I
»Ropes of the gallows
Are swingin' in the breeze
All the >Wanted<-posters
Have pictures of me.«
The Beat Farmers >California Kid<
Erst das Pferd und dann der Reiter. Eine meiner kleinen Regeln. Man sollte nie vergessen, wer wen auf seinem Rücken trägt und warum eine Umkehrung dieses Arrangements keine wirklich gute Idee wäre. Schon gar nicht für jemanden in meiner Situation.
Deshalb passierte ich also erst mal mannhaft den Saloon, ließ den Schecken weitertrotten bis zum Mietstall, stieg nicht ohne eine gewisse Mühe ab und führte ihn hinein ins gnädige Halbdunkel.
Gleich die erste Box war belegt. Noch hatten sich meine Augen nicht auf die Lichtverhältnisse umgestellt, doch was sie mitbekamen, wirkte so, als hätte sich ein schiffbrüchiger Indianer mit letzter Kraft auf ein Rettungsfloß gerettet.
»Na, auch mal wieder in der Stadt?« Sam, der eineinhalbbeinige Verwalter dieses Schuppens, war mitsamt Krücke an meiner Seite aufgetaucht.
»Ist 'ne Weile her, oder?«
»Stimmt«, bestätigte ich. »Ich komme nicht oft nach Buttercup und wenn doch, bleibe ich nicht lang. Deshalb ist mir, als ob ich mich jedes Mal wieder komplett neu eingewöhnen müsste. Ist das etwa Toller Hund, der da in der Box liegt?«
Sam strich sich durch den grauen Bart, rückte seine alte Kavalleriemütze zurecht. Auf die Knöchel seiner Rechten hatte er H-A-T-E tätowiert. Auf die der Linken auch, doch das nur nebenbei. Prüfend und konzentriert umhumpelte er mein Pferd, strich ihm sachte über die verschwitzte Flanke.
»Hat er die Hose auf halbmast?«, fragte er.
Ich sah nach, wurde mit dem Anblick zweier pickliger Arschbacken belohnt und nickte.
»Hat er 'ne Pulle Fusel in der Hand?«
Er hatte.
»Ist sie leer?«
Sie war.
»Liegt er auf 'ner Frau?«
Das Rettungsfloß erwies sich bei genauerer Betrachtung als eine ungeheuer dicke Negerin. Ich ging nicht ins Detail, sondern bestätigte nur kurz den generellen Umstand.
»Und, grinst sie?«
»Ich würde es eher ein Lächeln nennen«, meinte ich galant. »Also, noch Fragen?«
»Ja. Was hat sich hier seit meinem letzten Besuch geändert?«
»Einiges und dann doch wieder gar nichts«, meinte Sam, ausweichend. »Die dritte Box ist noch frei.«
Ich schob den Schecken in die dritte Box und löste seinen Sattelgurt, was ihn vor Freude furzen ließ. Warm war's in dem Stall, auf eine träge Art gemütlich ... Man konnte die Rothaut direkt beneiden ... Ich schloss für einen Moment die Augen, lehnte die Stirn gegen den weichen Bauch meines Pferdes ...
»Was ist ... wo bin ich hier?«, fragte eine krächzende Stimme rechts von mir. War er also tatsächlich noch mal aufgewacht, der Zimmernachbar. Verdammt, und er war so schön ruhig gewesen bis jetzt. Mein Schädel reagierte auf das kleinste Geräusch mit einem Pochen hinter der Stirn, wie ich es bisher noch nicht mal mit Tequila zustande gebracht hatte.
»Im 'Ospietal de la Virgen Maria, wennse rechte ieste«, antwortete Imelda, die philippinische Putzfrau mit dem Hintern eines schwangeren Kaltblüters.
»Was?«, fragte die Stimme. Heiser. Und vage vertraut. Vor allem dieses ungläubige >Was?<.
»Marien'ospital, iene aleman.«
»Und ... wie komme ich hierher?«
»Ambulanciea, würd iech sage«, antwortete Imelda und ich hörte ihren Mopp gegen die Fußleisten klatschen.
Wollte Erinnerungen wecken bei mir, diese heisere Stimme.
»Mit dem Krankenwagen? Ja ... wieso das denn? Was ist denn passiert?«
Gleichzeitig schienen meine Erinnerungen es aber vorzuziehen, erst mal gründlich auszupennen.
»Unfall, würd iech meine«, antwortete Imelda auf ihre ruhige Art.
Ich hätte gerne mal rübergelinst, doch irgendjemand hatte eine Trennwand zwischen unsere Betten gestellt. Warum auch immer.
»Unfall? Ja, das sieht mir ganz danach aus«, zog mein Zimmernachbar eine erste Bilanz seines Zustandes. »Doch was für ein Unfall? Und wie ist es dazu gekommen?«
»Da fragens besser den Arzte«, meinte Imelda.
»Müsste gleiche 'iersei. Wenn iech erst mal sage, dasse wieder wache siend.«
»Na, dann tun Sie das doch! Und sagen Sie ihm, dass ich das Gefühl habe, mir platzt gleich der Schädel!«
Willkommen im Club, dachte ich.
»Und wenn ich schon im Krankenhaus gelandet bin, wieso nicht im Einzelzimmer? Schließlich bin ich privat versichert.«
Ich seufzte. Das fehlte noch. Im gleichen Zimmer mit einem von diesen nörgeligen P-Patienten.
»Niex mehr frei, nach allem, was so los gewese, letzte Tage.«
»Was war denn los, verdammt noch mal?«
»Na, einieges, das könnse glaube.«
»Und wer liegt da drüben, in dem anderen Bett?«
»Das«, sagte Imelda noch und schlurfte zur Tür, »wollense besser garniechte wiesse.«
»Eins würd ich gerne wissen -«
Eine Sekunde oder so sah ich den Verwalter verwirrt an.
»Hat er auch 'nen Namen?« Er meinte mein Pferd.
»Falco«, sagte ich und konnte den Schecken so gerade daran hindern, mir den Hut vom Kopf zu stupsen, was er gern macht. Anschließend stellt er immer schnell einen Huf drauf, und wenn man sich dann danach bückt ... Schönes Pferd, mein Falco, bis auf diese großen, gelben Zähne. Und seinen, wie soll ich sagen, bissigen Sinn für Humor.
»Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, beschwerte ich mich. »Irgendwelche wichtigen Änderungen hier, auf die ich gefasst sein sollte?«
Sam schnalzte kurz und trocken mit der Zunge, sagte aber nichts. Ich hob inzwischen den Sattel vom Pferderücken und wuchtete ihn auf einen Ständer, richtete mich auf und fühlte plötzlich den Saloon seinen einmaligen Magnetismus entwickeln. Erst das Pferd, sicher, aber dann ...
Sam räusperte sich. »Thysson, Mandoney, Starski«, warf er hin. »Sagen die dir was?«
Ich durchforstete mein Gedächtnis. »Thysson, ja«, antwortete ich dann, »Mandoney ... hm. Starski? Warte mal, Starski ... Ist das nicht der Sheriff, der -«
»Genau«, unterbrach mich Sam. >»Der Sheriff<. Schon mal begegnet?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Besser das«, fand er. »Vor allem für jemand, der dem Steckbrief draußen so ähnlich sieht wie du.«
»»Jeder sieht dem Steckbrief ähnlich«, meinte ich leichthin.
»Doch Fremde ganz besonders«, knurrte er warnend.
Und mehr wollte er zu dem Thema nicht äußern.
»Okay«, sagte ich und brach auf. »Hier hast du ein paar Dollar extra. Mach mein Pferd ein bisschen hübsch und gib ihm 'ne Schaufel Hafer mehr als üblich. Es hat ein paar harte Tage hinter sich.«
»Das sehe ich.« Er legte den Kopf schräg, beugte den Rumpf für einen genaueren Blick. »Könnte ein paar neue Eisen brauchen«, stellte er fest. »Vor allem hinten, die sind in der Mitte ganz abgelaufen.« Liebevoll zupfte er Falco einen dornigen Zweig aus der Mähne und der stupste ihm dafür freundlich die Kappe vom Kopf. Sam bückte sich und ich ließ die beiden allein.
»Auuiih!«, schallte mir noch nach, gefolgt von einem ausgesprochen fröhlichen Wiehern.
Die Saloon-Tür schloss mit einem Knall und Shits fuhr herum. Ein professioneller Reflex.
Shits war unglaublich schnell, doch tat er sein Bestes, das nicht publik zu machen. »Ich hatte schon zu viele unglaublich schnelle Kunden«, sagt er oft, »die dann alle einen getroffen haben, der noch 'nen kleinen Tick schneller gewesen ist.«
Aus diesem Grund hatte Shits, als es knallte und er herumfuhr, auch keinen Revolver gezogen. Sondern sein Maßband.
Ohne das Ergebnis einer exakten Messung erteilte der Sheriff schon lange keinen Auftrag mehr. Und wenn sich gerade mal wieder einer mit einem Knall verabschiedet hatte und man erst in die Werkstatt rennen musste, um eine Messlatte zu holen, konnte es passieren, dass, bis man zurück war, der Kunde schon längst anderswo diskret verscharrt worden war. Deshalb hielt Shits rund um die Uhr sein Maßband in Griffweite.
Diesmal legte er es gar nicht erst wieder weg. Wo immer Dickie Thysson auftauchte, gab es früher oder später Arbeit. Und wenn nicht für ihn, Shits, dann zumindest für Doc Tatters. Und meist früher als später.
»Pancho, wetz dein Messer«, befahl Dickie mit einer Stimme, die einem die Schulzeit in Erinnerung rief, als wir alle so gesprochen haben. »Mach es schön scharf.« Oder wenn die Kreide in der Hand der Lehrerin in einen unglücklichen Winkel zur Tafel geriet und dann ... »Denn wenn du mich auch nur anritzt, puste ich dich weg.«
Pancho Escuzito seufzte schwer. Er stellte das Glas, mit dessen Politur er sich einen Großteil des bis jetzt recht ruhigen Vormittags beschäftigt hatte, beiseite und zog die Barbierutensilien aus der Schublade.
