II

»My very first pistol was a cap and ball Colt

Shoot as fast as lightnin'  but it loads a mite slow

Loads a mite slow and I soon found out

It can get you into trouble but it can't get you out.«

 

Steve Earle >The Devil's Right Hand<

 

»Abwarten«, meinte Scuzzi, strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und leckte seinen Dreiblatt längs. »Werd erst mal wieder fit, alles Weitere muss man dann sehen.« Er brannte den Deckel runter, Augenblicke später verdunkelte Qualm die Zimmerdecke. »Bis jetzt bist du ja noch nicht mal vernehmungsfähig.«

Mein Blick blieb wieder mal, wie alle paar wachen Minuten, an den Sprühdüsen der Sprinkleranlage hängen. Voll im Blickwinkel, die Dinger. Ich betrachtete sie nicht ohne Sorge. Die Schwester würde wegen des Rauchs alleine schon durchdrehen, da war es nicht nötig, dass wir auch noch die halbe Station unter Wasser setzten. Mich eingeschlossen.

Scuzzi folgte meinem Blick, ging zum Fenster, riss beide Flügel auf und kam zurück an mein Bett.

Interessiert blieb er bei dem Tropf stehen, an dem ich hing.

»So'n Ding neben dem Fernsehsessel und man muss nur noch zum Kacken aufstehen«, fand er.

Ich deutete mit dem Kopf zum Nachttisch, auf dem die Pfanne wartete, und Scuzzi pfiff beifällig durch die Zähne.

Es hat etwas Tröstendes, Leute zu kennen, die einen selbst in solch einem Zustand noch zu beneiden verstehen.

»Soll ich dir 'n bisschen was da rein tun?«, fragte Scuzzi und klopfte mit der einen Hand gegen die hängende gläserne Flasche und mit der anderen seine zahlreichen Jackentaschen ab. »Irgendwas, das deinen Aufenthalt hier 'n bisschen ... interessanter ... macht?«

Ich schüttelte den Kopf. Unter bestimmten Umständen ist es sicherlich von Vorteil, einen Dealer zum besten Freund zu haben, doch mein allmählich Schritt für knirschenden Schritt zurückkehrendes Erinnerungsvermögen ließ im Moment keine wirkliche Langeweile und somit auch kein Bedürfnis nach intravenösen Additiven aufkommen.

»Mal ziehen?«, fragte er und hielt mir den Joint an die Lippen.

Ah, rauchen!

»Schade, dass wir nicht schwul sind«, bemerkte ich gepresst und blies mir einen Teppich aus Rauch auf den Bauch. »Dann könntest du mir jetzt wundervoll einen lutschen.«

»Ja, Pech«, fand Scuzzi mit Bedauern. »Andererseits erspart es uns beiden die Qualen der Eifersucht, sollten sie dich die nächsten fünfzehn Jahre wegsperren.«

Ich grunzte ihn an. Er sollte eigentlich wissen, was ich von dieser Art von Scherzen halte. Pflichtschuldig klopfte er sich dreimal gegen den Holzkopf.

»Was ist denn mit der Nachtschwester?«

»Stolz. Und strenggläubig, fürchte ich fast. Trägt ein Kopftuch, in Zivil.«

»Und die am Tag?«

»Blond. Und ein bisschen verkniffen, meine ich manchmal. Wäscht sich mit Kernseife oder so was.«

»Und ausgerechnet jetzt hat Mamma ihre Mädels alle in Urlaub geschickt«, bestätigte Scuzzi meine schlimmsten Befürchtungen. »Du weißt schon, bis sich die Behörden der Stadt wieder eingekriegt haben.«

Das konnte Monate dauern und brachte mich gedanklich zur Anreicherung meines Blutes mit schweren Zusätzen zurück.

»Irgendwas außer einer Fellatio, das ich noch für dich tun könnte?«

Mein Zimmernachbar stöhnte im Schlaf auf.

»Lins mal rüber und sag mir, wer das ist da nebenan.«

Scuzzi linste um die Stellwand herum und hustete röchelnd. Als er mich wieder ansah, war er eine Schattierung blasser um die Nase als gewöhnlich. Irritiert sah er von mir zu dem Joint in seinen Fingern und schnickte ihn kurz entschlossen aus dem Fenster.

»Und?«, fragte ich.

»Du wirst es nicht glauben«, stieß er hervor.

»Was glaubst du«, fragte ich in den Raum hinein:

»Werden sie uns einen letzten Wunsch gewähren?« Keine Reaktion.

Mandoney stöhnte, Tatters schnarchte, die Schlüssel hingen.

Ich fragte: »Was würdest du wählen?«

Nichts.

Ich versuchte es mit: »Stimmt es, was die Leute sich über dich erzählen?« (Alter Trick. Zieht immer.)

Schweigen.

Irgendwo krachte ein Schuss.

Tatters unterbrach sein Schnarchen, Mandoney sein Stöhnen, und in der entstandenen, wie ein Gong durch die Nacht hallenden Stille konnte man einen Wolf heulen hören.

Nichts, worauf ich in meiner Lage großen Einfluss hatte, all das, also fuhr ich fort: »Dass du einen Arsch hast wie 'ne Vierzig-Dollar-Kuh und einen Schnurrbart, auf den selbst der Sheriff neidisch ist?«

Mit einem Ruck verschwand eine der Wolldecken, und alles, was sich ein Mann nach zwei Monaten Zwangsarbeit, sechs Tagen Einöde und einem drei viertel Tag Haft erträumen kann, blitzte mich aus schwarzen Augen an. Die Knöpfe ihrer weißen Bluse ächzten mit jedem ihrer tiefen Atemzüge. Langsam strich sie sich mit beiden Händen durch das Haar, das glänzte wie nasse, schwarze Kiesel, und trat nahe heran an das Gitter.

Auch bei mir ächzten jetzt Knöpfe, und das, obwohl ich vergessen hatte, wie man Atem zieht.

Seufzend teilte sie ihre Lippen, die rot waren wie die Glut, wenn der Wind ins Feuer fährt, und schmiegte ihre Wange an den kalten Stahl, der uns trennte. Nicht ein Flaum auf ihrer Oberlippe. Sanft und stark zugleich rieben ihre Finger Wärme in die runden Eisenstangen, auf und ab und wieder auf . Bis sie sich mit einer plötzlichen Drehung von dem stählernen Vorhang löste. Den Kopf auf die Schulter gelegt, das Profil mir zugewandt, Lid gesenkt, Wimpern lang und geschwungen, dicht und schwarz wie Schmetterlingsraupen während der Kaktusblüte, machte sie ein paar träge, graziöse Schritte in Richtung ihrer Pritsche, und ich musste mich innerlich am Zügel reißen, um ihr nicht einfach wie in Trance hinterherzustolpern und mir am Gitter den Schädel einzurennen. In den Wäldern Montanas gibt es eine Wildkatzenart, die mit genau solchen Bewegungen über die höchsten Äste balanciert. Nur die Reithosen und -Stiefel müsste man sich wegdenken .

Ich war mitten dabei, mitten beim Wegdenken, da fuhr sie erneut herum und keine Sekunde später hing die verfluchte Wolldecke wieder an ihrem Platz.

Manchmal entstehen Ideen, Gedanken und Wörter in ein und demselben Moment.

Mühsam räusperte ich mir den trockenen Hals frei.

»Aisha«, sagte ich und packte den Stahl, wo sie ihn gerieben hatte, »wenn wir uns zusammen-, äh, -täten, wüsste ich einen Weg, uns beide hier herauszuholen.« Waren noch warm, die Stäbe. Heiß, beinahe.

Sie schnaubte.

»Komm zu mir ans Gitter und ich flüstere dir meinen Plan ins Ohr.«

Sie lachte. Es klang, wie wenn Golddollars kühl in einen Leinenbeutel rieseln.

Ich war drauf und dran, zu versuchen, mich quer durch die Gitterstäbe zu zwängen, doch dann sah ich an mir herunter. Vergiss es, dachte ich. Vielleicht später.

»Verrat mir eins, Fremder«, sagte sie unvermittelt in mein hitziges Grübeln hinein, ob mich ein mit Schluchzern durchsetztes Betteln wohl bei ihr weiterbrächte, »was um alles in der Welt hat dich ausgerechnet nach Buttercup verschlagen?«

Gute Frage das. Wirklich gute Frage.

»Ermittlungen«, antwortete ich ausweichend.

»Ermittlungen in eigener Sache.«

»Wollt ihr etwa warten«, fragte der Sheriff brüllend, »bis sie euer letztes Stück Vieh geraubt haben? Bis sie eure Frauen, eure Kinder, eure Hunde geschändet haben?«

Doch, definitiv etwas stärker als sonst ausgefallen, die neue Lieferung, befand Pancho, der die >Hunde< dem ungewohnt hohen Alkoholgehalt zuschrieb.

»Oder wollt ihr kämpfen wie Männer, in offener Schlacht, unbeugsam bis zum letzten Tropfen Blut?«

Deutete man das verlegene Murmeln, das Hängen der Köpfe und generelle Scharren der Füße richtig, schienen sich die meisten der Anwesenden fürs Warten entschieden zu haben. Bis auch der letzte Hund geschändet worden war.

»Männer!«, brüllte der Sheriff, feuerte einen Schuss in die Decke und nahm einen wilden Schluck aus der Pulle, »hört mir zu!«

Oh, ich wünschte, er würde das nicht immer machen, dachte Pancho, meinte das Geballer in die Saloondecke und erinnerte sich daran, wie schwierig es war, einen Handwerker aufs Dach zu kriegen, solange der Sheriff in der Stadt war.

»Die südländischen Horden stehen vor den Toren der Stadt und ich als euer Sheriff werde jetzt eine Bürgerwehr rekrutieren, mit der wir uns diesen bis an die Zähne bewaffneten Desperados todesmutig entgegenwerfen werden!«

Den >bis an die Zähne bewaffneten<-Part hätte er besser weggelassen, fand Pancho, der den ohnehin nicht besonders hohen Begeisterungslevel des Publikums weiter abflauen fühlte.

»Deshalb: Freiwillige vor!«

Zumindest mental konnte man die Majorität der Anwesenden einen Schritt nach hinten machen spüren.

»Ich habe gesagt: Freiwillige vor!«, brüllte der Sheriff und feuerte einen weiteren Schuss durchs Dach, sehr zu Panchos Verdruss.

Etwas wie eine allgemeine Bockigkeit machte sich breit.

»Ja, wollt ihr etwa dabei zusehen, wie die dreckigen Ganoven mit Gewalt verhindern, dass Recht und Gesetz in unserem Gemeinwesen Folge geleistet wird?«

Alle wussten, worauf der Sheriff anspielte, und aus dem zwar leisen, aber doch deutlich vernehmbaren zustimmenden Brummen ließ sich ableiten, dass dem genau so war: Wenn die dreckigen, bis an die Zähne bewaffneten Ganoven unbedingt und mit Gewalt verhindern wollten, dass Aisha Adango gehängt wurde, dann wäre es aller Wahrscheinlichkeit nach lustiger, ihnen dabei zuzusehen, als bei dem Versuch, sie aufzuhalten, über den Haufen geschossen zu werden.

»Na gut«, befand der Sheriff, der die Zeichen der Zeit erkannte, stellte die Flasche beiseite und griff hinter sich. »Ihr seid somit alle Freiwillige!«, dröhnte er, lud eine abgesägte Schrotflinte durch und feuerte ein Loch ins Dach, durch das man den Mond sehen konnte, »und ihr werdet alle hier und jetzt sofort vereidigt! Sprecht mir nach: Ich schwöre ...«

Starski wartete.

»Hm-hmhm«, kam es leise zurück. Sehr leise. Gefolgt von Stille. In die hinein der Sheriff mit entschlossenem Ratschen noch mal das Schrotgewehr durchlud und einhändig gehalten auf Hüfthöhe senkte, während er mit der freien Hand erneut die Flasche ansetzte, um seinen Bariton zu ölen.

»ICH SCHWÖRE!«, dröhnte er dann, dass der neue Spiegel hinter der Bar in schepperndes Klirren geriet.

Falls überhaupt möglich, fiel das antwortende >Hm-hmhm< noch bescheidener aus als vorher, und das, obwohl der Doppellauf des Schrotgewehres sein Bestes tat, jeden Einzelnen im Raum zum Ablegen des Eides zu ermutigen.

Und dann folgte das, was Pancho die ganze Zeit schon mit wachsender Entnervung erwartet hatte. Der Sheriff zog die Konsequenz.

