Kapitel 9

Als er gegen dreiviertel Neun im Büro eintraf, waren alle schon da. Martin sah aus, als ob er die ganze Nacht hier gewesen wäre. „Oh, Herr Rosen… wohl gestern „etwas“ spät geworden. Und deine Sonnenbrille verbirgt deinen Kater, oder was?“ Martins Worte klangen ironisch. Ohne Antwort nahm Johannes die Sonnenbrille ab, stellte seinen Venti Cafè Americano mit drei extra Shots Espresso auf den Tisch, zog die Jacke aus und setzte sich. Noch ehe er den Becher wieder nehmen konnte, hatte sich Sabine ihn gegriffen und trank einen kräftigen Schluck. „Wow, der weckt ja Tote auf! Mann du musst es aber heute nötig haben.“ Kommentarlos nahm er ihr den Becher ab. „Habt ihr schon was Neues?“ fragte er in die Runde um von sich abzulenken. Weiß zeigte ihm die Liste der Gewässer vom Vortag. „Von Zwölf haben wir die Proben, der Doc ist schon dran, die restlichen holen wir nachher. Wenn du mich fragst….“ Martin unterbrach ihn „Eins nach dem andern. Wir sammeln jetzt erst mal weitere Fakten, bevor wir uns wieder in eine Sackgasse verrennen. Ich hatte heute Morgen kurz vor sieben einen Weckruf von Michaelis. Wenn wir nicht bald was haben, sägt man uns ab. Was das heißt, brauch ich wohl niemandem zu sagen.“ Johannes rieb sich die geschwollenen Augen, „Und wer soll es übernehmen? Wen haben wir denn hier, der das hinkriegen könnte?“ Martin schaute in Johannes Richtung, „Meinzer aus Freiberg hat seine Hilfe angeboten.“ Rosen stand auf und verließ den Raum. Auf der Toilette drehte er den Wasserhahn auf und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er schaute in den Spiegel und griff sich an die kleine Narbe unter seinem linken Rippenbogen. Die Kugel war ein glatter Durchschuss gewesen. Weder die Bauchspeicheldrüse noch die Niere hatten was abbekommen. Die Narbe schmerzte nicht mehr, aber was damit verbunden war, schmerzte immer noch.

„Meinzer? War der nicht früher hier?“ fragte Sabine. „Nicht nur das. Johannes und er haben früher zusammen gearbeitet. Großer Fall damals mit den Bulgaren. Gab eine Schießerei und Rosen hat sich ne Kugel eingefangen. Das weiß ich aus den Berichten. Ich war damals noch nicht hier. Kurze Zeit später ging Meinzer nach Freiberg. Johannes und Meinzer sind seitdem wie Feinde. Ich würde ihn nicht weiter drauf ansprechen. Wie er auf das Thema Meinzer reagiert, habt ihr gesehen.“ „Meinzer hat damals bei der Schießerei drei der Täter kampfunfähig gemacht. Den vierten hat er drei Tage später verhaftet. Er wurde damals für `nen Dirty Harry gehal…“ „Einen Scheiß hat er!“ Rosen stand schreiend in der Tür und hatte Sascha mitten im Satz abgeschnitten. „Es war mein Fall, aufgespürt hab ich die Jungs und der Einsatz lief unter meiner Leitung. Und der Herr Meinzer hat nur einen von den dreien erwischt, einen hatte ich schon angeschossen, als mich die Kugel erwischte. Dem zweiten hab ich mit `ner Kugel den Oberschenkelknochen zertrümmert. Meinzer hat dem dritten beim Wegrennen in den Arsch geschossen. Aber er ist ja der Held!“ Bunk und Weiß starrten Rosen an, so in Rage hatten sie ihn noch nie erlebt. Sabine war über diese Reaktion geschockt. „Lass gut sein, bringt doch nichts. Er hat auf deine Kosten Karriere gemacht.“

 

Martin schaute sich um und bemerkte, dass alle wie angewurzelt dastanden und ergriff das Wort. „Und was wäre, wenn du nun in Freiberg wärst? Was würde aus Karlsburg werden ohne dich?“ Martin versuchte das Ganze ins Lächerliche zu ziehen. „Was wäre das ganze Nachtleben ohne Rosen und die vielen unglücklichen Frauen? Und was würde Martina sagen, wenn ich abends entspannt nach Hause käme, weil ich einen stinknormalen Kollegen habe, und nicht so nervös, weil mein Partner einen an der Klatsche hat? Rosen, du bist manchmal ein echter Idiot, aber du bist der beste Partner, den man sich im Team wünschen kann. Und du machst die besten Spätzle, die ich je gegessen habe!“ Obwohl Johannes innerlich noch kochte, musste er lachen „Schleimer! Sorry Leute, aber ich hasse es. Immer wird nur „die offizielle Version“ erzählt.“

„Du kannst kochen?“ Sabine nahm den Faden auf „Wann bringst du uns mal was mit, aus deiner kulinarischen Ecke, Herr Biolek.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an und klimperte mit den Augen. Johannes sah sie an und der Ärger war verschwunden. „Spätzle sind das einzige, was ich wirklich gut kann, also Vorsicht, sonst liegt das ganze Team mit Magenverstimmung flach.“ lachte er.