Alles, was Pancho wollte, war, in seiner Destille hocken, den Tropfen beim Fallen zusehen und ein wenig Gitarre spielen. Doch seine Mutter, >Mama Escuzito<, die Eigentümerin des Saloons, hatte so lange konsequent jeden Barmann gefeuert, bis keiner mehr zur Verfügung stand und Pancho in die Bresche springen musste. Ihr war auch die Idee gekommen, die schlappen morgendlichen Einnahmen durch den Extra-Service des Rasierens ein wenig aufzupeppen. Was sie dabei nicht berücksichtigt hatte, war, dass es in der Natur der meisten Kunden hier in der Gegend lag, nur unter großen Vorbehalten jemanden mit einer scharfen Klinge an ihre Hälse zu lassen.
Vorbehalte, denen sie gerne durch präliminarische Drohgebärden Ausdruck verliehen. Mit Vorliebe untermauert durch das demonstrative Herumfuchteln mit scharf geladenen Schusswaffen.
Und Pancho hasste Schusswaffen. Nicht einmal so sehr, weil er, wie man vermuten durfte, seit Einrichtung der Barbierecke nun über ein Etablissement mit gleich zwei großen Spiegeln verfügte. Nein, Pancho hasste Schusswaffen grundsätzlich. Sie machten ihm Angst. Und Angst machte ihn zittrig.
Draußen vor dem Mietstall flirrte die Luft, dass die Hauptstraße stellenweise schimmerte wie ein Spiegel. Die Sommer hier im tiefen Westen sind entweder nur unter Zuhilfenahme eines Kalenders vom Winter zu unterscheiden, oder aber sie machen ernst, überziehen die Gegend mit einer brütenden Schwüle, die die Mordlust auch im friedlichsten Zeitgenossen zu wecken vermag.
Wer immer sich zwischen mich und den nächsten Drink stellt, dachte ich, wird das am eigenen Leib zu spüren kriegen.
Meine Zunge lag mir im Maul wie etwas, das man normalerweise unter robuste Stiefel nagelt. Gemessenen Schrittes bewegte ich mich in der geradestmöglichen Linie auf den Saloon zu.
Die Stadt hatte sich nicht besonders verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Wie die meisten Orte in der Grenzregion sah sie aus, als habe man sie binnen eines halben Jahres zusammengenagelt und könne sie binnen einer Viertelstunde wieder niederbrennen. Der einzige größere Ziegelbau gehörte der >Buttercup Savings and Loans<, dem Geldinstitut Ihres Vertrauens. Ich blieb kurz davor stehen, besah mir die imposante, verschnörkelte Fassade, den makellosen Anstrich, die blattgoldenen Schriftzüge in jedem einzelnen Fenster.
Später, entschied ich dann.
Die Tür zum Saloon öffnete nach außen und quietschte hässlich in den Angeln, als ich sie aufzog. Ich mag das. Habe noch nie viel von diesen halbhohen Pendeltürchen gehalten, wie sie anderswo Mode sind. Ich will es hören können, wenn jemand Neues hereinschneit. Von einer Feder betätigt, schlug die Tür mit einem Knall hinter mir zu. Jegliches Gespräch erstarb. Alle Augen im Raum richteten sich auf mich.
»Tach auch«, sagte ich. »Allerseits.«
Jemand japste. Ein Rasiermesser fiel klackernd zu Boden.
»Er könnte es sein«, beharrte der Bürgermeister und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Er sieht dem Mann auf dem Steckbrief ähnlich.«
»Jeder sieht dem Steckbrief ähnlich«, seufzte der Sheriff und lehnte sich weiter in seinem Stuhl zurück. »Das ist ja das Schöne daran, Thysson. Sonst kämen wir ja kaum noch zum Hängen, wenn es anders wäre.«
»Und falls er es wirklich ist?«
»Dann muss er hergeflogen sein.« Der Sheriff ahmte mit den Armen schlagende Flügel nach und sah für einen Augenblick einem Vogel mit weißem Gefieder nicht unähnlich. Mit weißem Gefieder und einem knallroten Schnabel vornedran. »Erst letzte Woche hab ich telegrafisch nachgefragt, und da war er noch unten im Süden fleißig dabei, in einem schicken, gestreiften Anzug aus großen Steinen kleine zu klopfen.«
»Trotzdem seltsam. Ich meine den Zeitpunkt. Wenn er es doch wäre ...«
»Kein Mensch kann so schnell reiten«, versicherte der Sheriff nach einem kontemplativen Weilchen.
»Oder«, korrigierte er sich ein weiteres Weilchen später, »präziser ausgedrückt: Kein Pferd könnte eine solche Distanz in so -«
»Angenommen«, unterbrach ihn der Bürgermeister, »ich finde jemanden, der ihn zweifelsfrei erkennt?«
Der Sheriff legte die Hände in den Nacken und schürzte nachdenklich die Lippen.
»In Millstone müsste es davon reichlich geben«, seufzte er. »Ist bloß kein Hinkommen zurzeit.«
»Ich hatte an die Gebrüder Jones gedacht.«
»Langsam, Bürgermeister.« Der Nachteil mit den Jones-Brüdern war, dass sie das Ähnlichkeitsprinzip der Steckbriefe in gewisser Weise verinnerlicht hatten. Ihre Identifizierungsmethode steckbrieflich Gesuchter war die effizienteste der ganzen Gegend. Und nebenbei die schrothaltigste. »Bisher sind wir hier in Buttercup noch ganz gut ohne deren Hilfe zurechtgekommen.«
»Sheriff, für mich steht hier in drei Tagen einiges auf dem Spiel. Deshalb noch mal meine Frage: Was ist, wenn ich jemanden finde, der ihn kennt und erkennt?«
Sheriff Starski nahm die Füße vom Schreibtisch und beugte sich vor.
»Dann teilen wir die Belohnung und knüpfen ihn auf«, sagte er. »Und scheiß auf seinen Doppelgänger im Süden.«
Was mir immer auffällt, wenn ich mal wieder für 'ne Woche oder so kein Dach über dem Kopf hatte, ist, wie sehr so ein Saloon doch stinkt. Kautabakrotz, schales Bier, Kuhmist, Männer- und Pferdeschweiß, verschütteter Fusel, billige Zigarren, Waffenöl.
Je schwerer das Aroma, so sagt man, desto besser der Laden.
Der Boothill Saloon von Buttercup, North Carolina, war somit, wenn man seiner Nase trauen durfte, eine der ersten Adressen, fünf Sterne und keiner weniger.
Trotzdem, viel war nicht los. Ein paar Siedler lehnten am Tresen und tranken sich Mut an für die Huren im hinten raus gelegenen Kitten Club, bevor es mit zehn Rollen Draht wieder zurückging zur Mutti in die Siedlung. Ich hatte ihre Ochsen- und Maultiergespanne draußen gesehen. Draht, immerzu Draht. Erst überziehen sie das ganze Land mit ihren Zäunen und dann ihre Nachbarn mit Klagen.
An einem Tisch rechts von mir saßen drei Mann in Anzügen, rauchten und spielten Karten. Eisenbahn- oder Mineningenieure, sowas in der Art.
Ich nickte Bro Ho zu, der kaum von seiner Zeitung aufblickte. Und Shits schien sich nicht satt sehen zu können an dem Geierfestmahl draußen auf der Straße. Hatten sich kaum verändert seit dem letzten Mal die beiden. Bro Ho mit seinem, sagen wir mal, gutmütigen Gesicht über einem Rahmen, in dessen Schatten gleich ein halbes Dutzend Mexe Siesta halten könnte, und der schmale, nervöse Shits mit den Augen und Reflexen eines Fliegen fangenden Reptils.
Beide schienen es für opportun zu halten, mich nicht zu kennen oder zu erkennen.
Eine nicht von der Hand zu weisende Spannung hing im Raum.
Aber vielleicht lag's auch an meinem Sechstagebart. Dass sie mich nicht erkannten, meine ich.
Ein Drink, dachte ich, erst mal ein Drink. Dann ein Bad, dann eine Rasur, dann ... Mann, war ich müde.
Weiter hinten, direkt vor dem Frisierspiegel, stand der Fulltime-Schwarzbrenner, Teilzeit-Barkeeper und Nebenerwerbs-Barbier Pancho, steif wie ein Totempfahl, die Augen auf einen Revolverlauf fixiert, der unter dem Umhang auf dem Rasiersitz hervor direkt auf seinen Nabel gerichtet war.
»Du hast mich geschnitten, Pancho«, fauchte eine unangenehm helle Stimme. Pancho zog ein Handtuch von seiner Schulter und begann, mit zittrigen Fingern an seinem Kunden herumzutupfen. »Ich sollte dich töten dafür.«
Ich sah von Bro Ho zu Shits, die so taten, als hätten sie nichts gehört.
Pancho tupfte und wischte, seine Hände flatterten wie Falcos Mähne bei vollem Galopp.
Ajeh, dachte ich. Sieh dir diesen Shake an, dachte ich und verschob >Rasur< ans ferne Ende meiner Dringlichkeitsliste. >Drink< blieb allerdings weiter ganz weit vorne.
»Und ich habe dich noch gewarnt, vorher, oder nicht?«
Eine helle, quietschige Stimme, die dieser Heini im Rasiersitz da erklingen ließ. Wie wenn man mit dem Korken zusammen ein Sandkorn in den Hals einer Flasche drückt. Apropos Flasche ...
»Bro Ho und Shits sind meine Zeugen. >Pancho<, habe ich gesagt, >rasier mich. Aber wenn du mich schneidest<, habe ich gesagt, >puste ich dich um.<«
»Na, dann tu's doch endlich«, sagte ich und ging rüber zur Bar. »Aber red nicht so viel.«
Panchos Hand flog nur so hoch und zurück, seine Augen vor Entsetzen geweitet. Er hatte gerade weitermachen wollen, gerade das Messer angesetzt, als sein Kunde aus dem Sitz sprang.
»Wer hat das gesagt?«
Einmischung wird nicht belohnt in Buttercup. Es sei denn, man ist religiös und betrachtet den beschleunigten Abflug ins Ewige Reich des Himmels als eine adäquate Gegenleistung.