»Okay, Leute«, sagte er mit erstaunlicher Ruhe, »ihr wollt es wohl nicht anders.« Damit fuhr er herum und der Doppellauf fuhr mit ihm und der Barkeeper fuhr zusammen. »Freund Pancho Escuzito«, dröhnte Sheriff Starski, dass man es bis auf die Straße hören konnte, »hat sich soeben bereit erklärt, jeden, und ich wiederhole jeden, der den Blechstern trägt, bis morgen früh mit freiem Alkohol zu versorgen!«

Von irgendwo in der Stadt war ein aufbrausendes Johlen zu hören, gefolgt von einer Kakophonie von Schüssen.

»Ich bin hergekommen«, erzählte ich zögernd, »um ein paar Ermittlungen zu führen und verschiedene ... Dinge ... zu erledigen. Das geht nur schlecht, solange ich im Gefängnis sitze.«

Ferner Jubel brandete durch die Nacht.

»Kann ich dir trauen?«, fragte sie und ihre Schritte kamen näher.

Ich musste mich räuspern, es ging nicht anders.

»Kommt drauf an, in welcher Hinsicht«, gab ich zu.

Ah, verdammt! Ich bin Frauen gegenüber ein lausiger Lügner, immer schon gewesen. Furchtbar.

Das Geräusch ihrer Schritte verstummte, und ich meinte, selbst durch die Wolldecken, sehen zu können, wie sie den Kopf in den Nacken warf.

»Mein Bruder wird mich befreien«, sagte sie abrupt. »Ich brauche dich nicht.«

»Dann sollte er sich besser beeilen, dein Bruder. Ich habe das Gefühl, der Sheriff beschleunigt gerade die Vollstreckung.«

Krach, flog die Türe auf und der Sheriff stürmte herein, Gewehr in der einen, Flasche in der anderen Hand.

»Scheiße«, schimpfte er und sah sich um. »Wo hab ich denn die Kiste mit den Blechsternen?«

Ungeduldig begann er, sein Büro zu durchforsten.

Mit einem Stöhnen erwachte Mandoney und richtete sich auf. Zuckend gab der Doktor erneute Lebenszeichen von sich, öffnete die Augen und tastete nach dem Schrotgewehr. Fluchte, als der Sheriff hastig seinen Fuß darauf stellte.

»Lass liegen, Tatters. Lass schön liegen. Bis ich wieder draußen bin. Dann zählst du langsam bis hundert, und dann darfst du das Gewehr wieder aufnehmen, okay?«

Der Doktor brummelte etwas Missmutiges, ließ aber von der Waffe ab.

Sheriff Starskis Augen fielen auf mich. Auf die Nachbarzelle. Er nahm einen wilden Schluck. Reichte die Flasche hinter sich an Mandoney weiter. Der Deputy warf einen kritischen Blick drauf.

»Wo ist denn das Etikett?«, wollte er wissen.

»Abgefallen«, antwortete der Sheriff mit der ganzen Nachlässigkeit von jemandem, der Wichtigeres um die Ohren und einen erheblichen Alkoholpegel dazwischen hat.

»Und wo die Steuerbanderole?«, wunderte sich Mandoney hartnäckig weiter.

»Auch abgefallen«, bellte Starski mit wachsender Ungeduld.

Dann zog er eine Holzkiste aus einem Wandschrank, öffnete den Deckel und frohlockte.

»Was im Moment viel wichtiger ist, ist Folgendes«, schrie er, schwankend. »Die Bürgerwehr steht! Die verdammten marodierenden Mexe können kommen! Wir lassen sie in die Stadt und dann lassen wir die Falle zuschnappen! Unser Köder hat funktioniert.«

Nebenan in der Zelle wurde es totenstill.

Der Doktor verzog bei diesem Gebrüll das Gesicht, griff sich an den Kopf, dann nach seinem Köfferchen. Holte eine Pillendose heraus, schraubte sie auf und Pillen stoben durch den ganzen Raum.

»Mandoney, bist du wieder fit?«

»Fit genug, Sheriff.«

»Dann lass den Gefangenen raus und gib ihm seinen Revolver wieder. Er ist für die Dauer der Nacht auf Bewährung entlassen und wird Freiwilliger der Bürgerwehr.«

Ach, dachte ich.

Immer noch auf dem Boden hockend, klaubte der Doc eine der Pillen auf und wollte sie sich in den Mund werfen. Sie zischte knapp an meinem Ohr vorbei.

»Tja«, sagte ich nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit, trat aus der Zelle, nahm meinen Sechsschüsser entgegen und schnackte die Trommel auf. Wedelte mit den Fingern nach Munition. »Wollen wir doch mal sehen«, sprach ich zum Raum im Allgemeinen und der nach wie vor verschlossenen Zellentrakthälfte im Besonderen, »wer hier wen nicht braucht. Was?«

Ein vernichtendes Schnauben drang an mein Ohr, und als ich den Kopf wandte, drang auch noch ein ebenfalls zersetzend gemeinter Blick an meine Augen.

Ich fasste mir an die Krempe und verabschiedete mich mit einem freundlichen Nicken.

»Sprich mir nach«, forderte der Sheriff und meinte mich, »ich schwöre

»Ich schwöre

»Okay, das reicht«, fand er, griff in die Holzkiste, förderte einen Blechstern zutage und heftete ihn mir an die Brust.

In meiner Eigenschaft als Milizionär werde ich den Mietstall bewachen, beschloss ich spontan.

»Doc, du bleibst hier und hältst die Stellung. Nein, lass liegen, lass schön liegen. Denk dran, erst bis hundert zählen. Sobald ich den Haufen endlich vereidigt habe, schicke ich dir noch ein paar Freiwillige. Mandoney, du tust dich mit dem Fremden zusammen. Bleib immer dicht hinter ihm und pass auf, dass ihm nichts passiert.«

»Worauf du dich verlassen kannst, Sheriff.«

Gemeinsam traten wir hinaus in die Schwüle und die Finsternis.

Bleib immer dicht hinter ihm, hatte der Sheriff gesagt. Worte wie ein kalter Hauch meinen verschwitzten Rücken hinunter. Der mir plötzlich unnötig groß und breit vorkam.

Der Wolf in den Bergen heulte wieder. Er klang viel näher als noch vor einer halben Stunde.

»Du machst einen Fehler«, sagte Samuel, der Verwalter des Mietstalls, und zog den Sattelgurt stramm. »Der Fremde wird sich das nicht bieten lassen.«

»Der Fremde sitzt im Knast.«

»Nicht mehr lange, glaub's mir. Und wenn der dann das hier mitkriegt

»Genau darum geht's ja«, freute sich Dickie Thysson, nahm seinen Revolver aus Sanis Genick und zerrte den widerstrebenden Falco am Zügel hinter sich her ins Freie. Schwang sich in den Sattel. Zog probeweise die breiten Zügel hin und her. »Und genau das ist auch der einzige Grund, warum ich dich am Leben lasse. Damit du's ihm erzählen kannst.«

Er ritt an, überlegte es sich anders und zwang den Schecken in eine scharfe Wende, stoppte noch mal vor dem Verwalter.

»Sag dem Fremden«, befahl er mit dünnem Grinsen, »dass meine Familie und ich es nicht erwarten können, ihn zu beerben.«

»Ich bin unschuldig wie ein Lamm«, sprach ich, von der Richtung her, vage hinter mich.

»Erzähl das Bro Ho«, kam die Antwort aus der gleichen Richtung. »Sobald er dir die Beichte abnimmt, und was du sonst noch in den Taschen hast.«

Hell schien das Licht durch die Fenster und Löcher im Dach des Saloons. Johlen, Pfeifen, Trampeln, Klimpern und Klirren schallten hinaus in die Finsternis, die Leere und die Stille der Hauptstraße.

»Seid ihr so weit?«, konnte man den Sheriff brüllen hören. Wildes Johlen antwortete ihm.

»Dann sprecht mir nach: Ich schwöre

»Ich schwöre ...«, grölte es aus fünfzig Kehlen, gefolgt von Salven aus fünfzig Rohren.

Ich beschleunigte meinen Schritt ein wenig, denn nicht alle Waffen schienen in die Höhe gerichtet zu sein, wie das Klirren der Frontscheibe verriet.

Vielleicht zwölf Dutzend beschleunigte Schritte weiter und der dunkle Umriss des Mietstalls wuchs aus der Nacht zu unserer Rechten.

»Was dagegen, wenn ich mal kurz nach meinem Pferd schaue?«

Mein Herz schlug ein bisschen spürbarer, als es die Harmlosigkeit des Tonfalls meiner Frage ahnen ließ.

Keine Antwort, also bog ich wie selbstverständlich ab in den warmen Mief und die beinahe vollständige Dunkelheit. Sofort und ohne zu zögern duckte ich mich geräuschlos nach rechts, ertastete den Sattelständer, meinen Sattel, löste mit flinken Fingern die Schnalle, die die große, blecherne Kaffeekanne hielt, packte sie am Griff, trat zurück und wuchtete die Kanne in einem einzigen, mächtigen, horizontal ausgeführten Halbkreisschwung mitten hinein in . ins . Leere.

»Mandoney?«, fragte ich nach einem Moment der Verblüffung unschuldig und ließ die Kanne blitzartig hinter meinem Rücken verschwinden. Keine Antwort. Leise stellte ich die Kanne zu Boden, schob sie mit dem Stiefel ein bisschen beiseite, riss ein Zündholz an und sah mich um. Ich war allein, der Mietstall leer. Und das Leerste von allem in dem ganzen verfluchten Schuppen war Box Nummer drei.

»Samuel?!«, brüllte ich. »Samuel!!«

»Ja«, kam die Antwort mit einiger Verzögerung resigniert irgendwo aus dem tiefen Dunkel im hinteren Teil des Stalls.

»Ich bin aufm Klo, Fremder. Und abgeschlossen hab ich auch.«

»Komm nach vorn!«, forderte ich.

»Nä«, kam es zurück. »Bin doch nicht bekloppt.«

»Wo ist mein Pferd, Samuel?!«

»Sagen wir's so: Du hast es knapp verpasst.«

»Das war knapp«, meinte der Fremde anerkennend, nahm seinen Stiefel von den Tasten, gab die brennende Fackel zurück und ließ auch seinen Revolver wieder ins Holster gleiten.

Über dem ganzen Getöse, dem Geklimper, den fortlaufenden Schüssen ins Dach, dem lautstarken Verteilen von Fackeln und Repetiergewehren und den unaufhörlichen Runden, die jeder Blechsternträger unablässig bestellen zu müssen meinte, hatte Pancho Escuzito das Zuknallen der Saloontür eher vage und nur mit halbem Ohr mitbekommen, dann aber doch gewohnheitsmäßig einen kurzen Blick riskiert.

Im nächsten Augenblick war er über die Theke geflankt, hatte sich mit Gewalt durch ein Grüppchen Schwerbewaffneter geboxt, war im Stil eines Hürdenläufers quer über eine Abfolge von Tischen gehetzt und hatte die letzten Meter in einem einzigen riesigen Hechtsprung zurückgelegt, an dessen Ende er den Hebel des Mechanischen Klaviers mit beiden Händen von GO auf STOP herumgerissen und damit das stakkato-ähnliche Klimpern abrupt hatte verstummen lassen.

Ich muss das Ding weiter weg von der Türe postieren, mahnte er sich atemlos.

»Sportlich«, fand der Fremde, half dem schwer atmenden Pancho auf die Füße und bahnte ihnen ohne Schwierigkeiten einen Weg zur Theke. »Was du brauchst«, meinte er dann, dort angekommen, »ist eine Band. Richtige Musik. Vielleicht was Tex/Mex-mäßiges, mit Gitarren und Trompeten. Dieser verdammte Klimperkasten fördert nur die Zerstörungswut in ansonsten eher zurückhaltenden Menschen wie mir.«

Vielleicht hat er Recht, sagte sich Pancho, entkorkte eine Flasche und goss zwei Doppelte ein. Von den Reparaturkosten nach dem letzten Besuch des Fremden hätte man die Gage einer dreiköpfigen Mariachi-Band für ein ganzes Jahr bestreiten können.

Sie stießen an, kippten die Drinks und keuchten kurz, wie es unausweichlich war nach Einnahme einer beliebigen Menge von Panchos Destillat.

»Mein Pferd ist weg«, sagte der Fremde.

. Und wenn dann irgendjemandem die Musik nicht gefiel, folgte Pancho dem einmal eingeschlagenen Pfad seiner Gedanken, brauchte man nur Shits mit seinem Maßband zu rufen, und anschließend könnte er, Pancho, ja selber auftreten. Nur er, seine Gitarre, seine Mundharmonika und ein paar wirklich aufrüttelnde Songs . Hm. Oder vielleicht doch besser eine neue Combo engagieren ... Zumindest, solange der Fremde in der Stadt war.

»Was?!«, schrak er dann zusammen. »Sag das noch mal!«

Doch der Fremde war schon wieder auf dem Weg, hinaus in die Nacht, und die Türe schlug hinter ihm zu. Mit einem Knall.

