»Paule schon hiergewesen?« fragte ich den ersten von zirka vier Dutzend etwas kleinerer und etwas jüngerer Männer als mir selbst an diesem Abend, legte ihm kumpelhaft die Hand auf die Schulter und sah ihm fragend in die Augen. Glasige Iriden schwammen in einer Art senffarbener Marinade. Gut, sie waren blau, doch wirkten sie auf mich ungefähr genauso stechend wie die unteren Enden zweier Abfluß-Pümpel. Außerdem wußte er nichts von einem Paule. Ich sagte »Macht nichts«, ließ noch ein Pils kommen und schlurfte weiter, zum Nächsten.

Ungefähr eine halbe Stunde und drei oder vier Pils später war ich mit dem Bahnhof durch. Kein Det, und glücklicherweise auch kein Paule. Der käme normalerweise erst später, hatte mir einer verraten. Ich trat raus in die abendliche Schwüle. Am Horizont zogen ein paar Wolken auf. Vielleicht würde es ja endlich mal gewittern, endlich mal wieder regnen.

Eine Suche wie diese kann man unmöglich mit System durchführen. Nicht allein, nicht mit einer so vagen Beschreibung. Man muß sich von seinem Instinkt und dem Zufall leiten lassen.

Wie in wahrscheinlich jeder Stadt dieser Größenordnung gibt es auch im näheren Umkreis des Mülheimer Bahnhofs vielleicht ein Dutzend Kneipen, in denen sich hauptsächlich Männer treffen, deren Lebenszweck sich im Groben auf das Herunterwürgen alkoholhaltiger Getränke reduziert hat. Eine noch, dachte ich mir, und dann fahren wir mal nach Essen.

>Bei Klaus<? Warum nicht. Ein Pappschild im Fenster versprach eine tägliche, vierstündige Happy-Hour von 13 bis 17 Uhr, während der es Bier und Korn zum Kampfpreis von zusammen DM 2,50 gab. Schon beim Eintreten wurde klar, daß ein Großteil der Gäste sich diese Gelegenheit nicht hatte entgehen lassen. Jetzt, Stunden später, herrschte die dumpfe, brütende Atmosphäre absoluter, vollkommen freudloser Zugedröhntheit. Trotzdem, einmal drin, nahm ich ein Bier, fragte nach Paule und sah mich um. Fünf Minuten später war ich wieder draußen. Sobald ich diese Nachforschungen erst einmal hinter mir hatte, würde ich das Trinken für immer drangeben. Das schwor ich mir.

In Essen wurde es nicht viel besser. Ich drückte mich in einem Spielsalon herum, zwei oder drei weiteren bleiverglasten Dämmerschuppen mit Schlagerbeschallung, einem schulterhoch weißgekachelten Bierlokal mit dem Charme einer Bedürfnisanstalt, einem Stehimbiß, wo es grüngelbe Frikadellen und nur lauwarmes Flaschenbier gab, und verschnaufte schließlich in einem Billardsalon mit Blutspritzern an der Wand.

Irgendeine fürchterliche Schnulze hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und hinderte mich am klaren Denken. Ein Zuviel an unfreiwillig konsumiertem Bier unterstützte sie dabei.

Oh ja, ich war mit der Szene verschmolzen. Gründlich. Wie von Anfang an befürchtet, hatte sich auch meine Stimmung mitverschmolzen. Ebenfalls gründlich. Und was hatte ich bisher erreicht? Ich hatte zwei Paule gefunden. Und auch noch beidesmal die Falschen.

Das einzige, was mich am Aufgeben hinderte, war die zweite Schiene, auf die ich meine Nachforschungen in der letzten Stunde oder so ausgedehnt hatte. Mir war in den Sinn gekommen, daß Det, wenn ich Walter Vogels Wiedergabe von Prickels Erzählungen glauben konnte, sowas wie ein fanatisches Kampfschwein war, das keiner Schlägerei aus dem Weg ging und offenbar so gut wie nie verlor. Ich hatte also angefangen, Männer mit frischen Blessuren zu interviewen. Das war allemal unterhaltsamer gewesen, als in ein weiteres Paar trüber Augen zu blicken und eventuell noch einen Paule aufzutreiben.

Einer, mit einem Verband um den Kopf, war fremdgegangen, mit der Nachbarin. Seine Gattin, vermutete er, muß wohl irgendwie dahintergekommen sein. Auf alle Fälle hatte sie ihm gewaltig eins mit der Zaunlatte übergebraten.

Zwei, die ich nacheinander ansprach, konnten sich an überhaupt nichts erinnern, was ja nun keine große Hilfe für mich darstellte.

Ein anderer, den eine fürchterliche, buntschillernde Prellung auf Stirn und Schläfe zierte, erzählte mir, er sei gestern Nacht >unglücklich ausgerutscht< und deshalb mit dem Kopf >ganz blöde auf das Pißbecken geschlagen<.

Obwohl das alles nicht die Antworten waren, die ich mir erhoffte, hatten sie doch einen nicht von der Hand zu weisenden Unterhaltungswert. Und so griff ich mir dann auch fast automatisch ein Queue, als der große Typ mit dem Veilchen, der frisch genähten Augenbraue und dem verpflasterten Ohr zur Türe reinkam. Ich warf ein paar Markstücke auf den nächsten freien Tisch und fragte ihn: »Spielchen?«

Er nickte ruhig und bedächtig und brummte: »Aber immer.«

Ich erwachte noch vor dem Wecker, getrieben von einem Gefühl absoluter Dringlichkeit. Und ich spreche hier nicht von meiner Blase. Oder nicht nur. Sicher, ich erwachte auch mit einem fußballharten Unterbauch, einem quadratischen Trumm von einem Schädel und einem Geschmack auf der Zunge, als habe sie sich jemand über Nacht ausgeliehen und eine Leiche damit gewaschen, doch das war in dem Augenblick alles nebensächlich. Völlig nebensächlich. Was zählte, und was mich geweckt hatte, war ein Gefühl absoluter ... Dringlichkeit. Einer neuen Gewißheit. Der alarmierenden Gewißheit, sofort etwas unternehmen zu müssen.

Ich setzte mich auf, noch völlig benebelt. Kaum zehn Liter mieses Bier und vierzig Camel ohne, und schon komm ich morgens nicht mehr richtig bei. Was, zum Deibel, war so dringend?

Ich stand auf, geplagt von mildem Schwindel. Die Katze hob die Stimme, um sich an meinen Kopfschmerzen zu weiden. Dieses sadistische Aas. Mit knapper Not schaffte ich es, ihr die Badezimmertüre vor der Nase zuzumachen. Aah, Ruhe!

Ohne viel davon mitzubekommen, erledigte ich meine morgendlichen Verrichtungen in, anzunehmenderweise, so ziemlich der üblichen Reihenfolge. Derweil wrang ich mein Gedächtnis. Was, zum Deibel .? Unter der Dusche machte es dann plötzlich boff!, und alles war wieder da, alles auf einmal.

Ich hatte gestern abend jemandem getroffen, der Det begegnet war! Und, Boy, was war der dem begegnet! Vier Runden Billard habe ich gegen ihn verloren, was sich in vier Halben Bier niedergeschlagen hatte, und während wir so die Kugeln schoben und die Humpen hoben, hat er mir erzählt, wie er zu seinen diversen Blessuren gekommen ist: »Ich hatte mir gerade die Kugeln aufgebaut - nicht hier, paar Straßen weiter ist das gewesen, vorvorgestern Nacht - mach mir gerade ein bißchen Kreide auf den Queue, als so ein Typ zur Türe reinkommt. Nicht sehr groß, nicht sehr breit, eher unauffällig, doch mit 'ner Sonnenbrille auf, dabei war's schon dunkel draußen, und mit sowas wie 'nem Spastiker im Schlepptau, der alle seine Zähne im Gesicht trug.«

Ab dem Punkt seiner Erzählung hab ich nicht mehr richtig getroffen. Bis dahin hatte ich gar nicht schlecht gelegen, allein schon weil Paul (>nenn mich Paule< - verrückt, ich weiß) -Paule, also, mit dem für ihn ungewohnten Auge zielen mußte, wegen des Veilchens, doch ab da hätte ich ihm die Biere auch genauso gut kampflos kaufen können. Ich brachte nichts mehr zustande.

»Ich meine«, war er auf seine ruhige Art fortgefahren, »es kann ja jeder rumlaufen, wie und mit wem er will, was schert's mich, doch ich habe noch keine drei Stöße gespielt, und was macht der Spastiker? Stellt sich an meinen Tisch, idiotisch grinsend, mit Sabber am Kinn, und nimmt eine von den Kugeln auf.« Er zog eine Grimasse, die einen grotesken Überbiß andeutete und wackelte mit dem Kopf dazu.

»Es ging ja um nichts«, sagte er und hob bedächtig die breiten Schultern, »ich hab ja nur gegen mich selbst gespielt. Also hab ich zu dem Heini gesagt, er solle die Kugel schön brav wieder hinlegen und woanders hingehen, ja? Ist doch normal, oder?« Paule nahm einen Schluck.

»Wollte er nicht. Wollte die Kugel behalten. Auch noch die 8. Ich meine, jede andere wäre ja halb so wild gewesen, doch um die 8, da dreht sich eben alles, oder nicht? Also habe ich etwas lauter gesagt, er solle sie hinlegen und sich verziehen. Er hat nur >dadada< gemacht und gesabbert und die Kugel in die Tasche gesteckt. Da bin ich ein bißchen sauer geworden. >Raus mit der Kugel<, hab ich gesagt und ihm mit der stumpfen Seite vom Queue einen kleinen Stups gegeben. So in die Rippen. 'Nen minimalen Schubser, glaub's mir.« Er sah mich über die Länge seines Queues aus seinem heilen Auge treu an, und ich glaubte ihm. Er war ein gelassener Bär von einem Mann und wirkte nicht so, als ob er für eine dämliche Billardkugel ein Schlägerei vom Zaun brechen würde.

»Im nächsten Augenblick«, seufzte er und schüttelte den Kopf in verständnisloser Erinnerung, »kam dieser Typ mit der Sonnenbrille über den Tisch geflogen und trat mir voll in die Fresse!«

Paule hat sich noch gewehrt, ist trotzdem zu Boden gegangen, und als er wieder hochkam, war sein Kontrahent schon weg und hatte seinen Begleiter mitgenommen.

Ob er den Typen vorher schon mal gesehen habe? Nein, nicht bewußt.

Ob ihm irgend etwas Besonderes an ihm aufgefallen sei? Nur die Augen.

»Im Laufe der Klopperei hat er die Sonnenbrille verloren und ich habe seine Augen gesehen. Zum Fürchten, das sag ich dir. Blau, und seltsam flackernd - man konnte nicht hinsehen. Na, und kurz darauf gingen dann für einen Moment alle Lichter aus, bei mir.«

Wir hatten noch einen genommen, Paule und ich. Oder auch zwei. Und mein letzter klarer Gedanke am gestrigen Abend war der gleiche gewesen wie der erste klare an diesem Morgen: Det existierte, er existierte wirklich, und nicht nur in Prickels Phantasie. Und daß er schon wieder in Begleitung eines ganz offensichtlich geistig Behinderten unterwegs war, ließ für mich nur einen Schluß zu: Er war fleißig dabei, den nächsten Mord vorzubereiten, auf die gleiche Methode wie vor ein paar Monaten in Bottrop.

Das war unglaublich.

Ich sprang in die Hose. Ich mußte dringend, dringend, dringend etwas unternehmen, oder eine weitere Frau würde grausam ins Gras beißen, und ein weiterer armer Schwachkopf würde die Tat angehängt bekommen.

Ich griff mir die Unterlagen, blätterte kurz, wählte dann die Nummer des Bottroper Polizeipräsidiums und ließ mich verbinden. >Kommissar Kujak oder Schneiders hatte ich gesagt. Ich bekam Kujak.

Er hörte geduldig zu, ohne mich zu unterbrechen, bis ich fertig war. Dann faßte er das von mir Gesagte zusammen, um, wie er sich ausdrückte, >zu überprüfen, ob er alles richtig zu Papier gebracht habe<. Es sollte eine interessante Erfahrung für mich werden.

Er sagte: »Sie sind also Privatdetektiv, befassen sich zur Zeit mit dem Fall Roselius und haben gestern in einem Essener Billardlokal einen Mann namens >Paul< kennengelernt, der zwei Nächte vorher in eine Schlägerei mit einem Unbekannten verwickelt gewesen ist. Alles richtig?«

Ich bestätigte, auch wenn es sich irgendwie schon komisch anhörte, so, wie er das formulierte.

»Jetzt korrigieren Sie mich bitte sofort, sollte ich etwas Falsches sagen: Wenn ich Sie richtig verstehe, schließen Sie aus der Tatsache, daß dieser Unbekannte eine Sonnenbrille trug und einen allem Anschein nach etwas zurückgebliebenen Begleiter bei sich hatte, nicht nur, daß A): Bernd Roselius das unschuldige Opfer eines Mordkomplotts ist, sondern B): obendrein, daß es sich bei dem bisher nicht näher identifizierten Sonnenbrillenträger um den wahren Mörder Monika Sieberts handelt, der sich noch dazu mitten in der Vorbereitung eines weiteren Verbrechens nach dem gleichen Muster befindet. Habe ich das alles -«

Ich legte auf. Ich habe >interessante< Erfahrung gesagt, nicht >schmeichelhafte<. Der Hohn in Kujaks Stimme war höflich und dezent gewesen, aber immer noch Hohn.

So war das also. Von dieser Seite war keinerlei Hilfe zu erwarten. Kujak hielt mich schlichtweg für bescheuert. Hatte ich mich so ungeschickt ausgedrückt? Ich spulte meine Schilderung noch einmal vor meinem geistigen Ohr ab. Nein, für mich machte sie weiterhin Sinn. Doch bedurfte es wahrscheinlich mehr als nur eines Telefonanrufs, um eine Behörde einen seit Monaten abgeschlossenen und an die nächste Instanz weitergereichten Fall wieder aufnehmen zu lassen. Wahrscheinlich mußte erst etwas passieren. 'N Mord oder so.

Plötzlich spürte ich die Last einer völlig ungebetenen Verantwortung. Verdammt, was hatte ich eigentlich damit zu tun? Ich bekam ja noch nicht einmal Geld dafür! Nicht mal das.

Veronika sagte einfach >mach mal<, Walter Vogel stellte sich doof, die Bullen zuckten nur die Achseln oder tippten sich an die Stirn, und unversehens stand ich ganz allein da, wie der Trottel, der beim Kommando >Freiwillige vor< stehengeblieben ist, während alle anderen einen Schritt nach hinten gemacht haben. Toll. Alle Welt lehnte sich bequem in ihren Sesseln zurück, verschränkte die Hände in Nacken und war sich darüber einig, ihren Teil beigetragen zu haben, und sei es, indem sie mich mal machen ließen.

Erfüllt von einer >Ihr könnt mich gleich alle mal kreuzweise<-Stimmung stampfte ich zurück ins Bad, sah hart in den Spiegel, blickte mir gerade in die Augen. Es ging noch. Und wenn das so bleiben sollte, mußte ich wohl ran. Dies war ein Job für einen Detektiv. Für einen richtigen Detektiv. Nicht so einen wie manche.

Ich dachte an Roselius. Diese arme, arme Socke.

Noch heute, noch heute Nachmittag würde ich unter Aufbietung all meiner Geduld und Raffinesse irgendeinen Hinweis aus ihm herauskitzeln, irgend etwas darüber, wo und wie man Det erreichen konnte. Ein Nachname, eine Adresse, Telefonnummer, Stammkneipe, jemand Drittes, der solche Informationen haben könnte, irgend etwas. Heute noch. Und sollten sie uns wieder zu unterbrechen wagen, etwa für eine ihrer fadenscheinigen >Behandlungen<, dann sollten sie mich kennenlernen. Aber hallo.

Ich kniff die Augen zusammen und mein Spiegelbild spannte die Backenmuskeln. Wenn Kryszinski sich einmal in einen Fall verbeißt, braucht es mehr als nur ein paar Weißkittel, um ihm die Kiefer wieder auseinanderzuhebeln.

Vor allem, natürlich, wenn fünf große Lappen winken.

Den ganzen Morgen verbrachte ich auf Achse. Ich spähte, ich schnüffelte, ich fragte herum. Ich bluffte. Ich log. Ich versprach immense Belohnungen und völlige Verschwiegenheit. Und alles für'n Arsch. Schrauber, Händler, Schrotter, keiner wollte etwas wissen. Ich konnte mir den Mund fusselig reden, Heiners Motoren blieben verschwunden. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll von verschlagenen Blicken und unverhohlen an die Adresse der Konkurrenz gerichteten Verdächtigungen, warf einen Blick auf die Uhr und sah, daß es höchste Zeit war für Ratingen.

Es war einer dieser flirrenden Nachmittage geworden, an denen die Luft nur noch aus heißen Abgasen zu bestehen scheint und die Autofahrer sich gegenseitig in einen kollektiven Amoklauf hochzuschaukeln beginnen. Plärrende Hupen, drohende Fäuste, Schlägereien um Nichtigkeiten und Irrsinn im Anfangsstadium in allen Mienen. Und ich mittendrin. Sauer und in Eile obendrein.

Ich ließ sie hupen. Ich ließ sie drohen. Ich ließ einen, der sich wohl von mir geschnitten gefühlt hatte und an der Ampel extra ausgestiegen war, um handgreiflich zu protestieren, freundlich lächelnd gaaanz langsam neben meiner Türe herlaufen und bölken, bis wir hundertfünfzig Meter zurückgelegt hatten und er zurückhasten mußte, weil die Schlange hinter seinem Wagen in einem Crescendo gnadenlos gepreßter Hupen zu explodieren drohte. Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte lachen.

Mein Bart hing mir vorne bis zu den Knien und mein Haar hinten runter bis zum Arsch und beides war von prächtigem Schlohweiß, als der Enkel des Mannes, dem ich zwei Generationen zuvor meine Papiere zur Überprüfung hatte aushändigen müssen, das Lebenswerk seiner Vorväter zum Abschluß brachte und mir die unterdessen völlig vergilbten und abgegriffenen Dokumente mit den einstmals ersehnten, mittlerweile aber nur noch wie Hohn klingenden Worten: »Warten Sie!« in die tattrigen, gichtigen Hände gab. Und ich ächzte vor Anspannung wie das Gebälk einer Minenverstrebung unter einem Kilometer Deckgebirge, als Pfleger Weber mich holen kam. Ein Gefühl beschlich mich. Es war das Gefühl, heute vielleicht besser nicht gekommen zu sein.

Bernd Roselius, mein mir anvertrauter Klient, sah aus wie der Tod im Nachthemd.

Als ich vor Jahren mal meine von einem übereifrigen Tierfreund eingefangene Katze im Tierheim abgeholt habe, hat in einer der Boxen ein noch recht junger Hund in der Ecke gelegen, den die Behörde einem Sadisten weggenommen hatte, und an den mußte ich denken, als ich Roselius gegenüber Platz nahm. Genau wie damals wußte ich nicht recht, ob ich bei seinem Anblick in Tränen oder in einen Blutrausch ausbrechen sollte. Am nächsten Tag bin ich wieder hin, doch da hatten sie ihn schon eingeschläfert.

Ich steckte mir eine an, und meine Finger zitterten dabei. Ich war tatsächlich den Tränen nahe, Tränen der Ohnmacht. Hier, in diesem grausigen alten Gemäuer geschah Ungeheuerliches, und ich war außerstande, daran irgend etwas zu ändern.

Roselius nickte in einem fort, die Augen starr in eine unendlich weite Ferne gerichtet.

Ich fragte, so ruhig ich konnte: »Du erkennst mich wieder, nicht wahr?«

Nicken, Nicken, Nicken, Nicken.

Ich fragte, milde wie ein Bestatter beim Anschneiden der Preisfrage: »Könntest du mich ansehen?«

Die Zigarette war zu Ende und die nächste beinahe, als er den Kopf wandte und mich angsterfüllt anblickte.

Ich sagte: »Ich habe nur eine Frage, heute. Sie ist sehr wichtig. Also hör gut zu und laß dir Zeit mit der Antwort.« Ich wartete einen Moment, bis ich mir halbwegs sicher war, daß seine Ohren auf Empfang geschaltet waren. Dann sagte ich, langsam und deutlich, jede Silbe für sich betonend: »Die Frage lautet: Wo - finde - ich - Det?«

Die Tür flog auf. Knallte gegen die Wand. Vielleicht hatte ich mich zu sehr auf Roselius' Mienenspiel konzentriert, auf alle Fälle war ich nicht vorgewarnt gewesen, und der Schreck fuhr mir in alle Knochen. Was dann geschah, ist in meiner Erinnerung ein bißchen außer Fluß.

Sicher ist, daß es mir mit einem Schlag sämtliche Sicherungen herausgehauen hat.

Ich war in den letzten Tagen schon vor ein paar knüppelschwingenden Polen davongelaufen, ich hatte es vor Jahren versäumt, diesen kleinen Hund zu retten, und es war abzusehen, daß ich auch im Fall Roselius versagen würde, und ab da wäre es mir wohl auch egal, wenn mich die ganze Welt wie den letzten Arsch behandelte und nicht nur die paar ekelhaften, menschenverachtenden Weißkittel in dieser Anstalt.

Zwei davon standen in der offenen Tür, grinsend, Roselius gab ein gurgelndes Geräusch von sich, und mein Sicherungskasten explodierte, der Stromkreislauf brach zusammen, Lichter verlöschten, Töne verstummten ...

Ab da habe ich nur noch eine Abfolge von Momentaufnahmen im Kopf, als ob sich das Geschehen tatsächlich im Dunkeln abgespielt hätte, nur in bestimmten Abständen von Fotoblitzen erhellt.

Pfleger Weber am Boden, mit Blut um Mund und Nase .

Pfleger Neuhaus' dickes, verzerrtes Gesicht ganz dicht vor meinem, meine Hände in seinem Haar, das dumpfe, häßliche Geräusch von Kopf gegen Wand ...

Der Anprall von etwas sehr Hartem in meinem Nacken, resultierend im Nachgeben von etwas plötzlich sehr Weichem in meinen Knien .

Korridore voll krimineller Wahnsinniger, die sich mit Panik in den Augen links und rechts an die Wände drücken, während meine Schuhspitzen über den Fliesenboden schleifen und ich tobe und brülle und geifere und mich vergeblich gegen die Umklammerung meiner Arme wehre .

Die Gestalt von Dr. Blandette am Ende eines der Gänge, Hände in den Taschen seines Kittels, Daumen raus, das Gesicht eine starre Maske, völlig unempfänglich, unberührt, taub für die ganzen Wahrheiten und noch mehr Beleidigungen, die ich ihm aus vollem Hals entgegenschleudere, während man mich unter Keuchen Schritt für Schritt näher an ihn heranzerrt ...

Näher und näher und näher heran an diese eiskalte Visage und dann eine plötzliche Handbewegung und - pfffff .

Kalte Fliesen an der Wange, lauwarme Kotze überall, unkontrollierbare Krämpfe in sämtlichen Muskeln, Atemholen ein unvorstellbar mühseliges, wahnsinnig anstrengendes, beinahe unmögliches Unterfangen - Angst, hier, auf dem Boden des Ganges, unter den Augen der Umstehenden, mich in meiner eigenen Kotze windend, den Tod durch Ersticken zu erleiden .