Sargtischler Shits für seinen Teil war zu nah dran am Geschehen, um Vertrauen in die Versprechungen vom Leben nach dem Tod zu entwickeln. »Aus meinen Kisten ist noch keiner wieder auferstanden«, sagte er oft. »Es sei denn«, fügte er gern hinzu, »Doc Tatters braucht mal wieder einen für seine >anatomischen Studien<.«
Und Totengräber Bro Ho war ungefähr so religiös wie nur je ein ehemaliger berufsmäßiger Wanderprediger. »Kommt drauf an«, antwortete er für gewöhnlich auf Fragen nach der Tiefe seines Glaubens, »wie viel die Leute raustun.«
Ähnlichen, wenn auch deutlich anders motivierten Schwankungen unterlag Panchos Gottvertrauen. Es wuchs, kann man sagen, normalerweise proportional zur Gefahrenlage.
»O Herr«, betete er leise im Angesicht der sich anbahnenden Konfrontation, »mach jetzt bitte keinen Scheiß.«
Seit der auf dubiosem Weg vom Streikbrecher zum Rancher aufgestiegene Richard Thysson auf zweifelhafte Art zum Bürgermeister von Buttercup gewählt worden war, hatte sich sein Vermögen in auffallend ähnlichem Maße vervielfacht wie die Verschuldung der Gemeinde. Das blieb nicht unkommentiert, doch Gegner seiner Amtsführung oder Person wurden entweder gekauft, zum Umzug in eine andere Gegend bewogen oder aber mit Gewalt aus dem Weg geräumt. Seine zweite Gattin, die voluminöse Genevieve, unterstützte ihn mit Ideenreichtum und permanenter Anstachelung. Und in gemeinsamer Anstrengung hatten Richard und Genevieve es geschafft, Sohn Dickie zu einem Terror der Gemeinde zu verziehen. Wann immer er von der elterlichen Ranch in die Stadt geritten kam, verließ er sie nur selten wieder, ohne zumindest ein frisches Paar auf den Stiefelhügel gepflanzt zu haben.
Der Sheriff betrachtete die Eskapaden des Sohnes mit der ganzen wohlwollenden Nachsicht von jemandem, der früher auch nicht anders gewesen ist und obendrein bis über beide Ohren in der Tasche des Vaters steckt.
Um es kurz zu machen: Wen Dickie nicht schaffte, den schaffte kurz darauf die örtliche Ordnungsmacht. Runter ins Erdloch oder hoch ins Himmelreich, je nach Auffassung.
Ich klopfte ungeduldig mit der Hand auf die Theke. Sechs Tage im Sattel machen einen Durst, das kann man sich nicht vorstellen.
»Hast du das gesagt, Fremder?« Die unangenehm helle Stimme gehörte zu einem Milchgesicht in gelecktem, topmodischem Outfit. Hut mit blitzenden Silberdollars im Band, glänzende Weste aus feinstem Leder, güldene Uhrkette, reinweißes Hemd, ein schniekes Bändchen um den Kragen, glänzende Lederhose in blitzeblanken Reitstiefeln, an die funkelnde Sporen geschnallt waren. Ah, und eh ich's vergesse: zwei hochglanzpolierte, vernickelte Sechsschüsser. Der eine, der linke, mit Perlmuttgriff. Der andere vermutlich auch, doch ließ sich das nicht so recht sagen, weil der Griff von einer Hand umschlossen war, die den dazugehörenden Lauf auf meine immer noch arbeitslose Leber richtete.
»Sag das noch mal, Fremder, ja?«
Ich winkte Pancho mit der Linken, gab ihm zu verstehen, dass ich nicht den ganzen Tag warten wollte, und als mein Blick wieder auf das Milchgesicht fiel, weitete ihm mein Revolverlauf ein Nasenloch. Die Mündung auf meiner Leber zuckte. Schweigend sahen wir einander in die Augen. Seine waren wässrig blau.
Tief drin in einer dunklen, triefend nassen Höhle habe ich mal einen fast durchsichtigen Frosch gesehen, der hatte solche Augen. Meine dagegen ... Sagen wir es so: Über meine sagen die Frauen die nettesten Sachen, wenn es spät wird.
Das Ticken der Uhr an der Wand und das Krächzen der Geier draußen auf der Straße waren für den Zeitraum, den eine Nadel braucht, um aus der Hand einer Näherin bis auf den Grund zu ihren Füßen zu fallen, die einzigen Geräusche um uns herum. Für eine Ewigkeit also.
Dann sagte ich: »Du hast deinen Hahn noch nicht gespannt, Jungchen. Ich meinen schon.«
Wie erwartet schielte er nach meiner Waffe und ich drückte ab.
Der ganze Saloon schnappte nach Luft. Die Stadt. Die Welt. Dickie Thysson sah den Fremden in sprachlosem Erstaunen an, verdrehte dann die Augen. Als Nächstes gaben ihm die Knie nach, weshalb er noch einen Moment lang hilflos mit den Armen zu rudern versuchte, bevor er rücklings umsank. Und fiel. Langsam zuerst, doch dann in drastisch zunehmendem Tempo, bis er unter Dröhnen der Planken und staubiger Wolkenbildung der Länge nach hart auf dem Bretterboden aufschlug.
»Dafür hatte ich vergessen, nachzuladen«, brach der Fremde das Schweigen, mit einem Beiklang von Selbstkritik. Unter mildem Kopfschütteln klickte er die Trommel seines Revolvers von einer leeren Kammer zur nächsten.
»Pancho«, sagte er dann, sanft wie eine Mutter zu ihrem träumenden Kind, während er Patrone auf Patrone in die wohl geölten, großkalibrigen Kammern flutschen ließ, »was muss ein Mann noch alles tun, um in dieser Stadt an einen Drink zu kommen?«
Pancho stieg über Dickie Thysson hinweg und nahm hastig seinen Platz hinter der Theke wieder ein.
Ein Grüppchen bildete sich und starrte mit den für Schaulustige allerorten so typischen, sympathisch offen stehenden Mündern auf den reglosen Körper hinab.
»Sollten wir nicht den Doc holen?«, schlug jemand vor, doch Bro Ho grunzte nur. Er legte seine Zeitung weg, bückte sich, packte Dickie bei den Stiefeln und begann, ihn wenig zeremoniell zur Türe zu schleifen. Shits hielt sie ihm auf.
Alles in allem, sagte sich Shits, ist ein ohnmächtiger Thysson-Sohn sicherlich ein Zugewinn für die Ruhe in der Stadt. Gut fürs Geschäft ist er allerdings nicht.
Und so folgte er, in innerem Zwist, dem munter die Treppenstufen hinunterklunkernden Kopf des Thysson-Sprosses, um ihn in die ach so belebende Pferdetränke zu tunken.
Weit kamen sie nicht.
Irgendjemand hat Sisley Mandoney mal »eine Kreuzung aus Maultier und Koyote« genannt und wollte gerade anfangen, darüber zu lachen, da war Shits schon mit seinem Maßband über ihm gewesen.
»Was ist hier los?«, grollte Mandoney und stellte sich dem Trio in den Weg.
»Ach nichts«, beeilte sich Shits zu behaupten.
»Dickie ist nur'n bisschen aus'n Latschen gekippt«, murmelte Bro Ho, die Beine des Bewusstlosen weiterhin in festem Griff.
»Gab's Ärger?«, grollte Mandoney.
»Ach nein«, beeilte sich Shits abzuwiegeln.
»Paar Eimer Wasser und er ist wieder wie neu«, versicherte Bro Ho.
»Etwa mit dem Neuen? Dem Fremden?«, hakte Mandoney nach. Grollend und voll von so was wie ungesundem Eifer.
»Ach was«, beeilte sich Shits die Wahrheit zu beugen.
»Hat vielleicht was Schlechtes gegessen«, bot Bro Ho noch an, doch da war Mandoney schon die Stufen hoch und die Tür zum Saloon fiel hinter ihm ins Schloss.
Mit einem Knall. Diese Türe schließt immer mit einem Knall, das ist das Schöne an ihr. Und mit einem weiteren Knall schlug ich mit der flachen Hand oben auf die Theke, um Pancho endlich dazu zu bringen, mir etwas in ein Glas zu schütten.
Der hatte es plötzlich sehr, sehr eilig, ein feuchtes Etikett auf die bis dahin nackte Flasche zu kleben und eine Steuerbanderole um ihren ranken Hals und dann erst auf mein forderndes Klopfen einzugehen. Ohne rechte Fortune, um es salopp zu formulieren.
Nicht, dass er es nicht versuchte. Aber einerseits zitterten ihm die Hände so sehr, dass bis jetzt nur die Theke etwas abbekommen hatte von der farblosen Flüssigkeit aus der frisch etikettierten Flasche, zum anderen hatte er seine Augen und Gedanken offensichtlich woanders. Irgendwo hinter meinem Rücken. Da, wo der Neuankömmling stand. Unauffällig linste ich in den Spiegel und versuchte gleichzeitig, mein Glas unter Panchos oszillierenden Flaschenhals zu bugsieren. Sechs Tage im Sattel können einen Mann ausdörren, bis er zu schielen beginnt.
»Fremder«, grollte der Neuankömmling, »dreh dich um.«
Endlich hatte ich ihn. Im Spiegel, meine ich. Den Neuankömmling. Und nicht im Glas. Den Fusel, den ersehnten. Es war zum Verzweifeln.
Er, der Neue, besaß den Knochenbau und ganzen dentalen Charme eines so genannten Last- und Tragtieres und den Rest von einem ... Tja.
Hagerer, Aas fressender, übellauniger Schleicher mit einem Hang zu nächtlichen Gesängen, würd ich sagen. Ire also. Die unangenehmste Sorte hier, mal abgesehen von den Schwarzfüßen.
»Ich zähle bis drei«, knurrte er unter seinem mächtigen, die Augen verschattenden Hut hervor. Stiefel scharrten und Stühle wurden gerückt, während sich die Spiegelfläche vor mir sehr rasch von Menschen leerte, bis nur noch ich und der Neuankömmling übrig blieben. Er löste den Halteriemen seines Holsters und hob den rechten Arm leicht vom Oberkörper ab, Hand griffbereit gespreizt.
Mit einer blitzartigen Bewegung, zu schnell für das menschliche Auge, schnappte ich Pancho die Flasche aus der Hand und goss mir selber einen ein.
»Eins ...«, ertönte es hinter mir.