»Einer der Gründe, warum ich mich habe versetzen lassen, waren Sie, Kryszinski!«

Ich stellte mich schlafend, doch mein Zimmernachbar schlug von der anderen Seite gegen unsere Trennwand, dass es nur so knallte.

»Eines der Motive, von Mülheim nach Bolterop zu ziehen, war der Gedanke, dass sich dann jemand anders mit Ihnen herumärgern müsste!«

Normalerweise, wenn man längere Zeit bewusstlos und mit einer Magensonde zugebracht hat, brauchen die Stimmbänder anschließend eine Weile, bis sie sich wieder erholt haben.

»Und was machen Sie?!«

Doch die von ihm da nebenan schienen in Rekordzeit zu alter Form aufzulaufen. Bis in feine Nuancen hinein, wie den gewohnt anklagenden Tonfall.

»Sie kommen mir nach!«

Ich kenne niemanden, wirklich niemanden, der, was immer ich auch tue oder lasse, so persönlich nimmt. So gegen sich persönlich gerichtet.

»Meine ganze Karriere hindurch schon verfolgen Sie mich, Kryszinski!«

Es ist wie ein Wahn.

»Kein Monat ist vergangen, ohne dass in irgendeinem durch und durch ominösen Zusammenhang Ihr Name gefallen wäre! Kryszinski, Kristof Kryszinski!«

Kristof Enrico Kryszinski, der Vollständigkeit halber, doch schien mir das jetzt nicht der geeignete Augenblick, meinen Nachbarn zu korrigieren. Er hatte wieder angefangen, gegen die Trennwand zu schlagen. Nicht auszudenken, wozu er noch fähig wäre, »Kein Monat, in dem mich meine Vorgesetzten nicht mit der Frage gequält hätten: >Wieso sitzt dieser bis auf die Knochen asoziale Privatschnüffler nicht schon längst wieder hinter Gittern?««

Dabei wäre die Antwort so einfach gewesen.

»Doch diesmal Er senkte die Stimme, so wie ein Raubtier den Kopf senkt. »Diesmal, Kryszinski Und die Ohren anlegt. »Dieses Mal, dieses eine Mal Bevor es sich auf seine wehrlose Beute stürzt. Wehrlos und unschuldig. Wie ein Lamm. »Diesmal kriege ich Sie dran!«, brüllte er, dass die Leuchtstoffröhren an der Decke zu flackern begannen. »Und ich werde nicht eher ruhen, bis wir Ihnen alle kleinen und großen Schweinereien in diesem Fall nachgewiesen haben und der Richter Ihnen in meinem Beisein lebenslänglich verpasst hat! Hören Sie? Lebenslänglich! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

Die Nachtschwester sah zur Tür herein. Wie ich diese Hauben liebe. Weiß auf schwarzem Haar ... Scharf.

»Was ist das für ein Radau?«, fragte sie streng.

»Die Schlaftropfen scheinen nicht recht anzuschlagen beim Hauptkommissar«, sagte ich.

Denn das war sie, die nur schwer zu fassende Wahrheit: Ich lag Seite an Seite, nur durch einen dünnen Paravent getrennt, im selben Zimmer wie Menden, wie Hauptkommissar Menden, mein Schatten an der Wand, mein Schwert des Damokles, mein Antipod, meine Nemesis. »Am besten, Sie verdoppeln die Dosis. Und«, fügte ich nach kurzer Überlegung hinzu, »meine gleich auch.«

Starski stand stark schwankend auf einem Tisch und Pancho Escuzito betete, er möge herunterstürzen und sich den Hals brechen, noch bevor der Sheriff, getrieben vom Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit, zwei weitere Salven gen Himmel geschickt hatte.

»Männer!«, schrie er. »Seid ihr alle versorgt?«

Das antwortende Gebrüll legte Zeugnis ab von der gewaltigen Scharte, die die Bürgerwehr in Panchos Vorräte gerissen hatte.

»Dann raus mit euch in die Schlacht, Männer!«

Totenstille. Abrupt und, in gewisser Weise, lastend.

»Äh«, meldete sich schließlich jemand mit dünner Stimme zu Wort. »Wieso >mit euch<? Was ist denn mit Ihnen, Sheriff?«

In der anhaltenden Stille konnte man Sheriff Starski genervt und schnalzend an einem Zahn saugen hören.

»Na gut«, entschied er schließlich, »dann eben: Raus mit uns! Und wer zurückbleibt, wird erschossen!«

Damit sprang er vom Tisch und tobte durch die Tür und die gesamte Bürgerwehr tobte mit ihm.

Lieblich schienen die Sterne auf all die umgestürzten Tische und Stühle, silbrig glänzten in ihrem Licht die vielen Scherben, goldig die unzähligen Patronenhülsen. Lieblich schienen sie hinein, die Sterne, lieblich und praktisch ungehindert.

Unter leisem Quietschen öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und Bro Ho linste herein.

»Sind sie weg?«, fragte er in rauem Flüstern. Pancho deutete mit großzügiger Geste um sich. Er war allein. Okay, allein bis auf die lang hingegossene Gestalt von Toller Hund, den die Bürgerwehr praktisch hingerichtet hatte. Mit ihren zahllosen Runden.

»Gut.« Bro Ho stieß die Tür zur Gänze auf und wuchtete, unterstützt von Shits, einen Verletzten in den Saloon.

»Hamwer draußen gefunden«, erklärte er Pancho. Gemeinsam hoben sie Mandoney auf einen Tisch. Er war bei Bewusstein, aber ein leises Ächzen war alles, was er von sich gab.

»Jemand hat ihn umgenietet«, meinte Shits.

»Es hat ihn am Bein erwischt.«

Bro Ho zog mit entschlossenem Griff ein Messer aus seinem Gürtel und verwandelte in einen meterlangen, klaffenden Schnitt, was bis dahin nur ein kleines Loch gewesen war.

Mandoney stöhnte auf.

»Na, die Hose ist hin«, stellte Pancho fest.

Shits teilte den Stoff und die Einschusswunde im Oberschenkel wurde sichtbar.

»Die Kugel ist noch drin«, urteilte er fachmännisch. »Am besten holt mal einer den Doc.«

Und Mandoney sank in Ohnmacht.

Ich schlug die Augen auf. Es war kein Unterschied feststellbar. Optisch. Langsam registrierte ich, dass ich mich für ein paar Minütchen in die leere dritte Box zurückgezogen hatte. Zum Nachdenken.

Wenn ich meinen Ohren trauen durfte, tobte in den Straßen der Stadt eine Schlacht.

Mit größtmöglicher Geschwindigkeit zwischen mich und die Straßen dieser Stadt gebrachte räumliche Distanz bot sich mir augenblicklich als das Naheliegendste an.

Doch ohne Pferd bist du da draußen verloren.

Das zwang mir gegen meinen Willen Buttercups Probleme auf.

Ich erhob mich. Ging die paar Schritte bis zum Eingang. Schüsse, Schreie, trappelnde Hufe, flackernde, qualmende Fackeln begrüßten mich.

Ich nahm mein Halstuch hoch vor den Mund als Schutz vor dem beißenden Rauch, atmete einmal tief durch und trat hinaus ins Getümmel.

Sieh dir diese Idioten an, dachte ich. Jede Fackel eine Leiche. Einfacher kann man es einem Heckenschützen in der Nacht kaum machen.

»Wir werden uns«, hörte ich den Sheriff brüllen, »von einem Haufen Hühnerdiebe nicht daran hindern lassen, dem Gesetz Folge zu leisten! Das Sheriffbüro setzt einen Preis von zehn Dollar aus für jeden mexikanischen Skalp!«

Mehr Schüsse, mehr Johlen.

»Macht sie fertig, die Tortilla fressenden Hunde!«

Noch mehr von beidem. Der ganze Ort schien sich Mut angesoffen zu haben.

Ich stieg über die im Staub ruhende Statur eines niedergestreckten Fackelträgers und drückte mich ins Dunkel einer Seitengasse. Schlich mich zwischen den Häusern hindurch, bis ich das Steppengras unter meinen Stiefeln spürte. Wie immer wirkte die Nacht in der offenen Prärie weniger dunkel als in den Straßen der Stadt. Im Westen zeichneten sich die Schwarzen Berge gegen den Nachthimmel ab. Im Osten erstreckte sich blass das trostlose Flachland.

Ein Wolf heulte. Kurz nur, dafür aber ganz in der Nähe.

Instinktiv duckte ich mich hinter einen aufgebockten Wagen und spähte in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war. Auf einem kleinen Hügel nur einen Gewehrschuss weit entfernt thronte die Gestalt eines Reiters reglos im Sattel eines Maultieres mit ellenlangen Ohren. Ein Sombrero verschattete sein Gesicht, doch die Läufe zweier gekreuzter Gewehre überragten seine Schultern und verrieten ihn. Es war der vierarmige Bandit. Immer mit zwei Revolvern und zwei Gewehren gleichzeitig bewaffnet, daher der Spitzname. Alban Adango. El Lobo, so nannten ihn seine Gefolgsleute. Und El Lobo ritt niemals allein.

Mit eingezogenem Kopf hastete ich weiter, umrundete die Stadt an ihrer Rückseite entlang. Jedes Mal, wenn ich aufsah, erblickte ich einen weiteren Reiter. Fast geräuschlos rückten sie auf die Stadt vor.

Johlen und Schüsse ertönten vom Kirchplatz und trieben mich weiter voran. Möglich, dass der Sheriff und sein Lynchmob Tatsachen schaffen wollten, und das würde uns unweigerlich in ein Blutbad steuern.

>Uns<? Hatte ich >uns< gedacht? Irgendein Scheiß-Pferdedieb hatte mir diese Scheiße hier eingebrockt, und ich schwor mir, dass ich ihn dafür zahlen lassen würde.

Ich stolperte. Sah hinab. Silbrig glänzten die Bahngleise. Wie von alleine lenkten sich meine Schritte an ihnen entlang und mich an mein Ziel.

Das Pferd des Sheriffs wartete, fertig gesattelt, angebunden an einen Pfosten vor seinem Büro.

Wieder heulte der Wolf. Und rings um Buttercup erhob sein Rudel die Stimmen und antwortete ihm. Sie hatten die Stadt tatsächlich umzingelt.

Ich klopfte kurz an der Türe zum Sheriffbüro und warf mich zur Seite. Des Sheriffs Pferd bäumte sich auf und wieherte, als die Schrotladung durch die Tür geblasen kam.

»Teufel«, hörte ich den Doc fluchen, gefolgt von einem zögerlichen »Äh, we- wewewe- wer da?«.

»Ich bin's«, rief ich und kroch wieder näher heran. Licht fiel durch ein tellergroßes Loch im Kopfteil der Türe.

»Da- dadada- das kann jeder sagen.«

»Der Fremde!«

»Da- dadada- das auch.«

Vom Kirchplatz her näherte sich ein kompletter Fackelzug unter Grölen und Luftschüssen. Jemand schwang einen kunstvoll geknoteten Strick. Es blieb überhaupt keine Zeit mehr.

»Ich komme jetzt rein!«

»Oh« - Geräusch eines Schrotschusses, Klirren von Fensterglas, Wiehern vom Sheriffpferd - »Teufel, auch. O nein, wollt ich sa- sasasa- sagen. Nur über meine Lei

Doch da war ich schon drin. Zwei Läufe hat so ein Schrotgewehr, mehr nicht. Gut und gern fünfzig Patronen lagen kreuz und quer über und um den Schreibtisch herum verstreut, während Doc Tatters mit fliegenden Fingern nachzuladen versuchte.

Hufgetrappel ließ die Nacht erzittern. Schüsse peitschten, Wölfe heulten. Zu spät.

Ich griff mir ebenfalls ein Schrotgewehr aus dem Schrank, lud hastig und ging hinter dem Doc in Deckung, der am zerschossenen Fenster Position bezogen hatte und über einen wild zuckenden Doppellauf hinweg zu zielen versuchte. Reiter kamen die Hauptstraße hinuntergestürmt, im vollen Galopp, aus allen Rohren feuernd.

»Ha!«, ertönte es hinter uns. »Jetzt werdet ihr alle sterben!«

Doc Tatters zuckte, sein Gewehr paffpaffte und zwei Mexikaner flogen aus ihren Sätteln und bissen in den Staub. Ich war etwas sprachlos. Entsprechend wortlos reichte ich dem Doc mein Gewehr, während ich seins nachlud. Zwei weitere Banditen hielten jetzt direkt auf uns zu, Sombreros wie Schirme im Wind, Armeerevolver im Anschlag, Schuss auf krachenden Schuss in alle Richtungen jagend. Ich warf mich zu Boden und der Doktor zuckte. Paffpaff. Zwei reiterlose Pferde stoben davon. Rasch lud ich nach, doch die erste Angriffswelle schien schon vorbei. Wölfe heulten wie vor Schmerz und Wut.