Ein Stich in den Arm, dann noch ein Herzschlag oder zwei, und ich lag ruhig. Ich atmete durch, tief, tiiieeefff, und noch mal und noch mal und noch mal. Das Gefühl uferloser Dankbarkeit durchströmte mich. Wörtlich. Es kam, es ging sofort wieder, und nicht einmal eine Ahnung davon blieb in mir zurück.

Ich setzte mich auf. Mein Kopf schmerzte rasend. Mir war übel. Zittrig. Alles in allem war ich schlapp wie ein Windsack bei Flaute.

Ein Kreis weißer, gebügelter Hosenbeine umgab mich. Ich sah hoch. Dr. Blandette stand direkt über mir, einen hochzufriedenen Ausdruck im Gesicht. Mit einem kleinen Fingerzeig auf die leere Fixe in seiner Rechten rasselte er die Namen zweier außerordentlich kompliziert klingender chemischer Verbindungen herunter.

»Rein von der Theorie her«, hielt er uns allen einen kleinen Vortrag, »sollte man meinen, daß das eine die Wirkung des anderen komplett und spurenlos neutralisiert. Und doch klagen die meisten Patienten nach der Behandlung über heftige Übelkeit, allgemeine Mattigkeit und allzu oft auch über migräneartige Zustände von Kopfschmerz.« Dabei lächelte er auf mich herunter. Es war ein Lächeln ohne jede Wärme, ohne Humor; und es galt auch nicht mir. Es war ein egozentrisches kleines Lächeln, nur für einen bestimmt. Prof. Dr. Dr. Blandette war mal wieder von sich selbst entzückt.

»Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße, Blandette«, sagte ich zu ihm. Warum eigentlich? Ich hatte nichts gegen ihn in der Hand.

»Doktor Blandette!« kam es sofort und in aller Schärfe zurück.

Sowas sagt man halt in solchen Augenblicken. >Man legt sich nicht an mit einem .< hatte mir auch noch auf der Zunge gelegen. Doch der Klang stimmte nicht, irgendwie. Damit ein solcher Satz Wirkung erhält, muß man >Corleone< heißen. Nicht >Kryszinski<.

»Stehen Sie auf!« befahl der Doktor. »Kommen Sie in mein Büro. Und Sie, meine Herren, begeben sich wieder auf ihre Stationen. Weber? Lassen Sie Dr. Schmeling mal nach ihrer Nase sehen. Ah, und Sie, Neuhaus, bleiben hier, bei mir.«

»Nur für alle Fälle«, meinte er liebenswürdig und hielt mir die Türe zu seinem Büro auf.

Drinnen gab es ein Waschbecken. Darüber einen Spiegel. Ich blickte hinein. Mehr oder weniger frisch Erbrochenes an Ohr und Wange und dazu die energiegeladene Mimik eines Schlafwandlers gaben meinem Spiegelbild etwas von einem Berber im Endstadium. Kurz entschlossen hielt ich den ganzen Kopf unter den Hahn. Als ich zwei Minuten später wieder hochkam, ging es schon wieder halbwegs. Ich rubbelte mir das Haar. Am Hinterkopf bildete sich ein ordentliches Horn. Wasser tropfte mir in den Nacken, lief mir den Rücken herunter. Der Kopfschmerz machte mich irre. Auf meine Knie schien noch kein rechter Verlaß zu sein. Mit dem Handtuch immer noch auf dem Kopf ließ ich mich auf den Stuhl fallen, in dem ich letztens schon gehangen hatte.

Der Doktor schenkte mir einen abschätzenden, schließlich abfälligen Blick und entließ Pfleger Neuhaus mit einem Nicken Richtung Türe.

Klapp, machte die Türe.

Wir schwiegen ein bißchen.

Der Doktor lief ein paarmal hin und ein paarmal her, bevor er stoppte und nachdenklich auf mich heruntersah. Das leichte Kopfschütteln, das er dabei an den Tag legte, schien geradezu bedauernd zu sein; es schien ausdrücken zu wollen, was für ein Jammer es doch sei, daß ein so verdienter, so oft verwundeter, so hoch dekorierter Soldat wie ich es ausgerechnet am allerletzten Tag vor dem endgültigen Waffenstillstand noch geschafft hatte, vor dem Kriegsgericht zu landen.

»Hausfriedensbruch«, sagte er zu mir. »Körperverletzung. Versuchte Gefangenenbefreiung.«

Er schmatzte leicht mit den Lippen und ging wieder ein wenig hin und her.

Du hast >Diebstahl von persönlichem Eigentum< vergessen, dachte ich, und mein Herz klopfte wild gegen den Fotoständer, den ich bei des Doktors letzter Drehung blitzartig unter der Jacke hatte verschwinden lassen. Es war der einzige Gegenstand in Reichweite gewesen, der es mir wert schien, gestohlen zu werden. Und ein wundervolles Souvenir würde er abgeben.

»Ich weiß wirklich nicht, Kryszinski, was mich davon abhält, Sie in Handschellen von hier fortschaffen zu lassen.«

So, aus seiner Sicht betrachtet, verstand ich das auch nicht. Also ging ich einfach mal davon aus, daß er wohl seine Gründe dafür haben mußte.

»Es wird Ihr goldenes Herz sein«, sagte ich.

Seine Augen funkelten mich durch die runden Brillengläser an. »Das heißt nicht, daß ich es mir nicht jederzeit anders überlegen könnte«, kläffte er.

»Wissen Sie was«, sagte ich zu ihm und erhob mich, »ich glaub ich geh jetzt.«

»Sie gehen, wenn ich es Ihnen sage!« fauchte er.

»Na«, sagte ich, »dann sagen Sie's doch. Ehe Ihr goldenes Herz sich noch einen Kasper einfängt.«

»Neuhaus!« Zack, stand der Dicke wieder im Raum. Er blickte mich an wie ein Rottweiler, der auf >Faß!< wartet.

Scheiße, dachte ich. Eines schönen Tages wird dich deine große Klappe noch mal richtig in Schwierigkeiten bringen, Kristof.

»Sobald er sich auch nur einen Zentimeter bewegt, legen Sie ihn in Fesseln«, befahl der Doktor. Neuhaus löste seinen handlichen kleinen Schlagstock vom Gürtel und leckte sich über die Lippen. Dann standen wir beide ganz ruhig.

»So, Kryszinski. Ich erteile Ihnen hiermit - vor Zeugen - ein für allemal striktestes, zeitlich unbegrenztes Hausverbot sowohl für die Anstalt als auch für die dazugehörenden Außenanlagen. Sollten Sie es jemals wieder wagen, auch nur in der näheren Umgebung herumzustreunen, werde ich sofort und ohne zu zögern Anzeige in sämtlichen gerade eben erwähnten Punkten gegen Sie erstatten. Habe ich mich klar und unmißverständlich ausgedrückt?«

Er hatte. Ich nickte.

Eineinhalb Minuten später war ich draußen, einen Abdruck von Neuhaus' Treter im Kreuz.

Als ich an der Treppe zum Tor vorbeifuhr, schwang die Eingangstüre nach innen, und der Doktor kam herausgesprungen, offenbar wütend entschlossen, doch leider einen Tick zu spät, um sich mir noch in den Weg zu stellen.

Plus >Diebstahl<, dachte ich und nickte mir eins, während ich mit einem kleinen, ehrlich bedauernden Winken davonfuhr. Ich hätte ihn für mein Leben gerne über den Haufen gefahren.

Sie hatten mich nicht übel durchgewalkt, die Pfleger, das begann sich allmählich bis in die letzten Knochen bemerkbar zu machen. Die Beule in meinem Nacken schwoll allmählich zur Größe einer Pampelmuse, und mein Rippenkasten fühlte sich an, als sollte ich die nächsten Tage mit großen Lachern lieber haushalten. Schon morgen würde ich wohl in den prächtigsten Farben schillern. Dazu plagte mich weiterhin ein ausgewachsener Kotzgas-Kater mit sämtlichen beschriebenen Nebenwirkungen.

Also, körperlich gesehen war ich irgendwie nicht so gut drauf, Leute.

Aber geistig!

Trotz der Kopfschmerzen war mein Denken scharf, geradlinig und konzentriert. Mir war wie einem frisch Erleuchteten zumute; als ob mich das gerade Erlebte über eine längst fällige Grenze geschubst hätte, als ob es mich auf meinen Weg gebracht und mir die Augen geöffnet hätte. Die langen Jahre des Umherirrens und der Unsicherheit waren vorbei, ich hatte plötzlich ein Ziel, es lag vor mir in wunderbarer Klarheit, da war kein Zweifel mehr, ob ich ihn gehen wollte, diesen Weg, nur reine Entschlossenheit, befeuert von einer geradezu heiteren Erhabenheit über mögliche persönliche Konsequenzen.

Ich war von der Kette.

Eine noch nie dagewesene Wißbegierde überkam mich. Ich nahm den Fotoständer aus meiner Jacke und stellte ihn einen Moment lang vor mir auf das Armaturenbrett, lächelte ihn an. Wie ein glühender Verehrer, wie ein wahrer Fan, wie ein Jünger wollte ich alles, aber auch alles über diesen Mann erfahren.

Ich stand vor diesem Mietshaus in Oberhausen und ließ meine Augen langsam die graue, fünfgeschossige Fassade hochwandern. Mentales Training nennt man sowas. Gleich würde ich das Treppenhaus in Angriff nehmen müssen, denn mein Freund Pierfrancesco Scuzzi wohnt oben, unterm Dach. Nur einer der Gründe, warum ich ihn so hasse.

Der Aufstieg war Kampf, doch erst mit der Ankunft oben begann das eigentliche Scharmützel. Ich focht für mein Recht auf Atemluft, rang mit dem Schwindel, kämpfte gegen eine dräuende Ohnmacht an, stritt heftig mit meinen Beinen, die ans Aufgeben dachten.

»Kristof!« rief Scuzzi begeistert und hielt mir die Stahltüre zu seiner Wohnung auf. Bis auf ein ungewöhnliches Leuchten in den Augen sah er eigentlich aus wie immer, das heißt ein bißchen wie ein südländischer Schlagersänger oder Seifenopern-Latin-Lover, und das ungeachtet der Tatsache, daß sich sein italienischer Wortschatz auf seinen Eigennamen und schätzungsweise eine halbe Pizzabuden-Speisekarte beschränkt, beides mit schwerem Oberhausener Akzent. »Steh doch nicht so im Flur rum! Komm doch rein!«

Wenn ich recht sah, hielt er eine Stoppuhr in der Hand.

»Nur fünf Minuten und dreiunddreißig Sekunden vom Summen des Türdrückers unten bis zur Ankunft hier oben«, jubelte er und schwenkte die Uhr vor meiner Nase hin und her. »Das ist neue Bestzeit, weißt du das? Und kein bißchen außer Atem, alle Achtung. Manchmal frag ich mich, wie du das machst. In deinem Alter.« Er produzierte ein Grinsen, das nach Bearbeitung mit einem stumpfen Gegenstand schrie. »Kann ich dir irgend etwas anbieten? Herztabletten? Riechsalz? Sauerstoff? Eine Bahre?«

Was ich immer vergesse, ist, mir unten schon eine Entgegnung auf seine Unverschämtheiten zurechtzulegen. Also ging ich, wieder halbwegs bei Luft, wie immer erstmal rüber zur Stereoanlage, wo >Hänschen klein< oder etwas in dieser Richtung lief, unterlegt mit Hammerbeats, und machte dieser Marter ein Ende. Dann wollte ich Scuzzi das Maul stopfen. Irgendwie kam ich nicht dazu.

»Patsy!« rief er, »Patsy, komm mal gucken, wer uns besucht! Der Ironman!« Patsy hatte sich Scuzzi irgendwann zum Lebensgefährten erkoren. Es paßte zu ihrem Charakter, daß sie ihn dabei vorher nicht gefragt hat. Und hinterher auch nicht.

Trotzdem war mir schleierhaft, was sie an ihm fand. Denn Scuzzis Latin-Lover-Qualitäten beginnen und enden mit seinem Äußeren. Aus Sex macht er sich ungefähr soviel wie ich aus Schuheputzen. Er ist immer schon froh und glücklich gewesen mit seinen Drogen. So wie ich mit meinen Turnschuhen. Und im Gegenzug ist Patsy, meiner Ansicht nach, von Haus aus ungefähr so keusch wie die zerlesenen, detailliert bebilderten Hefte in meiner Nachttischschublade.

Mit »Wass'n mit der Mussik?« erschien sie in der Schlafzimmertüre, ein zerlesenes, detailliert bebildertes Heft in der Hand. »Ach so«, sagte sie dann.

Man nehme >Tank Girl< etwas an Höhe und füge es in der Breite hinzu, und man hat, so im Groben, was da im Türrahmen lehnte und mich kaugummikauend freundlich angriente. Seit sie nicht mehr bei den >Pussies< spielte, einer schwarzledernen Mädchenpunkband, hatte ihr Outfit einiges an Farbe gewonnen, ohne sich deshalb gleich untreu zu werden. Ich griente zurück. Wir mochten uns, auch wenn sie . Kims . Ex-Bandkollegin und allerbeste Freundin war und mir ihre Gegenwart in letzter Zeit immer Stiche in der Gegend verursachte, wo früher mal mein Herz gesessen hat. Bevor man es mir aus dem Leib gerissen, in den Staub geschleudert und mit den Füßen darauf herumgetram - Äh-hem. Wo war ich? Ah, ja. Stiche halt.

Die >Pussies< waren auf Tournee in die Stadt gekommen, und im Anschluß an den Gig hatten Kim und Patsy sich nach einem Dealer erkundigt und jemand muß ihnen Scuzzi empfohlen haben, also sind sie bei ihm eingefallen, aufgekratzt, geil auf Drogen, Alk und ... nennen wir es Party. Bis hoch auf die Vorhangschiene hatten sie ihn gejagt, bevor ihm die Idee kam, mich zuhilfe zu rufen. Selbstlos wie ich bin, habe ich mich nicht lange bitten lassen. Patsy war mir vom ersten Augenblick an . sympathisch. Kim hatte bei meinem Reinkommen am Plattenschrank hantiert und mir dabei ihre Kehrseite zugewandt. Da ich nach Erklimmen der Treppen noch mit Keuchen beschäftigt war, sah ich nur einmal kurz hin und -meine Zunge war ein Stück trockene Borke. Zu hohen Sprüngen befähigte Steppentiere sehen so aus, von hinten. Nachdem sie genug hantiert hatte, drehte sie sich um, musterte mich aus torfbraunen Augen keß von oben bis unten und hauchte schließlich, leicht heiser >Na, was ist? Schwingst du uns 'ne Pizza?< ... Und - mein Hirn war ein verschrumpelter Appel. Dörrobst. >. Hübscher?< schickte sie hinterher und alle meine Körpersäfte schienen plötzlich woanders gebraucht zu werden, woanders als im Kopf. Eigentlich hatte ich, als Scuzzi anrief, mit einer Nacht gerechnet, doch es sollte ein Jahr vergehen, bis mich die Katze wieder für sich alleine hatte. Ein Jahr, bis zum Auftauchen dieses blöden Boxers.

Als könne sie meine Gedanken lesen, wurde Patsy mit einem Mal ernst und kam zu mir rüber. Scuzzi redete derweil einfach weiter, wie schön es sei, mich zu sehen und er hätte gestern erst gesagt, und ich käme gerade recht, lauter Zeugs dieser Art. Wir hörten gar nicht hin.

»Sie hat mir geschrieben«, sagte sie und blies eine Blase.

Ja, dachte ich, mir auch. Mußte irgendwo rumliegen, der Brief. Ich hatte fest vor, ihn eines Tages zu lesen. In fünfzig Jahren, ungefähr. Wenn wir über das alles hier nur noch lachen werden.

Die Blase machte >popp< »Sie wirkt nicht besonders glücklich, wenn du mich fragst.«

Mir doch wurscht, dachte ich bitter.

»Ihr Boxer scheint, nach dem, was sie schreibt, ziemlich weich zu sein. Und ich spreche nicht über sein Herz«, meinte sie und griente wieder, vielsagend, »und auch nicht nur über seine Birne.«

Wenn schon, dachte ich. Das ganze Thema war mir unbehaglich.

Scuzzi verbreitete derweil, wenn mein halbes Ohr richtig hörte, gemeinsame Kindheitserinnerungen, angefangen mit der Zeit, als wir uns noch Förmchen und Eimerchen teilten, und von da an in lockerer Folge weiter, einen schwärmerischen Ausdruck im Gesicht.

»Was ist mit ihm?« fragte ich. Seit ich reingekommen war, hatte er nicht einen Moment aufgehört zu quasseln.

»Ecstasy«, sagte sie und warf ihm einen genervten Blick zu. »Er testet gerade eine neue Lieferung. Wenn es gut ist, wirkt es immer so auf ihn.«

»Hier«, sagte er, hielt mir eine kleine, grüne Pille unter die Nase und legte mir den Arm um die Schultern, »nimm die. Die bringt dich garantiert wieder nach vorn, mein Freund.«

Ich kann das nicht haben. Konnte ich noch nie, und schon gar nicht von einem, der das eigentlich seit Grundschultagen wissen müßte. Ungeduldig wand ich mich aus seiner Umarmung.

»Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich dich um etwas bitten wollte.«

»Kein Problem. Ü-ber-haupt kein Problem. War es doch noch nie, oder? Sprich es nur aus, mein Freund, und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.« Ich warf Patsy einen gequälten Blick zu. »Wir beide, du und ich, wir werden das Ding schon schaukeln, glaub mir. Mach dir keine Gedanken, zusammen waren wir schon immer unschlagbar, oder etwa nicht?« Und er strahlte mich an wie ein Sektenwerber.

Ich sagte, zu ihr: »Kann er nicht wieder einfach nur koksen, kiffen und Schnaps saufen wie sonst? Da weiß man wenigstens, wo man dran ist mit ihm.«

»Das ist ein ganz neuer Markt«, sprach Scuzzi mit ungetrübtem Eifer weiter, »mit einer ganz eigenen Scene. Fast schon wieder hippiemäßig, wie die drauf sind. Erinnert mich schwer an uns beide, früher.«

Oh, diese hartnäckige Glorifizierung unserer gemeinsamen Vergangenheit und Freundschaft fing an, mir mächtig auf die Nüsse zu gehen. »Darf ich auch mal was sagen?« fragte ich.

»Nein, echt jetzt. Laß mich ausreden. Wir beide sollten mal auf einen Rave gehen. Pfeifen uns ein paar von den Dingern hier ein und tanzen die ganze Nacht ab.« Und er ruderte ein bißchen mit den Armen und wackelte mit den Hüften.

Da war ich drauf und dran, ihm die ganze Lieferung abzunehmen und sie im Klo runterzuspülen. Weder Scuzzi noch ich haben jemals getanzt.

»Tolle Idee«, sagte ich ätzend. »Ich mein, ich seh uns schon: Mit Pudelmütze auf bei 35° Hitze, blauer Sonnenbrille, nachts, Ziegenbärtchen am Kinn und Klamotten zum Reinwachsen mischen wir uns unter die Kids. Und wenn wir nur oft genug >Check it out< und >Coole Mucke, Mann< sagen, fallen wir auch überhaupt nicht auf.« Ich sah ihn kalt an. »Jetzt komm mal langsam wieder runter.«

»Gut, gut, gut, gut, gut.« Er hob eine abwehrende Hand, setzte sich, businesslike, hinter seinen Schreibtisch und blickte abwartend und vielleicht ein bißchen beleidigt zu mir hoch. Nur aus seinen Augen war dieses Ephedrin-Strahlen nicht herauszubringen.

Ich setzte mich auf die Schreibtischkante und sagte ihm kurz und knapp, was ich von ihm wollte. Nicht ganz eine Minute später hatte er den Telefonhörer in der Hand und kaute irgendeinem bedauernswerten Menschen am anderen Ende ein Ohr ab.

»Heckenpennes blickt mit Computern und so zentral durch« hatte Scuzzi über den Typen gesagt, vor dessen Adresse ich den Wagen stoppte. Es war mittlerweile Abend geworden, ohne daß sich das bis zu den Thermometern herumgesprochen zu haben schien. Heckenpennes wohnte angenehme fünfzig Meter von der Straße weg, am Ende einer geschwungenen Auffahrt.

>Heinz-Hubert und Sabine Lenkering< stand auf dem oberen Klingelknopf an der Gartenpforte, >Lenkering jr.< auf dem unteren. Ich klingelte unten. Scuzzi hatte gerne mitgewollt, doch ich konnte ihn heute beim besten Willen nicht ertragen.

»Der hat die volle Checkung«, hatte er noch hinzugefügt, »total positive Vibes und wirklich astreine Connections.«

Ich fragte mich, ob ich heute nur überempfindlich reagierte, ob es vielleicht an seinen neuen Pillen lag, oder ob Scuzzi tatsächlich immer in diesem grausamen 70er-Jahre-Slang redete.

»Ja?« machte die Gegensprechanlage und ich sprach meinen Namen hinein.

»Links ums Haus herum«, kam es zurück und der Summer summte.

Der Junge wohnte nicht schlecht. Auf seinen Spitznamen hin hatte ich ein verwahrlostes Souterrain erwartet, oder eine verkommene Bruchbude in der dritten Etage hintenraus, mit Ofenheizung und Klo auf dem Flur, doch dies hier war ohne Zweifel eine Villa. Die niedrige Sorte, mit einem ziemlich flach geneigten Dach, verschnörkelten Gittern vor den mit Bruchstein eingefaßten und mit überquellenden Blumenkästen versehenen Fenstern und einer in makellosem Weiß gehaltenen Fassade. Makellos auch die gepflasterte Auffahrt, umgeben von wie mit der Nagelschere beigeschnittenen, makellosen Rasenflächen. Ein schmaler, sauber gepflasterter und von symmetrisch angelegten Rosenbeeten begrenzter Weg führte zwischen dem Haus und der im gleichen Stil gehaltenen Dreifachgarage hindurch in einen Garten, der sich in sanftem Schwung zu einem Wäldchen hinab erstreckte. Ein Garten, nebenbei, den man ruhig als einen Triumph des Willens über die Natur bezeichnen durfte. Alles machte einen gnadenlos auf dekorativ getrimmten und zurechtgestutzten, nahezu keimfreien Eindruck. Keine Hecke, in der er hätte pennen können, selbst wenn er gewollt hätte. Ich fragte mich, wie Lenkering jr. unter solchen Vorzeichen wohl an seinen Spitznamen gekommen sein mochte.

An der Rückseite war das Haus so in den Hang hineingebaut, daß sich dadurch eine Etage mehr ergab. In den Rasen eingelegte Steinstufen bildeten den Weg zu einer separaten Eingangstüre mit eigener Klingel und Briefkasten.

Vielleicht war es ein durch einen krassen Gegensatz inspirierter Ulkname, dachte ich mir. So wie man ein besonders häßliches Mädchen hinter ihrem Rücken gerne >Tausendschönchen< nennt. Oder, fällt mir dazu ein, wie dieser Typ bei uns in der Klasse, der wieselig und klein war und in einem fort redete und redete und deshalb bei allen Mitschülern nur >Der Große Schweiger< hieß.