„So, nun sollten wir wieder an die Arbeit gehen.“, erinnerte Martin an die leidige Pflicht.

*

Gegen Mittag klingelte das Telefon. „Traub.“ Rosen und Schneider sahen Sabine an. „Hallo Olivier, hast du die Ergebnisse?“ Sie nickte und an ihrem Gesichtsausdruck konnten die Beiden sehen, dass es keinen Treffer gab. „Trotzdem danke. Sascha und Hans bringen dir noch die anderen Proben, sie sind noch unterwegs. Bis später.“ Sabine legte auf. „ Nichts.“ Sie ging zu der Karte und strich die Gewässer mit rotem Marker ab. „Vielleicht haben wir mit einem der Übrigen Glück. Ich brauch ne Kaffeepause und ein wenig frische Luft. Wer geht mit zu Starbucks in die Fußgängerzone?“ „Geht ruhig“, sagte Martin, der schon wieder in den Fallakten stöberte, „ich will da noch so einer Idee nachgehen.“ „Aber du fährst!“ rief Rosen und griff seine Jacke.

„ Es gibt nur drei Gründe, warum man so einen Schrotthaufen fährt: Schulden, ne überteuerte Wohnung oder man hat schlichtweg einen Schuss.“ lästerte Johannes lächelnd als sie in dem laut klappernden roten Polo von Sabine Richtung Innenstadt fuhren. „Er meint es nicht so, Bubi.“ liebevoll streichelte sie dabei das Armaturenbrett. „Mein Bubi hat mich noch nie im Stich gelassen. Das ist mein erstes Auto, vom eigenen Geld bezahlt und ich hab damals so was wie eine Ehe mit ihm geschlossen: bis das der Schrotthändler uns scheidet.“ Sie lächelte und Johannes sah sie lange von der Seite an. Sie hatte heute ihre braunen, schulterlangen gelockten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Von der Seite sah ihre Nase noch schöner aus. Er fand diese Stupsnase schön und die Falten, die sich beim Lächeln auf ihren Wangen bildeten, wirkten wie ein Magnet auf ihn. Sie sah zu ihm und blickte ihm direkt in die Augen. Ihre waren blaugrau und sie leuchteten geradezu. „Was starrst du so? Klingt das so verrückt?“ Ihr Blick richtete sich wieder auf die Straße. „Ganz und gar nicht, eben nur etwas abgedreht.“ Johannes sah ebenfalls nach vorn.

„Zwei Macchiato und zwei Sandwiches. Darf ich die werte Dame einladen? Vielleicht brauchst du dein Geld bald für ein neues Auto“ übertrieb er „Nein, ich zahle heute und du lädst mich mal zu dir zum Essen ein. Ich bin echt gespannt auf deine Spätzle.“ Erwiderte Sabine. Johannes war zu überrascht, um ihr darauf eine Antwort zu geben.

*

Als er unter der Dusche stand, gingen seine Gedanken zurück, zurück zu seinem ersten Mal, seinem ersten Opfer. Immer wieder durchlebte er alle Einzelheiten, seinen ersten Schritt zur vollkommenen Heilung. Es sah Ivanka immer als den Grundstein auf seinem Weg gegen alle Widrigkeiten. Bilder, Gefühle und alle Wahrnehmungen kehrten zurück. Er erinnerte sich genau.