»Teufel«, fluchte der Doc, spähte geduckt und misstrauisch über die Fensterbank nach draußen, und ich nahm ihm die Pickelhaube ab und zog ihm eins mit dem Revolverknauf über. Dann setzte ich ihm die Haube wieder auf und er sackte zusammen.

»Alleine die, die draußen auf der Hauptstraße herumliegen, sind genug, dass ich das Schild Schlussverkauf übers Sarglager nageln kann«, meinte Shits vom Fenster her.

»Und ich kann mir'n Wolf schaufeln«, knurrte Bro Ho. »Idioten.«

»Sobald Pancho mit dem Doktor zurück ist, sollten wir unsere Pferde satteln. Und auch eins für den Fremden.«

»Wo soll'n wir das hernehmen?«

»Wir leihen uns eins aus dem Fundus des Sheriffs«, antwortete Shits. »Vielleicht Mandoneys hier. Der wird in absehbarer Zeit keins mehr brauchen.«

»Das Pferd des Sheriffs steht gesattelt draußen«, sagte ich und schloss auf. »Falls es der Doktor nicht erlegt hat«, schickte ich einen Nachgedanken hinterher. »Oder einer von deinen Landsleuten.«

Sie trat aus der Zelle wie ein Panther aus dem Transportkäfig. Ungläubig, misstrauisch, lauernd. Dunkel und glänzend, muskulös und geschmeidig.

Dem Kater in mir richtete sich der, äh, Pelz auf. Ich folgte ihr zur Tür und musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu maunzen.

Das Pferd war noch da. Etwas glubschäugig und nicht unbedingt die Gelassenheit in Person, aber äußerlich intakt. Fackeln brannten am Boden weiter, wo ihre Träger sie hatten fallen lassen, und ihr Rauch biss in den Augen und machte das Atmen schwierig. Von überall her wurden Ochsenkarren und leere Fässer herangerollt und umgestürzt und alles schrie wild durcheinander, während sich Buttercup auf den zweiten Sturmangriff vorbereitete.

Zwei Mexikaner und zwei Bürgerwehr-Milizionäre mit großen, runden Hüten, auf deren Krempen man >Welcom to Tijuana< lesen konnte, lagen am Boden und hatten den Doc um zwanzig Dollar Kopfprämie weniger als die erwarteten vierzig reicher gemacht.

Aisha löste den Strick und das Pferd tänzelte.

»Machs gut«, murmelte ich in erzwungener, leicht gepresster Zweisilbigkeit, und sie nahm den Fuß noch einmal aus dem Steigbügel, drehte sich zu mir, fasste meinen Kopf und verbrannte mir Lippen und Zunge in einem Kuss voll animalischer Glut.

Pock! machte einer meiner Knöpfe und schwirrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrte davon wie ein Querschläger.

»Bis bald«, sagte sie dann, schwang sich in den Sattel, riss das Pferd auf der Hinterhand herum und verschwand im Galopp in die Nacht. Dorthin, wo die Wölfe am lautesten heulten.

»Lasst uns verschwinden«, keuchte Pancho. Sein Kopf war ein oben offener, rauchender Krater mit einem an die Zahnung von Briefmarken erinnernden Rand, wie man ihn davonträgt, wenn man damit zwischen die Schrotflinte des Docs und zwei wie auch immer geartete Opponenten gerät.

»Mir reichts«, keuchte er.

Und dabei einen hohen Hut trägt, sollte an dieser Stelle vielleicht Erwähnung finden.

»Wo hast du den Doc gelassen?«, wollte Bro Ho wissen.

»Im Sheriffbüro. Bewusstlos. Mit 'ner Beule auf 'm Kopf.« Geistesabwesend nahm Pancho seinen Hut ab, blickte durch die große, kraterähnliche Öffnung. Selbstvergessen probierte er den von Mandoney auf. Passte. Mandoney würde eh so bald keinen Hut mehr brauchen. Wenn überhaupt je wieder.

»Ich werd Flat vor den kleinen Einachser spannen«, riss er sich selbst aus seinen Gedanken.

>Flat< war der Name seines Pferdes. Das von Bro Ho hieß >Shovel< und das von Shits >Knuckle<. Nicht ganz alltägliche Pferdenamen, die sich jedoch durch die eigentümliche Kopfform der jeweiligen Tiere erklären ließen.

»Damit schaffen wir schnell Toller Hund in den Mietstall und dann Mandoney rüber zum Doc. Hier können wir sie nicht lassen.« Pancho blickte viel sagend hoch zum Dach, das in einigen Belangen dem seines Hutes nicht unähnlich war. Nur dass sich hier am Rand schon die ersten Geier eingefunden hatten.

Mandoney brüllte vor Schmerz, als ihn der Sheriff und drei seiner Blechsternträger vom Einspänner holten, durch die Türe, quer durchs Büro und schließlich in die Zelle neben meiner wuchteten.

Ja, ganz recht. Meine Zelle. Der Galgen war fertig, für teuer Geld, der kunstvoll geknotete Strick ebenfalls, also musste auch jemand baumeln. Und Aisha stand nicht mehr zur Verfügung, also musste jemand an ihrer statt baumeln.

Die Morgensonne schoss den Himmel empor zu einem weiteren, heißen Tag, und all die toten Mexikaner, die all die furchtlosen Schützen erledigt haben wollten, waren nirgends zu finden, sondern nur die fliegenumsummten Kadaver von Nachbarn, Freunden, Verwandten und Bekannten, ganz so, als wären die Mexe nie da gewesen, und auch für diesen empörenden Umstand sollte jemand baumeln. Es machte keinen Sinn, aber die Leute empfanden so, und deshalb hatte der Sheriff, wie immer ein Ohr am Puls der Zeit, mir zusammen mit Blechstern und Bewaffnung den Status eines freiwilligen Milizionärs wieder aberkannt und mich, unterstützt von seiner übellaunigen, schwer verkaterten Schar, zurück ins Loch geworfen.

»Wir finden nur noch eben schnell raus, wer Mandoney umgebracht hat«, grollte er drohend, packte die Gitterstäbe und schob seinen roten Riecher dazwischen, um mich aus größtmöglicher Nähe finsterst anstarren zu können.

Mandoney stöhnte ein Stöhnen, das auf eine sublime Art mitschwingen ließ, dass er sein Ableben noch keineswegs als ein fait accompli betrachtete.

»Dann«, fuhr der Sheriff ungerührt im gleichen Tonfall fort, »fragen wir noch eben den Doc, wer es wohl war, der ihn niedergeschlagen und die verurteilte Mörderin freigelassen hat, anschließend halte ich eine kurze, flammende Rede, und kaum dass der Applaus verhallt ist, knüpfen wir dich auf.«

»Der Schuss auf Mandoney muss aus dem Saloon gekommen sein«, sagte ich. »Während der Vereidigung der Miliz. Ich frage mich, ob Dickie Thysson daran teilgenommen hat?«

»Was?«, schnappte der Sheriff irritiert. »Aus dem Saloon? Unmöglich. Ich habe mich den größten Teil der Nacht persönlich dort aufgehalten und in der ganzen Zeit ist nicht ein einziger Schuss gefallen. Und Dickie Thysson ist als Mitglied der angesehensten Familie der ganzen -«

Das Knallen der Tür, oder was davon übrig war, unterbrach ihn. Doc Tatters kam hereingewankt, eine frische Flasche Chloroform in der einen, seinen klappernden Arztkoffer in der anderen Hand. Mandoney auf seiner Pritsche stöhnte vernehmlich bei seinem Anblick.

»Na, Doc«, begrüßte ihn der Sheriff aufgeräumt, was den Doc wenig zu begeistern schien, der sich schnurstracks auf seinen Patienten zubewegte.

»Was«, meinte der Sheriff und nahm dem Doc im Vorbeilaufen die Pickelhaube ab, »würdest du sagen, wer dir diese schändliche Beule verpasst hat?«

»Kei- keikeikei- kein-«

»Kein anderer als der Fremde«, führte der Sheriff Doc Tatters' Satz in freier Interpretation und wohl geöltem Bariton zu Ende. »Ganz wie wir vermutet haben.«

»Kei- keine Ahnung«, korrigierte ihn der Doc zu meiner Überraschung.

»Und genau diese Aussagen und anderen Ergebnisse meiner Ermittlungen«, ignorierte ihn der Sheriff, »werde ich gleich den treuen Bürgern dieser Gemeinde verkünden, dann das Urteil fällen und unverzüglich vollstrecken.«

Mit einem entschiedenen Ruck nahm der Doc dem Sheriff die grüne Pickelhaube aus der Hand und setzte sie sich wieder auf.

»Ma- mamama- machen Sie sich schon mal frei«, sagte er zu Mandoney, öffnete seinen Koffer, und eine bunte Auswahl an chirurgischem Besteck flog scheppernd durch den Raum, »das ha- hahaha- haben wir gleich.«

Ein kalter Schauder packte mich. Denn seien wir mal ehrlich: Doc Tatters' chirurgische Künste waren die eines pathologischen Pathologen. Es mochte als Operation beginnen, was er unters Messer nahm, doch schon vor den abschließenden Näharbeiten war in den meisten Fällen längst wieder eine Obduktion daraus geworden.

Mandoney war kein bisschen weniger todgeweiht als ich.

Wenn einen nur noch ein paar hohle Worte und ein bisschen lascher Applaus vom Strick trennen und man momentan ohne Plan ist, wie sich dieses Schicksal noch mal abwenden ließe, wird die Versuchung groß, es mit dem schlichten Schinden von Zeit zu versuchen.

»Ich würde gerne noch beichten«, log ich, ohne rot zu werden. Ich hatte in Buttercup noch nicht einen Priester gesehen.

»Ich schick dir Bro Ho«, meinte der Sheriff, auf dem Weg zur Türe. »Der hat mal ... Der war mal ... Egal. Der kann dann auch gleich Mandoney die Letzte Ölung verpassen oder was auch immer.«

Sheriff Starski griff den Griff von dem, was von seiner Türe noch übrig war.

»Hat ein Mann in meiner Lage nicht noch einen letzten Wunsch frei?«, fragte ich mit rechtschaffener Entrüstung.

»Ich schick dir Mama Escuzito«, meinte der Sheriff und wollte hinaustreten auf die Straße. »Letzte Wünsche fallen normalerweise in ihr Ressort.«

»Ich hatte eigentlich eher an einen letzten, ehrlichen Schluck gedacht«, rief ich hastig.

Der Sheriff hielt eine Sekunde lang inne und nickte dann.

»Also schick ich dir Pancho«, meinte er aufgeräumt. »Kann der auch gleich dem Doc zur Hand gehen.«

»Und ich will in einem Sarg begraben werden«, forderte ich lautstark über das Zuknallen der Türe hinweg.

»Shits kommt sowieso«, kam die Antwort von draußen.

Erschöpft warf ich mich auf meine Pritsche. Schloss kurz die Augen. Verdammt, dachte ich, schwitzend. Jetzt bloß nicht einpennen.

Der Doktor schwitzte wie ein Verdammter.

»Der Ausfall der Klimaanlage ist selbstverständlich höchst bedauerlich«, sagte er. »Doch bitte bedenken Sie, meine lieben Patienten Der Doktor zwinkerte, eine seiner Angewohnheiten, ». wir müssen bei dieser Hitze auch noch arbeiten. Während Sie liegen bleiben dürfen.« Wieder zwinkerte er. Zwinkerte und zwinkerte.

»Trotzdem werden wir natürlich alles unternehmen, Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie nur möglich zu machen.«

Die Tagschwester hatte die Arme gehoben, um meinen Tropf neu zu justieren, und ich schenkte ihr bei diesen Worten des Docs einen Blick, wie man ihn suggestiver nicht gestalten kann.

»Wenn Sie also noch Wünsche oder Anregungen hätten -«

»Ich will in ein anderes Zimmer!«, forderten Menden und ich gleichzeitig.

»Nun Der Doktor wand sich sichtlich und zwinkerte immer wilder, ». das ist bei unserem augenblicklichen Zustand der Überbelegung äußerst schwierig. Ich hoffe, Sie glauben mir, dass dies das einzige Zimmer im ganzen Haus ist, in dem nur zwei Patienten untergebracht sind. Trotzdem werden wir sehen, was wir tun können. Wenn Sie also sonst noch Wünsche haben, lassen Sie sie uns doch einfach wissen.« Damit schob er seine rundliche Gestalt durch die Tür.

»Was hat denn der für 'nen nervösen Tick am Auge?«, fragte ich die Schwester leise.

Sie wiegte bedauernd ihr blondes Haupt.

»Dr. Tatlarek steht momentan schwer unter Druck«, meinte sie sachlich.