So mußte das gewesen sein, dachte ich mir und klingelte. Rechts von der Türe hing eine Videokamera, die sich mit leichtem Surren auf meine Physiognomie ausrichtete.

Demnächst kann man nicht mal mehr seinen Müll nach unten bringen, ohne so ein Scheißding passieren zu müssen. Eine kleine rote Lampe leuchtete knapp oberhalb der Linse, und als ich Rauch ausatmete, konnte ich einen feinen Lichtstrahl erkennen, der genau auf meine Stirn zielte.

Der Türöffner summte, und ich trat ein. In ein verwahrlostes Souterrain.

Erstmal war es schummrig. Dann muffig. Definitiv muffig. Ich sah mich um. Ein halbes Dutzend Monitore glommen. Auf einem konnte ich beim Reinkommen meinen Hinterkopf beobachten, mit einem hellen roten Punkt in der Mitte. Dann schloß sich die Türe hinter mir, und der Bildschirm erlosch.

Abgesehen von einer an mein eigenes trautes Heim erinnernden, jeden noch so gutgemeinten Ansatz zum Aufräumen in Mutlosigkeit erstickenden Unordnung hätte das Zimmer auch ein U-Boot-Kommandostand sein können. So einer, wie man ihn für einen ZDF-Zweiteiler zusammennageln würde. Fenster gab es jedenfalls keine.

Auf einem rückenlehnenlosen, z-förmigen, entweder genialen oder aber idiotischen Stück Polstermöbel kniete der Herr über all das hier - Heckenpennes.

Da hatten wir ihn also. Aha. Leichenbleiche, dürre Beine ragten aus weiten, wie eine auf Kniehöhe abgeschnittene, ach was, abgekaute Anzughose aussehenden, dunklen Shorts, darüber ein verschossenes >Keine Macht den Drogen<-T-Shirt und schließlich der Kopf: Mit dem gleichen Werkzeug wie die Shorts auf Schulterlänge gebrachte Haare und mitten im fettig glänzenden Gesicht eine Nase, die, ich weiß auch nicht warum, auf mich wirkte, als ob er den halben Tag darin herumpolkte.

Er grinste mich an, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel, eine von 80 pro Tag, wenn man seine Zahnfarbe als Grundlage einer Schätzung heranzog.

»Du bist Kristof?« fragte er und hielt mir seine Hand hin, Fläche nach oben. »Ich bin Alexander. Wie man mich in der Szene nennt, weißt du ja.« Da hatte er recht. Und was immer diese Namensgebung inspiriert haben mochte, ein krasser Gegensatz war es sicherlich nicht gewesen. Ich drückte ihm das kleine Päckchen, das Scuzzi mir mit auf den Weg gegeben hatte, in die wartende Hand.

»Hmm«, machte er, schmatzte mit den Lippen und schnüffelte hörbar. »Kristalline Energie für die langen Nächte«, meinte er zufrieden. »Am liebsten würde ich gar nicht mehr schlafen. Ich bin an einem irre aufregenden Punkt angelangt. Nicht mehr lange, und mein Baby lernt laufen.« Er strahlte mich an. »Das, was ich da entwickle«, sagte er und deutete hitzig auf einen der Monitore, der nur knapp einen schwierig zu entwickeln aussehenden Wust von Papier überragte, »wird Bill Gates an den Bettelstab bringen.«

Das erschien mir übertrieben optimistisch. Um es so weit kommen zu lassen, dachte ich, müßte der Gute schon sein gesamtes Vermögen einem regelrechten Konsortium von ebenso korrupten wie skrupellosen oder unfähigen Sachwaltern zu treuen Händen übergeben. Seiner Regierung, zum Beispiel. Oder unserer.

Das eine Auge wegen des aufsteigenden Rauchs zugekniffen, klapperte er ein bißchen auf der Tastatur vor ihm herum, und auf dem Bildschirm tat sich etwas, das mich, bei einiger Sachkenntnis, wohl aus den Socken hätte hauen sollen. Nun, sagen wir es so: Ich habe mal einen Mann mit drei laufenden Kettensägen jonglieren sehen; also das - »Ich arbeite hier an einem Programm«, unterbrach er meine Gedanken und wies stolz mit dem Kinn auf das für mich nichtssagenden Geflimmer, »das >Windows 95< wie ein Fahrrad neben einem Tornado-Jet wirken lassen wird.«

Und wenn du damit fertig bist, dachte ich, solltest du ein bißchen an deinen Metaphern arbeiten. Ein Fahrrad ist, sehen wir es doch einmal nüchtern, eine im Grunde genial einfache, außerordentlich zweckmäßige Konstruktion. Günstig in der Anschaffung, haltbar, leicht zu bedienen, mit minimalem Aufwand zu warten, braucht drei Tropfen Öl auf hundert Kilometer. Ein Kampfbomber vom Typ Tornado dagegen -»Scuzzi sagt, ich könnte dir bei irgendwas helfen?« Mit ein paar Tastenklicks brachte er die Kiste dazu, einen weiteren Meter Papier hervorzuwürgen, das er mit gerunzelten Brauen studierte.

»Ja«, sagte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Vorausgesetzt, du verstehst auch was vom Hacken?«

Er drehte sich zu mir mit der Miene eines Kampfbomber-Wartungsingenieurs, den einer gefragt hat, ob er auch eine Fahrradkette ölen kann.

»Wenn es nicht sofort sein muß«, meinte er und leckte ein Blättchen längs, »und wenn es nicht gerade eine Bundesbehörde ist, die du angezapft haben willst.« Er plazierte die Zigarette an die Stelle der alten und zündete sie an. »Die reagieren immer gleich so hysterisch.«

»Nein«, sagte ich, »es ist eine Irrenanstalt. Kommst du da rein?«

»Lieber heute als morgen«, lachte er, »wenn es nach meinem Vater ginge.« Dann wurde er wieder sachlich.

»Was genau willst du haben?«

Ich reichte ihm einen Zettel, den ich vorbereitet hatte und schilderte ihm kurz und knapp, auf was für Daten ich aus war, und in groben Zügen auch, warum.

Er nickte, ernst aber zuversichtlich, so als wolle er sagen, alles kein Problem. Genau das aber machte mir Sorgen. Es ist ein Scheiß-Gefühl, jemanden um einen Gefallen zu bitten, und der gerät darüber in Schwierigkeiten. Ich sagte ihm das. Er winkte nur ab.

»Dies«, flüsterte er mit übertriebener Mimik, »ist ein Abzweig vom Firmenanschluß -« er deutete zur Zimmerdecke - »meines Daddys.« Verschwörerisch legte er einen Finger auf die Lippen. »Und Daddy«, fuhr er in normalem Tonfall fort, »ist Makler. Immobilienmakler. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Das sind über fünfundzwanzig Jahre ständigen Versprechens und anschließenden Leugnens und Abstreitens. Bei soviel Übung wird einem das praktisch zur zweiten Natur. Sollte also irgend jemand jemals auf die Idee kommen, ihm das Herumräubern in fremden Datennetzen vorzuwerfen, er würde sich an einer aalglatten Wand routinierter Dementis die Zähne ausbeißen.«

Na, das hörte sich ja ganz gut an. Doch an seinen Metaphern mußte er wirklich noch etwas tun. Da fehlte der Feinschliff.

»Gut.« Ich wandte mich zum Gehen. »Wie machen wir das ...« ich wußte nicht recht, wie ich es ausdrücken sollte, »... hiermit?« Ich rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

Heckenpennes dachte einen Moment nach. Dann griff er in seine Hemdtasche, förderte Scuzzis Päckchen zutage, sah es kurz an und dann zu mir. »Quitt?« fragte er.

Ich schluckte. Scuzzi hatte mir gesagt, was es wert war. Doch mit Scuzzi würde ich mich schon irgendwie einigen. Sicher doch. Ganz bestimmt. Irgendwie. Also nickte ich.

»Schau morgen gegen Mittag noch mal rein.«

»Mach ich. Tschö.«

Wieder im Wagen, tippte ich nach kurzer Überlegung die erforderlichen Zielkoordinaten in den Bordcomputer, schaltete auf Autopilot, lehnte mich zurück und dachte nach, während die Landschaft an mir vorbeizog.

Ich hatte einen Plan. Vielleicht noch nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet, aber doch schon weit genug durchdacht, um klarwerden zu lassen, daß ich die Durchführung ganz auf mich allein gestellt nicht auf die Kette kriegen würde. Gleichzeitig war es genau die Art von Vorhaben, zu der es eigentlich undenkbar ist, irgendeinen normalen Menschen zur Mithilfe bewegen zu wollen. Das machte schon im Frühstadium der Planung ein paar Streichungen nötig.

. Irgend . einen . normalen .

>Mensch< ließ sich nicht streichen; mit einem Hund oder einem Affen oder einem noch so phantastisch dressierten Huhn wäre mir nicht gedient. Also strich ich erstmal >irgend<. Dann >normal<.

Blieb die Reihe meiner Freunde und Bekannten. Und von denen schließlich nur einer. Einer ganz alleine. Und selbst den zum Mitmachen zu überreden, würde es einer mephistophelischen Zungenfertigkeit bedürfen.

Und eben darüber dachte ich nach, weit zurückgelehnt in meinem Fahrersitz, mit einem Finger den Drehbewegungen des Lenkrades folgend.

Sizilien wird es nicht schaffen. Albanien schon gar nicht. Selbst was Irland angeht, bin ich mehr als skeptisch. Hat sich die Blutrache in einer Region erstmal so richtig festgesetzt, ist sie schwerer auszurotten als der Glaube an einen bestimmten Gott oder Fußballverein.

Offene Rechnungen bleiben offene Rechnungen, und Haß läßt sich anscheinend ähnlich einfach vererben wie Sommersprossen.

Wer in Essen-Hageroth lebt, oder gelebt hat, weiß, wovon ich spreche. Dieses kleine, wie ein Dorf in sich abgeschlossene Viertel erlebt mindestens einen bis zwei Sühnemorde pro Jahr. Erfolgreiche, meine ich. Die Zahl der Versuche liegt, wie die Motive, wie die Namen der Täter, in einem für Außenstehende weitgehend undurchschaubaren Dunkel. Und damit das so bleibt, verstehen es die Eingesessenen, den Zuzug von Fremden in diese Idylle nachhaltig zu entmutigen.

Mein Freund Charly wohnt ziemlich vornean, in Hageroth. Schon seit ein paar Jahren. Er hat das Haus damals wirklich günstig gekriegt, was etwas damit zu tun gehabt haben mag, daß die Vorbesitzer ihr letztes halbes Jahr im Bett verbracht hatten. Mit durchschnittenen Kehlen.

Er fühlt sich wohl hier. Die Hagerother sind für ihn nichts als ein Haufen Hinterwäldler mit schlechten Manieren. Zu Anfang, kurz nach seinem Einzug, hatten sie es witzig gefunden, ihm die Reifen zu zerstechen, wieder und wieder.

Doch dann kam der Abend des WM-Halbfinales, auch noch Deutschland gegen Holland, und plötzlich und unerklärlich brach im ganzen Viertel die Stromversorgung zusammen.

Nur in Charlys Haus brannten alle Lampen, und Joe Cockers >Civilised Man< schallte aus weit offenstehenden Fenstern.

Seither kann er selbst seine Harley unbesorgt nachts auf der Straße stehen lassen.

Ich stoppte direkt dahinter.

Ich hupte, anstatt auszusteigen. Charly erschien in der Haustür. Irgend jemand hat ihn mal als >einen feuchten Traum Arno Brekers< beschrieben, und dem bleibt wenig hinzuzufügen. Ich winkte. Er kam langsam herüber, beugte sich ins Seitenfenster. Der Blick seiner von weißblonden Wimpern umrahmten, aral-blauen Augen war so ungewöhnlich ernst, daß ich mit »Was hast du denn?« herausplatzte. Denn eigentlich hatte ich ja ein bißchen herumstöhnen wollen.

Er seufzte wie ein Wal. »Krach mit der Else«, sagte er schließlich und blickte mißmutig die Straße hinunter. >Die Else< hieß eigentlich Marion. Mit Beinen bis zum Hals, Brüsten, die zurückstarrten und Augen, die einen Mann mit einem einzigen Aufschlag hörig machen konnten, war sie klassisches Material für den Film. Den hinter geschlossenen Lidern, abends, kurz vor dem Einpennen.

»Ist zu ihrer Mutter zurück.« Noch ein Seufzer von Meeressäugerformat.

Hm. Habe ich schon auf die Schlechtigkeit der Frauen hingewiesen? Sie scheint kein Limit zu kennen. Ich kratzte mich kurz am Kopf und sprach dann den einen Satz, den man in solchen Augenblicken von einem echten Freund wie mir erwarten darf: »Mensch, Charly, dann kann ich mich ja endlich an sie ranschmeißen!«

Es gibt nur wenige Männer auf Erden, die diesem Blick begegnet sind und nicht die nächsten 14 Tage in einem Zustand, den die Ärzte als >ernst, aber stabil< bezeichnen auf der Intensivstation zugebracht haben.

»Steig ein«, sagte ich beschwichtigend. »Du und ich, wir gehen jetzt auf ein Bier zu Onkel Bernhard.«

Und genau das taten wir dann.

Wir müssen anschließend noch zu Charly rausgefahren sein. Denn in seinem Schlafzimmer war ich gelandet, letzte Nacht. Warum? Und wie? Ich hoffte stark, gleich nicht die Carina im Vorgarten zu finden, am Ende einer kilometerlangen, wie anklagende blecherne Finger alle in ihre Richtung zeigenden Linie flachgelegter Verkehrsschilder.

Fast Mittag! Scheiße. Ich krabbelte aus dem Bett, schlurfte in die Küche. Charly saß am Tisch, einen Notizblock vor sich, einen Stift in der Hand, nachdenklich. Man sah ihm die Strapazen der Nacht nicht an. Sieht man ihm nie.

Eine halbvolle Kanne Kaffee stand neben dem Herd, ich fühlte mit der Hand, er war noch heiß, also goß ich mir einen ein, nahm einen Schluck, dann noch einen. Aah.

Ich sagte: »Ich kann nur hoffen, wir hatten nichts miteinander, letzte Nacht.«

Charly sah von seinen Notizen auf, grinste schwach.

»Nein«, meinte er dann. »Da kann ich dich beruhigen. Ich hätt ja gerne gewollt, doch du warst leider nicht in der Verfassung.«

»Wie sind wir hergekommen?« fragte ich, nicht ohne Sorge.

»Taxi. Unvergeßlich. Du hast die ganze Fahrt über aus dem Fenster gehangen und die komplette rechte Wagenflanke vollgekotzt, und der Fahrer hat es nicht gemerkt.«

»Was, hrm, schreibst du denn da?« Mir lag etwas an einem Themenwechsel. Was gestern war, sage ich immer gerne, ist nicht so wichtig, leben wir doch im Hier und Jetzt.

»Ich mache eine Liste«, antwortete er mit einem Anflug von Ungeduld. »Was glaubst du? Ich notier schon mal all die Sachen, die wir brauchen, und versuche dann so etwas wie einen Zeitplan zu erstellen. Wenn du dann endlich soweit bist, fahren wir los, sehen uns die Örtlichkeiten mal genau an und legen eine oder zwei Routen fest. Und so weiter. Wir haben ein volles Programm, also mach hin! Schließlich soll es ja noch heute nacht über die Bühne gehen, oder etwa nicht?«

Ich nickte ernst und nahm noch einen Schluck Kaffee, auch um diesem fragenden Blick zu entgehen, durchlitt ich doch einen klitzekleinen Moment der Orientierangslosigkeit. Kaffee schlürfend hielt ich mir den Becher vor die Nase, bis es lächerlich erscheinen mußte und trat dabei wie wild mein Gedächtnis in den Arsch.

»Du weißt doch, wovon ich rede?« kam es bohrend.

»Ja klar«, nickte ich eifrig, voller Erleichterung, weil es mir im letzten Moment wieder eingefallen war, und wurde gleichzeitig, aus exakt dem gleichen Grund, gebeutelt von einem Anfall darmtraktwringender Panik. Ich konnte nicht glauben, was mir da wieder eingefallen war. Oder wollte es nicht.

»Ähem«, fischte ich nach einem Rettungsanker, »du weißt, wir hatten gestern was getrunken, und das ist ja nun wirklich einzig und allein meine Angelegenheit, also wenn du es dir, jetzt, im Lichte des Morgens, anders überlegt haben solltest .«

»Ich hab dir mein Wort gegeben«, grunzte Charly, »besoffen oder nicht. Wir beide zieh'n das Ding jetzt durch, und damit basta!«

Diesen Tonfall kannte ich zur Genüge.

Als Präsident der Essener >Stormfuckers<, einer rund vier Dutzend Mann starken Gang zottelmähniger MotorradHooligans der kurz angebundenen, reizbaren Sorte, hat Charly eine Position inne, die niemand erreichen oder halten könnte ohne eine gewisse Bandbreite dessen, was wir hier mal >respekteinflößende Eigenschaften< nennen wollen. Er verdient sein Geld als Bouncer, als Geldeintreiber, als Bodyguard. Ich habe ihn Männer brechen sehen.

Das meiner Ansicht nach aber Schrecklichste, Furchteinflößendste an Charly ist, daß er Wort hält. Grundsätzlich. Bedingungslos. Ob man will oder nicht.

Ich ging und zog mich an. Wohl war mir nicht.

Aargh, wenn ich ein bißchen was getrunken habe, kann ich furchtbar überzeugend sein! Schlimm. Und gestern muß ich wohl über mich selbst hinausgewachsen sein. Trotzdem - man muß doch morgens vielleicht noch mal alles einer nüchternen -ernüchterten - Betrachtung unterziehen und möglicherweise noch mal hinterfragen, ob da nicht abends womöglich etwas mit einem durchgegangen und man eventuell übers Ziel hinausgeschossen ist, oder was auch immer .

Nicht so Charly. >Wir ziehen das jetzt durch und basta!<

Nun denn, sagte ich mir, du hast es so gewollt, Kristof. Wohl war mir dennoch nicht.

Ich zwängte meine biergeschwollene Runkel in eine Halbschale, Charly sprang auf den Kickstarter, ich schwang ein Bein über den handtellergroßen Soziussitz und ab ging die schüttelnde Fahrt. Das Ding, auf dem wir hockten, trug den Namen >Rattler< in feingeschwungenen Buchstaben auf dem Tank, zusammen mit einer Airspray-Klapperschlange, die dem Betrachter eine übertrieben große, leicht gebogene und steil aufgerichtete Rassel entgegenhielt. Darunter rappelte ein Knucklehead-Motor markerschütternd in einem Fahrwerk vor sich hin, das gänzlich ohne Hinterradfederung und weitestgehend ohne Bremsen auskommen mußte. Eine Harley für die Fundamentalisten der Marke. Etwas nur für ganze Kerle. Vor allem, wenn mich einer fragen sollte, hintendrauf.

Mein Vordermann fuhr, wie er es immer tat, das heißt wie eine von Todessehnsucht geplagte Wildsau, was mir wieder mal Gelegenheit gab, mich, während wir funkensprühend um die Kurven schraddelten oder beim Überholen die Existenz jeglichen Gegenverkehrs negierten, in Betrachtungen zu ergehen über das Wesen, den Sinn und den unerklärlichen Reiz der Angst, der so stark ist, daß manche Menschen nicht genug davon kriegen können.

Und auch darüber, daß ich - ganz, ganz sicherlich - nicht zu denen gehöre.

Wie durch ein Wunder an einem Stück in Ratingen angekommen, machten wir einen großen Bogen um die Anstalt und näherten uns ihr dann von der Rückseite her, über staubige, holprige Feldwege und schließlich das letzte Stück über nackten Acker. Alles mit einer Starrahmen-Harley. Als wir endlich hielten, hatte sich mein Rückgrat soweit zusammengestaucht, daß mir der Hosengürtel unter den Achseln hing.

Der Motor erstarb und man hörte Insekten durch die dicke, klebrige, stehende Luft brummen. Die Sonne hing wie eine konturlose, mehr Hitze als Licht verströmende Scheibe an einem Himmel in der Farbe von Eiter. Es war ein Tag wie ein schlechter Traum, ein Tag wie ein böses Omen.

»Da wären wir also.« Charly ließ die Maschine auf den Seitenständer kippen. »Zug endet hier.« Wir stiegen ab und sahen uns um. Gut und gerne fünfzig kleine, vergitterte Fenster starrten aus der schmutziggrauen Fassade auf uns herunter. »Da drin verpassen sie's also den endgültig Durchgeknallten? Na, besser denen als mir.«

Wir hatten ein ganzes Stück vom Gebäude entfernt gestoppt und trotzdem kam ich mir beobachtet, erkannt, ertappt vor. Ich meinte, Dr. Blandettes starren Blick auf mir zu spüren, der meine Gedanken zu entziffern und meine Pläne zu durchschauen versuchte. In Wirklichkeit war die Wahrscheinlichkeit, beobachtet zu werden gering, da man ja drinnen extra auf einen Stuhl kienern mußte, um überhaupt rausschauen zu können.

»Jetzt sag mir eins, Kristof mein Junge, bevor wir etwas anfangen, das uns beide Kopf und Kragen kosten kann, sieh mich an, sieh mir in die Augen, und dann sag mir ganz ehrlich, hörst du, ohne zu flunkern, denn wenn du mich anlügst, werde ich dafür sorgen, daß wir in eine Zelle kommen, wenn man uns packt, und dann Gnade dir Gott, also sieh mich an und sprich: Du bist dir ganz sicher, hundert Prozent, ohne den leisesten Hauch eines Zweifels, welches unter diesen vielen, für mich als architektonischen Laien allesamt gleich aussehenden Fenstern das richtige ist? Hm? Ganz sicher? Ich möchte nicht in der Zeitung landen als der Mann, der einem sechsfachen kannibalistischen Kinderkiller eine Wiederaufnahme seiner Karriere ermöglicht hat.«

»Erste Etage das letzte Fenster ganz rechts. Hundert Prozent.«

Wir sahen uns weiter um. Reihe um Reihe kniehoher, gelbblühender Pflanzen erstreckte sich in alle Richtungen. Charly trat eine mit dem Stiefel. »Kartoffeln«, sagte er, »Mist.« Ich sah ihn fragend an. »Scheißtiefe Furchen«, meinte er und zeigte mit dem Finger. »Na, wenigstens ist es trocken. Die Karre meines Bruders wird es schon packen.«

»Deines Bruders?« fragte ich zweifelnd. Kain und Abel kommen mir immer in den Sinn, wenn ich an Charly und Heiko Zimmermann denke. Schalke und Dortmund. Hutu und Tutsi.

Er kaute auf seiner Unterlippe, nahm mit den Augen Maß, murmelte leise vor sich hin.

»Du meinst, dein Bruder leiht uns seinen Mercedes?«

Ich selbst hatte an einen Wagen von Sixt oder Avis gedacht, angemietet mit falschen Papieren. Und einer falschen Kreditkarte. Hatte ich gedacht. Wo ich das alles noch heute herzaubern sollte, war etwas, das ich noch zu bedenken vorgehabt hatte. Gleich, irgendwann.

»Macht der gerne«, meinte Charly.