»Hört mal zu«, stammelte Pancho und besah sich sorgenvoll seinen großen Barspiegel. »Wollt ihr das nicht vielleicht lieber ... ausdiskutieren?«
Ich fasste das Glas mit sachten Fingern. Ich fühlte mich dem Himmel so nah wie schon ewig nicht mehr.
»Zwei ...«
Pancho duckte sich wie jemand unter den kreisenden Rotorblättern eines ... eines ... Duckte sich halt und brachte sich im Watschelgang aus der Schusslinie.
Ich hob das Glas in einem stummen Toast.
Auf das Gesetz der Fairness, dachte ich. Das es verbietet, einem Mann einfach so in den Rücken zu schießen. Zumindest vor Zeugen.
»Und drei!«
Der Hut wurde mir rüde vom Haupt gerupft, ein Loch erschien im Spiegel vor meinen Augen, Ausgangspunkt eines sich sternförmig ausbreitenden Musters von Rissen, und ein Revolver krachte. In dieser Reihenfolge. Subjektive Wahrnehmung nennt man das.
Der Schnaps war noch nicht ganz aus dem Glas, noch nicht ganz auf meiner Zunge, das leere Glas selber war vielleicht auf halbem Weg zurück auf die Theke, noch in der Luft, da war ich schon herumgewirbelt und mein Schuss gefallen.
Rauch stieg aus meinen Ohren, Funken stoben aus meinen Nüstern, Feuerschein flackerte in meinen Augen, Lava sammelte sich in meinem Magen. Hossa! Was für ein Zeug!
Ich wollte mich gerade wieder umdrehen, um mir noch einen zu gönnen, vielleicht einen Doppelten diesmal, da sah ich den Stern. Auf der Brust. Von Mandoney. Der dalag.
In einer sich rasch ausbreitenden Lache von Blut.
»Aber ich habe ihm nur den Hut vom Kopf geschossen«, meinte der Fremde entgeistert. »Als kleine Revanche.«
Niemand mochte das so recht kommentieren. Derlei Ausflüchte gab es häufiger in Buttercup. Und Revanchismus war die vorherrschende Geisteshaltung in der gesamten Gegend.
Mann, Mann, Mann, dachte Bro Ho.
Von der Bar konnte man erst das Pfüpp und dann, in direktem Anschluss, das Blip, blip, blip einer frisch entkorkten Flasche vernehmen, deren dünnflüssiger, hochprozentiger Inhalt via einen bauchigen Flaschenhals in ein ungeduldig wartendes Glas gefüllt wird. Der Fremde nahm sich noch ebenso rasch wie ordentlich einen zur Brust.
»Hier«, sagte Shits, »halt mal. Mit der Null an die Innenseite der rechten Stiefelsohle, zwischen Absatz und -«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Bro Ho, der das schon tausendmal gemacht hatte.
»Und ich könnte schwören«, fuhr der Fremde nach kurzem Keuchen nachdenklich fort, »dass ich noch so was wie einen zweiten Schuss gehört hätte. Draußen, vor der Tür. Gleichzeitig mit meinem.«
Niemand mochte dazu etwas sagen. Schwüre auf mysteriöse zweite Schützen hörte man öfters in Buttercup. Vor allem, vorgetragen mit wahrer Inbrunst, von der luftigen Höhe des Galgengerüstes herunter.
Mann, Mann, Mann, dachte Bro Ho. Mann, Mann, Mann.
Es lohnt sich vielleicht, hier eben kurz einzuflechten, dass Bro Hos Gedankengänge selten wirklich explizit wurden. Dafür braucht es eine gewisse Geschwindigkeit. Und Hos Denkmuskulatur war eher für das unerschütterliche Ziehen tiefer Furchen ausgelegt als für das rasche Durchmessen großer Distanzen.
Mann, Mann, Mann, dachte er. Wenn das der Sheriff ...
»Sechs Fuß, zehn Inches«, las Shits ab und richtete sich auf. Dabei spürte er ein Ziehen in der Brust. Die kleine Narbe dort erinnerte ihn, zusammen mit dem frisch Vermessenen, unangenehm an die Zeit, als er die vom geschäftlichen Standpunkt aus brillante Idee gehabt hatte, jeden zehnten Inch aus seinem Maßband zu schneiden und es dann neu zusammenzukleben. Machte die Särge sofort um einen zweistelligen Prozentsatz teurer, während es, Beibehaltung der Messmethode vorausgesetzt, die Materialkosten um ziemlich genau die gleiche Marge senkte.
Brillant, wirklich.
Bis Mandoney dahinter gekommen war.
»Wenn ich du wäre«, wandte sich Pancho an den Fremden, nun, da der Pulverdampf verzogen und die Waffen zurück ins Holster gewandert oder aber der Schusshand entglitten waren, wieder mit gewohnt fester Stimme, »und wenn ich hier in der Stadt noch etwas zu erledigen hätte«, fuhr er viel sagend fort, setzte den Nagel seines kleinen Fingers explorativ an einer winzigen, hervorstehenden Ecke des sternförmig zackigen Musters vor seiner Nase an und musste anschließend mit der Beendigung seines Satzes warten, bis ihm der komplette Spiegel klirrend und scheppernd vor die Füße gefallen war, »dann würde ich das jetzt machen«, riet er. »Bevor der Sheriff kommt.«
Da war ein Loch gewesen, in der Tür zum Saloon. Klein und rund.
Okay, rings um das Loch waren noch rund ein Dutzend anderer gewesen, alle ungefähr so klein und ziemlich genauso rund. Doch das eine sah frisch aus, nagelneu. Und seine Splitter lagen überall verstreut. Im Saloon. Das ging mir nicht so recht aus dem Hirn, während ich die Schalterhalle der Buttercup Savings and Loans durchmaß.
Kürzlich renoviert, so sah es hier aus, und nicht gespart dabei. Aber warum auch? Mit kaum etwas lässt sich so herrlich aasen wie mit Steuern oder dem Geld der Sparer. Nur fürs Personal war nach Verlegung des Marmors und Vergoldung der Säulen und der Anschaffung eines ... meine Fresse, eines Burlitz & Freytag Nebukadnezar, des größten und härtesten Safes der Welt ... nichts mehr übrig geblieben, wie es schien.
Wofür brauchen die hier so einen dicken Safe?, fragte ich mich. Und mich allein. Denn das war ich.
Eine kleine, flache Bimmel oben auf dem vergitterten Schalter war alles, was mich erwartete. Ich gab ihr ein, zwei, drei Klapse, öffnete gerade meinen Mund, um lautstark publik werden zu lassen, in was für einer gottverdammten Eile ich war, dies hier hinter mich zu bringen, da erstarrte mir die Muskulatur mitten in der Bewegung. Will sagen, Klapshand auf halber Höhe, Unterkiefer auf halber Tiefe.
Sie hatte sich nur gebückt gehabt, um ein paar lose Aktenblätter aufzulesen, deshalb hatte ich sie nicht gesehen. Was ich nun nachholte, in aller Ausführlichkeit. Und scheiß auf die Eile. Meine Füße mochten rennen wollen, doch meine Augen wollten, wie man so sagt, verweilen.
Sie sah mich an, lächelte, ich sah zurück, und alle Uhren dieser Welt versagten den Dienst. Ihr Haar glänzte im Ton weichen Honigs, ihre Haut besaß die milchige Blässe und cremige Textur feinsten Vanilleeises, ihre Augen leuchteten in dem dunklen, geheimnisvollen Blau der Früchte des Ucaranda-Strauchs, und ihre Lippen schimmerten zartrosa wie frisch gepflückte Himbeeren, feucht vom Tau in den ersten Strahlen der Morgensonne ...
Kurz, sie sah aus wie eine Süßspeise. Etwas, in das man seine Zunge stecken möchte ...
Ich trat nah an den Schalter und presste mein Becken dagegen in vergeblicher Hoffnung, das Blut wieder hoch in meine Denkregion zu zwingen. Gepackt von leichtem Schwindel schloss ich für einen Moment die Augen ...
»So, sind wir wach?«, fragte die Schwester und beugte sich über mich, um mir das Kissen zu richten. Es war die Tagschwester, die Blonde, die mit den hübschen Grübchen, wenn sie lächelte. Wenn sie mal lächelte. Sie trug eine steif gebügelte Tracht mit einer rosa Nelke im Knopfloch. Netter Touch das, doch ich persönlich hätte es vorgezogen, wenn sie etwas weniger ... zugeknöpft dahergekommen wäre.
Der Nachbar hinter der Stellwand schnarchte röchelnd. Wir waren also praktisch allein ...
»Schwester«, schnurrte ich, in dieser bestimmten Tonlage, »ich würd ja gern mal an Ihrer Blume schnupp ...«
»Sie könnten nun ein Bad nehmen«, unterbrach sie mich. »Sie hätten's bitter nötig.«
Mein Unterkiefer schloss mit einem scharfen klack. Was hatte sie da gesagt?
»Würden Sie das bitte wiederholen?«, bat ich.
»Sie könnten den Hut abnehmen«, wiederholte sie, und zupp stand ich barhäuptig da. »Das wäre doch nur höflich.«
Aus dem Handgelenk schleuderte ich meinen frisch gelochten Kopfputz lässig Richtung Hutständer, den ich leider knapp verfehlte. Dafür hätte ich aber um ein Haar den Spucknapf getroffen.
»Womit kann ich dienen?«, fragte die Süßspeise und packte noch zwei Pfirsichhälften auf den Teller, als sie sich zu mir vorbeugte. Ich schluckte hart. Acht Wochen in einer Chain-Gang gefolgt von sechs Tagen Einöde machen es einem Mann nicht immer leicht, sich wieder in Gesellschaft zurechtzufinden. Doch ich riss mich zusammen. Die Erinnerung an Eile war zurückgekehrt.
»Ich möchte gerne ein paar Papiere einsehen«, sagte ich in geschäftsmäßigem Tonfall. »Was mich interessiert, sind die Besitzverhältnisse eines bestimmten Anwesens.« Und dann nichts wie raus aus der Stadt. »Der Name lautet ...«
»Starski«, bellte eine Stimme hinter mir und eine Türe schlug zu. »Ivan Starski, um genau zu sein.« Worte, gesprochen in einer Art geknurrtem Bariton, gesprochen wie mit einem zugekniffenen Auge. Über den Lauf eines Repetiergewehres hinweg. »Schon mal von mir gehört?«
Hatte ich. Eine lebende Legende. Soll mehr Menschen gehenkt haben als irgendein anderer Sheriff im gesamten Westen. Und mehr erschossen als sonst einer auf dem Planeten. Ein Ruf, der, unter Umständen wie diesen, Widerstand als die zweitbeste Lösung erscheinen ließ.