»Da wüsste ich noch einen«, knurrte ich, die Stimme bis an den Sättigungsgrat durchtränkt mit Suggestion und Testosteron.

Die Türe schloss mit einem Knall. Wir hatten Besuch, fiel mir auf.

Shits lehnte am Gitter, reinigte sich die Nägel. Bro Ho, verdeckt durch die Wolldecken, murmelte etwas von »In nomine patri et filii et -«, er nahm einen geräuschvollen Schluck, »spiritus sancti«, unterbrochen von Mandoney, der brüllte, Bro Ho solle ihm mit dem verdammten Spiritus vom Leib bleiben.

Besuch, das hatten wir.

Pancho nahm dem reglos zusammengesackten Doktor den Trichter aus dem Hals und beobachtete mit klinischem Interesse die Reaktion des Arztes, der sich ruhig erhob, ruhig die Ärmel aufkrempelte, Bro Ho ruhig anwies, die Anästhesie vorzubereiten, und den Patienten in ruhigem Tonfall über die Risiken des anstehenden Eingriffs aufklärte.

Ungewöhnlichen Besuch.

Ein fetter Kerl mit Anzug und einem aufgedonnerten, äußerst pneumatischen Luder am Arm stand mitten im Raum und brüllte nach Sheriff Starski, der auf eine unübersehbare Art und Weise nicht anwesend war. Direkt hinter den beiden, den Raum, die Tür, das Fenster im Blick, stand ein hohlwangiger, breitschultriger Galgenvogel mit zwei Revolvern am Gürtel, einem Messer im Ärmel und höchstwahrscheinlich einer eigenen, nach ihm benannten und von ihm persönlich bestückten Reihe auf dem Stiefelhügel.

Doch all das, all diese schillernden Persönlichkeiten und vielfältigen Eindrücke interessierten mich einen Furz.

Alles verblasste angesichts des Besuches, den wir hatten.

Ich sprang auf die Füße, schritt rüber zu Shits, ans Gitter, und raunte ihm ins Ohr.

»Wer ist -«

»Richard Thysson, der Bürgermeister von Buttercup. Außerdem Vorstand der örtlichen Savings and Loans, kontrolliert sämtliche Geschäfte hier in der Stadt und Umgebung.«

Ich schüttelte unwillig den Kopf. Ich kannte Richard Thysson. Wusste zumindest, wer er war. O ja.

»Doch wer -«

Shits sah nicht auf von seiner Maniküre.

»Genevieve, seine zweite Gattin. Eine ehemalige Miss. Auch wenn keiner so recht weiß, wovon. Doch 'ne Ehemalige ist sie, glaub's mir.«

»Starski!«, brüllte der vierschrötige, semmelblonde Bürgermeister aus der Tür. »Wieso baumelt der Fremde nicht schon längst?!«

Das Zentrum meines Interesses stand derweil herum und vermied es, in meine Richtung zu blicken.

»Nein, was ich wissen will, ist, wer -«

»Foreman Jones, Chef der Gebrüder Jones und Thyssons rechte Hand. Sein Mann für alles, was selbst dem Sheriff zu grob ist.«

Die Tür ging auf und der Sheriff kam hereingehechelt.

»Wir sind schon praktisch dabei, Bürgermeister«, versicherte er. »Wir warten nur noch eben Doc Tatters' fatalen Eingriff ab.«

»Nein«, murmelte ich, »wer -«

»Mit diesen dreien willst du keinen Ärger haben, glaub's mir.« »Nein, wer -«

»Richard ist auch der Vater von Dickie«, raunte Shits. »Nein, wer -«

»Der, mit dem du gestern -« »Nein, wer -«

»Und der dir auch dein Pferd -«

»Ja, Himmelarsch!«, brüllte ich, dass die Gitterstäbe in meiner Hand vibrierten. »Was ich wissen will, ist: Wer zum Henker noch mal ist der blonde Engel neben dem fetten Sackgesicht?!«

Wow, was für ein Publikum. Alle Anwesenden, der Sheriff, das fette Sackgesicht, seine Gattin, der Galgenvogel, und auch der blonde Engel selbst, der Doc, Pancho, Shits, selbst Bro Ho und Mandoney, hinter den Wolldecken, alle starrten mich an.

Shits räusperte sich in das perplexe Schweigen hinein.

»Eva«, versuchte er sich in der Kunst des geraunten Bauchredens. »Eva Thysson. Die Tochter. Arbeitet bei der väterlichen Sparkasse.«

Und dann traf es mich.

»Sag das noch mal!«

»Arbeitet bei der -«

»Nein, das davor!«

Mietstallbesitzer Samuel hatte sich keine Informationen entlocken lassen. Hatte sich in sein Scheißhaus eingeschlossen und blöd gestellt, geradezu bockig, selbst nach Androhung von Gewalt. Hatte gemeint, es wäre nur zu meinem Besten. Ominös.

»Die Tochter -«

»Das mit meinem Pferd, verflucht noch mal!«

Shits lehnte sich nervös so dicht es ging ans Gitter und sprach zwischen strichdünnen Lippen und fest zusammengebissenen Zähnen hindurch in einem gepressten, kaum wahrnehmbaren Flüstern.

»Das ist jetzt, glaube ich, nicht der geeignete Zeitpunkt, um -«

»O doch«, unterbrach ich ihn und zog ihm geschmeidig den Revolver aus dem Holster.

»Waffen weg? Aber warum sollten wir?«, fragte der Sheriff den Fremden.

Pancho nahm einen Schluck, keuchte und schüttelte sachte den Kopf. Die Stimmung im Sheriffbüro war gespannt wie der Bogen eines im Hinterhalt lauernden Schwarzfußindianers.

»Wenn du unbedingt Shits in den Kopf schießen willst, dann nur zu!« Und er und Bürgermeister Thysson tauschten einen Blick und brachen in nervöses Gelächter aus. Nacheinander steckten sie auch den Foreman an und nacheinander zogen alle drei ihre Revolver, lachend.

Wenn das wieder der falsche Fremde ist, dann kann Kleines Glas aber was erleben, dachte Pancho und verfluchte innerlich alle Indianer-Orakel.

Ein Schuss peitschte, und der Bürgermeister stand plötzlich barhäuptig da und unvermittelt blass, sehr blass.

Der Fremde hatte seine Taktik geändert.

»Waffen weg«, forderte er erneut, nur diesmal mit dem Zusatz: »Oder ich puste den Dicken um.«

»Oh, bitte, tun Sie mir nichts!«, flehte die Bürgermeistergattin, hob die Hände in die Höhe und atmete schwer und wogend. »Ich bin nur eine wehrlose Frau!«

»Wird's bald?«, schnarrte der Fremde.

Richard Thysson ließ seinen Revolver zu Boden fallen, und knurrend, drohend, zögernd folgten erst der Sheriff und schließlich auch Foreman Jones seinem Beispiel.

Pancho nahm einen Schluck aus seiner Pulle. Niemand sonst wagte es, sich zu rühren.

»Du.« Der Fremde zeigte auf Eva, die ihre blauen Augen weit, weit aufgerissen hielt. »Komm her«, befahl er. »Und bring die Schlüssel mit.« Eva sah ängstlich zu ihrem Vater, der finster nickte. Im nächsten Augenblick hatte sie dem Fremden die Zellenschlüssel ausgehändigt, der sich selbst befreit, sie gepackt und mit festem Griff an sich gerissen.

»O nein! Nehmen Sie mich«, forderte Genevieve mit geblähtem Pathos, »ich . ich wüsste mich nicht zu widersetzen!«

Der Fremde ignorierte sie. »Rein mit euch«, forderte er, und Thysson und Starski und Foreman Jones und schließlich auch Thyssons Gattin gingen zögernd, finster, Schritt für unwilligen Schritt in die Richtung, die der Fremde ihnen vorgab, bis die Zellentür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Mit einem vom Scheppern der Gitterstäbe gefolgten Knall.

Sollte Kleines Glas diesmal doch Recht gehabt haben? Pancho verfolgte jede Bewegung des Fremden mit enormer Anspannung. Sollte der Fremde es schaffen, hier aus eigener Kraft herauszukommen, dann waren die Würfel gefallen, wie man so sagt. Die Seiten bezogen. Dann waren sie seine treuen Verbündeten. Wenn nicht .

Der Fremde nahm die Schlüssel an sich und schob Eva Thysson, weiterhin dicht an sich gepresst, vor sich her zur Tür. Evas Augen waren immer noch weit aufgerissen, ihre Wangen fiebrig gerötet. Ihr Atem ging stoßweise und sie schien den starken Arm um ihre Taille zu brauchen, um sich überhaupt auf den Beinen halten zu können.

Breit füllte das stabile Kreuz des Fremden das helle Geviert der offenen Tür, nur noch zwei Schritte und er wäre in Freiheit, als .

»Halt! Waffe fallen lassen und Hände hoch, oder du bist tot!« Mandoneys Stimme federte nach wie die Klinge eines Wurfmessers, das gerade sein Ziel erreicht hat, und seine Hand hielt den großkalibrigen Revolver mit erstaunlicher Kraft und Ruhe genau auf den Rücken des Fremden gerichtet. Unerschütterlich und trotz Schussverletzungen und Blutverlust von eiserner Kraft und Entschlossenheit.

Zumindest, bis Bro Ho ihm den mit Chloroform durchtränkten Lappen aufs Gesicht presste.

»Dad«, sagte ich etwas gepresst, »wir haben nie viel geredet, du und ich. Und auch jetzt hab ich kaum Zeit. Die Dinge hier gestalten sich noch schwieriger, als ich gedacht hatte. Ich werde mich in Sicherheit bringen und einen neuen Plan fassen müssen. Und beides schnell. Doch verlass dich drauf: Irgendwie hole ich die Ranch zurück. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

Dad antwortete nicht, was nicht weiter überraschte. Ich hängte den Ring mit den Zellenschlüsseln an den rechten Arm seines Holzkreuzes, stellte seine Stiefel ordentlich nebeneinander und ging dann, so zügig ich nur konnte, durch die Grabreihen davon. Dad war der eine Besuch, den ich noch machen wollte, bevor ich die Stadt verließ. Der andere war Mama. Panchos Mama. Mama Escuzito.

»Das werdet ihr noch bereuen!«, schrie Bürgermeister Thysson.

»Ihr werdet mit ihm zusammen hängen!«, schrie der Sheriff.

»Lasst uns hier raus«, schrie Foreman Jones, »oder ihr wandert schnurstracks auf den Stiefelhügel!«

»Doch vorher werden wir euch alle kastrieren«, schrie Genevieve den entschwindenden Gestalten von Pancho, Bro Ho und Shits hinterher, »kastrieren, kastrieren, kastrieren!«

»Bisschen mehr Ru- Rururu- Ruhe hier«, konnte man den Doc noch hören. »Ich versuche hier eine Opera- rarara ...« Dann fiel die Tür ins Schloss.

»Un' wohin jetzt?«, fragte Bro Ho und nickte Eva Thysson freundlich zu, die vor dem Drugstore in einem Schaukelstuhl wippte und ihre erhitzte Konstitution mit einer Limonade kühlte.

»Kastrieren, kastrieren, kastrieren«, schallte es weiterhin schrill aus der Zelle im Sheriffbüro.

»Schnell zum Stall«, entschied Pancho, »und dann raus aus der Stadt. Wir sind ab sofort die treuen Verbündeten.«

»Die aus 'm Orakel«, fügte Bro Ho noch hinzu.

»Mama«, sagte ich und löste mich aus der mütterlichen Umarmung ihrer großmütterlichen Arme, »ich habe acht Wochen in Ketten hinter mir, sechs Tage im Sattel, eineinhalb rein und raus aus der örtlichen Gefängniszelle, gleich schon werde ich wieder in eben die Einöde reiten müssen, die ich so kürzlich erst gekreuzt habe, also bitte glaub mir, mir steht der -«

»Ach, du armer Junge«, meinte sie voll mütterlichen Mitgefühls. Bewusstlose Fliegen fielen aus der sie umgebenden Parfümwolke, und ich musste mich kurz an die Wand lehnen und die Augen schließen .

»Haben Sie Kinder?«

»Wa- was hat das damit zu tun?« Menden klang irritiert, um es behutsam auszudrücken.

»Antworten Sie mir: Haben Sie Kinder?!«

Ich versuchte, mit einem leisen >Pst< Mamma Scuzzi zu bremsen und zumindest bis auf Flüsterweite rüber an mein Bett zu holen. Ich hatte da eine Bitte an sie.

»Nein, hab ich nicht. Aber -«

»Wusst ich's!«, triumphierte sie. »Wenn Sie selber Kinder hätten, dann wären Sie nicht so verbiestert und hätten ein bisschen mehr Verständnis für den armen Kristof hier und auch für meinen kleinen Pierfrancesco!«

»Pst«, machte ich. Vergeblich.