Ich glaubte ihm kein Wort. Ich sagte: »Das einzige, das dein Bruder dir leihen würde, wäre eine gezündete Handgranate.«

Er lachte und klappte den Kickstarter aus. »Heiko ist in Venezuela. Neues Material für seinen Puff einkaufen. Er wird nichts davon erfahren.«

Hoffentlich, dachte ich. Charly mag seine furchteinflößenden Eigenschaften haben, doch Heiko ist eine. Von Kopf bis Fuß. Der Mann verachtetet Waffen. Hält sie für Kinderkram. Deutet im Gespräch gerne an, was man alles mit einem Kugelschreiber, einem Mayonnaiseeimer, einem Meter Draht anstellen könne. Trägt stets einen Seidenschal um den Hals und eine Kristallkugel in der Tasche. Beides zusammen hat schon so manchen Zahnarzt, manchen Kieferorthopäden und manch einen restaurativen Chirurgen vor wirkliche Herausforderungen gestellt. Charly hat sie sicherlich nicht alle stramm, so wie alle Zimmermanns einen Hau haben, doch Heiko ist ein gottverdammter Psychopath.

Charly setzte mich zuhause ab. Ich wollte eben kurz duschen und mich umziehen. Als ich die Treppe hochkam, ging die Türe zur Nachbarwohnung auf und Bernhard sah heraus. »Hör mal, Kristof«, sagte er ernst, »hast du irgendwelchen Ärger mit jemand? Heute morgen haben zwei Typen versucht, bei dir einzubrechen.«

Die Polen, schoß es mir durch den Kopf und ich schluckte.

»Ich hatte die Haustür offen gelassen, für die Lieferanten, saß hier oben, über der Abrechnung, da höre ich so ein komisches Geräusch und als ich nachsehe, stehen da diese beiden Typen und versuchen, deine Türe mit einem Kuhfuß aufzubrechen.«

Wir blickten uns einen Moment lang an, dann drehte ich mich zu meiner Türe um. In Schloßhöhe war der Rahmen ziemlich zersplittert. Ich drückte die Klinke runter und die Tür schwang auf. Ich schließe nie ab. »Genies«, sagte ich.

»Sie sind dann abgehauen.«

»Fuhren sie einen alten VW-Bus?«

»Tut mir leid, aber ich kann's dir nicht sagen. Ich hatte nur Schlappen an den Füßen, und sie waren weg, bevor ich aus dem Haus war.«

Ich zuckte die Achseln, ging duschen und mich umziehen. Waren sie einmal gescheitert, standen die Chancen recht gut, daß sie sich bald wieder beruhigen würden.

Ächzend zog ich mich aus. Die Schwellung in meinem Nacken war etwas zurückgegangen, doch meine restlichen Gliedmaßen waren steif und bewegungsunwillig, und mein Brustkasten fühlte sich nach wie vor an wie eine angetitschte Eierschale. Vor dem Spiegel besah ich mir meine zahlreichen farbenprächtigen Hämatome und bedauerte es ein bißchen, niemanden zu haben, dem ich damit imponieren konnte.

In die Wohnung waren sie nicht reingekommen, aber an meinem Auto hatten sie sich ausgelassen, wie ich feststellen durfte. Wahrscheinlich in der Nacht schon. Ein hinteres Seitenfenster war eingeschlagen, das Handschuhfach hatten sie ausgeräumt und seinen Inhalt zusammen mit allem, aber auch allem, was auf dem Boden rumgelegen und in den seitlichen Staufächern gesteckt hatte, über das Wageninnere verteilt.

Ich habe mich mal mit einem VW-Käfer überschlagen, einmal ganz rum, so daß er wieder auf den Rädern zu stehen kam, und da drin hatte es anschließend ganz genau so ausgesehen. Als ob es Müll geschneit hätte. Unglaublich, was so alles in einem einzigen Auto herumliegt.

So, dachte ich und fegte den Fahrersitz und das Armaturenbrett frei, damit sind wir jetzt hoffentlich quitt. Was mich allerdings verwunderte, war, daß sie das Radio dringelassen hatten. Auch von den Cassetten schien keine zu fehlen. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloß, drehte, so halb und halb das Schweigen und die Finsternis durchtrennter Kabelstränge erwartend, doch die Karre sprang klaglos an wie immer. Also, wenn ich einen richtigen Hals auf jemanden hätte ... Ich trat das Pedal. Bremsdruck war auch da. Achselzuckend fuhr ich los.

Patsy war sofort dafür gewesen. Feuer und Flamme. Scuzzi sah für sich persönlich überhaupt keinen Nutzen, sondern nur und ausschließlich Nachteile. Seine Antwort war ein kategorisches Nein. Verständlich, sicher, doch leider konnte ich da keine Rücksicht drauf nehmen.

Um gegen überraschende Besuche gewappnet zu sein, lebt Scuzzi hinter einer außerordentlich widerstandsfähigen Stahltür. Und um selbst einer gewaltsamen Erstürmung durch, sagen wir mal, die Behörden nicht tatenlos zusehen zu müssen, hat er schon vor Jahren einen Durchbruch zum Trockenboden des Nachbarhauses angelegt und mit Rigips wieder verschlossen. Zwei Tritte, und man ist durch und frei, sich über die Hinterhöfe vom Acker zu machen, wohin es einen beliebt. Idealere Umstände für mein Vorhaben waren kaum denkbar. Also mußte ich ihn umstimmen.

Mit zwei langen Schritten war ich hinter seinem Schreibtisch, zog die Schublade heraus, griff mir den Beutel mit den grünen Pillen, schüttelte eine davon auf meine Handfläche und hielt sie ihm hin.

»Hier«, sagte ich. »Nimm eine und in zwanzig Minuten unterhalten wir uns noch mal.«

Er sah runter, auf die Pille, dann hoch, zu mir, dann weg. Ich hatte einen Nerv getroffen. Nicht ganz fair, doch ohne Scuzzis Hilfe konnte ich den ganzen Plan in die Tonne hauen.

»Denn wer«, hakte ich nach, »hat gestern erst tränenfeuchte Litaneien heruntergebetet über unsere ewige, unvergleichliche, unverbrüchliche Freundschaft?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah weiterhin zur Seite. »Ephedrin«, murmelte er verdrießlich, »ist ein Euphorikum. Da geht's dann schon mal ein bißchen mit einem durch.«

»Och komm«, mischte sich Patsy ein. »Sei doch nicht so bockig. Was soll schon passieren?«

»Was soll schon passieren?!« Scuzzi sprang aus seinem Sessel und zerraufte sich die schwarzglänzende Frisur.

»»Krüschel versucht«, brüllte er, riß sich dann aber rechtzeitig zusammen und reduzierte die Lautstärke auf ein gepreßtes, heiseres Flüstern, »einen gewaltsam befreiten und des bestialischen Mordes so gut wie überführten Anstaltsinsassen bei mir einzuquartieren, von dem er glaubt, wohlgemerkt glaubt, daß er unschuldig ist! Und du fragst, was soll schon passieren?!«

»Ja«, hatte Patsy mit der ganzen, logischer Argumentation entwachsenen Leichtigkeit geantwortet, wie sie nur eine Frau zustande bringen kann, »das wäre doch mal eine nette Abwechslung, nicht? Wann bringst du ihn, Kristof?«

Ich saß im Wagen und hakte einen weiteren Punkt auf meiner mentalen Liste ab. Die Unterbringung wäre also geklärt, auch wenn ich Scuzzi in der wackeligen Verfassung von jemandem zurückgelassen hatte, der sich immer und immer wieder fragt, ob er es jetzt ist, oder seine Umgebung, die den Verstand verloren hat.

Der nächste Punkt war knifflig. Äußerst knifflig. Ich wußte mir einfach keinen Rat.

Konzentriertes Schnellfahren schwemmt mir Adrenalin ins Blut und Adrenalin hilft mir wie nichts Vergleichbares beim klaren Denken. Also fing ich an, die Gänge ein bißchen höher zu ziehen und dann noch ein bißchen höher und suchte mir spätere Bremspunkte als sonst und dann noch etwas spätere.

Was ich brauchte, händeringend, war ein Alibi. Charly kümmerte sich um einen Großteil der Logistik - den Wagen, Leitern, Stricke, Werkzeug, Straßenkarten. Falls man uns nicht in flagranti packte, brauchte er sich nicht weiter zu sorgen: Er hatte mit dem ganzen Fall Roselius nichts zu tun und die Tatsache, daß wir befreundet waren, hatte bis heute noch keinen Weg in irgendeine Form von Akte gefunden.

Ich mußte mich an diesem Nachmittag somit nicht soviel kümmern, dafür aber um so mehr sorgen. Denn bei mir würden sie zuerst klingeln, kaum daß der Alarm losgegangen war. Soviel würde ihnen der Herr Professor Doppeldoktor schon einflüstern.

Sich ein Alibi zu besorgen, das man nicht hat, heißt, jemanden finden zu müssen, der für einen lügt. Überzeugend und hartnäckig und selbst angesichts von Drohungen und getürkten Beweisen des Gegenteils und was sich die Bullen sonst noch so ausdenken. Scuzzi, der mir unter ähnlichen Umständen als erster eingefallen wäre, konnte ich aus naheliegenden Gründen vergessen, und Charly selbstredend auch. Es hat wenig Zweck, zu behaupten bei jemanden und mit jemandem zusammen die ganze Nacht ferngesehen zu haben, wenn schon der ebenso schlaflose wie krankhaft neugierige Opa ein Haus weiter eine komplett andere Version unter seinen Eid zu nehmen bereit ist. Wen, um alles in der Welt, könnte ich sonst noch fragen? Mit dem Vierten drin wechselte ich die Spur, um irgend so einen Lahmarsch in einem BMW hinter mich zu bringen, auch wenn die andere Spur die Gegenfahrbahn und die Mittellinie doppelt durchgezogen und das von behördlicher Seite als sinnvoll angesehene Höchsttempo an dieser Stelle auf 50 km/h begrenzt war. Wem, dachte ich, als ich aus dem Augenwinkel etwas hinter einem Brückenpfeiler heimtückisch versteckt Parkendes bemerkte, wem hatte ich, sagen wir mal, unter selbstlosem Einsatz des meinigen mal das Leben gerettet und somit für immer in meine Schuld gebracht? Ein Bullenmotorrad, heilige Scheiße. Niemand, dachte ich und scherte wieder ein. Niemand, und da konnte ich mein Hirn zermartern, wie ich wollte, niemand auf diesem Planeten schuldete mir genug für einen Meineid.

Erstmal blieb ich auf dem Gas. Das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr. Gerne wäre ich irgendwo abgebogen, in ein Gewirr von Seitenstraßen vielleicht, doch links floß die Ruhr und rechts der Straße erstreckte sich ein endloser Zaun. So war ich denn nicht weiter überrascht, das Blaulicht in meinen Rückspiegeln ziemlich rasch anwachsen zu sehen. Gottergeben setzte ich den Blinker und hielt an. Ich war entschlossen, mich herauszulavieren, koste es was es wolle. Ein stillgelegtes Auto oder eine eingezogene Fleppe wären im Augenblick so ziemlich das letzte, was ich gebrauchen konnte. Und Punkte in Flensburg das vorletzte. Der Bulle stoppte hinter mir. Die Sirene verstummte, das Blaulicht erlosch. Die Warnblinkanlage ging an. Mit leicht fahrigen Fingern kramte ich schon mal nach meinen Papieren. Noch hatte ich bis auf ein Verkehrsvergehen nichts verbrochen, alle wirklich kriminellen Aktivitäten des heutigen Tages steckten noch in der Vorbereitungsphase, und doch kam ich mir schon quasi im voraus ertappt vor.

Eine kindische Nervosität hatte mich gepackt, als wäre dies meine allererste Polizeikontrolle und nicht die circa tausendste. Der Bulle stieg ab. Er ließ sich Zeit. Hatte ich eigentlich noch TÜV? Oh Gott, die Reifen, wenn er die Reifen ... Der Auspuff! Wo waren die verdammten Papiere? Ich suchte unter der Sonnenblende. Da waren sie nicht. Im Handschuhfach. Da waren sie auch nicht. >Hören Sie<, legte ich mir schon mal zurecht, >man hat mir vorhin den Wagen aufgebrochen und deshalb war ich unterwegs zur Wache, das anzeigen und darum kann ich auch meine Papiere nicht finden .< Ich griff nach der Jacke. Da ... Keine Papiere. Aber ... Meine Finger ertasteten einen kleinen Bilderrahmen . Moment mal, dachte ich. Der Bulle trat gegen einen meiner Reifen. Mußte ich mir das bieten lassen? Ja, entschied ich ohne Zögern.

Moment mal. Jemand hatte meinen Wagen auf den Kopf gestellt, aber nichts geklaut und auch nichts mutwillig ruiniert. Damit war das dann gar kein Racheakt gewesen . Der Bulle tappte an die Scheibe meiner Türe, und ich drehte sie runter. Ich mußte unbedingt Bernhard noch mal fragen, wie die beiden Typen an meiner Wohnungstüre ausgesehen haben. Hätte ich gleich machen sollen, aber verdammt - für heute hatte ich den Kopf nun wirklich voll. Und jetzt noch die Polente am Arsch.

»Hören Sie«, sagte ich hastig und, wie ich hoffte, vertrauenswürdig, »man hat mir vorhin den Wagen aufgebrochen und -« ich deutete auf das mich umgebende Chaos aus Zigarettenkippen, alten Briefumschlägen, Pommesschälchen, leeren Getränkedosen (Bier, samt und sonders und, wie mir noch während des Deutens aufging, nicht zu knapp), zerknüllten Camelschachteln und Kaffeebechern und was nicht noch alles, »- und völlig verwüstet. Eigentlich war ich unterwegs zu einer Wache, um das anzuzeigen, doch wo Sie jetzt einmal hier sind ...«

Die hilflose Nummer. Es könnte klappen. Man steckt nicht drin. Einen Versuch wert war es allemal.

»Also, Kristof«, sagte der Bulle, und ich fuhr herum, denn es war gar keiner, »es tut mir leid, dir das so sagen zu müssen, aber - verwüstet? Ich kann keinen großen Unterschied feststellen. Für mich sieht die Karre exakt so aus wie immer. Innen und außen.« Es war eine Sie. Eine Bullin. Jetzt, wo ich hinsah, war es unverkennbar. Ihre Lederkombi saß stramm, an allen wichtigen Stellen. Eine Motorradbullin, die mich mit Vornamen kannte. Und mich obendrein höchst vertraulich hinterm Ohr kraulte.

Ich sah hoch. Ich sah in mein eigenes, leicht verzerrtes Spiegelbild mit einem runden, schwarzen Loch in der unteren Hälfte. Eine zweite Hand legte sich mir sachte unters Kinn und hob an. Das Loch in meinem Spiegelbild ging zu.

»Hattest du mich nicht anrufen wollen?« fragte die Polizistin mit tiefer, leicht rauher Stimme, machte einen Schritt zurück, nahm den Helm mit dem getönten Visier ab und schüttelte ihre Locken frei. Ihre roten Locken.

»Zora!« rief ich.

Nötigung im Amt. Das war es. Und nichts anderes. Nötigung im Amt, Vorteilnahme, letzten Endes ein erpresserischer Akt der Korruption. Strafvereitelung gegen Gewährung sexueller Gunst. Ein in hohem Maße verwerfliches und strafbares Vorgehen und in dieser Konstellation höchstwahrscheinlich ein juristisches Novum. Was jetzt nicht heißen soll, daß ich vorhatte, mich zu beschweren. Oh nein.

Feßle mich, Zora, dachte ich, (eigentlich ist es Birgit, hatte sie mich korrigiert, dann aber abgewunken), peitsch mich, strafe mich, töte mich - das macht mich heiß.

Um sieben bei ihr, hatte sie gesagt, was die verbleibende Stunde mit einer schädelsprengenden Hektik füllte. Ich mußte irgendwie Charly erreichen. Eigentlich war verabredet gewesen, die Anfahrt und den, tja, Fluchtweg im Laufe des Abends gemeinsam auszukundschaften. Das hätte uns auch Zeit gegeben, eine Vielzahl anderer Details durchzukauen. Aus all dem wurde nun nichts. Ich war das Opfer einer - um es vorsichtig auszudrücken - erotisch bestechlichen Polizeibeamtin geworden. Noch heute würde ich mit akrobatischen Liebesdiensten für den Erhalt meiner Fahrerlaubnis zahlen müssen. Mich klaglos und zur Gänze ihrem Willen, ihren perversen Phantasien und ihrer triebhaften Unersättlichkeit unterwerfen müssen. Nicht, allerdings, daß ich vorgehabt hätte, mich zu beschweren.

>Bringst du die Lederkombi mit?< hatte ich gefragt.

>Und die Handschellen? Und den Strafzettelblock?<

>Den was?< hatte sie zurückgefragt.

Die Sonne knallte voll auf das Schaufenster der Hooligan-Boutique. Ja, sowas gibt's. Falls sie jemand suchen sollte: Gleich hinterm Bahnhof links, sehr hübsch gelegen zwischen dem Sexshop und dem An- und Verkauf von Wertgegenständen aller Art. Drinnen waren vielleicht fünfzig Grad, der Inhaber und ich. Mit meiner Sonnenbrille auf. Um nicht erkannt zu werden. Triefend vor Schweiß sah ich mich hastig um. Schwarzweißgraue Camouflage-Hosen hatten sie gerade im Angebot, also her damit. So welche hatte ich immer schon haben wollen. XL, das sollte passen. Nein, danke, anprobieren wollte ich sie nicht. Dazu wählte ich ein Paar wirklich hübscher, extrabreiter Rot-Weiß-OberhausenHosenträger und ein schwarzes White-Zombie-T-Shirt mit Tourneedaten hinten und einer Handvoll Gestalten im fortgeschrittenen Zustand der Kompostierung vornedrauf. Geschmack, sage ich immer gern, ist nicht unbedingt eine Frage des Geldbeutels. Es muß gar kein Vermögen kosten, sich ein wenig nett und adrett einzukleiden.

Im Drogeriemarkt ließ ich die Sonnenbrille auf. Meine Frage nach Pudelmützen war im Hooligan-Shop auf verständnisloses, tropfenschleuderndes Kopfschütteln gestoßen, also mußte ich Strümpfe kaufen. Damenstrümpfe. Es gab ein ganzes Regal davon. Einen Augenblick lang stand ich unschlüssig davor, dann griff ich mir einfach zwei Packungen, die ich so gerade noch bezahlen konnte. Eine von oben und eine von unten, für den Fall, daß sie nach Größen sortiert waren. Die Frau an der Kasse sah noch nicht mal auf.

Bei Bernhard ging nur der Anrufbeantworter dran. Bei Charly ließ ich zehnmal klingeln. Keine Antwort.

Ich duschte noch mal. Schrubbte mir das Gebiß. Sprühte mir was unter die Achseln, zwischen die Beine, in den Hals. Zog mein letztes Paar frischer Socken an, mein allerletztes frisches T-Shirt und meine allerallerletzte frische Unterhose. Hinten rechts hatte sie ein fünfmarkstückgroßes Loch, gut, aber dafür war sie fleckenlos. Man kann nicht immer alles haben.

Fertig angezogen versuchte ich es noch mal bei Charly, doch nein. Ich stopfte meine Einkäufe in eine alte Reisetasche, packte noch einen verschossenen Overall, ein Paar ausgelatschte Basketballtreter und, nach längerem Gekrame, meine seit Jahren nicht mehr benutzten Motorradhandschuhe dazu. Hatte ich alles? Fast. Aus dem Lager der >Endstation< lieh ich mir im Rausgehen zwei Flaschen Chianti und schwang mich in die Carina. Startete. Jagte die Bruchstraße hinunter und bog unten rechts ab. Richtung Oberhausen. Richtung Scuzzi. Für das, was vor mir lag, brauchte ich Drogen. Starke Drogen.

Es gab Kaninchen in Senfsoße mit grünen Bandnudeln an schwarzem Spitzenbody in Schlabberjeans über nackten Füßen. Schwüle Abendluft wehte durch die Vorhänge, REM jammerten einfühlsam vor sich hin und Kryszinski goß die Gläser voll.

Ich hatte Charly schließlich doch noch erreicht und ihm kurz meine Zwangslage geschildert und mir daraufhin ein paar wirklich häßliche Bemerkungen anhören müssen. Neid, nehme ich an.

Kaum waren wir mit denen des Kaninchens soweit, begannen wir, uns die Knochen abzunagen. Gegenseitig. Erst auf der Couch, dann auf dem Teppich, dann an verschiedenen Orten kreuz und quer durch die Bude. Sie geriet in Stimmung, sie geriet in Wallung, sie geriet in Form, sie geriet in Höchstform, sie geriet außer Kontrolle. Es war nur schwer zu glauben.

Und ich hatte Scuzzi noch befragt. Zu Risiken, Nebenwirkungen, Dosierungen und der Verträglichkeit zusammen mit, zum Beispiel, Alkohol.

>Ausprobieren<, hatte er mir geantwortet. >Das ist von Typ zu Typ verschieden.<

Von Typ zu Typ verschieden. Sowas kann ins Auge gehen.

Wenn ich mit der Katze zum Tierarzt muß, dann weiß die das. Wenn ich vorhabe, sie zu diesem Zweck in eine Reisetasche oder einen Pappkarton zu sperren, dann weiß die das schon, bevor ich auch nur >Reise-< oder >Papp-< gedacht habe. Letztes Mal hatte sie irgend etwas an den Augen, und ich mußte dreimal hintereinander mit ihr dahin. Beim dritten Mal hatte ich endgültig die Faxen dicke. Zwei Paar Hemdsärmel in Fetzen, beide Unterarme dick verpflastert, dazu ein verstauchter Knöchel und eine dicke Beule am Kopf von den Verfolgungsjagden über Tische und Bänke, das langte. Nein, sagte ich mir, das muß auch anders gehen. Also habe ich ihr ein paar gestoßene Tranquilizer unter ihr stinkendes Futter gemixt.

24 Stunden später konnte ich sie einsammeln wie ein Plüschtier. Doch bis dahin ist sie die Wände rauf und runter, bis keine Tapete mehr dran war.

Während wir also die Badewanne zum Schwappen, den Küchentisch zum Wackeln und die Bettfedern zum Schnappen brachten, während wir den ganzen, langen Läufer im Flur erst zu einem Haufen zusammen- und dann noch ein Stück die Wand hoch schoben, während meine Rippen knirschten wie ein morscher Weidenkorb und mir die harten Krusten von Kreuz gekrallt und neue Furchen neben die alten gezogen wurden, während ich also mittendrin war in einer Art wollüstigem Zweikampf bis aufs Blut, während all dieser keuchenden, schwitzenden, frenetischen Action stand ich zur selben Zeit gleichsam kühl daneben, eine Hand am Kinn und ein zweifelndes Auge auf der Uhr, tief in Gedanken versunken. Was, fragte ich mich, war denn wohl diesmal schiefgelaufen?

Die Katze ging mir nicht aus dem Kopf, und als ich mich erinnerte, wie lange sie gebraucht hatte, um von den Pillen wieder runterzukommen, mußte ich kurz gegen eine drohende Ohnmacht ankämpfen.