»Du bist verhaftet, Fremder. Hände hochgehalten und ab mit uns!«
»Für den durchschnittlichen Fremden«, meinte Shits mit einem kalkulierenden Blick hoch zur Wanduhr, »hat er sich noch nicht mal schlecht gehalten.«
Pancho unterbrach das Zusammenfegen der Spiegelscherben, um Shits einen ernsten Blick zu schenken.
»Du weißt, dass er kein Fremder ist«, raunte er unnötig leise, wo doch, abgesehen von Mandoney, der bestenfalls physisch präsent war, sich nur noch Shits und Bro Ho im Saloon befanden, und die wussten es beide. »Zumindest nicht für uns.
Und wenn er das erledigen will, was er vorhat, und noch dazu das, was wir uns von ihm erwarten, dann wird er sich noch eine gottverdammte Weile länger halten müssen.«
»Na, damit«, meinte Bro Ho, der immer noch neben Mandoneys lang hingestreckter Gestalt kniete, düster, »damit sieht's aber schlecht aus.«
Düster auch deshalb, weil der Deputy die Weitsicht besessen hatte, sämtliche Wertgegenstände aus seinen Taschen zu entfernen, bevor er losgegangen war und sich niederschießen ließ. »Wer'n Deputy kaltmacht, hängt«, fügte er düster hinzu.
»Da kennt der Sheriff nix.«
Wie von alleine fand eine kleine Zange ihren Weg in Bro Hos wurstige Finger, von denen er zwei weitere zur Anwendung brachte, um dem Hingestreckten die Zahnreihen zu entblößen, da verhielt er mitten in der Bewegung.
»Ey, ihr zwei!«, rief er, überrascht. »Kommt ma eben her!«
»Darf ich«, begann ich, während ich vor der Mündung eines Gewehrlaufs her mit erhobenen Händen die Hauptstraße hinunterlief, »fragen«, fuhr ich fort, während ich die Szenerie betrachtete wie jemand, der auf Besuch ist in der Stadt, »was man mir vorwirft? Der Deputy hat von hinten das Feuer auf mich eröffnet, das haben alle im Saloon ges ...«
»Erst mal siehst du dem Steckbrief verdächtig ähnlich.«
»»Jeder sieht dem Steckbrief ähnlich«, warf ich ein.
»Dann eben Waffenbesitz.«
»Ah«, sagte ich und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Pancho, dachte ich nach einem Weilchen, Pancho war der einzige Mann, dem ich bisher in Buttercup begegnet war, der keine Waffe trug. Selbst die Neger hatten Sechsschüsser im Gürtel. Nachdenklich sah ich mich um. Jeder, jeder Einzelne, auf den mein Auge fiel, war bewaffnet. Ich sah mich weniger nachdenklich, dafür aber etwas demonstrativer um. Sheriff Starski verstand meinen Wink.
»Fremden in Buttercup ist das Tragen von Waffen verboten«, klärte er mich auf.
Na, da hatte er mein vollstes Verständnis. Wenn es nach mir ginge, dürfte es überhaupt keine bewaffneten Fremden geben, und auch einem Großteil meiner Bekannten, alten wie neuen, würde ich die Dinger am liebsten abnehmen. Ich wollte ihm gerade begreiflich machen, dass in meinem Fall er und seine Mitbürger die Fremden seien, zumindest für mich, als mich laute Hammerschläge ablenkten.
»Hey«, sagte ich, »das sieht nach ordentlicher Arbeit aus.« Auf dem kleinen Platz vor der Kirche entstand eine hohe Bühne.
»Ja, wurd mal Zeit für 'nen Neuen«, meinte der Sheriff hinter mir.
Aus der Bühne ragte ein solider Pfosten, von dem eine schräge Strebe in den Himmel zeigte. Von der Strebe wiederum baumelte ein Strick mit einer Schlaufe am unteren Ende.
»Der Alte war durch das dauernde Geschaukel etwas wackelig geworden und nicht mehr wirklich geeignet für größere Anlässe.«
»Und wer liefert den nächsten Anlass?« »Aisha Adango.«
»Eine Frau? Jesus, was hat sie angestellt?« »Sie hat einen Deputy erschossen.«
»Tss. Sie haben aber nicht viel Glück mit Ihren Hilfskräften, was?«, meinte ich, dann erst fiel der Dime bei mir. »Aisha -wer?«
»Adango.« Ich konnte ihn nicht sehen, aber Sheriff Starski klang nicht glücklich, als er den Namen wiederholte.
»Die Schwester von -«
»Alban Adango, ganz recht.«
Fast hätte ich gelacht. Alban Adango, auch genannt El Lobo, der vierarmige Bandit, Schrecken der Grenzregion - und die guten Leute von Buttercup wollten seine Schwester hängen? Ha, da war ich im Gefängnis wahrscheinlich besser aufgehoben als irgendwo draußen. Dachte ich. Bis mir aufging, wo sie sie wohl bis zur Vollstreckung untergebracht hatten. Das verlangsamte irgendwie mein Schritttempo.
»Scheiße, er lebt«, stellte Shits mit entschiedener Unentschiedenheit zwischen Ernüchterung und Erleichterung fest.
»Los, wir müssen ihn verbinden«, rief Pancho und riss hastig ein Tischtuch in Streifen. »Wenn das Blut noch länger so aus ihm herausläuft, ist er schneller leer als 'ne Pulle Fusel in den Pfoten eines Indianers.«
»Apropos Indianer«, meinte Toller Hund, und Shits, Pancho und Bro Ho zuckten erschrocken zusammen und blickten hoch zur baumlangen und brettschmalen Gestalt des Indianers mit den großen, immer leicht erstaunt blickenden Augen eines nachtaktiven Waldvogels inmitten seiner wie aus, tja, Holz geschnitzten Gesichtszüge. Keiner hatte ihn hereinkommen gehört. »Ich wüsst da einen, der könnte 'ne Pulle Fusel brauchen.«
Toller Hund beugte sich mühsam zur liegenden Gestalt herab und hielt sich den Kopf dabei. Fühlte sich an, sein Kopf, als ob ihm jemand mit einer Schaufel draufgehauen hätte. »Und ich kenne auch einen Medizinmann, der könnte euren Freund hier heilen.« Die Lautlosigkeit seiner Bewegungen war einer der Gründe, warum der Sheriff und seine Leute Toller Hund immer wieder als Scout verpflichteten. »Kleines Glas hat eine spezielle Methode: Für 'ne Flasche Tequila saugt er das Problem ganz einfach raus aus dem Körper.«
Wobei man hinzufügen muss, dass sich die Lautlosigkeit des Indianers auf seine nüchternen Zeiten beschränkte. »Und spuckt es aus.« Was wiederum Flüchtigen auf der Fahndungsliste des Sheriffs oft genug einen mehrstündigen Vorsprung mitgab.
»So.« Toller Hund saugte an seinem Handrücken und spuckte demonstrativ und schickte noch eine abschließende, das Problem verabschiedende Geste hinterher.
Bro Ho war dabei, Mandoneys Arm hochzuhalten, und Shits wickelte eilig den Verband darum, während Pancho versuchte, den Bewusstlosen mit etwas aus einer seiner etikettlosen Flaschen zu revitalisieren. Alle drei unterbrachen ihre Tätigkeit, um kurz zu Toller Hund hochzublicken. Shits sprach ihre Gedanken aus.
»Ich meine, ich seh es schon«, knurrte er, »wie Sisley Mandoney wach wird und irgend so eine nach Tequila stinkende Rothaut nuckelt an ihm herum.« Und für einen Moment bebte der Bretterboden des Saloons unter ihrem gemeinsamen Gelächter. Selbst Toller Hund konnte nicht anders, als mit einzustimmen.
Dann, mit einem Schlag, kehrte die angespannte Ruhe zurück. Mandoney hatte die Augen geöffnet.
»Was?« Ich traute meinen Ohren nicht. »Sagen Sie das noch mal, Sheriff.«
Sheriff Starski brachte seinen roten Zinken mitsamt dem darunter abhängenden, mächtigen, weißen Schnauzer ganz nah an die Gitterstäbe.
»Wenn Mandoney den Arsch zukneift, wirst du baumeln, Fremder.«
Gerade erst hatte uns die frohe Kunde von Mandoneys Überleben aus dem Saloon erreicht und mich mein Verlangen nach sofortiger Freilassung formulieren lassen.
»Aber er lebt! Und ich habe die ganze Zeit gesagt, dass ich nur auf seinen Hut geschossen habe.«
»Die Beine«, korrigierte mich der Sheriff. »Der Spruch heißt: >Aber ich hab doch nur auf seine Beine gezielt<.«
»Und überhaupt hat er zuerst gefeuert!«
»Dat sarense all.«
»Hier, sehen Sie sich meinen Hut an!«
»'n Hut ist'n Hut!«
»Ich meine ja die Löcher darin!«
»'n Loch ist'n Loch und noch lange kein Beweis!«
»Da waren Zeugen!«
»Die Zeugen in dieser Stadt sagen das aus, was ich ihnen sage.«
»Und was werden Sie ihnen sagen?«
»Wenn Mandoney den Löffel abgibt? Dass ein Fremder meinen Deputy umgebracht hat, und wer einen meiner Deputies umbringt, hängt, und basta!«
»Ganz egal, wer es ist!«, bellte er in Richtung der anderen Zelle. »Wenn's ums Hängen geht, kennen wir hier in Buttercup keinerlei Diskriminierung!«
Es gab nur zwei Zellen in diesem als Sheriff-Büro fungierenden Anbau an den Bahnhof, deshalb konnte ich ahnen, wen er da anblaffte. Sehen konnte ich sie allerdings nicht, da die Gitterstäbe zwischen unseren beiden Käfigen von der anderen Seite mit Wolldecken verhängt waren.