Eines ihrer Mädchen, dachte ich. Sie brauchte nur eines ihrer Mädchen in eine Schwesternuniform zu stecken und zu späterer Stunde . Ich brach den Gedanken ab. Schluckte hart. »Pst«, machte ich ungehört. Denn wenn Mamma Scuzzi einmal in Fahrt ist . Hinzu kam, dass sie sich in Hauptkommissar Menden einen zähen Gegner ausgesucht hatte.

»Der >arme Kristof< und der >kleine Pierfrancesco<?«, echote er ungläubig. »Die beiden sind seit über zwanzig Jahren erwachsen und seit mindestens dreißig Jahren kriminell und -«

»Aber«, warf Scuzzis Mamma ein und überhörte erneut mein dringliches >Pst<, doch Menden war noch nicht fertig und fiel ihr seinerseits ins Wort.

»Und ich bin in und vor dem von Ihrem Söhnchen betriebenen Rockerlokal gleich zweimal angeschossen worden und sämtliche Indizien -«

»Papperlapapp, Indizien. Sie wissen doch so gut wie ich, dass die guten Jungs keiner Fliege -«

»Ha! Was weiß ich?! Soll ich Ihnen mal erzählen, wie viele Akten ich im Laufe der Jahre alleine über den >guten Jungen< Kristof Kryszinski angelegt habe?«

Ajeh, dachte ich und seufzte müde, das wird dauern.

»Das tut mir ja so Leid«, meinte Panchos Mama und wischte mir mit einem spuckefeuchten Taschentuch einen wahrscheinlich nur für sie wahrnehmbaren Fleck von der Wange.

Für die Mütter deiner lebenslangen Freunde wirst du, genau wie ihre Söhne, lebenslang eine kleine Rotznase bleiben, auch wenn du ihnen mit einem Siebentagebart entgegentrittst, sie um drei Köpfe überragst und sie in ihrer Funktion als Puffmutter aufsuchst. »Doch das wird jetzt leider etwas dauern.«

Ich schluckte hart.

»Du wirst dich ein bisschen gedulden müssen«, teilte sie mir mit und zwischen meinen Ohren begann ein Wasserkessel zu pfeifen. »Um diese frühe Stunde hab ich nur ein Mädchen da, Rosalita, und die ist gerade mit Dickie, dem jungen Thysson, nach hinten -«

»Hey, guckt mal«, rief Bro Ho, »dahinten parkt ja Falco, das Pferd vom Fremden!«

Er und Shits und Pancho näherten sich Mama Escuzitos Kitten Club in vorsichtigem Abstand von der Rückseite her und die Hufe ihrer vier Pferde ließen den Staub in großen Wolken aufsteigen.

»Da hätten wir Mandoneys Zossen ja gar nicht -«, fuhr Bro Ho fort, als sie das Schloss einer Zimmertür unter Krachen bersten, eine Mädchenstimme aufkreischen und Schüsse in regem Wechsel fallen hörten, was, in der Summe der akustischen Eindrücke, ihnen allen noch mal kurz in Erinnerung rief, dass die Besitzverhältnisse, was den Schecken anging, im Moment noch nicht bis zum Letzten geklärt waren.

Glas splitterte, ein Fenster fiel aus dem Rahmen und Dickie Thysson kam heraus auf den vorgelagerten Balkon gesprungen, feuerte aus zwei Revolvern gleichzeitig zurück ins Zimmer, in dem man das Mädchen immer noch angstvoll kreischen hören konnte, dann schwang er sich über die Brüstung, landete wie eine Katze, hechtete augenblicklich in Falcos Sattel und gab dem Schecken erbarmungslos die Sporen.

Wir jagten die Hauptstraße hinunter und nahmen sämtliche Ampeln bei Rot, in gestrecktem Galopp.

Dickie schrie dabei und feuerte wiederholt in die Luft, wohl um die Aufmerksamkeit des Sheriffs zu erregen, oder die seines Vaters, doch waren die beiden bestimmt noch damit beschäftigt, einem bedauernwerten, schwitzenden Schlosser auf die nervösen Finger zu starren.

Erst das Pferd und dann der Reiter, ist eine meiner kleinen Regeln, doch hier griff sie nicht. Ich mochte den Schecken, ich hing an ihm, und die Art, wie dieser Scheißer meinem treuen Pferd die Sporen in die Flanken hieb, besiegelte ein für alle Mal sein Schicksal. Doch ich würde es einfach nicht über mich bringen, ihm Falco unterm Hintern wegzuschießen, also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.

Am Ortsausgang verlor ich den Bürgermeisterspross kurz aus dem Blick, als er vor den Bahngleisen einen wild schleudernden Haken schlug. Richtung Westen, wie es aussah. Keine zwanzig Pferdelängen hinter ihm bog ich ein und machte mich an die Verfolgung, hinaus in die offene Landschaft. Keine zwanzig Pferdelängen und doch zu weit, um halbwegs vernünftig zielen zu können, zumindest im Galopp, also nahm ich einfach nur den Kopf herunter und ermutigte Beemer, ein Pferd aus dem Bestand des Sheriffs, zu mehr Tempo. Mandoneys Pferd, um genau zu sein. Ein Schimmel mit grünem Zaumzeug. Er brauchte es im Moment nicht, wenn er überhaupt noch mal eins brauchen sollte.

Als ich wieder aufsah, lagen fünfundzwanzig Längen zwischen uns, also ermutigte ich Beemer ein bisschen stärker. Nichts kam. Ich warf einen Blick über die Schulter zurück. Nichts kam. Nichts und niemand, um genau zu sein. Flat, Shovel und Knuckle waren, wie es aussah, sogar noch lahmere Zossen als der, in dessen Mähne ich meine Nase steckte. »Lauf«, schrie ich ihm ins Ohr, »lauf, du Mühle!« Doch nichts kam.

Ich habe nie verstanden, warum der Staat diese Sorte Gäule bevorzugt. Da ist nichts hinter. Wenn man anreitet, schlagen sie krachend die Zähne zusammen und heben den Hintern in die Luft wie Schwuchteln, die einer gezwackt hat. Hört man nur für einen Moment auf, ihnen die Sporen zu geben, sacken sie sofort apathisch in sich zusammen, und in Kurven schlackern sie wie besoffen mit den Hufen. Der bleibende Eindruck ist, eine aufblasbare Kuh zu reiten.

Als ich das nächste Mal aufsah, lagen dreißig Pferdelängen zwischen mir und dem verfluchten Milchgesicht. Ich hing nicht umsonst so an meinem Falco. Schön, schnell, handlich und ausdauernd, das macht ein gutes Pferd für mich aus. Mandoneys Gaul dagegen war nicht gebaut für Geschwindigkeit. Schäumte schon. Schwitzte. Keuchte. Zitterte. Furzte blaue Wolken. Noch ein paar Meilen Galopp und ich wäre wieder zu Fuß unterwegs. Resigniert hörte ich auf, den Zügel zu wringen, verzögerte bis in einen leichten Trab hinunter. Versuchte, die Staubfahne meines Schecken und gleichzeitig seine Hufspuren im Auge zu behalten, was echt schwer ist mit einer Augenanordnung, wie wir sie haben.

Ich krieg dich, dachte ich, an Dickies Adresse gerichtet, ich krieg dich und dann kannst du beten, wenn ich dir die Zeit lasse, du miese kleine Ratte, ich krieg dich, dich und deine ganze verdammte Sippe, bis vielleicht auf .

Hatte ich mich getäuscht, oder war da ein Zittern durch Evas ranken Körper gefahren, als ich sie an mich riss, Revolver gezückt, und >Hab keine Angst< in ihr Ohr flüsterte, bevor ich ihren Vater, seine Frau, seinen Vorarbeiter und auch seinen verdammten Sheriff vor ihren Augen demütigte. Hatte ich mich getäuscht oder hatte sie, leicht zitternd, hinter sich gegriffen, tastend, auf der Suche nach ... Halt ...?

Ich ließ den Gaul auslaufen. Selbst Trab war im Moment zu viel des Gehoppels.

Bro Ho und Pancho zogen auf gleiche Höhe mit Shits. Sie nahmen etwas Geschwindigkeit raus und das Gehoppel ihrer Pferde nahm einen sonoren, gleichmäßig klopfenden Klang an.

Pancho zog eine flache Flasche aus seinem linken Stiefel und entkorkte sie mit den Zähnen, ohne die Rechte vom Zügel zu nehmen. Er gönnte sich einen Schluck, keuchte kurz und reichte die Flasche an Shits weiter.

Shits saugte sich seinen Anteil raus, keuchte und gab die Flasche an Bro Ho weiter, der sie leerte und hinter sich warf. Bevor er keuchte.

Etwas wie ein anstehendes Gespräch lag in der flimmernden Luft.

»Seid ihr eigentlich wirklich sicher«, schnitt Shits das Thema an und die drei Pferde verfielen wie von alleine in Schritt, »dass das wirklich der richtige >Fremde< ist? Ich meine, der aus dem Orakel? Ich will ja keine Haarspaltereien betreiben, aber es fängt damit an, dass er eigentlich gar kein Fremder ist, oder?«

»Aber er heißt so«, brummelte Bro Ho. >»Der Fremde<. Das gleicht's wieder aus.«

»Dann«, fuhr Shits fort, »hat er ja nicht mal mehr seinen Schecken, >Schneller als der Wind<.«

»Du hast nicht zugehört«, schnappte Pancho.

»Kleines Glas hat nur vorausgesagt, dass er damit in den Kreis aus Eisen geritten kommen wird, und das hat er ja wohl getan. Und basta«, schickte er noch hinterher, in abschließendem Tonfall. Es war, verdammt noch mal, zu spät für diese Diskussion.

Doch Shits war noch nicht fertig.

»Und was ist mit den ganzen Squaws, die er beglücken soll? Die Frau vom Bürgermeister hätte sich ja am liebsten gleich auf dem Sheriffschreibtisch von ihm nehmen lassen und das Törtchen von Töchterchen schien mir auch nicht abgeneigt . Und jetzt ist er, wie's aussieht, noch nicht mal im Kitten Club zum Stich gekommen.«

»Bisher haben wir auch noch nicht besonders viel getan, um ihn zu unterstützen«, meinte Pancho mit leisem Vorwurf.

Das zog ein kurzes Schweigen nach sich.

»Also, was soll'n wir denn machen? Ihn hart reiben für ihn? Wenn er selbst im Kitten Club unsere Unterstützung braucht.«, fing Bro Ho an, doch Shits schnitt ihm das Wort ab.

»Immerhin habe ich ihm den Revolver zukommen lassen«, verteidigte er sich.

»Und ich hab Mandoney choro-, chorofo-, cholororofo-, betäubt«, erinnerte sich Bro Ho. Er und Shits sahen Pancho nicht an, aber die Art, in der sie das nicht taten, hatte etwas unausgesprochen Starrendes an sich.

»Wir werden noch alle jede Menge Gelegenheit kriegen, uns zu beweisen«, prophezeite Pancho düster. »Denn von jetzt an gibt es kein Zurück mehr für die treuen Verbündeten.« Und damit trieb er Flat wieder an.

Kein Wunder, dachte ich, dass Beemer nicht rennen will, selbst wenn ich ihn noch so antreibe. Irgendjemand hatte ihm die Packtaschen voll geladen, und zwar bis obenhin. Ich war noch nicht dazu gekommen, mal einen Blick auf den Inhalt zu werfen, doch vom Klang her ließ sich schon ahnen, worum es sich handelte. Müsste ich ihn beschreiben, den Klang, ich würde ihn ein >volltönendes Klunkern< nennen. Ein beruhigendes Geräusch.

Die drei holten auf, zogen neben mich. Ernst, schweigsam.

Ich sah nur die Gitarre quer über Panchos Rücken und wurde mir meiner Verantwortung bewusst.

»Jungs«, sagte ich, senkte die Hand in eine der Packtaschen und brachte sie eng um einen Flaschenhals geschmiegt wieder hoch, »so nett ich das finde«, sagte ich, zupfte den Korken runter und flößte mir einen ein, der mir das Blut zum Brodeln brachte wie Ofenglut einen Teller Bohnensuppe, »aber warum macht ihr das?« Ich keuchte und dachte daran, die Flasche weiterzureichen. Nahm vorher schnell noch einen. Keuchte noch mal. »Ich meine, warum schlagt ihr euch auf meine Seite? Es kann nicht lange dauern, und wir haben halb Buttercup auf unseren Fersen.«

»Das wollten wir dir schon lange erklären«, antwortete Pancho, als das gemeine, die Luft zerreißende Pfeifen einer Gewehrkugel mit einem Ffffnuck! im Leib meines Reittieres verstummte und dann erst vom Knall des Schusses eingeholt wurde. Augenblicklich gingen Ross und Reiter zu Boden.