Gegen elf, als ich langsam soweit war, Triathleten als Laumeier zu belächeln, ließ sie plötzlich von mir ab. Wie es der Zufall wollte, befanden wir uns gerade mal wieder im Bett. Ich lag schweißgebadet auf dem blutig gekratzten Rücken in klatschnassen Laken, ich hyperventilierte, ich spürte den Mann mit der Sense die Treppen hochhasten.

»Kristof?« fragte sie schnurrend und ließ ihr Haupt auf ein Kissen sinken und ich dachte: Nein. Egal, was es ist, die Antwort ist nein. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe es hinter mir. Ein für allemal. Jeder kann es wissen: Kryszinski hat ausgefickt.

»Weißt du eigentlich, was du bist? Du bist ein -«

Ich sollte es nie erfahren. Sie ging aus wie ein Rennmotor.

Bei Zwölftausend Touren vom Gas und - Spotz. Poff. Aus. Keine dreißig Sekunden später begann sie sanft zu schnarchen.

Vorsichtig schwang ich die Beine aus dem Bett. Der stechende Geruch verbrannten Gummis stieg von meinen Lenden auf. Meine Eier fühlten sich an, als ob mein Schwanz seit heute morgen an eine Vakuumpumpe angeschlossen gewesen wäre. Und mein Schwanz wiederum fühlte sich an, als wäre er entschlossen, sich bei der geringsten Berührung sofort in die sichere Bauchhöhle zurückzuziehen. Und ich selber, so im Ganzen, fühlte mich wie ein Ärmelkanalschwimmer, der bei der Ankunft am anderen Ufer feststellen muß, daß ihm wohl am Start irgendein Witzbold einen Eimer hintendran gebunden hatte.

Ein Blick auf die Uhr zwang mich in die Höhe. Meine Karkasse war wacklig wie die von einem 14 Tage toten Esel. Vor Weihnachten, da war ich mir sicher, würde ich keinen mehr hochkriegen.

Charly wartete vor Scuzzis Haus. Er saß tatsächlich in seines verhaßten Bruders über alles geliebtem Geländewagen, einem gnadenlos aufgemotzten, silberfarbenen Mercedes G-Modell mit Pullmann-Ausstattung und einem 6 Liter-V8. >Schweinezüchters Traum< nenne ich die Kiste immer. Es hat ein Vermögen gekostet. Die Ausziehleiter auf dem Dach wirkte daran wie ein schlechter Witz. Auf mein kurzes Hupen hin zog er das Ding aus der Parklücke, in die ich dann die Carina stellte. Ich schnappte mir meinen Krempel und stieg um. Ächzend ließ ich mich in den Ledersitz fallen und schloß für einen Moment die Augen. Meine Gedanken kreisten noch um Weihnachten. Ich war mir nicht sicher, ob dieses oder nächstes Jahr.

Mit einem fetten Rülpsen erwachte der Motor, und wir waren unterwegs.

»Und?« fragte Charly. »Sie schläft.« »Gut.«

»Hast du alles gekriegt?«

Er deutete nach hinten. Stricke, Haken, ein Bolzenschneider, Eisensäge, Vorschlaghammer, Brecheisen, eine Maglite, Klebeband, ein abgebrochener Billardstock, ein Rucksack, aus dem oben der Schaft seiner abgesägten Pumpgun herausragte. Bis auf den Queue und die Schrotflinte sah alles ladenneu aus. Die Schrot. Mir wäre lieber gewesen, wenn er die daheim gelassen hätte. Ich fragte mich, wie weit er zu gehen bereit war für etwas, das ihn im Grunde noch viel weniger anging als mich.

Ich sah ihn mir an. Seine Finger flatterten in einem fort hin und her, fummelten an den Knöpfen des Radios und den Schiebern der Klimaanlage herum, trommelten auf das Lenkrad, bedienten den Blinker und das Fernlicht. Man hätte meinen können, er sei nervös. Sein rechter Fuß bearbeitete das Gas wie einen Wippschalter: an oder aus. Mit jedem Kickdown wuchtete es uns mit erstaunlicher Gewalt nach vorne. Der Motor stand wirklich gut im Futter.

»Hier.« Er warf mir eine Michelin-Karte in den Schoß. Ich schlug sie auf, knipste die Leselampe an und versuchte, mich zurechtzufinden. »Ich habe mit Filzstift schon mal drei Routen eingezeichnet.« Er tippte aufgeregt mit dem Finger, ganz blitzende Augen und Zähne. Er war verdammt gut drauf. Dafür, daß wir in nicht ganz zwei Stunden schon hinter Gittern sitzen könnten, war er wirklich verdammt gut drauf. »Die Rote ist die Schnellste zur Autobahn. Die Blaue ist die am wenigsten Befahrene. Die geht praktisch nur über Land.«

Ich sah uns auf der Autobahn, auf allen Seiten umgeben von einer blaulichtblinkenden Eskorte. Ich sah uns auf der Landstraße, an einer kuhfladengespickten Kreuzung Kreise drehend, hektisch debattierend, in welche Richtung wir müßten. Während ringsum die Bullen in aller Gemütsruhe ihre Straßensperren aufbauten und die guten Kugelsicheren überzogen.

»Und die Grüne geht in direkter Linie zur Autobahn. Allerdings nur querfeldein über Äcker und Wiesen, weshalb ich sie noch nicht gefahren bin.«

Ich sah uns bis über die Achsen in der Scheiße stecken, schiebend und drückend, fluchend und schwitzend, die ganze Szene tadellos ausgeleuchtet von dem Hubschrauber über unseren Köpfen ... Mir waren alle drei Routen gleichermaßen unsympathisch. Ich seufzte.

»Du hast Muffe.« Es war eine Feststellung.

Ich seufzte noch mal. Er hatte ja recht. Meine Phantasie versorgte mein Hirn mit einem brillianten Feuerwerk von Möglichkeiten. Möglichkeiten des Scheiterns. Um mich abzulenken, vertiefte ich mich wieder in die Karte. Das Christopherus-Asylum war tatsächlich eingezeichnet. Ein kleines schwarzes Rechteck mitten im Nichts.

Eine Zufahrtsstraße. Auf der Rückseite unser Kartoffelacker. Charlys Routen. Die Rote war die Logischste. Rasch zur Autobahn und weg. Sie war so logisch, daß selbst der beschränkteste Dorfsheriff auf die Idee kommen könnte, sich bei Alarm mal an die Auffahrt zu stellen und ein bißchen zu warten, wer da so vorbeikommt. Die Blaue führte durch ein Kaff nach dem anderen. Für mich führte sie vorbei an einer Polizeiwache nach der anderen. Und die Grüne sah mir nach metertiefen Gräben und jeder Menge Stacheldraht aus. Ich seufzte. Meckern ist leicht.

»Paß auf«, sagte ich nach einer Weile intensiven Studiums. »Von unserem Kartoffelacker weg führt dieser, ich sag mal, Feldweg.« Es war nur eine dünne, gestrichelte Linie. »Hier, nach ca. einem Kilometer, kreuzt er eine Bahnlinie.« Eine Werksbahn. Die Schienen endeten in einem größeren Industriekomplex weiter oben auf der Karte. »Und die Bahnlinie«, sagte ich und hielt ihm die Karte hin, »führt direkt an diesem Autobahnparkplatz vorbei.«

»Erst verduften wir über die Schienen, wo uns keiner folgen kann, und dann schleichen wir uns sozusagen hintenrum auf die Autobahn?« Charly schob die Unterlippe vor und wog den Kopf hin und her. »Huu-u-huu«, machte er. »Wenn ein Zug kommt, sind wir in den Arsch gefickt.«

Ich steckte mir eine an, sah aus dem Fenster, raus in die Nacht. Wir passierten eine Tankstelle. Es war nicht mehr weit. Ich schluckte trocken.

Der Motor brummelte nur knapp über Leerlaufdrehzahl, während wir mit abgeschalteten Scheinwerfern über den Feldweg schlichen. Die Rückseite des Christopherus-Asylums wuchs vor uns aus dem Acker als eine schwarze Wand mit einem regelmäßigen Muster kleiner, schwach leuchtender Quadrate. Wahrscheinlich hatten sie in den Zellen eine Notbeleuchtung brennen. Damit die Insassen sich nicht im Dunkeln verliefen. Oder unsichtbar wurden für die Videoüberwachung. Denn die gab es, soviel war mir seit meinem letzten Besuch klar. Noch im Rausgezerrtwerden war mir das unscheinbare kleine Plexiglasfenster über der Türe aufgefallen. Ich griff mir meine Reisetasche, holte die Strümpfe und den Overall heraus und begann, hineinzuschlüpfen.

Charly ließ den Wagen gemächlich über die Kartoffelfurchen klettern. Im Westen zuckten Blitze über den Nachthimmel. Wir waren jetzt bis auf zehn Meter an die Rückfront der Anstalt heran. Es war stockdunkel. Trotzdem fragte ich mich, ob wir nicht schon längst beobachtet wurden. Jeden Augenblick erwartete ich das Aufflackern einer Panikbeleuchtung, das Aufheulen einer Sirene. Wir stoppten. Charly schaltete den Motor ab. Ich wünschte, jemand käme und brüllte, dies sei Privatbesitz und wir sollten gefälligst abhauen, oder .

»Also«, sagte Charly und ich gab ihm seinen Strumpf.

»Oh nein«, murrte er und schenkte mir eine genervten Seitenblick. Im ersten Moment verstand ich nicht recht, dann sah ich ihn an und wußte, was er meinte: In meiner Hast hatte ich Strumpfhosen gekauft. Vom rein technischen Aspekt her halb so schlimm, doch optisch resultierte mein Mißgriff in einer gewissen, nicht von der Hand zu weisenden Schlappohrigkeit.

»Dann los, Caesar«, sagte er und wir stiegen aus. Schwaches Grollen rollte heran, und Blitze zuckten kreuz und quer über den Horizont. Die Luft roch elektrisch. Irgendwo hoch über uns drang ein Jaulen wie von einem eingesperrten Hund aus einem der kleinen Fenster.

Mein Herz schlug wie wild. Hätte ich gerade noch am liebsten kehrtgemacht, so war ich seit dem Aussteigen gepackt, ja geschüttelt von dem Drang, es hinter mich zu bringen, und zwar pronto und scheiß auf die Konsequenzen.

Eine Aktion wie diese durchzuziehen erfordert einen eisernen Griff ins Gehirn. Es darf sich mit nichts als der vorgegebenen Aufgabe beschäftigen. Es darf nicht nach links und nicht nach rechts schauen, sozusagen, sondern nur sturheil nach vorne. Der Zustand, in den man dabei gerät, ähnelt nichts so sehr wie einer kontrollierten Panik: Die Augen sind schreckgeweitet, der Atem geht stoßweise, der Puls rast. Und doch sitzt jeder Handgriff, sind alle Bewegungen flink, leise, beherrscht. Das einzige, was unmenschlich schwer fällt, unten zu halten, ist ein leicht hysterisches Gibbeln, wenn der Komplize gerade zum x-ten Mal seine Hasenohren nach hinten wirft.

Wir stellten die Leiter an und immer noch schrillte kein Alarm. Ich packte das Seilende mit dem Karabinerhaken und begann den Aufstieg. Charly knotete das andere Ende derweil an den Abschlepphaken des Wagens. Mit jedem Schritt höher wuchs eine zweite, unausgesprochene Furcht in mir. Was, wenn sie Roselius in eine andere Zelle verlegt hatten? Im Vorbeiklettern linste ich in das Fenster unter seinem, im Erdgeschoß. Eine Gestalt lag im trüben Licht der Notfunzel mit dem Rücken zu mir im Bett und pennte. Es hätte jeder sein können.

Charly bringt mich um, dachte ich, wenn wir da gleich jemandem Fremdes ein Loch zur Freiheit brechen. Oder, schlimmer noch, er haut ab und läßt mich hier.

Doch es war Bernd Roselius, auf den ich eine Etage höher herunterblickte, er war es, unverkennbar. Regungslos vor sich hinstarrend hockte er auf seiner Koje. Allein seit gestern schien er zehn Kilo verloren zu haben. Er sah nicht auf, als ich den Haken so leise es ging hinter den drei senkrechten Gitterstäben herführte und dann vorne ins Seil einklinkte. Er wirkte völlig teilnahmslos. Ich konnte nur hoffen, daß wir nicht zu spät kamen.

Hastig kraxelte ich die Leiter herunter, zog sie ein Stück beiseite. Dies war der Punkt ohne Wiederkehr. Alles, was von jetzt ab passierte, konnte uns zehn Jahre kosten.

»Du sagst, wenn es stramm ist«, flüsterte Charly und öffnete die Fahrertüre. Ich nickte beklommen. Unvermittelt drehte er sich noch mal um und kniff mir mit Daumen und Zeigefinger in der Wange. »Es wird alles gut, Caesar«, raunte er. »Ich habe noch Pläne für heute nacht.«

Als sage das alles, zog er unter seiner Strumpfmaske eine Grimasse, die wohl ein Grinsen darstellen sollte, schwang sich mit wehenden Ohren auf den Fahrersitz und ließ den V8 aufbellen.

Dazu muß man wissen, daß mein Freund Charly der felsenfesten Überzeugung ist, daß nichts, was er unternimmt, schiefgehen kann, solange er für danach eine Verabredung hat.

Gemächlich robbte der Geländewagen nach vorn. Das Seil schlängelte hinter ihm her über die Erde, hob dann ab, hing in einem Bogen frei, zog sich stramm. Ich gab ein Zeichen.

Mit einem berstenden, knatternden Krachen fuhr in direkter Nachbarschaft ein Blitz vom Himmel. Ich stand, zur Statue gefroren, während die Szene vor meinen Augen in grelles Weiß getaucht und kaleidoskopartig vervielfacht auf meiner Netzhaut oszillierte. Ein paar schwere Tropfen patschten ringsum auf die trockene Erde. Von irgendwo in dem großen, düsteren Gebäude erklang das Winseln eines Alarms.

Schweinemästers Traum schien sich wie zum Sprung zu ducken, als Charly bei gleichzeitig getretener Bremse seinen Fuß auf das Gas senkte. Dragster-Fahrer machen das so, um die Drehzahl für den Start hochzujubeln. Für Sekunden klang es, als versuche der Motor quasi mit zusammengebissenen Zähnen den Wagen zu zerreißen, dann löste Charly die Bremse, die feisten Stollenreifen krallten sich in den Acker, und ein gewaltigen Ruck ging durch die ganze Fuhre. Das Seil begann zu sirren wie eine überdehnte Saite, und ich machte einen unwillkürlichen Schritt zurück. Hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet, dieser Schritt.

Im nächsten Augenblick brach die gesamte Front von Roselius' Zelle knirschend aus der Fassade und sprang praktisch noch ein Stück nach vorne, bevor sie der Schwerkraft folgen mußte und beim Aufschlag mit einem dumpfen Wumms! den Acker zum Zittern brachte. Keine zwanzig Zentimeter vor meinen eingerollten Zehen. Von einem Schock in den nächsten gehetzt blickte ich taumelnd auf und sah Roselius oben in der Öffnung stehen, sein von hinten schwach beleuchtetes Anstalts-Engelshemdchen wie von einer Aura umgeben, Mund und Augen drei dunkle Kreise in seinem völlig entgeisterten Gesicht. Dann verschwand er kurz hinter dem Vorhang des urplötzlich und mit Gewalt herabrauschenden Regens.

Die Scheibenwischer flappten auf höchster Stufe. Zischend verteilten die Reifen die auf der Fahrbahn stehenden Fluten in glitzernden Bögen nach beiden Seiten. Der Motor brummte hoch und gleichmäßig, beinahe gelangweilt. Wir waren auf der Autobahn.

Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so durchnäßt und auch nur annähernd so dreckig gewesen zu sein. Und so fertig. Nervlich und körperlich.

Bernd Roselius die Leiter herunterzubekommen war das erste Drama gewesen. Der Junge litt, wie sich herausstellen sollte, an Höhenangst. Und zwar ordentlich. Mit viel Hilfestellung und einem Schwall guter Worte bekam ich ihn dazu, beide Füße auf die Leiter zu stellen und sich erstmal festzuhalten. Doch dann war Schluß. Aus festhalten wurde festklammern und aus festklammern ein zittriger Krampf. Der Regen prasselte uns auf Köpfe und Schultern und lief uns in Bächen den Rücken herunter, Charly stand unten, scharrte mit den Hufen und gestikulierte ungeduldig, jeden Augenblick konnte, mußte hinter uns die Zellentüre auffliegen und eine tollwütige Meute von bis an die Zähne bewaffneten Pflegern über uns hereinbrechen, also tat ich das einzige, was mir in dieser Situation übrig blieb. Ich stemmte mich gegen die Leiter, sagte >Und tschüs< und gab ihr einen kräftigen Schubs. Er protestierte nicht, ja er reagierte noch nicht mal. Stand stocksteif, wie angewachsen, sah mich ungläubig aus riesigen Augen an, verharrte mitsamt Leiter einen winzigen Moment in der Senkrechten und kippte dann rücklings von mir weg und außer Sicht in das Dunkel des regengepeitschten Kartoffelackers. Ich selbst sprang.

Die beiden saßen schon im Auto, als ich endlich angehumpelt kam. Charly hatte Roselius aufgefangen, so daß der glimpflicher davongekommen war als ich.

Mein verstauchter rechter Knöchel bewahrte mich allerdings nicht davor, nur ein paar Minuten später aussteigen und schieben zu müssen. Roselius war zu nichts zu gebrauchen. Er klammerte sich nur an einem Haltegriff fest und schien das ganze Geschehen um ihn herum für einen übertrieben realistischen Film zu halten. Charly fuhr, also mußte ich raus, Knöchel hin, Knöchel her.

Obwohl wir uns fast sicher waren, nicht gesehen worden zu sein, hatten wir trotzdem an der Route über die Bahngleise festgehalten. Die Fahrt über die Schwellen war zwar etwas holprig, doch ansonsten ohne Zwischenfälle verlaufen. Bis zu der Stelle unterhalb des Autobahnparkplatzes. Unterhalb, wohlgemerkt. Was die Karte uns nämlich nicht angezeigt hatte, waren die sechs Meter, die der Gleiskörper tiefer lag als der Parkplatz. Sechs Meter steile, regennasse, lehmig-glitschige Böschung, die den Allesüberwinder-Nimbus von Geländewagen sehr rasch als das bloßstellte, was er ist: naives Wunschdenken.

Die Nase zeigte zwar in die gewünschte Richtung, und die Räder drehten sich. Mal schnell, mal langsam. Höhengewinn jedoch: Null. Und zurückgelegte Entfernung: Plus/minus 50cm, ungefähr. Mit anderen Worten: Charly konnte machen, was er wollte, das Heck rutschte immer wieder zurück gegen das Schotterbett der Gleise.

Ich stellte die üblichen Fragen: »Hast du den Allrad drin?«

»Ja.«

»Alle Sperren drin?« »Ja.«

»Geländeuntersetzung drin?« »Ja.«

Alles drin, wir kamen trotzdem nicht vorwärts, also hieß es für mich: Raus. Raus in den Piaster, schieben. Mal eben das Gewicht einer mit allem erdenklichen Luxus-Schnickschnack aufgepäppelten, gußeisernen Landmaschine den Berg hochschieben.

Mit der ganzen Lust und Begeisterung, mit der man ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen so angeht, stemmte ich meinen unverstaucht gebliebenen linken Fuß gegen die Schiene, meine Schulter gegen die Karosse, schrie »Und Los!« und schob. Charly trat das Gas und - was soll ich sagen? - die Scheiße flog mir nur so um die Ohren. Ansonsten tat sich nichts. Bis Roselius drinnen im Wagen plötzlich heiser aufschrie und ich seiner Blickrichtung folgte.

Ich denke mir, daß es die unvermittelt aus der grauen Gischt des Regens auftauchenden, ein leuchtendes Dreieck bildenden Scheinwerfer eines nahenden Zuges waren, die mir zu dem kurzen Aufbäumen von nackter Panik gespeister Kräfte verhalfen, mit denen ich dieses Quentchen Schwung möglich machte, das die Reifen schließlich doch noch etwas Halt finden und die Fuhre wild schlingernd die Steigung hochziehen ließen, Fontänen von fein püriertem Schlamm nach hinten jagend. Dahin, wo ich stand: Das Huu-u-huu! der Lok noch in den Ohren, schwankend bemüht, nicht in die ratternden Räder zu fallen und gefährlich nahe daran, meine Lunge herauszuwürgen.

Fast vom Blitz getroffen, fast von zwei Tonnen fliegenden Mauerwerks erschlagen, fast vom Zug überrollt. Shaking all over. Zum Umfallen müde. Dreckiger als eine Sau in der Suhle. Mann, mir reichte es für heute.

Unser Fahrer summte, spielte an Schaltern und Knöpfen herum, überholte alles, was uns begegnete und wischte wieder und wieder über die Frontscheibe, weil das Gebläse einfach nicht ankam gegen den von drei bis auf die Haut durchnäßten Passagieren ausgehenden, feuchtwarmen Dunst. Im Gegensatz zu mir und dem zu einem Zustand permanenten Schreckens erstarrten Roselius wirkte er geradezu entspannt. Auf eine hellwache, hochkonzentrierte Art entspannt. Ich war fast soweit, ihn zu beneiden. Für ihn war das Unternehmen so gut wie gelaufen. Er wußte, er mußte nur noch darauf achten, uns nicht mit rund 100 Sachen Fahrtüberschuß in das Heck eines Lkw zu rammen, dann mich und meinen Klienten in Oberhausen absetzen und schließlich eben kurz seinem, ähem, Bruder dessen Augäpfelchen zurück in die Garage stellen. Vielleicht noch einen Zettel dazulegen, der erklärte, warum das Ding aussah, als habe es gerade eben die Camel-Trophy mit einer Rotte Flußpferde als Fahrgäste hinter sich gebracht. Schon hatte er Feierabend und konnte sich gemütlich seinem Date - ...

Ich sagte: »Laß mich raten, wer auf dich wartet.« Er legte den Kopf ein wenig schräg und grinste. »Wir haben telefoniert. Sie liebt mich doch, hat sie gesagt.«

Na, es sei ihm gegönnt, dachte ich. Auf mich wartete schließlich ebenfalls . wenn auch, ohne es zu wissen . tief und fest schlafend . wie ich hoffte .

Ich sah an mir hinunter. Mein Erscheinungsbild könnte, so stand zu fürchten, Anlaß zu mehr als nur einem fragenden Stirnrunzeln bieten. Mein Äußeres, so wie es sich zur Zeit präsentierte, könnte den Verdacht erregen, ich hätte nicht die ganze Nacht brav im Bett zugebracht, sondern mich irgendwo draußen aufgehalten. Einen Sumpf durchwatet. Ein Grab ausgehoben. Was sonst?

- >Also, das war so, Schätzchen: Ich äh, wurde wach und dachte mir, Gott, sieht der, äh, Gummibaum trocken aus, also . ähm . zog ich mich an, nahm ihn mit ins Bad und . ähm . unter die Dusche, ja, und da muß er mir dann entglitten und . ähm . irgendwie unglücklich in den laufenden Ventilator gefallen sein . Tja . Hehehee . Du glaubst mir nicht?< -Wenn ich mir nicht rasend schnell etwas Besseres einfallen ließ, konnte ich mich auch genausogut an der nächsten Wache absetzen lassen. Ohne Alibi blieb mir nur die Flucht ins Ausland. Per Anhalter, so wie es um meine Finanzen stand.

