oder so?«
»Heutzutage wird so nicht mehr gebaut. Sie sieht vielleicht nicht so aus, aber sie ist absolut solide.«
Er streckte die Hand aus, um mir die Stufen hochzuhelfen. Seine blauen Augen leuchteten, als wäre er der Erbauer der kleinen Kapelle und würde jetzt darauf brennen, mir das Wunder hinter der Tür präsentieren zu können. Mir blieb nichts anderes übrig, als diesen Augen zu vertrauen. Vorsichtig kletterte ich hinauf. Die dicke Tür öffnete sich, das alte Holz hing nur noch lose an den verwitterten Scharnieren. Sie schrammte über den Boden, und wir traten ein.
Ich ging durch den kleinen Raum und sah mir alles an: den in den Ecken wuchernden wilden Farn, die zerschmolzenen Kerzenstummel, die massiven, rostzerfressenen Eisenkronleuchter. Wunderschöne Splitter von bemaltem Glas aus längst vergangenen Fenstern knirschten unter meinen Füßen. Trotz des desolaten Zustands war es immer noch atemberaubend.
»Wie findest du’s?«, fragte Garreth hinter mir mit weicher Stimme.
Ich drehte mich zu ihm um und bemerkte, wie hell es hier war, verglichen mit dem schummrigen grünen Wald draußen. Ein Blick nach oben zeigte, dass das Dach fehlte, sodass ein heller, goldener Lichtstrahl die winzige Kapelle durchfluten konnte.
»Ich finde es großartig.«
»Früher stand hier mal ein Turm, aber der wurde zerstört …« Garreths Stimme wurde leiser.
Als ich den Blick wieder senkte und darauf wartete, dass er weitersprach, zog sich mein Herz zusammen. Nicht weil der schönste Junge der Welt hier vor mir stand, sondern weil der Lichtstrahl direkt in mein Herz und meine Sinne eindrang – und mir etwas zeigte, das meine Augen bis jetzt nicht hatten sehen können.