»Aber warum sollte er sterben?«, fuhr ich fort.
»Wessen Kugel es auch immer war, sie hat ihn nur oben am Arm erwischt.«
»Die Kugel ist noch drin. Doc Tatters wird sie ihm gleich rausschneiden.«
»Und? Daran stirbt man doch nicht.«
In der Zelle nebenan schnaubte jemand wie mein Schecke, wenn ihn eine Fliege ärgert.
Der Sheriff trat noch mal nahe ans Gitter und sah mir in die Augen. »Du scheinst Doc Tatters noch nicht zu kennen, Fremder.«
Damit verließ er uns.
Und ich sank nachdenklich auf meine Pritsche.
»Was soll das heißen«, bellte die heisere Stimme rechts von mir hinter der Stellwand, riss mich aus dem Dämmer, »er ist nicht ansprechbar?!«
Da legten die mich in meinem Zustand mit einem Choleriker zusammen.
»Räumen Sie die verdammte Wand weg, ich will ihm in die Augen sehen!«
Das kann ja heiter werden, dachte ich. Choleriker mit Dachschaden und möglicherweise schwul. Wofür sonst wollte er mit mir Blicke tauschen? Doch woher kannte ich die Stimme?
»Er hat eine Kommotio«, antwortete eine helle, wenn auch ziemlich strenge Stimme. Das war die Tagschwester, die Blonde mit den straffen Haaren und den knappen Sätzen, wie hieß sie noch?
»Und er ist wegen seiner vielen Frakturen stark sediert. Wenn Sie deshalb etwas leiser sprechen könnten?«
»Gehirnerschütterung hab ich selber«, knurrte er, vielleicht 2 Phon leiser. »Und Frakturen auch. Kein Grund, den ganzen Tag zu pennen.«
Woher nur kannte ich diese Stimme? So sehr ich meinen matten, pochenden Kopf auch bemühte, er wollte mir kein Gesicht dazu liefern.
»Ich hatte Gesichte letzte Nacht ...«, erzählte Toller Hund und hielt sich den pochenden Kopf. »Visionen. Ich habe Dinge gesehen .«
»Das glaub ich gerne«, meinte Shits.
»Du hast sie gesehen, wir haben sie gehört«, meinte Bro Ho.
Sie hatten Mandoneys Blutung vorerst gestoppt und ihn halb aufgerichtet.
»Nach 'nem ganzen Liter hiervon .«, Pancho hob die klare Flasche kurz ins Licht, bevor er sie wieder an Mandoneys blasse Lippen hielt, ». hätte wohl jeder Visionen bekommen.«
». Ich tanzte den Kriegstanz mit meinen roten Brüdern .«
Mitten auf seinem Hinterkopf ertastete Toller Hund eine rätselhafte Schwellung, groß wie eine mittelprächtige Grapefruit.
»Also, ich weiß nichts von roten Brüdern«, unterbrach ihn Bro Ho. »Mal abgesehen von dieser dicken, dunkelbraunen Schwester warst du da draußen alleine am Rumhopsen.«
». Ich träumte, wir sangen die Kriegsgesänge unserer Vorväter .«
»Oh, das! Na, das war nicht geträumt«, meinte Shits und half, zusammen mit den anderen, Mandoney auf noch ziemlich wackelige Beine.
»Ha, das war real! Bro Ho musste dir eins mit der Schaufel überbraten, sonst hätte die gesamte Stadt bis zum Morgen kein Auge zugetan.«
Toller Hund stoppte das exploratorische Abtasten seines Hinterkopfes und stellte auch das Rätseln ein.
». Und dann ritten wir alle gemeinsam und halfen dem Fremden dabei, den Kreis aus Eisen zu brechen.«
Aus dem Nichts heraus hatte Bro Ho seine Schaufel in der Hand, Shits sein Maßband. Panchos Faust umklammerte den Flaschenhals, dass man ihn in der plötzlichen, eisigen Stille knirschen hören konnte. Alle drei starrten den Indianer mit einer Mischung aus Schrecken und Drohung nieder.
»Das Einzige«, meldete sich Mandoney mühsam zu Wort, »das Einzige«, ächzte er, »das Einzige, das der Fremde in dieser Stadt brechen wird«, und er richtete sich unter Schmerzen auf, »das ist sein Genick.«
Dickie Thysson, erinnerte ich mich mit einem Ruck, war nicht wieder hereingekommen in den Saloon .
Der Bahnhof samt Sheriffbüro samt Zellentrakt lag nicht allzu weit vom Kirchplatz entfernt und man hörte die Hammerschläge recht deutlich. Gute, handwerkliche Wertarbeit in der Entstehung.
Irgendetwas an Sheriff Starskis abschließender Bemerkung hatte mir das rechte Vertrauen in die chirurgischen Fähigkeiten des ortsansässigen Mediziners geraubt. Mandoney mochte sein Leben zuversichtlich in die Hände des guten Docs legen, mir selbst war weniger danach. Einmal vom Zweifel infiziert, suchte mein Geist fieberhaft nach Alternativen.
Gitter. Alle vier Wände der Zelle waren solide Eisengitter. Eins ging nach vorne, ins Büro mit Schreibtisch, Stuhl, Ofen, Waffenschrank, Kalender und Schlüsselbund inklusive zwei Schlüsseln an einem Haken, Mühsam löste ich meinen Blick davon, von den Schlüsseln, und drehte mich einmal um die Achse. Zwei Gitter schmiegten sich in eine Ecke der Blockhauswände, aus denen der Bahnhof bestand, eines war, wie schon erwähnt, mit Wolldecken verhängt. Fußboden wie Decke bildeten dicke Holzbohlen.
Ich rüttelte ein bisschen an den Gittern, wie man das so macht, stampfte auf dem Boden herum, sandte einen weiteren, sehnsüchtigen Blick hinüber zu den Schlüsseln an ihrem Haken.
Wenn ich es schaffte, die Pritsche der Länge nach aufzusplittern, und die Splitter aneinander bände und damit dann wie mit einer Angel durch die Gitter hindurch . Eiche. Massive Eiche, fest mit dem Gitterkäfig verbolzt. Es brauchte eine lange Spaltaxt, um diese Pritsche aufzusplittern. Hatte ich nicht zur Hand so was, zurzeit. Selbst mein Messer hatte mir der Sheriff abgenommen.
Hm. Ich legte mich ein bisschen hin, nachdenklich.
Nebenan rührte sich aber auch gar nichts.
Draußen hämmerten sie und hämmerten und hämmerten .
»Können die denn nicht mal für fünf Minuten aufhören mit dem Hämmern?«, wütete die Stimme nebenan. »Ich liege hier mit einer Scheiß-Gehirnerschütterung, das fühlt sich an, als ob die mir ihre ganzen beschissenen Nägel direkt in den ScheißSchädel kloppten!«
Außer, wenn man schläft, dachte ich genervt. So wie ich bis gerade noch. Ah, Schlaf . Sobald er wich, überkam mich ein Gefühl, als ob man mich kürzlich erst durch einen Astschredder gejagt hätte. Schlaf .
»Nun beruhigen Sie sich«, mahnte eine dunkle, samtige Frauenstimme, »die Arbeiter wollen noch heute fertig werden, habe ich gehört.« Das war die Nachtschwester. War es wirklich schon so spät? Die Nachtschwester, die mit dem unmerklichen Schwung in den Hüften, der verhaltenen Glut in den Augen und diesen schönen Händen mit den langen, schlanken Fingern.
»Was um alles in der Welt gibt es da überhaupt zu zimmern, direkt vor dem Krankenhaus?«
»Ich glaube, das wird das Baustellenschild für die Renaturierung der -«
»O bitte, erinnern Sie mich nicht an das Renaturierungsprojekt, Schwester, ja? Bitte nicht. Damit hat diese ganze Scheiße doch erst angefangen, mit dem Projekt und mit ihm da drüben.«
Ich kannte seine Stimme und er kannte mich. Hm. Musste an den Medikamenten liegen, dass ich keinen wirklich klaren Gedanken fassen konnte und außer dem nach Schlaf eigentlich nur ein wirkliches Bedürfnis verspürte .
»Und wie kann er da drüben bei dem Radau pennen, Schwester, können Sie mir das mal verraten?«
Ah, Schlaf . Doch vorher vielleicht noch ein Blick auf die Schwester . Frauen in Uniformen . Wie lange wollte sie eigentlich noch bei dem da drüben abhängen? . Ob sie diesen Kittel auch nach Feierabend trug? Vielleicht, wenn man vorsichtig darum bat? Genau, fragen kostet nichts . Wo blieb sie denn nur? Verdammt, der Schlaf wollte nicht zurückkehren. Die Schmerzen dagegen schon. Hey, da lag ja eine kleine blaue Pille auf dem Nachttisch und daneben stand ein Glas Wasser. Herrlich. Bloß, ich kam nicht dran .
»Äh, Schwester?«, krächzte ich. Ein Blick nur ...
Ein Griff nur, ein Griff dieser schönen, langen, schlanken Finger .
»Da! Er ist wach!«, schnappte es nebenan. »Sagen Sie ihm, dass ich ihn sprechen muss!«
»Ja?«, fragte die tiefe, samtige Stimme, und die Nachtschwester umrundete die Stellwand, eine Bettpfanne in der Hand balancierend.
»Schauen Sie mal«, bat ich, »mir ist die . Bettdecke . verrutscht. Wenn Sie mir mal kurz ein bisschen zur Hand gehen kön .«
Ein heftiges, metallisches Scheppern riss mich hoch. Ein Geräusch wie ein zu Boden gegangener Blechnapf.
»Du schnarchst«, fauchte es von nebenan.
Alban Adangos Schwester. Kein Wunder, dass die Angst über der Stadt lag. Er würde nichts unversucht lassen, sie vor dem Strick zu bewahren. Gar nichts. Desperados, das waren er und seine Männer. Mordbrennende Reiter ohne Furcht und Gewissen. Schlimmer als Iren und Indianer zusammen. Nein, sie würden kommen, Aisha zu befreien, darauf mochte ich wetten. Fraglich blieb, was sie bei der Gelegenheit mit mir machen würden.
Vielleicht, wenn ich mich mit Aisha anfreundete . In aller Formvollendung, versteht sich.