Neben mir stieß der im Vergleich zu mir eigentlich sorglose und entspannte Charly einen tonlosen Fluch aus und erstarrte, den Blick auf den Rückspiegel geheftet. Ich riß den Kopf herum. In unserem Kielwasser rotierten zwei blaue Lichter. Also waren wir doch noch gesehen worden! Oder?

»Vielleicht wollen sie nur vorbei«, mutmaßte ich.

»Vielleicht haben sie irgendwo einen Einsatz.« Mein Wunschdenken war so stark, daß ich drauf und dran war, mir auch noch den Grund für einen Einsatz auszudenken, der die Autobahnpolizei dazu veranlassen konnte, morgens um halb drei mit Tempo 200 durch den sintflutartigen Regen zu preschen.

»Gut«, meinte er, »machen wir mal ein bißchen Platz.«

Ohne vom Gas zu gehen, zog er nach rechts. Der grünweiße Ford Scorpio schob sich neben uns und der Beifahrer gestikulierte energisch mit der rotblinkenden Kelle.

»Womit diese Frage wohl geklärt wäre«, knurrte Charly und lenkte brutal zurück nach links. Der Ford ließ eine schrille Hupe hören, duckte dann aber die Schnauze, als ob er in die Straße beißen wolle. Vor die Wahl gestellt, war der Fahrer vernünftig genug, in die Eisen zu steigen, anstatt sich gegen die Mittelleitplanke schmieren zu lassen.

Charly biß sich auf die Lippe. »Nur die Ruhe«, sagte er.

»Denkt dran, ich habe noch was vor, heute.« Und er starrte konzentriert nach vorn, Richtung Fahrbahnrand, als ob er etwas suchte. Ich wischte wieder und wieder die Scheibe frei, starrte ebenfalls in seine Blickrichtung und fragte mich, wonach er wohl Ausschau hielt.

»Da kommt gleich irgendwann eine Brücke .« Der Wagen schlingerte von links nach rechts und wieder nach links. Die Bullen hatten jetzt ihre Sirene an und versuchten ein paar Tricks, kamen aber nicht vorbei. Mit dem nervtötenden Jaulen im Ohr und dem von allen Seiten reflektierten Zucken des Blaulichts im Auge überholten wir eine mehrere Kilometer lange Karawane von Fernlastern, stachen in eine Gischtfontäne nach der anderen, jeweils blind für eine endlose Sekunde, bis wir hindurch waren und wieder einigermaßen klare Sicht hatten.

»Da vorne«, sagte ich. Was wollte er mit einer Brücke? Anhalten, sich über das Geländer schwingen und die Flucht schwimmend fortsetzen? Dann waren wir hier falsch. Das, worauf wir zurasten war eine Talbrücke, wie uns das Schild verriet. 72 Meter hoch, wie uns das Schild verriet. Bißchen hoch zum Runterhopsen, wie ich fand. Selbst wenn unten Wasser gewesen wäre.

Schweinemästers Traum geriet gefährlich ins Schleudern, als Charly ihn vielleicht hundert Meter vor der Brücke und nicht mehr als einen Meter vor der Stoßstange eines Tanklastzuges nach rechts riß bis auf die Standspur und da mit Gewalt zusammenbremste, woraufhin mit heulender Sirene und dröhnender Hupe Streifenwagen und Fernlaster für einen Moment auf gleicher Höhe mit uns reisten, bevor wir mit immer noch gut und gerne Hundert von der Standspur abbogen und mit einem dreifachen, entsetzten Einsaugen von Luft in den schwarzen, bodenlosen Abgrund fielen.

Die Katze, dachte ich. Wer sich wohl um sie kümmern wird? dachte ich. Und dann dachte ich noch an Kim, und daß ich sie gerne noch mal ge- .

Das Krachen, mit dem wir aufsetzten, ging einem durch und durch bis ins tiefste, innerste Mark. Ich war mir sicher, daß es uns beide Achsen weggerissen hatte. Es mußte uns einfach beide Achsen weggerissen haben. Doch ohne uns zu verlangsamen. Eher im Gegenteil. Geröll prasselte trommelnd gegen den Wagenboden, und ein beinahe senkrecht abfallender, tief gefurchter Waldweg tauchte im Licht der Scheinwerfer vor uns auf.

»Scheiiiiiße!« brachte unser Fahrer seine, meine und, ich bin mir ziemlich sicher, auch Bernd Roselius' Gefühle auf den Punkt. »Das war die falsche Brücke!« schrie er und kämpfte verzweifelt mit dem Lenkrad, Arsch halb in der Luft, beide Füße auf der Bremse. An der Geschwindigkeit änderte das nicht viel. Gleichzeitig warfen uns die von einem Traktor oder Unimog gepflügten Furchen brachial hin und her. So ähnlich muß es bei einer Notlandung zugehen. Kurz bevor die Kiste auseinanderbricht. Und dann explodiert.

72 Meter, dachte ich. Das muß doch bald mal ein Ende haben. Richtig gedacht. Da kam es auf uns zu, das Ende: Rot und weiß gestreift und quer über den Weg gespannt und mit einem baumelnden kleinen Schild versehen. Ich erahnte den Text. Im nächsten Augenblick fand ich mich bestätigt. >Privatweg< las ich. >Durchfahrt verboten<. Ich hielt das Schild in zitternden Händen, die Schranke direkt vor der Nase. Da, wo bis gerade noch eine Scheibe für Schutz vor dem Wind gesorgt hatte. Wir standen.

Es war ein sehr abrupter Halt geworden. Ein doppelter Knall, ein knirschender Ruck, gefolgt von der dröhnenden Stille völliger Taubheit. Airbagged.

Draußen fiel der Regen. Wir parkten am Fuß der Brücke, an der Kreuzung zweier Wege, umgeben von Bäumen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, mitten im Wald ein Stück Eisenbahnschiene rot und weiß anzupinseln und in Brusthöhe an zwei einbetonierten T-Trägern zu befestigen. Schwenkbar auf der einen, abschließbar auf der anderen Seite. Solide genug, einen Panzer aufzuhalten. Oder halt einen Geländewagen zu stoppen. Zum Preis zweier Scheinwerfer, eines Kühlers, einer Haube, einer Windschutzscheibe und, so stand zu befürchten, allerlei kostspieliger Kleinteile wie Einspritzanlage, Zündbox und sonstigem, oben auf dem Motor montiertem Krempel.

»Seid ihr okay?« fragte ich. Charly nickte. Ich drehte mich nach hinten. Roselius schien ebenfalls weitgehend unverletzt. Schwer atmend hielt er immer noch einen abgerissenen Haltegriff umklammert. Genau wie ich, fiel mir auf. Ansonsten machte er mir nicht unbedingt den Eindruck, als habe er schon verinnerlicht, daß dies alles hier nur zu seinem Besten geschah.

Ich warf den Haltegriff auf den Boden. Löste den Gurt. Schulterte die verklemmte Türe auf. Versuchte, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß es von jetzt ab zu Fuß weiterging.

Sie werden uns hetzen wie die Tiere, dachte ich.

»Die falsche Brücke«, wiederholte Charly, sichtlich erschüttert. Ja, das war mir schon früher mal aufgefallen, daß die A3 kurz hintereinander erst über das Hexbach und dann über das Hengsbachtal führt. Das eine 12, das andere 72 Meter tief.

Durch das letztere stolperten wir gerade, zu dritt nebeneinander, den schwachen und zittrigen Roselius zwischen uns, im strömenden Regen. Auch wenn ich nicht sagen konnte, ob es jetzt mit Hex oder mit Hengs anfing.

»Und ich hatte mir die Stelle noch ganz genau angesehen, eine Stunde, bevor ich dich abgeholt habe.«

»Auf der Autobahn sieht sich doch alles so ähnlich.«

»Wir hätten tot sein können.«

Nicht mit einem Knall, sondern mit einem beinahe sanften Wumms!, fast so, wie es macht, wenn man Spiritus auf den heißen Grill schüttet, oder ganz ähnlich, fiel mir auf, wie wenn ein zwei Tonnen schweres Stück Mauer vom Himmel hoch auf einen Acker wummst, explodierte hundert Meter hinter uns Heiko Zimmermanns teurer, teurer, teurer Mercedes G.

Die Spritleitung war eh schon abgerissen gewesen. Ich hatte nur noch meine Camel in die Lache schnicken gemußt und die ersten Flämmchen hatten zu züngeln begonnen.

»Das wird sie eine Weile beschäftigen«, sagte ich. »Jetzt müssen sie erstmal löschen und nachsehen, ob wir nicht vielleicht noch drinsitzen.«

»Und nach Fingerabdrücken können sie lange suchen«, stellte Charly zufrieden fest. Dann humpelten wir weiter, in die Nacht hinein, den Regen, den Wald. Ohne einen blassen Schimmer, wohin. Nur weg. Alles, aber auch wirklich alles weitere würden wir improvisieren müssen.

Sobald wir den Feuerschein hinter uns nicht mehr sehen konnten, machten wir eine kurze Rast. Zusammen zogen wir dem vollkommen entkräfteten Roselius seinen weißen Kittel über den Kopf und halfen ihm in sein neues Outfit. Schwarzes T-Shirt und Tarnhose! Als hätte ich's geahnt! Ja, mich kann man schon einkaufen schicken. Meine alten Basketballtreter waren etwas zu groß für ihn, aber besser als der eine, ihm verbliebene Anstaltsschlappen waren sie allemal. Außerdem trugen wir ihn ja eh mehr, als daß er lief. Kein Zuckerschlecken für jemanden mit einem angeknacksten Knöchel, doch wenn es ums Verrecken nichts bringt, zu jammern, habe ich mir angewöhnt, einfach die Schnauze zu halten.

Mittendrin, mitten im finstersten, undurchschaubarsten, von tausend Schatten und noch mehr Geräuschen belebten Wald, wo einem vor Starren und Lauschen der Kopf platzen möchte und einem die Angst und Unsicherheit die Innereien abschnüren, wo einen jeder knackende Ast zusammenzucken läßt und jeder zweite Busch aussieht wie eine schlau getarnte Sondereinheit, wo man am liebsten geräuschlos dahinschweben und allmählich unsichtbar werden möchte, machte Roselius plötzlich den Mund auf. Das erste Mal, heute.

»Ich find das gar nicht«, sagte er laut und machte mich damit hopsen vor Schreck, »prickelnd«, sagte er. Wir warteten einen Moment, doch mehr sagte er nicht.

Irgendwann hörte der Regen auf. Irgendwann auch der Wald. Überflüssig, zu sagen, daß auch die Nacht sich nicht ewig halten würde. Doch noch war es dunkel, der Morgen nichts als ein Hauch von Licht am östlichen Horizont. Ich sah auf die Uhr. Halb fünf. Seit zwei Stunden tappten wir jetzt durch die Gegend. Zwei Stunden, die dabei waren, meinen ohnehin schon unmöglich knapp gestrickten Zeitplan in rasendem Tempo vom Saum her aufzuribbeln. Und noch war kein Ende in Sicht. Ich biß auf meinen Nägeln herum wie seit der Pubertät nicht mehr.

Links und rechts des Weges erstreckte sich Stacheldraht. Weidezäune. Wir näherten uns menschlichen Behausungen.

Bis hierhin war alles glatt verlaufen. Keine Treiberstaffeln, keine Hundemeuten, keine Lichtfinger von Suchscheinwerfern, keine Lautsprecherkommandos, keine Warnschüsse. Zu glatt, vom Gefühl her, doch war ich nicht in der Stimmung, mich darüber zu beklagen.

Wir kamen über eine kleine Kuppe und sahen eine Reihe Laternen. Eine Straße. Ah! Asphalt statt Wurzelwerk. Was für eine Verlockung. Dahinter eine Menge Lichter. Ein Ort. Ab jetzt, das war uns klar, wurde es wirklich interessant. Mittlerweile dürfte der G gelöscht sein und die Fahndung draußen. Auf vollen Touren, trotz der ungastlichen Stunde, da brauchten wir uns gar nichts vorzumachen.

Mitten in der Nacht den Wald zu durchkämmen hatten sie sich verständlicherweise geklemmt. Wozu auch? Wir würden schon irgendwann herauskommen. Und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf dem Bauch durch das dickste Gebüsch robbend, sondern einem Weg, einem Pfad, einer Feuerschneise, einem Wildwechsel, einem Bachlauf folgend. Irgendwoher halt, wo einem nicht pausenlos die Zweige in die Fresse klatschen.

Und wenn ich der Fahndungsleiter wäre, hätte ich inzwischen an jedem Ausgang, und sei es nur eines Karnickelpfades, ein paar Männer im Kampfanzug postiert. Gingen wir weiter in dieser Richtung, befanden wir uns meines Erachtens nach auf dem direkten Weg in die Falle. Flüsternd tauschten wir unsere Ansichten aus. Na ja, Charly und ich. Prickel - da, jetzt fange ich auch damit an - Roselius also stand dabei und schwankte leicht, mit flatternden Lidern. Er sah so aus wie ich mich fühlte: Als ob ich jeden Augenblick im Stehen einschlafen könnte.

»Ihr bleibt hier«, flüsterte Charly schließlich. »Ich schleich mich mal nach vorn und sondiere die Lage.«

»Laß deinen Rucksack hier«, sagte ich, doch er schüttelte nur den Kopf und huschte davon. Wenn sie ihn packten, dachte ich, mit einer abgesägten Pumpgun im Gepäck, könnten sie auf den Gedanken kommen, daß mein Klient und ich ähnlich ausgerüstet herumschlichen. Macht ihnen furchtbar zittrige Abzugsfinger, den Bullen, so ein Gedanke.

Nur zwei Minuten später schon war Charly zurück, leicht außer Atem, leicht außer Fassung.

»Zehn Mann«, sagte er. »Schwer bewaffnet. Bundesgrenzschutz. Mit einem Panzerwagen. Jesus. Als hätten wir die komplette RAF befreit. Und nicht Öttes hier. Die halten jeden an und kontrollieren die Papiere. Da kommen wir nie vorbei.«

Wir sahen uns an. Der Himmel im Osten errötete sacht. Vögel begannen zu zwitschern. Die Morgenluft war nach dem Regen wundervoll frisch und angenehm kühl, voller Düfte.

Genieß es, riet ich mir. Wenn du nicht in spätestens eineinhalb Stunden wieder in Oberhausen bist, ist das hier für die nächsten zehn Jahre dein letzter Morgen in Freiheit.

Ohne ein weiteres Wort halfen wir uns gegenseitig über den Stacheldrahtzaun. Schlichen uns über eine Wiese. Erklommen den nächsten Zaun. Noch eine Wiese. Ließen uns durch ein Gatter. Tappten durch einen Sandplatz voller Pfützen und Pferdeäpfel. Fanden uns vor einem mannshohen Maschendrahtzaun wieder. Dahinter erstreckten sich Rasenflächen, gepflasterte Wege, blühende Büsche und Beete, einzelne und in Grüppchen zusammengefaßte Bäume, Drahtstühle und Holzbänke, Skulpturen und Vogeltränken. Inmitten all dieser Idylle erhob sich ein Monstrum. Zehn Etagen Glas, Aluminium und Kunststoff auf L-förmigem Grundriß, mit einem hohen, schlanken, chromglänzenden Kamin, auf dem oben eine rote Lampe rotierte, mit eigener Küche, eigenem Parkhaus, eigenem Hubschrauber, brummend, summend, vibrierend rund um die Uhr. Ein Krankenhaus.

Es war wie ein Kick. Der berühmte zweite Atem kam über mich. Ich kramte eine Zange aus meiner Reisetasche, bückte mich, kniff einmal unten durch das Geflecht, folgte der Kunststoffummantelung mit dem Finger hoch und kniff das obere Ende durch. Dann drehte ich das lange, zickzackförmige Stück Draht nach oben heraus und schon ließ sich der Maschendraht wie ein Vorhang teilen und links und rechts zur Seite schieben. Das ganze hatte keine sechzig Sekunden gedauert. Ich hab mal Einbrecher studiert wie andere Leute Religionswissenschaften.

»Und jetzt?« fragte Charly.

»Gib mir deinen Rucksack«, sagte ich. Eins war mir gerade klargeworden: Dies hier stellte meine letzte Chance dar. Ich war entschlossen, sie zu nutzen, mit allem, was ich noch aufzubieten hatte.

Der Osten wurde hell und heller, doch die Schatten im Park waren noch tief. Und mochte die Küche auch klirren und scheppern vor frühmorgendlicher Aktivität, so lag der Rest des Hauses doch noch in mehr oder weniger süßem Schlummer.

Nach all dem heimlichen Herumgeschleiche der letzten Stunden mußten wir uns zwingen, normal zu gehen und normal zu sprechen. Nur drei Pfleger auf dem Weg zur Schicht.

Bei einer heckenumstandenen Parkbank ließ ich die anderen beiden warten. Hab ich schon mal erwähnt, daß ich einen Teil meines Zivildienstes im Krankenhaus abgeleistet habe? Eine unvergeßliche Zeit. Noch heute braucht nur jemand in meiner Nähe >Dekubitus< zu raunen, und ich schmecke Reste meiner letzte Mahlzeit ganz oben im Hals, zusammen mit ein bißchen Galle. Ließ sich nur zugedröhnt ertragen, das ganze Elend. Ja, so gesehen hatte mich mein Zivildienst erst richtig auf den Weg gebracht, drogenmäßig. Pillen, Tropfen, Zäpfchen, Injektionsampullen - alles war ohne großes Theater zugänglich, hatte man sich erst einmal mit dem ganzen Apparat vertraut gemacht.

Ab einer gewissen Größenordnung sind sich diese Anstalten äußerst ähnlich. Die Eigentümlichkeiten der Aufteilung in verschiedene Schichtdienste, Stationen und Abteilungen machen es möglich, daß sich ein Teil des Personals völlig fremd ist. Jemand mit dem richtigen Auftreten könnte, da bin ich mir sicher, sich in jedem der größeren Häuser frei bewegen, frei verpflegen, regelrecht wohnen, leben, ja praktizieren, ohne daß es irgend jemand in den Sinn käme, sein Tun zu hinterfragen. Wenn der oder die Betreffende dann noch ein wenig Geschick im Umgang mit Computern hätte, ließe sich wahrscheinlich sogar ein Gehalt arrangieren.

Die Hintertür, durch die ich mich einließ, führte in die Katakomben der Kellergänge. Kein Patient kriegt sie je zu Gesicht. Denn die, die es doch hierher verschlägt, sind jenseits aller Wahrnehmung.

Die Wäschekammer fand sich so ziemlich genau da, wo ich sie vermutet hatte. Es braucht nichts als einen weißen oder grünen Kittel, aus dessen einer Tasche der Drahtbügel eines Stethoskops ragt. Fertig. Ein um den Hals baumelnder Mundschutz ist ein Extra, kein Muß. Soll der so gewonnene Effekt allerdings nicht leiden, sollte man unter dem Kittel, wenn möglich, ein paar Klamotten tragen, die nicht aussehen, als seien sie eben erst einem Verschütteten vom Leib gezogen worden.

Nein, ich konnte nicht widerstehen. Soviel Zeit mußte sein. Ich stieß die Türe zur Küche auf und schritt mit wehendem Kittel hinein, als gehöre der ganze Laden mir. Ich hatte mich für die hellgrüne OP-Kluft entschieden, weil die mehr hermacht und man obendrein so ein Mützchen dazubekommt, unter dem man sein Haupthaar verstecken kann.

»Seid doch so süß und stellt mir eben zwei Kannen Kaffee auf ein Tablett«, sagte ich zu der erstbesten Köchin oder Küchenhilfe, auf die ich traf. »Und packt mir noch ein paar von den belegten Brötchen dazu, ja? Und huschhusch, wenn ich bitten darf. Ich hab nur zwei Minuten!« Aah, was für ein Service! Gleich drei Frauen in geblümten Kittelschürzen rissen sich förmlich darum, mich zu bedienen. Die mit den spitzesten Ellbogen schaffte es schließlich, das Tablett zu ergattern und eiligst zu mir rüberzutragen. Als sie es jedoch vor mich hinstellte, sah sie plötzlich einmal an mir rauf und runter und dann mit unverhohlenem Mißtrauen mitten ins Gesicht. Was konnte sie haben? Unter meinem Leibchen trug ich tadellose weiße Hosen mit Bügelfalten und hatte mir sogar die Schuhe geputzt. »Sie sind nicht Dr. Bruckmann«, stellte sie fest. Das war beim besten Willen nicht zu leugnen.

»Völlig richtig«, sagte ich deshalb, nahm ihr das Tablett ab und wandte mich wie selbstverständlich zum Gehen. »Ich bin Dr. Timm. Wieso?«

Sie deutete mit dem Kinn auf mein Namensschildchen. Ich schielte danach. »Ah, verdammt«, sagte ich. »Kittel verwechselt. Na, es war aber auch eine lange Nacht.« Damit trollte ich mich.

»Ich besorg uns jetzt was zu fahren«, sagte ich zu Charly zwischen hastigen Bissen und Schlucken. Er nickte nur. Roselius schnarchte sanft an seiner Schulter. Fünfzig Meter vor uns lag der Zufahrtsweg zum Haupteingang. An seinem anderen Ende konnte man, halb hinter Gesträuch verborgen, ein Pförtnerhäuschen nebst Schranke erkennen. Eine echte Hürde, das. Ich ließ die beiden auf ihrer Bank zurück und umrundete mit schneidigen, zielgerichteten Schritten das Gebäude, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte: Die Einfahrt zur Notaufnahme. Ich hatte an das Parkhaus gedacht, kurz, doch hätte uns selbst der dicke Daimler des Oberarztes nur bis vor die nächste Straßensperre gebracht. Nicht durch.

Mit ein paar tiefen Atemzügen brachte ich meinen Kreislauf auf Touren. Entscheidende Momente standen an. Brötchen und Kaffee zu ergattern war das eine gewesen. Das Leichte.

Innerlich zählte ich bis drei, dann schwang ich die Tür zum Bereitschaftsraum auf und stampfte hinein.

»Morgen, die Herren«, bellte ich in den schalen Zigarettenrauch und das Geballer einer Schießerei im Fernseher hinein. Die müden Gesichter zweier übernächtigter Rettungssanitäter blickten zu mit hoch. »Ab mit euch«, rief ich mit übertriebener Munterkeit, »auf Station 10C wird euer Typ verlangt. Ich weiß zwar nicht, was ihr diesmal verbockt habt, aber die Kripo ist da und hat ein paar Fragen. Also los! Ich übernehme hier so lange!«

»Kripo?« fragte der Ältere der beiden und rieb sich das graustoppelige Kinn, während er sich aus seinem Stuhl astete. »Was wollen die denn?«

»Irgendwas wegen eines Transportes kürzlich«, antwortete ich und gab meinem Blick etwas Bohrendes. »Sicher nur eine Formsache«, fügte ich dann beschwichtigend hinzu, »nehme ich an.«

»Auch noch 10 C«, beschwerte sich der Jüngere und schwang sich widerwillig auf die Füße.

Ganz recht, dachte ich. Ganz oben, ganz hinten.