Der Geruch damals war sehr stark. Es roch nach Eisen, brackigem Wasser, Urin und Kot. Doch über all dem schwebte ihr Geruch, er konnte ihn fast greifen. Mit geschlossenen Augen atmete er die „Genesung seiner selbst“ ein. Minutenlang tat er das. Die Schmerzen spürte er nicht. Er betrachtete Ivanka, wie sie so da lag, auf der Folie. Nass, blutig, alles schmutzig vom See und ihren Exkrementen. Diese Menschlichkeit. Im Moment ihres Todes hatten sich die Schließmuskeln entspannt und den Inhalt des Darms und der Blase frei gegeben. Er musste sie reinigen, den Schmutz und diesen Geruch abwaschen. Aus dem Garten holte er den Schlauchwagen, schloss den Schlauch an und begann den Dreck wegzuspülen. Ihre Kleider erwiesen sich als hartnäckig und so beschloss er, sie auszuziehen. Als er ihr das Unterhemd abstreifen wollte, betrachtete er ihren Kopf zum ersten Mal bewusst. Das Loch im Schädel sah aus, als wäre es mit blutigem Matsch gefüllt. Er musste würgen, doch er kämpfte gegen den Brechreiz. Er zog ihr das Hemd über den Kopf aus, welcher kurz darauf kraftlos in den Nacken fiel. Er sah in ihr Gesicht, das was vom Gesicht übrig war. Die linke Seite war nur noch ein Brei, das Auge war nicht mehr zu sehen, Knochensplitter des Schädels ragten aus den Fleischfetzen. Er blickte in ihr rechtes Auge. Es war geöffnet und er hatte das Gefühl sie starrte ihn an, vorwurfsvoll, ängstlich, überrascht. Dieser Blick, gefangen im Moment ihres Todes. Ruckartig ließ er sie los wand sich von ihr ab und übergab sich. „Eine heiße Dusche, das Unreine weg waschen“ dachte er. Er ging hoch ins Bad und putzte sich als erstes die Zähne, betrachtete sich im Spiegel. Seine Haare waren noch nass und Tropfen fielen ins Waschbecken. Es war als blickte ihn jemand anderes an. „Die Narbe verschwindet!“ wunderte er sich und tastete über seine linke Wange. Er glaubte zu spüren, dass die Narbe flacher geworden war, nicht mehr so schwulstig. Das gefiel ihm sehr und er begann zu grinsen, immer mehr. Es überkam ihn. Zuerst kamen nur einzelne Lacher, dann wurde es schneller und lauter. Lange stand er da und lachte einfach nur in den Spiegel, es klang schreiend und wahnsinnig zugleich. Irgendwann schwand die Euphorie. Er wurde leiser und als er nur noch gluckste spannte er seinen ganzen Körper wie einen Bogen. Die Muskeln und Adern traten hervor. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie so laut er konnte. Es kam aus seinem tiefsten Inneren, befreiend und wurde erst leiser als ihm der Atem ausging. Die geballten Fäuste nach oben gereckt schrie er „Ich soll nicht wieder gesund werden? Ich kann alles! Ich bin mächtiger als ihr, Scheißärzte! Ich nehme das Leben und heile…“ …Ich muss noch mehr in mir aufnehmen, aber erst diesen alten Geruch loswerden.“ Er klappte das Medizinschränkchen auf, nahm das Nasenspray heraus und sprühte es sich in seine Nasenlöcher. Dann putzte er sich mehrfach kräftig die Nase, bis er den „anderen“ Geruch nicht mehr wahrnehmen konnte. Er ging zum Schrank, zog sich einen Jogginganzug an und ging wieder in die Garage zurück. Die Kopfschmerzen setzten wieder ein und ihm wurde schwindelig. Als stünde er neben sich sah er, wie er zur Werkbank ging, seine Werkzeugkiste herunternahm und neben den nackten toten Körper abstellte. Er öffnete ihn und begann sich durch das Werkzeug zu wühlen. Für einen Moment hielt er einen Schraubendreher in der Hand, ließ ihn wieder los und wühlte weiter. Seine linke Hand ertastete das, wonach er gesucht hatte. Die Finger schlossen sich um den Kunststoff und er zog es heraus. Er nahm es in die rechte Hand und betrachtete es. Das Teppichmesser hatte er das letzte Mal benutzt, als er mit seiner Frau im Schlafzimmer neu tapeziert hatte. Mit dem Daumen schob er die Klinge heraus, immer weiter bis zum Anschlag. Er schloss die Augen, beugte sich über den kalten toten Körper und begann zu schnuppern. Sein Gesicht wanderte mit geschlossenen Augen mit nur wenigen Zentimetern Abstand über ihren Körper. „Wo war ihr Geruch am Stärksten? Wo ist das Elixier…“ Er hielt inne, sog die Luft tief über seine Nase ein und öffnete die Augen. Er befand sich direkt über ihrer rechten Achselhöhle. Er drückte ihren Arm nach oben, um näher an die Achsel heran zu kommen. Erneut sog er die Luft ein, nahm den Duft in sich auf. „Das ist es!“ dachte er voller Vorfreude, setzte die Klinge an und schnitt tief in das Fleisch. Ein ovales tiefes Loch war nun da, wo vorher ihre Achsel war. Er hielt das Fleisch an seine Nase und roch, schloss die Augen, seine Gedanken glitten hinfort. Bilder tanzten durch seinen Verstand, ließen ihn erschauern, die Lippen seines leicht geöffneten Munds bebten. Er hatte Ivanka, seine „Erste“ in sich eingesogen.

Fortsetzung folgt…