Der Vorhang aus Decken wies bei näherer Betrachtung zwei Löcher auf, wahrscheinlich Brandlöcher von nachlässig gehandhabten Zigarren. Eins in Hüft-, eins in Augenhöhe. Leise trat ich ans Gitter und riskierte einen Blick durch das obere. Und ein Finger mit scharfem Nagel stach mir heftig ins Auge.
»Aaaahuuu!«, jaulte ich, »aaah, mein Auge, o Gott! Mein Auge! Es läuft aus!« Zählte bis drei und piekste dann meinerseits mit steifem Finger durch das Loch.
»Bist du verrückt geworden?«, raunte Shits und knuffte Toller Hund in die Seite. »Ausgerechnet in Anwesenheit von einem von denen -«, Shits deutete mit dem Kinn auf Mandoneys schwankende, schwer auf Bro Hos breite Schultern gestützte Gestalt, »- davon anzufangen, vom Fremden und dem Kreis aus Eisen zu fantasieren? Willst du, dass wir alle auf dem Stiefelhügel enden?«
Sie querten die Hauptstraße vom Saloon in Richtung Büro des Sheriffs, wo der Doc die Operation durchführen sollte.
Toller Hund half beim Tragen eines wichtigen Teils der Ausrüstung und murmelte eine Entschuldigung.
Die Sonne versank in rotem Glühen, und die Tiere der Nacht wetzten ihre Klauen und ölten ihre Sechsschüsser. Ein paar hoben die Stimme, und wer immer sie vernahm, wünschte, sie hätten es sein lassen.
»Da, hör dir das an«, meinte Shits. »So ähnlich hast du auch geklungen, letzte Nacht. Nur . schauerlicher.«
»Still«, hauchte Toller Hund und stoppte, lauschend.
Irgendwo in der rasch fallenden Dunkelheit, die direkt vor den letzten Bretterwänden der Stadt begann, irgendwo da draußen, nur so eben, nur einen Schritt außerhalb der Reichweite auch des besten Gewehres, machte ein Tier der Nacht seinem Herzen Luft, und sein Ruf klang hohl wie die Trauer und die Einsamkeit und gleichzeitig schrill wie der Schrei nach Vergeltung.
»So heult nur einer«, flüsterte Toller Hund. »El Lobo!«
»Ahuuiii!«, heulte ich, als sich zwei kräftige Zahnreihen blitzartig in meinen ausgestreckten Finger gruben. Ich musste mich mit einem Fuß gegen das Gitter stemmen, um ihn zurückzubekommen, meinen Finger, und hatte noch Glück, dass er an einem Stück geblieben war.
Dies, sagte ich mir, eine Hand unter die Achsel geklemmt, Ballen der anderen auf mein schmerzendes Auge gepresst, fühlt sich nicht an wie der Beginn einer formvollendeten Freundschaft. Und nach dem Loch in Hüfthöhe mochte ich nicht mal mehr aus der Entfernung schielen. War eh nur so ein Gedanke gewesen. Vergiss es, sagte ich mir und hockte mich auf meine Pritsche. Vergiss es ganz schnell, sagte ich mir, als die Türe mit dem üblichen Krachen aufflog und eine kleine Prozession hereinschneite.
Zuallererst kam Mandoney, blass, den rechten Arm in einem dicken Verband und einen Ausdruck in den grauen Augen, der mich zweifeln ließ, ob ich wirklich seine Genesung wünschte, gefolgt vom Sheriff, der einen Mann mit grünlicher, von Bändern gehaltener Pickelhaube hereinführte. Ihm folgte Bro Ho mit einem Arztköfferchen in der einen und einer großen Flasche ohne Etikett und einem Trichter in der anderen Hand. Schließlich betrat noch Shits den Raum und machte die Türe hinter sich zu. Seinen Kopf zierte ein schwarzer Zylinder, seine weiß behandschuhten Finger kneteten ein Maßband. Taxierend sah er mich an.
Ich wartete auf ein Zeichen von ihm, irgendeinen Hinweis, dass er und die Jungs etwas zu meiner Befreiung geplant hatten, doch er schien an mir nur als angehender Kundschaft interessiert, also wandte ich den Blick von ihm ab. Mein ganzes Augenmerk galt nun, und von nun an nur noch, dem Mann mit der Pickelhaube.
»Doc Tatters«, stellte ihn der Sheriff vor. »Unsere medizinsche Kapazität. Und das hier ist Shits, der gerne ein paar Angaben zu Größe und Gewicht von dir hätte.«
Shits trat näher. Ich konnte meinen Blick einfach nicht mehr von dem Doc lösen.
»Sechs Fuß groß, hundertsechzig Pfund schwer«, sagte ich, ungefragt. Denn mein Leben war verwirkt.
»Ist schon zweimal vom Blitz getroffen worden, der Doc«, vertraute Shits mir an, ungefragt.
»Ah«, sagte ich. Das erklärte einiges. Zum Beispiel dieses wilde Zucken, das in Abständen durch sämtliche Gliedmaßen des Doktors fuhr.
»Trägt den komischen Hut zum Schutz vor weiteren Blitzen.«
»So«, sagte ich. Das erklärte das andere.
»Leg dich schon mal auf den Schreibtisch, Mandoney«, meinte der Sheriff aufgeräumt. »Wir bereiten inzwischen den Doc vor. Hierhin, Tatters.«
Und er klopfte einladend auf den einzigen Stuhl im Raum. Zögernd, zuckend nahm der Arzt Platz.
»A-hahaha-haber ni-ninini-nicht wi-wiwiwiwieder dieses -«
»Aber nein«, meinte der Sheriff beruhigend, »nur keine Sorge, Doc«, warf dann urplötzlich von hinten seinen Arm um den Hals des Mediziners, riss ihn mitsamt Stuhl in eine Rücklage, zwang ihm die Kiefer auseinander, und Bro Ho setzte den Trichter an und füllte dem Wehrlosen kommentarlos eine halbe Flasche klarer Flüssigkeit ein.
»Panchos >White Lightning<«, raunte Shits.
»Hochprozentig. Mag er nicht so gern, der Doktor.«
»Blödsinn, uns hier zum Spähen rauszuschicken«, befand Toller Hund, dem jetzt zusätzlich zu seinem Kopf auch noch die Finger schmerzten, wo Bro Ho ihm den Hochprozentigen aus der Hand gewunden hatte. »Und wenn schon, dann hätten sie uns die Flasche dalassen können.«
»Wir hätten machen sollen, dass wir hier wegkommen«, bemerkte Pancho. El Lobo heulte immer noch. Aber nicht länger allein. Rings um die Stadt antworteten ihm seine Artgenossen, und bei allen Unterschieden in Klangfarbe, Lautstärke und Modulation fand sich nicht einer darunter, der auch nur ansatzweise in der Lage schien, vom menschlichen Ohr anders als mit äußerstem Vorbehalt aufgenommen zu werden.
»Solange noch Zeit dafür war«, fügte Pancho hinzu und spähte angestrengt hinaus in die sich in nächtlicher Schwärze erstreckende Einöde, so leer für das Auge und so voll für das Ohr.
»Hört sich an, als ob sie um die ganze Stadt herum wären«, beobachtete Toller Hund. »Wer jetzt noch zu flüchten versucht, fällt unter die Wölfe.«
Oberarm, dachte ich. Wer immer das war, hat ihn außen am Oberarm erwischt, und die gehen hin und weiden ihn aus wie ein Stück Wild.
Sekundenlang hatte ich Hoffnung geschöpft. Kaum dass der Trichter aus seinem Mund entfernt war, hatte sich der Doktor aufgerichtet zu seiner ganzen, kugelförmigen Höhe von gut und gerne fünf Fuß, hatte sich mit ruhiger, sicherer Hand seine Weste glatt gestrichen, die Pickelhaube gerichtet und begonnen, seine Ärmel aufzukrempeln.
»Also wirklich, Starski«, sagte er in vorwurfsvollem Ton, ohne auch nur den Ansatz eines Stotterns, »ich weiß nicht, wie oft ich noch darauf verweisen muss, wie sehr mir Ihre rüden Methoden gegen den Strich gehen.« Er schnippte herrisch mit den Fingern. »Bro Ho, das Chloroform und einen Lappen, bitte.« Mit ärgerlich gekräuselten Brauen wandte sich der Arzt wieder an den Sheriff. »Ich habe mein kleines . Problem .«, Doc Tatters schraubte energisch den Verschluss von der Chloroform-Flasche, ». einen sauberen Lappen, Bro Ho, nicht den aus dem Putzeimer! . sehr wohl unter Kontrolle!« Der Doc tränkte den Lappen großzügig und presste ihn dann seinem auf dem Schreibtisch zu liegen gekommenen Patienten entschlossen aufs Gesicht. »Auch ohne«, wandte er sich erneut und vorwurfsvoll an den Sheriff, »dass Sie mimisch mitten diesn Schawawawarfgbranndn Fususelll vergiffdn duhn .«
»Hoho«, bemerkte Bro Ho, wie er es gerne tat, kritisch, als dem guten Doc die Knie nachgaben.
»Ist wohl ein bisschen stark ausgefallen, Panchos neue Lieferung.«
Und ab da ging es den Bach runter.
Ich hätte gelacht, wäre es nicht gleichzeitig um meinen Hals gegangen.
Mandoney war einmal chloroformiert, und da der Doktor sich als vorerst nicht wiederbelebbar erwies, wurden Streichhölzer hochgehalten, und niemand schien auch nur ansatzweise besorgt, als Bro Ho das kürzeste zog. Niemand außer mir, sollte ich vielleicht sagen.
Ich möchte es so ausdrücken: Es gibt Gründe dafür, warum manche Menschen Kalligraphen werden und andere Anstreicher. Warum manche Uhrmacher sind und andere Schiffsmechaniker. Bildhauer und Sprengmeister. Wir alle müssen unsere Neigungen ein wenig um unsere Eignungen schmiegen oder es droht ein Fiasko.
Von der Eignung her wäre Bro Ho absolut am richtigen Platz, wenn es um das Zerteilen eines toten Wales gegangen wäre. Ihn mit einem scharfen Messer auf einen lebenden menschlichen Organismus loszulassen erfüllte dagegen den Tatbestand der Anstiftung zum Mord.