»Und wie immer kurz vor der Ablösung.«

»Ihr könnt dann Schluß machen«, rief ich den beiden hinterher. Sicher, ich bin streng als Vorgesetzter, doch ich kann auch großzügig sein. »Ich warte hier, bis die neue Schicht da ist.« Im großen Ganzen bin ich mir ziemlich sicher, daß mein Führungsstil ankommt.

Kaum waren sie aus dem Zimmer, griff ich mir das Telefon und hackte auf die Null. »Geben Sie mir mal das Pförtnerhäuschen«, verlangte ich, sobald sich die Vermittlung gemeldet hatte.

»Pforte«, kam es nach kurzem Tuten aus dem Hörer.

»Dr. Timm hier«, meldete ich mich. »Wir kommen gleich mit einem eiligen Transport raus. Sehen Sie also zu, daß Ihre Schranke diesmal offen ist.« Es geht doch nichts über unterschwellige Vorwürfe, um die Leute auf Zack zu bringen. »Haben Sie mich verstanden?«

»Wieso >diesm-< ...?«

»Reden Sie nicht soviel, tun Sie, was man Ihnen sagt!« »Jawohl, Herr Dokt- .«

Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Könnte ich mich glatt dran gewöhnen, an diesen herrischen Tonfall.

Draußen in der Halle der Notaufnahme parkten ein Kranken-und ein Notarztwagen. Ich tauschte meinen grünen Kittel gegen einen weißen vom Haken und griff mir noch einen zweiten, für Charly. Suchend sah ich mich noch einen Moment um. Der eine der beiden Sanitäter hatte seine Brille auf dem Tisch liegenlassen. Ich probierte sie auf. Der Raum gewann dramatisch an Tiefe. Ich streckte meine Hand aus. Mein Arm war bestimmt zwanzig Meter lang. Auf dem Weg zur Tür kam ich an einem Spiegel vorbei. Die Karikatur eines perversen Spanners griente mich unter zwei Flaschenböden hervor an. Somit bis zur, wie ich hoffte, Unkenntlichkeit maskiert trat ich hinaus in die Halle und ging entschlossenen Schrittes zu dem Krankenwagen hinüber, einem Chevrolet-Van, wie man sie im Fernsehen immer sieht, mit mehr Lampen ringsum als die Lichtanlage einer Dorfdisco. Es waren zwanzig lange Schritte bis dahin, zwanzig grell erleuchtete Schritte vorbei an einer mißtrauisch wirkenden Fensterfront. Jeden Moment erwartete ich, jemanden rufen zu hören. Am Van angekommen, öffnete ich die Fahrertüre. Der Schlüssel steckte. Ich schwang mich hinein. Immer noch kein >Hee, was machen Sie denn da?!< Rasch drehte ich den Schlüssel. Mit leisem Wummern sprang der Motor an. Mein Herz trommelte im Brustkob, und mir war eigentümlich zum Lachen zumute, als ich den Wählhebel auf >D< stellte.

»Da vorne sind sie«, sagte Charly. Er hockte nervös neben mir, nervös deshalb, weil ich fuhr, während unser Bernd dagegen gemütlich hinten auf der Bahre vor sich hinschnarchte. Wir hatten das Blaulicht an, aber keine Sirene. Man kann es auch übertreiben.

»Überlaß mir das Reden«, sagte ich und griff nach der Brille. Einmal im Schwung, fühlte ich mich eins mit meiner Rolle. Dr. Timm, Notarzt im Breitwand-Format. Leicht sehbehindert, vielleicht, was ihn aber nicht davon abhält, Auto zu fahren wie ein Henker und genauso munter das Skalpell zu schwingen.

Ohne groß vom Gas zu gehen, stochte ich auf die Straßensperre zu. Hundert Meter vorher schmiß ich die Sirene an. Die Bastarde machten trotzdem keinen Platz.

Ich brauchte mir gar keinen dicken Hals anzuzüchten; er kam ganz von alleine. Was bildeten diese Heinis sich ein?

Die Sirene verebbte, als wir vor dem quergestellten Streifenwagen zum Stillstand kamen. Ich ersetzte sie, so gut es ging, halb aus dem Fenster hängend. »Sind Sie von Sinnen?« herrschte ich den erstbesten eines guten Dutzends schwerbewaffneter Kampfanzüge an. »Aus dem Weg! Dies ist ein Notfall, Mann!« Er verzog keine Miene. Schüttelte nur militärisch knapp den Kopf und sagte: »Wir haben den Befehl, jedes Fahrzeug zu durchsuchen. Jedes.«

An der Rückseite des Wagens hörte ich jemanden am Türgriff rappeln, und rund um jede meiner Haarwurzeln spürte ich dieses Kitzeln, das spontane Schweißbildung so mit sich bringt.

»Ja, begreifen Sie nicht?« Meine Stimme klang um einiges schriller, als ich beabsichtigt hatte.

»Hier hinten ist abgeschlossen«, kam es von hinten. (Schließlich bin ich nicht blöd.)

»Mein Patient stirbt, wenn er nicht augenblicklich operiert wird!« Ein zweiter Kampfanzug trat neben den ersten. Er hatte ein paar Knöpfe mehr auf der Schulter.

»Es dauert nur einen Moment«, sagte er mit stoischer Miene und unerschütterlicher Autorität.

Routiniert ließ er seinen Blick zwischen dem Wisch, den er in Händen hielt und meinem Gesicht hin- und herwandern. Es war ein Fax. Mit einem Fahndungsfoto. Er hatte ganz recht. Nur einen Moment noch, und es wäre vorbei. Nur ein Blick auf unseren >Patienten<, und hier würden gleich die Handschellen schnackein. Die Schlaffheit der Niederlage griff nach mir. Mattigkeit wollte mich überkommen. Der Wunsch, aufzugeben, sich zu stellen, die Verantwortung für alles weitere in die Hände eines stoisch dreinblickenden Vertreters der übermächtigen Staatsmacht zu legen, drohte, meinen Willen zu erlahmen wie eine Überdosis. Direkt hinter mir wälzte sich der Mann auf dem Fahndungsfoto ächzend im Schlaf.

»Oh verdammt!« fluchte Charly panisch, stemmte sich aus seinem Sitz und beugte sich formatfüllend über ihn.

»Er entgleitet mir! Die Atmung stockt!«

»Gut«, stieß ich eisig hervor und schaltete demonstrativ den Motor ab. »Toll. Wie Sie wollen.« Ich riß den Schlüssel aus den Zündschloß und hielt ihn baumelnd aus dem Fenster. »Durchsuchen Sie ruhig den Wagen. Stellen Sie ihn auf den Kopf. Lassen Sie sich Zeit. Aber alles weitere«, fügte ich, ohne dafür die Zähne auseinanderzunehmen hinzu, »liegt von jetzt ab einzig und allein in IHRER Verantwortung!«

»Sein Puls! Ich spür seinen Puls nicht mehr!« Charly pumpte Roselius' Arm in mitreißender, wenn auch, seien wir mal ehrlich, nicht sehr fachmännischer Art und Weise. Der erwachte, verständlicherweise, und klärte geräuschvoll seinen Hals, wohl, um sich über diese Behandlung zu beschweren. Es klang erfreulich röchelnd.

»Ich brauche sofort zwei Ihrer Leute«, sagte ich und machte Anstalten, auszusteigen, alarmiert und doch ganz Herr der Lage. Leben und Tod, ah, das haben wir alle Tage. »Sofort! Wir werden an Ort und Stelle einen Luftröhrenschnitt vornehmen müssen!« Ich ließ eine Geste folgen, mit dem Daumennagel. Heute weiß ich es besser: Ein Luftröhrenschnitt geht nicht quer über die ganze Gurgel. Doch das nur nebenbei.

»Nun fahren Sie schon!« sagte der mit den Knöpfen auf der Schulter hastig. Er klang plötzlich nicht mehr ganz so stoisch. »Nun fahren Sie schon weiter!« Ein Handzeichen, und vor uns tat sich eine Gasse auf. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt.

Hrmmm! machte der Motor.

Haa-ooo-uuu-hiii! machte die Sirene.

Knck! machte der Kickdownknopf unter dem Gaspedal.

Unter hysterischem Geheule jagten wir in die Morgendämmerung hinein. Ich fuhr wie im Rausch. Wie im Vollrausch. Zumindest bis mir einfiel, die Brille in die Stirn zu schieben.

Charly beugte sich stöhnend in seinem Sitz nach vorn, die Arme gegen den Bauch gepreßt, krampfhaft wippend. Für einen Moment dachte ich, er leide Schmerzen, sei in einer Weise verletzt, die mir bis dahin entgangen war. Bis mir aufging, was er hatte. Es war etwas Ansteckendes.

»Oh verdammt«, brach es schließlich aus ihm heraus.

»Er entgleitet mir!« Wir sahen uns an. Ich nahm die Brille wieder runter. Wir wieherten los. Wie unter Zwang.

»Sein Puls! Ich spür seinen Puls nicht mehr!« Charly machte eine pumpende Armbewegung, und die Tränen schossen mir nur so aus den Augen.

»Wir werden einen -« ich gab dem Lenkrad eins mit der Faust, daß es die obere Hälfte ein Stück abknickte - »einen Luft- einen Luftröhrenschnitt -« ich brach ab, es hatte keinen Zweck.

»Nun fahren Sie schon! Nun fahren Sie schon weiter!«

Wir heulten mit der Sirene um die Wette.

»Ich find das« - kam es leicht beleidigt von hinten, - »gar nicht prickelnd!!« stimmten wir brüllend mit ein, und bei Gott, um ein Haar, und wir hätten uns bepißt vor Lachen.

»>White Zombie<, cool«, fand Patsy. Sie stand mit verwuscheltem Haar und nicht viel mehr als einem Männerunterhemd bekleidet in der Türe und bewunderte unser Bernd sein neu' T-Shirt, während ich noch das Treppengeländer umkrampfte. Wir waren die fünf Etagen hochgehastet, in einem Affenzahn, und ich erwartete jetzt jede Sekunde einen massiven Hirnschlag als Quittung dafür. Ich linste auf die Uhr. Mir blieben rund zwanzig Minuten. Ich drückte Patsy mein Bündel in die Hand. Keuchend, hustend, spuckend bat ich sie, die Sachen für mich zu waschen und zu trocknen und um Gottes Willen nicht länger als fünf Minuten dafür zu brauchen. Ohne auch nur einen fragenden Blick schnickte sie dem verschlafen in seinem Morgenmantel herumstehenden Scuzzi, ihr zu helfen, und die beiden verschwanden im Bad. Ich zog derweil meine Schuhe und meine Pflegerhose aus. Brille und Kittel hatte ich im Krankenwagen gelassen, den Charly jetzt irgendwo unauffällig abstellen wollte. Nur das Stethoskop hatte ich behalten. Das ist so die Art von Souvenir, die einem aus einem verstaubten Pappkarton entgegenlächelt, wenn man nach zehn Jahren aus dem Bau entlassen wird. Oder wenn sie einem wieder mal die Wohnung gekündigt haben und man seinen Krempel in eine andere Hütte verfrachten muß, wieder ein paar Quadratmeter kleiner und wieder ein Fenster weniger, auf dem unausweichlich abschüssigen Weg hinunter in die enge und gänzlich fensterlose Kiste, die uns letzten Endes alle erwartet.

Alles umsonst. Dieses Gefühl beherrschte mich. Ich würde es niemals schaffen. Der Minutenzeiger meiner Uhr raste nur so über das Zifferblatt. Niemals.

Roselius hatte sich auf die Couch gesetzt. Er schloß die Augen. Einen Ruck meines Minutenzeigers später begann er sachte zu schnarchen. Ich beneidete ihn einigermaßen. Doch nicht sehr. Er sah verdammt mitgenommen aus.

Zora hatte ihren Wecker gestern Abend auf sechs gestellt. Punkt sechs. Ich hatte ihr scharf über die Schulter gesehen dabei.

Sie wohnte dritte Etage, hoch genug, um mir den Atem zu rauben und dafür einen wild galoppierenden Puls zu schenken. Ich sah nicht mehr auf die Uhr, funktionierte nur noch, wie ferngesteuert, ohne nachzudenken. Mit übermenschlicher Anstrengung bekam ich meine vor Nervosität und Erschöpfung wild schlackernden Gliedmaßen weit genug unter Kontrolle, um den Schlüssel ins Schloß zu bugsieren und beinahe geräuschlos die Wohnungstüre aufzusperren. Drinnen war alles dunkel, alles ruhig. Ich hing den Schlüssel wieder an seinen Haken, riß mir die halbwegs sauberen und tatsächlich sogar halbwegs trockenen Plörren vom Leib, warf sie in die Gegend, schlich mich auf Zehenspitzen zum Bett, ließ mich unendlich vorsichtig darauf nieder und zupfte mir ein Stückchen Decke über den Balg. Zora atmete tief, ruhig und gleichmäßig. Mein Atem ging wie rasend und wollte und wollte sich nicht runterschrauben lassen. Langsam senkte ich den Kopf auf das Kissen und der Wecker schrillte.

Sie brauchte einen Moment, um wach zu werden. Tapste mit der Hand nach dem Wecker, machte ihn aus, murmelte irgend etwas Mürrisches, entdeckte mich dann an ihrer Seite, machte >Hmmm< und schnuckelte sich an mich.

Geschafft, dachte ich, Junge, du hast es geschafft. Das macht dir keiner nach. Eine unfaßbare, an Ergriffenheit grenzende Erleichterung packte mich.

Sie griff nach mir. »Hossa«, knurrte sie. Ihre Stimme war tief und rauh, und ich mußte zu meiner eigenen Verblüffung feststellen, daß mir, allen anderslautenden Prognosen zum Trotz, eine regelrecht vorweihnachtliche Latte wuchs. Na gut, dachte ich. Was sind schon ein paar Kratzer mehr auf dem Kreuz im Vergleich zu einem veritablen Vier-Sterne-Alibi? (>Wo waren Sie letzte Nacht, Kryszinski? Und passen Sie auf, was Sie sagen! Wir prüfen das nach!<) Oh ja, bitte, prüft das nach.

Na gut, dachte ich mit katerhafter Selbstzufriedenheit und wollte schon zur Tat schreiten, da murmelte sie etwas in mein linkes Ohr, das mir wie ein Messer ins Gedärm fuhr und das Haupthaar mit einem Schlag und für immer schlohweiß bleichte.

»Wo warst du«, fragte sie, schläfrig und ein bißchen vorwurfsvoll und bei Gott, um ein Haar und ich hätte mich beschissen vor Schreck, »nur«, fügte sie dann hinzu, »all die Jahre?«

Ich ging durch all die nötigen Bewegungen. Ich brachte ihn hoch und hielt ihn da und führte ihn ein, und das Bett quietschte und ächzte, und Zora stöhnte und japste und, ja, sie krallte sich in meine Pelle, und irgendwann kam sie und ich, meine ich, auch, doch ich spürte nichts.

Sie stand dann auf und machte Kaffee und duschte und zog sich hastig an und verabschiedete sich von mir, und ich meine, wir hätten uns noch verabredet für - ich weiß nicht mehr, wann. Oder wo. Ich war wie paralysiert, schockgefroren. Mein Hirn war zu einem Klumpen Gelee erstarrt, meine Augen für immer aufgerissen. Der letzte Schreck war einer zuviel gewesen.

Starren Blickes, mit unbeholfenen, wie automatisiert wirkenden Bewegungsabläufen zog ich mich an und machte mich auf den Weg. Liebend gerne wäre ich für die nächsten zwölf bis zwanzig Stunden im Bett geblieben, doch ich mußte nach Hause. Ich wurde erwartet. Und ich meine nicht nur von der Katze.

Der dunkelgrüne Passat in Basisausstattung parkte direkt vor meiner Haustür. Ich ging einmal drumrum; es saß keiner drin.

Der Schock von vorhin war etwas abgeebbt. Mit einiger Anstrengung bekam ich die Lider wieder zu. Das Problem war, hatte ich sie nun einmal unten, wollten sie nicht wieder aufgehen. Gähnend schloß ich die Haustür auf und schleppte mich die Treppe hoch.

Hauptkommissar Menden wartete oben. Das metallisch-graue Haar wie immer etwas zu lang und in eben dem zerknitterten Trenchcoat, in dem jeder andere Bulle lächerlich ausgesehen hätte, stand er wie selbstverständlich in meiner Küche. Doch das war okay. Wir kannten uns. Wohl auch ein Grund, warum er allein gekommen war; ein Umstand, der mich mit einiger Dankbarkeit erfüllte. Und das wiederum, kannte man Menden so, wie ich ihn kannte, war mit Sicherheit Teil seines Kalküls.

Menden erzielt selten Geständnisse. Bei ihm werden meistens Lebensbeichten daraus. Er kann einem das Gefühl geben, freimütig alles jemals Verbrochene zu gestehen und dann tapfer lächelnd in den Kahn zu wandern, sei schon alleine deshalb die tollste Idee, weil das einen in seiner, Mendens, Achtung steigen ließe.

Die Realisierung, es mit dem fähigsten Bullen von Mülheim zu tun zu haben, gab mir einen kleinen Ruck.

»Morgen«, sagte ich. Menden stand mit den Händen auf dem Rücken entspannt da und betrachtete versonnen das mit Abstand Teuerste, was ich besitze. Die Katze zog derweil schnurrende Achten um seine Beine. Bei wichtigen Leuten scheißt sie sich immer ein.

Es handelt sich um eine Sammlung von Portraits. Fotografischer Portraits. In Schwarzweiß. Sie zeigen alle mich. Immer von vorn. En face, wie es der Fachmann ausdrückt. Und - Zufall - jedesmal am Steuer eines Autos sitzend.

Für das Geld, das die mich gekostet haben, sage ich immer gern, hätte ich mich auch von Helmut Newton ablichten lassen können. Mit einer Pfauenfeder in den nackten Arsch geklemmt.

»Wenn wir beide mal mehr Zeit haben«, sagte Menden, ohne den Blick zu wenden, »müssen Sie mir mal verraten, wie sie es schaffen, weiterhin im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein.«

»Nun«, sagte ich, »ich arbeite ziemlich oft für Anwäl-«

»Wenn wir mal mehr Zeit haben«, unterbrach er mich.

»... und eine Hand wäscht die and-«

Mit einer scharfen Wendung seines Kopfes sah er mich an. »Wo waren Sie letzte Nacht?«

Mist. Das war die falsche Einleitung. Für den Fall, daß er als erstes >Wo kommen Sie jetzt her?< gefragt hätte, hielt ich eine Tüte Brötchen in der Hand. Typisch für ihn, das zu durchschauen. Ich drückte das Kreuz durch und gab mein Bestes, munter, ausgeschlafen und völlig verwundert dreinzublicken. »Warum?« fragte ich und streute zusätzlich noch eine Prise ehrlicher Unschuld auf meine Verwunderung.

Menden schloß kurz die Augen und atmetet einmal tief durch. »Kryszinski«, sprach er dann leise und mit bemühter Geduld, »bitte ersparen Sie uns diese Show, ja? Sie sind doch nicht im Ernst der Ansicht, die Augen aufzureißen wie Hera Lind beim Fototermin würde mich wirklich von den beiden schwarzen Halbmonden darunter ablenken? Oder?«

Das einzugestehen schien einigermaßen gefahrlos. Und das war das Gefährliche. Einmal anzufangen, Menden gegenüber etwas zuzugeben konnte bedeuten, daß man den Punkt verpaßte, rechtzeitig wieder damit aufzuhören. Ich legte die Brötchen auf den Tisch und murmelte etwas über zuviel Arbeit in der letzten Zeit, zuwenig Schlaf; er wisse ja sicherlich, wie das sei. Er schnaubte nur verächtlich. Mit plumper Anbiederung, hieß das, kam ich bei ihm nicht weit.

»Tun Sie mir einen Gefallen?« fragte er. »Sagen Sie mir, wo Sie heute nacht waren? Jetzt sofort? Ich weiß, daß Sie ein Alibi haben. Also geben Sie's mir einfach, und ich prüfe es auf Löcher und dann sehen wir beide weiter.«

»Wieso . woher .« ich stammelte ein bißchen, einmal gefangen in meiner Rolle als ahnungslos unschuldig Verdächtigter - wessen eigentlich? - »was ist denn überhaupt los? Wieso meinen Sie zu wissen .«

»Kryszinski!« Die Katze sprang auf den Küchenschrank vor Schreck. »Stehlen Sie mir nicht meine Zeit! Ich bin mir sicher, daß selbst Sie nicht so dämlich sind, einem Mordverdächtigen zur Flucht zu verhelfen, ohne für die betreffende Zeit ein Alibi vorweisen zu können. Also spucken Sie's schon aus! Man sieht Ihnen doch auf hundert Meter an, daß Sie es kaum erwarten können.«

»Was, wer, ich? Wen? Befreit?« Ich setzte mich, als ob der Druck einer solchen Anschuldigung zu schwer auf mir lastete.

Menden sah mich düster an. Es war klar, daß ich, hätte er eine zu vergeben, so ziemlich der Letzte wäre, der die Rolle kriegen würde. »Ihr Klient Bernd Roselius ist letzte Nacht gewaltsam aus dem Christopherus-Asylum befreit worden. Der Anstaltsleiter hat den starken Verdacht geäußert, daß Sie dahinterstecken könnten.«

Na, hatte ich nicht recht gehabt?

»Also fahre ich hierher, und wer ist nicht da, sondern kommt erst zwei Stunden später zur Türe herein, völlig übernächtigt, was an sich nichts Ungewöhnliches ist, aber nüchtern dabei und mit einer Brötchentüte in der Hand für den Fall, daß meine erste Frage lauten sollte: >Wo kommen Sie jetzt her?<«

Ich sah etwas perplex drein und stieß etwas Luft aus, lehnte mich über den Tisch und trommelte mit den Fingernägeln darauf herum. Dann pfiff ich leicht durch die Zähne. Menden beobachtetet mich reglos. Er ist einer der wenigen Männer, die einfach so mitten im Raum stehen können. Einfach so stehen. Für eine beliebig lange Zeit.

Eine Weile verstrich. Wir sagten beide nichts. Ich dachte nach, kaute meine Unterlippe durch, und Menden sah mir dabei zu.

Schließlich kam ich zu einem Schluß. Ich sagte: »Sie sagen >befreit<?«

Er legte den Kopf ein wenig schräg und schenkte mir einen Blick, der von Sorge geprägt war. Sorge um meine geistige Verfassung. »Ja, das will ich meinen«, sagte er.

»Wenn jemand hingeht und mittels eines wahrscheinlich gestohlenen Geländewagens die Zellenwand eines wegen Mordverdacht Einsitzenden aus der Fassade reißt und anschließend mit dem Delinquenten zusammen fluchtartig in der Nacht verschwindet, nenne ich das >befreit<. Hätten Sie einen passenderen Ausdruck?«

Ich versuchte, alle Blauäugigkeit der Welt in meine braunen Augen zu legen, sah zu ihm hoch und sagte: »Ja. denn ich wüßte nicht, wer ein Interesse daran haben könnte, ihn zu >befreien<. Meine Befürchtung ist, daß er entführt wurde.« Ich ließ das einen Moment einwirken.