Mit sonorem Ballern näherte sich das Geräusch eines großen, unangestrengten V-Zweizylinders und verstummte mit dem Knall einer satten Fehlzündung irgendwo vor dem Haus. Zwei Minuten später drückte sich Besuch durch die Zimmertüre. Besuch für mich.

Hoho trug einen Strauß Blumen, was immer ein bisschen seltsam aussieht in der Hand eines riesigen, schmierigen Bikers, und Schisser einen Kranz.

So taktvoll ich konnte, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass er mit seiner Gabe unter Umständen ein ganz klein wenig zu früh dran sei.

»Hoho hat die letzten erwischt«, verteidigte er sich, »und was anderes gab's nicht mehr. Auf dem Friedhof. Aber Schnittblumen halten sich nicht, bei dem Wetter. Weiß doch jeder«, fügte er hinzu, mit einem Seitenblick zu Hoho, der nicht reagierte. Da ist Hoho einmalig drin, im Nicht-Reagieren. Da macht ihm keiner was vor. Ohne eine Miene zu verziehen, kippte er den Inhalt meiner Pissflasche aus dem Fenster, ließ sie am Waschbecken voll Wasser laufen, stopfte die Blumen hinein und hängte alles zusammen zurück an den Haken neben meinem Bett.

Dann stellte er sich wieder zu Schisser, und gemeinsam nahmen sie mich und die Lage, in der ich mich befand, in Augenschein. Beide hatten sichtliche Mühe, sich das Feixen zu verbeißen. Die Mitleidsgrenze bei Bikern hängt hoch, sehr hoch.

»Was macht ihr eigentlich hier?«, fragte ich mit dem säuerlichen Unterton von jemandem, der Schadenfreude bis dato meist nur von der anderen, der aktiven Seite her gekannt hat, »ich dachte, ihr sitzt in U-Haft?«

»Urlaub auf Ehrenwort«, freute sich Hoho.

»Einzige Auflage: Wir dürfen uns nicht mit dir treffen.«

Vom Nachbarbett konnte man das tiefe Seufzen hören, das Hauptkommissar Menden für allzu idiotische Äußerungen reserviert hat.

Ich winkte Hoho zu mir herunter und offenbarte ihm flüsternd die Identität meines Zimmernachbarn.

Das sollte mich die Blumen kosten.

»Hoho, sieh mal einer an«, freute sich Hoho und verschwand mit dem tropfenden Strauß um die Trennwand herum, »der Menden!« Nur Sekunden später sprühte der Inhalt einer weiteren Urinflasche aus dem offenen Fenster, und Menden sah sich von einem Augenblick auf den anderen in eines von Hohos durch und durch freundlichen Gesprächen verwickelt, für deren Führung der schlichte Riese nur wenig Ermutigung oder gar Teilnahme braucht.

Wobei man wissen muss, dass Hoho den Hauptkommissar wirklich mag. >Mit dem kann man reden<, behauptet er immer und na, das machte er dann jetzt auch.

»Wir kommen bald ganz raus«, vertraute Schisser mir an und zog sich einen Stuhl neben mein Kopfende. »Polizeichef Stankowski hat zu wenig gegen uns in der Hand.«

Wir nickten beide zufrieden. Das waren gute Nachrichten.

»Dafür«, fügte Schisser nach einer Weile hinzu, »versucht er jetzt, alles dir anzuhängen.«

»Was ist?«, fragte ich verwirrt und keuchte, weil Pancho mich gerade mit dem Rest aus der Flasche wieder belebt hatte.

»Du bist zu Boden gegangen«, knurrte Bro Ho.

»Mit 'm Kopf zuerst.« Er kauerte, wie Shits, wie Pancho, wie wir alle, so dicht es ging auf einer Seite des toten Deputy-Pferdes.

Ich schüttelte meinen Kopf und setzte mich auf.

Ein Schuss peitschte und schon lag ich wieder. Und begriff plötzlich die allgemeine Sitzordnung. Gerade eben dem Erhängen entgangen, aus einer Ohnmacht erwacht, konnte ich schon wieder Deckung suchen vor den Kugeln eines Heckenschützen. Voller Sensationen, das Leben hier im Westen.

»Wer schießt da?«, fragte ich, noch leicht verwirrt, und musste feststellen, dass die Flasche tatsächlich leer war.

»Dreimal darfste raten«, knurrte Bro Ho. »Und wenn das wirklich Dickie ist, dann gnade uns Gott. Schießen kann er, der kleine Thysson.«

»Er hat sich hinter den Felsen auf dem Hügel dahinten verschanzt«, erklärte mir Shits. »Von da aus kann er die ganze Gegend hier bestreichen. Völlig egal, in welche Richtung wir uns bewegen, er hat uns voll im Visier.«

Na, in dem Fall gab es nur eine Richtung, in der ich es versuchen würde.

»Sie sind Richtung Westen«, blubberte Toller Hund. »Richtung Westen!« Er triefte. Er triefte wie nur je ein Indianer, der von einem wütenden Sheriff, umgeben von einer biestig dreinblickenden Meute von Blechsternträgern, in eine Pferdetränke getunkt worden war. »Dafür braucht ihr keinen Scout«, blubberte Toller Hund hastig weiter, immer noch die Sheriff-Faust im Nacken, immer noch unter den bohrenden, blutunterlaufenen Blicken der Bürgerwehr.

Die Temperatur stieg und stieg und die Sonne brannte und brannte und die Stimmung in Buttercup sank und sank und etwas wie Hass loderte und loderte.

Vor allem, muss man sagen, seitdem entdeckt worden war, dass zusammen mit dem Fremden der örtliche Sargtischler das Weite gesucht hatte, der örtliche Totengräber und, zu allem Überfluss, auch noch der örtliche Barkeeper.

Und die Sonne brannte umso härter auf all die grausam verkaterten Schädel und der Hass loderte umso höher, seitdem klar geworden war, dass der örtliche Barkeeper es irgendwie geschafft hatte, seine gesamten Vorräte mitzunehmen.

»Nach Westen«, blubberte der Indianer. »Einfach nur den Gleisen ... aus Eisen ... folgen.« Der Sheriff ließ ihn los und Toller Hund fluchte und sackte mit einem enormen Schluckauf zusammen. Zu viel Wasser bekam ihm einfach nicht.

»Also hier ist mein Plan«, sagte der Fremde. »Wir hechten nacheinander über die Gleise und dann brauchen wir nur noch Richtung Süden zu robben, bis wir aus der Reichweite des Gewehres sind.«

Bro Ho führte sich einen Zahnstocher zwischen die Zähne.

Shits schnalzte mit der Zunge.

Pancho blickte hinab auf seine Hände.

Keiner rührte sich. Sie wussten, dass der Plan einen schweren Haken hatte. Und der Fremde würde es auch gleich wissen.

»Alle mir nach«, forderte er, zählte bis drei und hechtete. Er hechtete gut, geradezu athletisch. Er kam genau bis zur äußeren Schiene.

Es war, wussten alle drei aus eigener Erfahrung, wie gegen eine unsichtbare Gummiwand anzulaufen. Oder, in diesem Fall, zu hechten. Man konnte machen, was man wollte, man kam nicht dagegen an.

Er hechtete also gut und athletisch, der Fremde, und wäre vom Schwung und der Flugbahn her sicher und sauber auf der anderen Seite gelandet, stoppte aber trotzdem mitten im Flug und fiel platt auf die Schwellen. Gleichzeitig peitschte ein Schuss, also hechtete der Fremde zurück in Deckung.

»Wa-was war das?«, stotterte er.

»Der >Kreis aus Eisen<«, erklärte ihm Pancho.

»Indianerfluch«, erklärte ihm Shits.

»Verdammte Heiden«, erklärte Bro Ho.

»Das müsst ihr mir schon ein bisschen näher erklären«, sagte der Fremde.

Es hatte warnende Stimmen gegeben, erfuhr ich, den Bahnhof von Buttercup ausgerechnet auf dem alten Indianerfriedhof zu errichten, doch Bürgermeister Thysson hatte sie einfach in den Wind geschlagen. Der dem Eisenbahnprojekt von da an stetig ins Gesicht blies. Eigentlich war die Bahnstrecke als Anschlussverbindung an die Southern Pacific Railway geplant gewesen. Entsprechend groß das Erstaunen, als man nach vier Jahren Bauzeit wieder exakt an dem Punkt ankam, an dem man losgelegt hatte: Buttercup Hauptbahnhof.

»Und erst als die letzten Meter Gleis gelegt, als Anfang und Ende der Strecke miteinander verbunden worden sind, hat man begriffen, was Kleines Glas da dauernd vom >Kreis aus Eisen< gefaselt hatte. Seither ist niemand mehr aus diesem teuflischen Kreis herausgekommen«, murmelte Pancho düster. »Seither ist jeder Versuch, die Gleise von innen nach außen zu queren, zum Scheitern verurteilt.«

»Kommt«, sagte ich, »ihr wollt mich doch vergackeiern. Warum schrauben wir die Scheiß-Schiene nicht einfach ab und gut ist?«

»Jeder, der es bisher versucht hat, ist dabei ums Leben gekommen«, flüsterte Pancho. »Und zwar unter mysteriösen Umständen. Vom eigenen Schraubenschlüssel erschlagen, von der eigenen Seilwinde erwürgt . Der alte Whippley hat es sogar mit Dynamit versucht

»Sein Hut war alles, was wir noch von ihm gefunden haben«, raunte Shits.

»Doch keiner wollt'n kaufen«, fügte Bro Ho hinzu. »Hängt jetzt oben auf Whippleys Holzkreuz, das Ding. Kannste dir ja mal angucken gehen.«

»Und solche indianischen Totenflüche halten sich lange. Wenn wir Pech haben, kommen wir niemals mehr hier raus«, meinte Pancho düster und sah mich prüfend an.

»Zumindest nich, solange wir am Leben sind«, knurrte Bro Ho, ebenfalls düster.

»Schön und gut«, fand ich, einigermaßen heiter. Mal im Ernst: Konfrontiert mit einem parapsychologischen und einem physischen Problem neige ich dazu, erst mal das Greifbarere anzugehen. »Wenn wir uns also nicht über die Gleise vom Acker machen können, müssen wir einen Weg finden, den Heckenschützen dahinten zu erledigen. Und zwar, bevor der Sheriff kommt und uns erledigt.« Ich sah von einem zum anderen, um zu prüfen, wie meine Worte aufgenommen wurden. Mit zögerlichem Nicken, würde ich sagen. »Ich schlage vor, dass ein Mann sich an die Felsgruppe heranrobbt, ihn aus der Deckung und direkt vor unsere Gewehre treibt.« War da Skepsis auszumachen in den Mienen meiner Mitstreiter? Nicht, wenn man kurz genug hinsah. Schnell sprach ich weiter. »Und um uns die Auswahl, wer von uns es als Erster versuchen darf, etwas zu erleichtern, habe ich schon mal vier Streichhölzer vorbereitet.« Ich hielt sie frohgemut in die Höhe. Im Streichholzziehen habe ich ein sagenhaftes Glück. Im Münzewerfen auch, doch das nur nebenbei.

»Ohne mich«, lehnte Pancho sofort und kategorisch ab. Das hat man davon, wenn man sich seit Kindesbeinen kennt.

Ich holte tief Luft.

»Als ich vor acht Wochen und siebeneinhalb Tagen unten im Süden mein Pferd von der Mississippi-Fähre führte«, ließ ich die Luft, leise und versonnen, wieder ab, »warteten da schon sechs Zollbeamte auf mich.«

Pancho schluckte.

»Ich kann mich irren«, erzählte ich im gleichen, leisen und versonnenen Tonfall weiter, »aber im Nachhinein werde ich das Gefühl nicht los, dass sie irgendwie über mein Kommen informiert gewesen sein müssen.«

Pancho wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte ein lohnendes Ziel für seinen irrenden Blick. Erfolglos.

»Vier der Beamten haben mich umstellt und entwaffnet, die beiden anderen sind schnurstracks zu meinem Pferd, aufs Geratewohl zur linken Packtasche, haben deren Boden aufgeschlitzt und zu meiner andauernden Überraschung eine kleine Flasche mit einer Substanz ans Licht gezogen, deren Besitz in ihrem strenggläubigen Staat unter drakonischen Strafen verboten ist.« Pancho besah sich seine Stiefelspitzen, als ob sie ihm gerade erst gewachsen wären. »Einer Substanz, wie sie nur einer herstellt, den ich kenne.«

Ich hielt die Hand mit den Streichhölzern wieder hoch.

Pancho sah auf und mir direkt in die Augen.