Ich denke mal, es war die morbide Faszination des Todgeweihten, die mich als Einzigen im Raum dazu befähigte, bei dem Gemetzel zuzusehen. Mit jedem neuen, klaffenden Schnitt fühlte ich die Schlinge um meinen Hals enger werden.
Mandoney überlebte trotzdem. Ich weiß nicht, wie. Musste wohl mit der sprichwörtlichen Robustheit und legendären Zähigkeit seiner beiden animalischen Paten zusammenhängen.
»So, da isse«, sagte Bro Ho und hielt sie mit blutigen Fingern ins trübe Licht der unter der Decke schwankenden Petroleumfunzel, die Revolverkugel. »Jetzt brauchen wir'n nur noch wieder zuzunähen.«
Ein Schweigen folgte. Unterbrochen von Hüsteln.
»Na, dann mach mal«, sagte Shits. »Ich pack ihn erst an, wenn er steif ist.«
Bro Ho blickte auf seine Hände. Schaufel und Kohlen kamen einem bei ihrem Anblick in den Sinn, Spaltaxt und Holzscheit, Hammer und Zaunpfahl, Führstrick und Bulle. Nicht Nadel und Faden.
»Gut, dann muss ich das eben machen.« Sheriff Starski griff sich die Garnrolle aus des Doktors Tasche und die größte Nadel aus dem Kissen, fingerte ein Monokel aus der Weste, klemmte es ins Auge und die Zungenspitze zwischen die Zähne und begann mit dem Einfädeln.
Der erste Versuch ging um eine satte Handbreit daneben.
Blut tropfte. Zeit verging. Mein letztes bisschen Hoffnung schwand. Mandoney stöhnte.
»Kleinen Moment noch«, meinte der Sheriff und stach ins Leere und Weite.
Mit einem Grunzen richtete sich der Doktor mühsam auf. Hielt seinen Kopf.
»Vielleicht ...«, begann Shits.
»Augenblick. Hab's gleich«, sagte der Sheriff.
»Stop! Stopopop! Das ist ein- eineinein- eindeutig mein-meineinein- meine Aufgabe. Gott- Gottottott- Gottseidank bin ich wieder nü- nünününüchtern. Also he- hehehe- her mit der Nadel und de- dedede- dem Fa- Fafafa- Faden!«
»Vielleicht .«, begann Shits.
»Hab's gleich«, sagte der Sheriff.
In der Zelle nebenan zerkaute jemand eine Abfolge von mexikanischen Flüchen zwischen langsam mahlenden Zähnen. Bis auf den stöhnenden Mandoney blickten alle in ihre Richtung. Bis auf Mandoney und mich. Wegen der erwähnten Wolldecken gab es für mich nichts zu sehen. Meine Augen waren stattdessen auf die beiden Zellenschlüssel fixiert, die irgendwie vom Haken gefallen waren und über die jetzt nur noch einer dieser Tölpel nur noch einmal zu stolpern brauchte und sie wären in meiner Reichweite, und von da bis zum Waffenschrank war es nicht mehr als ein Hechtsprung .
»Vielleicht sollten wir Aisha bitten, die Näherei zu übernehmen?«
»Ha!«, kam es stolz und ablehnend aus der Zelle neben meiner.
»Hab's gleich«, sagte der Sheriff.
»Da- dadada- das ist mein Jo- Jojojo- Job!«
»Ich kann das machen«, bot ich an. »Wenn sie sich zu schick dafür ist.«
»Na gut«, kam es stolz und gnädig aus der Zelle neben meiner.
Und Bro Ho bückte sich nach den Schlüsseln. Verdammich.
Andererseits konnte ich jetzt endlich mal einen Blick riskieren auf meine Nachbarin. Seltsam, wofür ein Mann nach sechs Tagen im Sattel und einem halben in Haft nicht alles dankbar ist.
Und dann weigerte sie sich, ihre Zelle zu verlassen, und sie wuchteten ihr Mandoney auf die Pritsche! Verdammich.
Blieb die Flasche mit dem Fusel. War noch hübsch was drin. Wie von selbst konzentrierten sich meine Gedanken darauf.
>»Auf dem Rücken eines wilden Schecken, schneller als der Wind, wird der Fremde in den Kreis aus Eisen kommen. Er wird treue Verbündete finden, sieben Squaws beglücken, das papierene Gold des Weißen Mannes mit Verachtung strafen. Dann wird er seine Feinde besiegen und zum Schluss wird er den Weg über das Wasser nehmen und den Kreis aus Eisen brechen.< So, genau so hat es mein Freund Kleines Glas, der Medizinmann, aus den Steinen im Feuer herausgelesen«, raunte Toller Hund und sah sich suchend um. Er war dabei, ihren Zweimann-Spähtrupp beinahe lautlos durch die undurchdringliche Schwärze der Nacht zu leiten. »Und dann noch bisschen was über einen sprudelnden Bergquell von reinstem Tequila. Aber das liest er aus praktisch jedem Stein, dafür braucht er noch nicht mal ein Feuer.« Als einzige Orientierungshilfe dienten ihm die für das menschliche Auge kaum wahrnehmbaren, im Licht von höchstens zehn oder zwölf Petroleumlampen nur schwach gegen die Sterne anleuchtenden Buchstaben BOOTHILL SALOON auf dem Dach des gleichnamigen Gebäudes. Mit dem untrüglichen Instinkt des geborenen Fährtenlesers führte er Pancho zielsicher darauf zu. »Wieso also wollt ihr noch nicht zu den treuen Verbündeten des Fremden gehören?« Pancho seufzte.
»Erinnerst du dich, wie Kleines Glas fast das gleiche über den dicken Fremden mit den roten Haaren prophezeit hat?«, fragte er zurück und strich sich die schwarze Locke aus den Augen, um den Indianer prüfend anzublicken. »Und warst du es nicht selber, der den Suchtrupp angeführt hat, nachdem er sich die Schießerei mit Dickie Thysson geliefert hatte?«
»Nu«, machte Toller Hund. »Es war entweder das oder aber von Starski einen Zaunpfahl ins Spundloch gehämmert zu kriegen.«
»Dann erinnerst du dich wahrscheinlich auch, wie dünn der rothaarige Fremde geworden war, nachdem der Sheriff ihn drei Tage lang hat hinter einem Pferd herschleifen lassen.«
Sie gingen ein paar Schritte in nachdenklichem Schweigen.
»Also, nichts gegen deinen Freund den Medizinmann, aber wir sind ein bisschen vorsichtig geworden, was seine Orakel angeht. Du weißt, wie es ist, hier, innerhalb des verfluchten Kreises.«
Und mit einem Quietschen öffnete sich die Türe und schlug mit einem Krachen hinter ihnen zu.
»Draußen ist's schon dunkel«, beobachtete Shits von der offenen Türe her.
Nervosität machte sich breit.
»'s wird Zeit, Posten zu beziehen«, meinte Bro Ho.
»Sobald Mandoney vernäht ist«, sagte der Sheriff. »Die verdammten Tortillafresser greifen erst an, wenn sie glauben, wir liegen alle in der Butze.«
Zehn Minuten später wuchteten sie ihn, Arm verbunden und in einer Schlinge gelagert, zurück auf den Schreibtisch.
»Ich gehe jetzt in den Saloon«, bestimmte Starski. »Und vereidige da ein paar Freiwillige.«
Entschlossen griff er nach seinem Gewehr. »Bro Ho und Shits, ihr lauft Patrouille. Auf und ab, hier vor dem Büro. Haltet Augen und Ohren offen. Alles Ungewöhnliche wird mir augenblicklich mitgeteilt. Und damit ihr auch wisst, wo ich bin, bleibe ich, sagen wir . Ja. Ich bin im Saloon, wenn mich jemand sucht. Wird das Beste sein. Sicherlich. Mandoney kann euch helfen, hier die Stellung zu halten.«
Mandoney begann vernehmlich zu schnarchen. Ein großes, zögerndes >Hm< stand im Raum.
». sobald er wieder auf den Beinen ist, heißt das. Und bis dahin .«
»Bis da- dadada- dahin pa- papapa- passe ich hier auf.« Der Doc krabbelte auf die Füße, machte einen zuckenden Schritt auf den Waffenschrank zu, und drei Mann warfen sich ihm in den Weg.
»Sachte«, meinte der Sheriff zu ihm und tauschte einen Blick mit Bro Ho. »Setz dich erst mal, Tatters.« Shits stellte den Stuhl wieder auf die wackligen Beine. Gemeinsam drückten sie den Doktor darauf nieder. Ein Griff und ein Nicken und Bro Ho kippte meine letzte Hoffnung auf einen dezenten Schluck gurgelnd den Trichter hinab.
»Das wäre nun wirklich nicht nötig gewesen«, beschwerte sich der Mediziner keuchend. »Selbst mit einem gelegentlichen, kaum wahrnehmbaren Tremor zähle ich mich immer noch zu den sichersten Schützen der Stadt.«
Starski besah ihn sich kurz und kritisch und drückte ihm dann ein Schrotgewehr in die Hände.
»Du kennst die Regeln«, sagte er auf dem Weg zur Türe. »Wer auf >Wer da?< nicht antwortet, wird erschossen.« Und darauf verschwand er in der nordcarolinischen Nacht.
»Allullalls gargeinnnn Brobbeleeemmm«, lallte ihm der Doktor hinterher, legte die Füße neben Mandoneys Kopf auf den Schreibtisch und war schon bewusstlos, als der Stuhl unter ihm zusammenbrach.
»Is' wirklich 'n bisschen stärker ausgefallen als sonst, die neue Lieferung«, beobachtete Bro Ho.
»Besser so«, fand Shits. »Solange der Doc hinüber ist, kann man wenigstens vor den Fenstern des Sheriffbüros seine Runden drehen, ohne jedes Mal in einen Kugelhagel zu geraten.«
Und damit traten sie hinaus und ließen die Türe zufallen.
Gedankenschwer ließ ich mich auf der Pritsche nieder, streckte mich aus und verschränkte die Arme im Nacken.
Die Hammerschläge draußen, fiel mir auf, waren verstummt. Das hieß, der Galgen war vollendet. Er wartete. Und die Stadt wartete mit ihm.