»Okay«, stieß er hervor und schnappte sich ein Streichholz, stöhnte auf, als es das kurze war. »Der Sheriff«, gestand er dann, »hat irgendwoher Wind bekommen von deiner Reise. Kaum warst du unterwegs, hat er gedroht, mich wegen Schwarzbrennerei auspeitschen zu lassen, wenn ich ihm nicht eine kleine Flasche Chrystal Lightning bringe. Ich hab keine Ahnung, wer sie dir wann und wo in die Packtasche genäht hat. Nachher hat er mich noch ein paar Tage im Knast festgehalten, so dass ich keine Möglichkeit mehr hatte, dich zu warnen. Thysson steckte hinter der ganzen Aktion. Er wollte sicherstellen, dass du hier nicht zur Versteigerung auftauchst. Aber es war mein Chrystal Lightning, ja. Und ich schäme mich dafür. So, jetzt wisst ihr's.« Und damit griff er sich ein Gewehr und robbte los.

»Sie sind aus der Haft ausgebrochen!«

»Stimmt gar nicht. Ich wurde amnestiert. Und gerade noch rechtzeitig.«

Menden schnaubte. »Ich rede hier nicht von Marokko!«

»Obendrein bin ich da unschuldig reingeraten. Unschuldig wie ein -«

»Ich rede von Ihrer U-Haft hier in Bolterop!«

Der Doktor hatte dem Hauptkommissar ausdrücklich viel Ruhe verordnet, doch hielt der sich dran?

»Ach, was heißt hier >ausgebrochen<? Nachdem die Demonstranten die Wache gestürmt hatten, bin ich nur ein bisschen Luft schnappen gegangen.«

»Ein gemeinschaftlich begangener Haftausbruch erfüllt den Tatbestand der Gefangenenrevolte. Dafür alleine kriegen Sie schon mal fünf Jahre!«

»Ich war von dem vielen Tränengas wie blind, und als ich wieder klar sehen konnte, hatte ich mich verirrt. Und dann hab ich einfach nicht mehr zurückgefunden.«

Ein Geräusch wie das Knirschen von Zähnen drang durch die Trennwand.

»Und die Rädelsführerschaft an diesem Aufstand«, sagte Menden langsam und mühsam beherrscht, »die weisen wir Ihnen auch noch nach!«

»Schwingt eine miese Peitsche, der Sheriff«, meinte Bro Ho.

»Weiß genau, wo er die Daumenschrauben ansetzen muss«, meinte Shits.

Ich seufzte und warf mit einem Anflug von Reue die verbliebenen drei Streichhölzer fort.

»He, das sind ja alles kurze!«, fiel es Bro Ho auf.

Ich seufzte noch mal. Kam es mir nur so vor oder konnte man aus der Richtung von Buttercup Schüsse hören?

»Kannst du Pancho sehen?«, fragte ich Shits, dicht an den Hals unseres Deckungskadavers geschmiegt.

»Er müsste jeden Augenblick bei der Eiche sein«, murmelte Shits, vom entgegengesetzten Ende der Tierleiche.

Ein Schuss peitschte. Shits sog zischend Luft durch die Zähne.

»Fast hätte es ihn erwischt«, berichtete er.

Ich überlegte, ob dies, wo der Schütze doch durch Pancho abgelenkt war, nicht unter Umständen der perfekte Moment wäre, um .

Moment mal, dachte ich, was macht Pancho bei der Eiche? Wollte er den Heckenschützen erledigen, hätte er in die andere Richtung robben müssen. Die Pferde, dachte ich. Flat, Knuckle und Shovel hatten sich in den Schatten des einsamen Baumes geflüchtet. Das Verb dieser Beobachtung blieb irgendwie hängen.

»Jetzt ist er da«, keuchte Shits, gepackt von den Vorgängen. Wie, davon konnte man mal ausgehen, der Schütze auch. Ein perfekter Moment somit, um .

Ein Schuss peitschte.

. um mal ganz schnell nach der oben auf dem Maultier zu liegen gekommenen Packtasche zu schauen. Zur Vorsicht hielt ich erst mal kurz meinen Hut hoch.

Ein Schuss peitschte, und die Krempe meines Kopfputzes verfügte jetzt über eine Art natürlichen Ablauf, sollten wir die nächsten Tage mal in den Regen kommen.

»Jetzt hat er Flat am Zügel«, keuchte Shits, »jetzt schwingt er sich drauf, jetzt reitet er los

Schuss auf Schuss auf Schuss peitschte.

Zack, war ich bei der Packtasche, und zack, war ich wieder unten.

»Aber, aber, aber . er . er reitet in die falsche Richtung!« Shits klang genauso entrüstet wie überrascht.

Kniep, pfümm!, machte der Korken. Ich selbst war nicht so erstaunt. Glulk, glulk, glulk, machte die klare Flüssigkeit auf ihrem Weg aus der Flasche heraus und hinein in meinen Hals. Jeder Versuch, den Schützen da drüben vor Einbruch der Nacht auszuräuchern, war glatter Selbstmord. Ich keuchte.

Andererseits war es auch suizidaler Wahnsinn, hier bis Anbruch der Nacht herumzuhocken. Wenn man den fernen Geräuschen trauen konnte, waren der Sheriff und sein Lynchmob schon dabei, unsere Spur aufzunehmen. Klassisches Dilemma, dachte ich und nickte der Flasche zu, da peitschten Schüsse, noch und noch. Und Shits sprang auf die Füße, riss sein Gewehr hoch und begann wie besessen zu feuern. Jetzt war auch Bro Ho auf den Beinen, Revolver in beiden Fäusten, schrie und schoss in einem fort. Ich zählte bis zehn, und als keiner der beiden >tf7< machte, aus den Latschen kippte und röchelnd verstarb, zählte ich noch mal bis zehn und erhob mich dann ebenfalls. Zog und schoss, lud nach, und schoss noch mehr.

Pancho ritt seitwärts gegen den Hügel an. Kopf runter, Gewehre in beiden Händen, aus allen Rohren feuernd, und nur Augenblicke, nachdem ich mich an all dem Getöse beteiligt hatte, löste sich oben auf der Kuppe eine Silhouette aus dem Schatten eines Felsens und flüchtete. Ross und Reiter, die Silhouette. Und was das Ross angeht, so war es mein Falco. Und im Sattel Dickie Thysson, wie vermutet.

Ich krieg dich, dachte ich, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Dich und die Ranch .

Bro Ho und Shits jubelten, schossen noch ein bisschen und verstummten dann wie ihre Waffen. Mit beginnender Entgeisterung sahen sie dem Flüchtenden hinterher.

»Aber«, meinte Bro Ho und legte seine Stirn in Falten, »aber . der reitet ja in den Katanga-Canyon!«

Das war offensichtlich und auch mehr oder weniger der einzige Weg, der ihm blieb. Mit einem panikblind ballernden, praktisch unstoppbaren Pancho auf der einen Seite, mir und, nicht zu vergessen, zwei weiteren Heavies auf der anderen und den mit einem Indianerfluch belegten Eisenbahngleisen auf der dritten, blieb Dickie geographisch keine andere Wahl, als sich entweder senkrecht in die Lüfte zu erheben oder aber hinein in den die Schwarzen Berge trennenden Katanga-Canyon zu flüchten.

»Und?«, machte ich. »Hinterher!«

Und Bro Ho und Shits drehten sich zu mir und sahen mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte.

Ich verstehe überhaupt nicht, dachte Pancho und feuerte mit rechts, wieso ich, dachte er weiter und feuerte mit links, wieso ich bisher, dachte er und lud nach, im vollen Galopp und immer hinter Dicksie Thysson her, wieso ich bisher immer so einen Bammel vor Schusswaffen gehabt habe. Teufel, sagte er sich, zielte diesmal sogar und drückte ab, das macht ja Laune. Das Einzige, das mich wundert, wunderte er sich, ist, dass ich bisher bei allem Schießen, bei allem Zielen, noch nichts getroffen habe ... Als buchstäblich aus heiterem Himmel ein Geier herabgesegelt kam, dabei eine tanzende Spur von Federn hinter sich herzog und hart auf dem trockenen Grund landete. Na ja, fast nichts, tröstete sich Pancho.

»Du willst tatsächlich in den Katanga-Canyon?!«

Shits schauderte. Nur wenige Leute ritten heutzutage noch in diese finstere, von Tausenden von lange erloschenen Feuern geschwärzte Schlucht hinein, aus deren steilen Wänden zahllose Höhlen und Mineneingänge auf einen herabblickten wie tote, vorwurfsvolle Augen.

Und noch weniger, dachte er und half dem Fremden dabei, die schweren Packtaschen von Beemer auf Knuckle umzuladen, noch viel weniger kamen je wieder herausgeritten.

»Nicht in den Katanga-Canyon!« Bro Ho schüttelte sich unwillkürlich. Kaum jemand wagte sich dieser Tage noch vor in die weit verstreuten, rußschwarzen Ruinen alter Mühlen, Schmelzen, aufgegebener Fördertürme, in die bizarre Landschaft aus Schutt und Schrott zu Füßen der dräuenden Wände.

»Er ist in den Katanga-Canyon geritten!«, stieß Pancho hervor und stieg mit fliehendem Atem und wilden Augen vom vehement verzögerten Pferd. »Wahnsinn!«

Etwas an der mangelnden Zustimmung zu dieser seiner letzten Bemerkung und dem irgendwie viel sagend wirkenden Schweigen um ihn herum riss Pancho aus seinen Zukunftsträumen von sich selbst als dem bekanntesten Revolverhelden des ganzen Westens, und des Ostens noch gleich mit dabei, Süden sowieso, nur über den Norden war er sich nicht sicher, da war es immer so schauderhaft kalt, und eine plötzliche Vorahnung jagte ihm einen kalten Schauer den Rücken hinunter.

»Ihr wollt doch nicht etwa hinterher?«

»Frag ihn«, brummte Bro Ho.

»Er will«, knurrte Shits. Und beide meinten den Fremden.

»Nicht in den Katanga-Canyon!« Panchos Stimme klang beinahe flehentlich.

Auswärtige Firmen hatten einstmals Unsummen an der Ausbeutung der in der riesigen Felsspalte verborgenen Bodenschätze verdient, und Tausende billige Arbeitskräfte hatten sich mit ausbeuten lassen und unter den miesen Arbeitsbedingungen und dem rigorosen Vorgehen gegen jegliche auch nur ansatzweise gewerkschaftliche Organisation ihr Leben gelassen.

Und heutzutage lauerte mehr denn je der Tod in jeder Höhle, jedem Minenschacht, spähte durch all die leeren Fensteröffnungen, wartete hinter jedem Felsvorsprung, jeder zerfallenden Mauer, folgte einem wie ein Schatten und heulte mit dem Wind zusammen durch die steinernen, eisernen und hölzernen Zeugen des Sterbens so vieler Männer, damals wie heute.

Und was das Furchtbarste war: Nicht alle diese toten Seelen, munkelte man, hatten den Weg hinausgefunden aus der unheimlichen Schlucht. Pancho bibberte wie ein Nackter in eisigem Wind.

»Und?«, fragte der Fremde, vielleicht ein kleines bisschen herausfordernd, und drückte Pancho die Flasche in die zitternden Hände. »Was soll uns da schon erwarten?«

»Mexikanische Raubmörderhorden«, raunte Shits.

»Indianische Skalpjägermeuten«, flüsterte Bro Ho.

»Und ... und ... und ... Zombies«, keuchte Pancho und setzte die Flasche zu einem gurgelnden Schluck an.

Das kann nicht sein, dachte er und keuchte, dass ich an ein und demselben Tag lerne, meine größte Angst zu überwinden, und mich gleich im Anschluss meiner zweitgrößten stellen muss. Das kann nicht sein, dachte er wieder, setzte die Flasche erneut an, und ihr Hals schlug einen Kastagnettentakt gegen seine Jacketkronen.

Schüsse peitschten, Hufe trommelten, Staub stieg auf, jemand schrie: »Yee-hah!«

All das in einiger, wenn auch schrumpfender Distanz und aus der Richtung kommend, wo in der Ferne Buttercup in der Nachmittagssonne vor sich hin sielte wie etwas, das selbst ein Hund nicht mehr anrühren würde.

Der Jemand wiederholte sein »Yee-hah!«.

Möglich, dass es der Gleiche war, der den in einer dicken Schlaufe endenden Strick herumschwenkte. Ein paar Minuten Wartezeit, dann sollte man dies klar erkennen können.

»Haben wir eine Wahl?«, fragte der Fremde.

»Nein.«

»Nicht wirklich.«

»Doch! Doch! Wir könnten die Waffen fallen lassen, die Hände heben und uns stellen. Wir könnten unsere schweren Kindheiten in die Waagschale werfen und auf mildernde Umstände plädieren. Alles ist besser, als nach Katanga zu reiten und da möglicherweise Zo-Zo-Zom

»Also.«