»Und zwar, um ihn zu beseitigen.«

Menden nickte. »Das ist gut«, fand er. »Und da Sie selbstredend keinerlei Interesse daran haben können, Ihren eigenen Klienten zu entleiben, kann ich hier praktisch auf der Hacke kehrtmachen und mich mit dem ganzen Apparat auf die Bearbeitung dieses neuen Hinweises werfen.« Er beugte sich leicht zu mir herab, und ich schwöre, er versuchte so etwas wie Blauäugigkeit in seine kühlen, grauen Augen zu legen. »Wo waren Sie heute nacht, Kryszinski?« fragte er leise.

Ich druckste ein bißchen herum und gab vor, meine angeborene Ritterlichkeit - Er unterbrach mich, ohne die Stimme zu heben, ohne den Blick auch nur einen Millimeter zu wenden. »Wo waren Sie heute nacht?«

Da gab ich's ihm. Stück für Stück. Vorname, Name, Adresse, abendliche Ankunftszeit, Uhrzeit der morgendlichen Trennung. Doch das Beste hob ich mir für den Schluß auf.

Mit einem Schritt war er beim Telefon. »Ist sie zuhause?«

»Ich glaube kaum. Sie müßte im Dienst sein.«

»Dienst?«

»Sie fährt Streife.«

»Streife?«

»Ja. Bei der Oberhausener Polizei.«

Weit entfernt, in einem Haus auf der anderen Seite der Bahngleise, auf der anderen Seite des Flusses, auf der anderen Seite der Stadt, klingelte ein Telefon. Es ging mich nichts an. Nichts ging mich etwas an. Ich lag hingestreckt auf einer Wolke, ein Wölkchen an mein Ohr geschmiegt, schwebend, selig, sorglos, frei. Nichts konnte mein Wohlbefinden trüben.

Bis auf dieses Klingeln. Bräsig zog ich das Wölkchen unter meinem Ohr hervor, erkannte es nicht ohne Stirnrunzeln als mein Kopfkissen, klatschte es mir auf das andere Ohr und versuchte, das Klingeln zu ignorieren. Es wollte nicht klappen.

Ich wußte instinktiv, daß, sobald ich nur ein einziges Mal abhob, eine Lawine von Anrufen über mich hereinbräche. Wie wenn ein Popstar sich durch eine Menge von Fans wühlen muß und mittendrin spontan einem der quengelnden Teenies ein Autogramm gibt: Plötzlich erwarten, ja fordern alle anderen auch eins.

Wenn es nur durchgeklingelt hätte! Doch es schrillte in Intervallen. Sechsmal, siebenmal, acht - Schluß. Eine Minute Ruhe, anderthalb. Gerade genug, um sich wieder einzusuhlen im warmen Schlick des Schlafes, um sich hinabsacken zu lassen bis knapp unter die Oberfläche, um einem Verlangen nachzugeben, stärker als Liebe, Hunger, Durst und Samenkoller, gerade genug, um einen Fuß auf die Schwelle zur Unerreichbarkeit zu setzen und - SCHRRRRRRIIIINNNGGGG!!! - schon ging der Terror von vorne los.

Selbstredend bestand die Möglichkeit, den Hörer von der Gabel zu treten, die Schnur aus der Wand zu pflücken, den Apparat aus dem Fenster zu feuern. Doch dann hätte ich sie keine fünf Minuten später alle vor dem Haus gehabt, wo sie sich reihum bei dem Versuch abwechseln konnten, meinen Klingelknopf abzureißen.

Außerdem, erinnerte ich mich mit einem Aufwallen von Selbsthaß, hatte ich zu tun. Der größte Nachteil einer freien, ungebundenen Ein-Mann-Existenz ist sicherlich der, daß man die anfallende Arbeit entweder selber erledigt, oder keiner macht sie.

Mit dem Grunzen eines mitten beim Ficken gestörten Wildebers hob ich ab. Veronika.

Ich knurrte: »Als hätte ich's geahnt.«

»Hast du etwas damit zu tun, Kristof?« Sie klang atemlos.

»Irgendwie«, antwortete ich gedehnt, »hätte ich dich für intelligenter gehalten, als solche Fragen übers Telefon zu erörtern.«

Sie klang noch etwas atemloser, als sie sagte: »Kristof, ich möchte nur hier und jetzt sofort klarstellen, daß ich damit in keinem Fall in Zusammenhang gebracht werden möchte.«

»Womit?« fragte ich, und sei es nur aus Nickeligkeit. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß ich vielleicht eine dreiviertel Stunde gepennt hatte. 45 Minütchen. Wenn's hoch kam. Und das nach so einer Nacht! Von den Tagen davor ganz zu schweigen. Irgend jemand, ganz gleich wer, würde mir dafür büßen müssen.

»Ich habe niemals, ich betone niemals, und sei es andeutungsweise, irgendeine Form von krimineller Aktivität vorgeschlagen, angeregt oder auch nur erwähnt.«

Genausowenig wie irgendeine Form von Bezahlung, dachte ich, so für mich.

»Hinterher will's dann immer keiner gewesen sein«, sagte ich.

»Kristof! Was immer du getan hast oder noch zu tun gedenkst, du wirst mich da raushalten, haben wir uns verstanden?«

Wie ich das hasse! Erst hängen sie dir die moralische Verantwortung wie einen Mühlstein um den Hals, und wenn dir dann das Wasser bis zum selben steht, dann ... na ja, dann drücken sie sich. Oder was auch immer. Kneifen.

»Leck mich«, sagte ich, nicht ohne Bitterkeit, und drückte den Finger auf die Gabel. Zählte bis drei, ließ wieder los und fragte: »Ja?«

»Was? Kristof? Hat es bei dir schon geklingelt? Ich hatte gerade erst gewählt. Gibt es was Neues wegen meiner Motoren?« Heiner Sültenfuss. Ich klatschte mir an die Stirn. Nein. Leider nein. Doch ich blieb dran. Keine Sorge. Ehrlich.

Der nächste war ein Typ von der Zeitung. Ich kannte ihn, flüchtig. Am Telefon war er immer scheiße-freundlich, doch in den paar Artikeln, in denen ich es geschafft hatte, namentlich und im Zusammenhang mit meiner beruflichen Tätigkeit erwähnt zu werden, (anstelle von: >Unbekannter versenkt schwimmende Kunstobjekte< oder >Nächtlicher Anrufer droht Radiosender mit Anschlägen<), hatte er es noch jedesmal für nötig befunden, ein >halbseiden< vor meine Berufsbezeichnung zu setzen. Jetzt wollte er wissen, ob an den Gerüchten etwas dran wäre, daß ich in die Befreiung von Roselius verwickelt sei. Ich tat entsetzt, fragte panisch, wer ihm solche Informationen gegeben hätte und vertraute ihm schließlich mit halblauter Stimme und unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, meiner Ansicht nach stecke die Russenmafia hinter der ganzen Angelegenheit. Und nein, mehr könne ich unmöglich dazu sagen. So, tschüs. Halbseiden, mein Arsch.

Es war zur Zeit der Landesgartenschau gewesen: Irgendeine zwangsneurotische Künstlerin jenseits des Punktes, an dem man sich noch Sorgen macht, die Leute könnten einen für geistig instabil, krank halten, hatte unsere in auffallend ähnlicher Weise enthemmte Stadtverwaltung dazu gebracht, ihr nicht nur für eine unglaubliche Summe mehrere knallrote, riesige Plastikpimmel und -euter abzukaufen, sondern die peinlichen Dinger auch noch mitten auf dem allseits beliebten Thyssenteich zu verankern. - Jetzt hätte mir das ja wurscht sein können. Ich habe keinen Hund auszuführen, keinen Kinderwagen zu schieben und bin auch ansonsten kein großer Lustwandler. Aber der Sommer war heiß und mein LieblingsBiergarten liegt so, daß man auf dem Weg dorthin unweigerlich am Thyssenteich vorbeikommt. Und zurück erst recht .

Und diese ohne Erbarmen von morgens früh bis abends spät alle halbe Stunde ausgestrahlte, mit einem unerbittlich lustigen Schuhplattler unterlegte, bodensatz-bajuwarische Weißbierreklame macht mich winden. In Krämpfen. Wieviel kann man, wieviel muß man sich eigentlich bieten lassen? Ich frage mich oft, ob ich mit dieser meiner Rage alleine dastehe, oder ob da draußen nicht noch mehr, noch viel mehr Leute an der Grenze zum Ausrasten vor sich hinköcheln, lebende Zeitbomben, um den Verstand gebracht nicht zuletzt von der impertinenten Debilität der Radiowerbung. Bin ich wirklich der einzige, der je da angerufen und gedroht hat: »Noch einmal dieser Weißbierspot, und es gibt ein Blutbad!«? Wohl kaum. Nun denn, wenn der Tag kommt, an dem wir uns erheben, an dem wir die Sendemasten fällen und die Werbetexter lynchen, können sie zumindest nicht behaupten, sie seien nicht gewarnt worden.

Kaum aufgelegt, klingelte es erneut, und ich hatte Menden am Rohr. »Kryszinski«, sagte er, »wir haben den Overall gefunden. Sie wissen schon. Den einer der Täter getragen hat. Sie haben doch sicher den Fernseher laufen?« Ich machte ein zustimmendes Geräusch. Es klang ein bißchen rauh. Trockener Hals, irgendwie.

Roselius' Fahndungsfoto füllte den Bildschirm. Wäre da nicht dieser hilflose Gesichtsausdruck mit dem etwas schlaffen Kinn gewesen, ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. Bis zu seiner Bekanntschaft mit dem Haarkünstler der Anstalt muß er einen prächtigen Lockenkopf gehabt haben. Und Pausbacken. So, vom Foto her, hätte es einen nicht gewundert, wenn er hinter sich auf dem Rücken zwei kleine Flügel und eine Leier oder ein Füllhorn unter dem Arm geklemmt hätte. Vor allem aber sah er kein bißchen aus wie der durch die ärztlichen Heilmethoden der letzten Zeit gezeichnete Roselius, der sich in Oberhausen vor der Polizei versteckt hielt.

Dreitausend Eier waren ausgesetzt für >sachdienliche Hinweise<. Außenaufnahmen vom Christopherus-Asylum folgten. Nicht ohne ein leichtes Aufflammen von Stolz mußte ich bemerken, daß wir ein wirklich beeindruckendes, beinahe quadratisches Loch in die Wand gerissen hatten. Falls niemand auf die Idee käme, die gesamte Fassade neu einzuputzen, würden wohl noch meine Enkel auf die Einladung zu einem Sonntagsausflug mit der Entgegnung >Aber nicht wieder nach Ratingen, diese langweilige Wand angucken< antworten.

Sie ließen die Kamera über den Acker schwenken. Überall wieselten Bullen herum und klaubten jeden Mist auf und verpackten ihn in Tütchen. Zwei Standfotos folgten. Eins von dem Stück Mauer mit Gitterfenster, wie es so im Acker lag, und eines von der rußgeschwärzten, reifen- und fensterlosen Karosse, die von Schweinemästers Traum übriggeblieben war.

Viel, dachte ich, hätte beidesmal nicht gefehlt, und ich wäre jetzt mit drauf. Einmal nur meine Füße, wie sie unter dem Mauerstück hervorlugten, und einmal nur mein verkohltes Skelett auf dem Drahtgerippe des Beifahrersitzes.

Schließlich zeigten sie das, worauf ich wartete: Die unscharfen, nachträglich aufgehellten Nachtaufnahmen einer billigen Überwachungs-Videokamera. Ich rückte näher ran. Ein Kerl in einem dunklen Overall bugsierte eine bedauernswert dreinblickende Gestalt in einem weißen Kittel auf eine von draußen in den Raum hineinragende Leiter und stieß sie dann nach kurzen Verhandlungen mitsamt Leiter recht rüde in die Nacht hinaus, bevor er selber mit wehenden Hasenohren seiner Strumpfmaske in die Tiefe und damit aus dem Blickfeld der Kamera verschwand.

Es sah tatsächlich mehr nach einer Entführung als nach einer Befreiung aus.

Ich war schon ein Genie, auf meine Art. Alles, was ich jetzt noch machen mußte, war, diesen Det zu finden, zu identifizieren und ihm den Mord nachzuweisen und alles wäre in Butter. Einfach alles.

Ich hatte Menden in der Leitung fast vergessen, obwohl ich den Hörer noch am Ohr hielt.

»Und raten Sie mal, was wir in einer der Taschen entdeckt haben?«

»Ein notariell beglaubigtes Geständnis«, riet ich. »Eine Quittung. Auf Ihren Namen.«

»Donnerschlag«, sagte ich. »Wie konnte mir das nur passieren? Jetzt haben Sie mich. Ich gestehe alles.« Ich mag ja in vieler Hinsicht nicht alle Murmeln im Kästchen haben, aber so bekloppt bin ich nun auch wieder nicht.

Am anderen Ende der Leitung erklang ein kurzes, schwaches, tonloses Hecheln, etwas wie die Basisversion eines Lachens; die ohne Klimaanlage und Seitenairbags.

»Haben Sie sich das Video genau angesehen?« fragte Menden, nachdem er diesen Exzeß der Heiterkeit unbeschadet hinter sich gebracht hatte.

»Na, ja. Klar. Schließlich ist er immer noch mein Klient.«

»Fast drei Meter.«

»Fast drei Meter was?«

»Höhenunterschied. Fast drei Meter freier Fall bis runter auf den holprigen Acker. Der Kerl kann von Glück sagen, wenn er sich nicht die Knochen gebrochen hat.«

Urplötzlich spürte ich meinen Knöchel wieder. Mit aller Gewalt zerrte ich mir die Szene von vor einer Stunde wieder vor Augen: Ich komme zur Türe rein, Menden steht in meiner Küche, ganz in Betrachtung meiner Portraitsammlung versunken und wendet nicht einmal den Kopf ... Ich hatte mich voll darauf konzentriert, wach auszusehen, munter . An meine Füße hatte ich keinen Gedanken verschwendet ...

»Kam es mir nur so vor, oder haben Sie vorhin beim Reinkommen einen Fuß nachgezogen?«

Ich wußte es nicht zu sagen. »Jeder Mann würde nach einer Nacht wie der, die ich hinter mir habe, wohl ein wenig mit den Füßen schleifen«, meinte ich ausweichend.

»Ich habe gerade mit Bottrop telefoniert.« Aah, Themenwechsel. »Man sagte mir, Sie hätten so Ihre eigene Theorie zu dem Mordfall Siebert?«

»Ja«, sagte ich eilig. »Ich bin von Roselius' Unschuld überzeugt. Die ganze Sache wurde ihm außerordentlich heimtückisch angehängt. Und ich bin auch überzeugt davon, daß der wahre Täter frei herumläuft und in aller Seelenruhe dabei ist, den nächsten Mord vorzubereiten.« Ein kurzes Schweigen folgte. Mein Ohr wurde langsam heiß. Ich lockerte den Griff etwas, mit dem ich den Hörer dagegenpreßte. Das hier war kein Gespräch, das war ein Balanceakt.

»Schön und gut«, meldete sich Menden schließlich wieder. Er klang einigermaßen nachdenklich. »Doch selbst angenommen, Sie hätten recht. Und nicht nur das -angenommen, es war tatsächlich so und die Wahrheit käme heraus, Roselius würde entlastet - da bliebe immer noch der Tatbestand der Gefangenenbefreiung. Wissen Sie eigentlich, was darauf steht?«

»Irgendwie«, sagte ich, »habe ich so ein Gefühl, daß man niemals dahinterkommen wird, wer das gemacht hat.« Wenn unser Bernd eines gut kann, dann den Mund halten.

»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen«, meinte Menden, und wir hängten auf.

Manchmal, wenn man genau an der Kante zum Meer am Strand steht und einem eine Welle über die Füße schwappt, kann man spüren, wie einem beim Ablaufen des Wassers der Sand unter den Füßen weggespült wird. Genauso, hatte ich das Gefühl, erging es mir im Moment mit der verbleibenden Zeit. Alle Welt schien nicht nur anzunehmen, nein zu wissen, daß ich Roselius befreit hatte und alle schienen sich obendrein einig, daß es über kurz oder lang zwangsläufig ans Licht kommen würde, wenn ich nicht gar selber damit herausrückte. Freiwillig oder auch nicht. Dies war eine absolut kuriose Situation, und ich würde in den nächsten Tagen wie ein Verrückter herumrennen und gleichzeitig höllisch aufpassen müssen, wohin ich meine Füße setzte.

Schrriiinngg! »Mußtest du mich da mit reinziehen?!«

Zora. »Weißt du nicht, was für ein heuchlerischer Moralkodex in diesem Macho-Verein herrscht? Kerle, die herumficken, brüsten sich noch damit und werden als tolle Hechte angesehen, doch Frauen, die mehr als nur einen Liebhaber pro Jahr haben, sind automatisch Schlampen. Hättest du nicht wenigstens mal kurz Rücksprache mit mir halten können?! Daß ich die Nacht mit einem Verdächtigen verbracht habe, wird meiner Karriere ungefähr so förderlich sein wie ein nicht zu kaschierendes Alkoholproblem.«

»Mann«, sagte ich, vielleicht ein bißchen weinerlich, »die haben mich echt unter Druck gesetzt! Mit Privatdetektiven springen die nicht gerade zimperlich um. Ich hatte nur die Wahl, entweder deinen Namen zu nennen oder auf direktem Weg ab in die Zelle zu wandern. Was sollte ich tun?«

»Ja«, echote sie mit einiger Bitterkeit in der Stimme, »was solltest du tun? Kristof«, sagte sie dann und es klang plötzlich zischend, bedrohlich, »ich möchte, daß du eines begreifst: Sollte ich jemals dahinterkommen, daß du mich nur benutzt hast, dann, und das schwöre ich dir, dann mach ich dir das Leben zur Hölle!«

»Hee«, säuselte ich beschwichtigend, »ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst: Schließlich ist es doch deine Idee gewesen .« Doch sie hatte schon eingehängt.

Hu! Hier hatten wir, wie es aussah, eine weitere, vielversprechende Liebesgeschichte, die schon in den Startlöchern zu verrecken drohte. Vielleicht sollte ich rasch ein paar zarte Zeilen aufsetzen? Ein paar Blumen dranbinden? Beides zusammen persönlich überbringen und ein wenig auf den Knien herumrutschen? Vielleicht.

»Warten die auf dich, da draußen?« fragte Bernhard mit kaum verhohlenem Ärger, als ich bei ihm klopfte. Ich drückte mich an seinem brummigen Gesicht vorbei, stellte mich hinter einen Vorhang und spähte auf die Straße hinaus. Ein Opel Astra, viertürig, dunkelrot, parkte unauffällig vor dem Haus, und zwar so, daß die beiden Insassen unauffällig das Kommen und Gehen in der >Endstation< im Auge behalten konnten. Da die Kneipe das einzige Gebäude an dieser Straßenecke ist und um diese Uhrzeit noch geschlossen hatte, bildete der Opel somit das einzige parkende Auto weit und breit, abgesehen von Bernhards Kombi und meinem Schmuckstück. Soviel zu >unauffällig<.

»Ist natürlich toll fürs Geschäft, die Bullen direkt vor der Türe sitzen zu haben.«

Ich versprach, sie ihm im Laufe des Abends irgendwie vom Hals zu schaffen. Und wenn ich mit ihnen spazierenfuhr. Doch erstmal mußte ich ungesehen aus dem Haus.

»Ich muß runter«, sagte Bernhard. »Die Luke aufmachen. Der Cola-Lieferant müßte jeden Augenblick hier sein.«

»Ich komm mit«, sagte ich. »Ich hol nur noch eben meine Jacke.«

»Er schläft«, sagte Patsy mit Gefühl, schloß leise die Türe hinter mir und trollte sich auf Zehenspitzen in die Küche. (Die Schürze stand ihr gar nicht mal schlecht.) Junge Mütter sagen das so, halb seufzend: »Er schläft.« Wärme, Stolz und ein wenig Erleichterung schwingen dann mit in diesen beiden Silben. Bei Patsy schwang sogar noch ein bißchen mehr mit: >Wage es, ihn zu stören, und du lernst mich kennen!< Ja, ehrlich. Sie sprach es nicht aus, aber es schwang mit, unmißverständlich.

So geht es mir dauernd: Da nehme ich im Grunde unbegreifliche Mühen und Risiken auf mich, einzig und allein zu dem Zweck, mich mit diesem Typen in aller dringend notwendigen Länge und Breite unterhalten zu können, und dann komm ich da hin, und der Kerl liegt auf dem Sofa und ratzt, schön gemütlich eingemuckelt unter einer Wolldecke und bewacht von dem menschlichen Äquivalent zu einer Bärenmutter mit Zahnweh.

»Er pennt schon den ganzen Tag«, meinte Scuzzi.

»Zwischen den Mahlzeiten, zumindest. Und ich brauche hier nur mal soviel wie zu niesen, und schon kommt sie um die Ecke, blickt mich an wie einen Mörder, und das Kartoffelschälmesser zittert in ihrer Hand.«

»Ja, sie kocht. Und ich meine kochen«, sagte er und hackte mit einer kleinen Klinge auf ein wenig weißes Pulver vor ihm auf dem Schreibtisch ein. »Keine aufgewärmte Tiefkühlkost. Nichts, was man nur eben in den Herd oder die Mikrowelle schieben muß und >Ping<, fertig. Auch kein Dosenfraß, keine Tütensuppe. Sie war richtig einkaufen, beim Türken, auf dem Markt. Salat, Gemüse, Sahne, Fleisch. Lauter frische Sachen. Es ist erstaunlich.« Er zog das kleingehackte weiße Pulver mittels eines Röhrchens erst in das eine, dann das andere Nasenloch. Schnüffelte ein bißchen, schmatzte kurz mit den Lippen. Lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und steckte sich einen Joint an. Hielt ihn mir hin, doch ich winkte ab.

»Nein?« fragte Scuzzi. »Auch gut. Wo war ich? Ah ja. Und der Grund, ja genau, warum mich das alles so erstaunt, ist der -« Er sah mich nachdenklich an. »Patsy wohnt hier seit fast einem Jahr, doch bis heute wußte ich noch nicht mal, daß sie überhaupt kochen kann.«

Ich ließ mich in einen Sessel fallen, lehnte den Kopf zurück und starrte die Decke an.

»Was schätzt du, wann er das nächste Mal die Döppen aufmacht?«

Scuzzi zuckte die Achseln, sah auf seine Uhr. »So in circa zwei Stunden sollte es Abendbrot geben. Frühstück und zweites Frühstück hatten wir schon; Mittagessen auch, dann Kaffee und Kuchen und gegen fünf ein paar Käsehäppchen und Sandwich-Ecken. Wenn das so weitergeht, bin ich in nicht ganz vier Wochen fett wie ein Buddha.«

»Und wie ist er so, wenn er nicht pennt?«

Wieder dieses Achselzucken. »Müde, würd ich sagen. Fertig, ganz sicher. Geschafft. Du merkst ihm an, daß er in letzter Zeit einiges mitgemacht hat. Im Augenblick ist er ruhig, doch manchmal stöhnt und wimmert er im Schlaf, daß es einem durch und durch geht. Ich stimme ja selten mit ihr überein, doch im Moment scheint es wirklich das Beste zu sein, ihn schlafen zu lassen.«

Schöne Scheiße, dachte ich.

Scuzzi konsultierte den draußen vor seinem Fenster montierten, gewölbten Lkw-Außenspiegel.

»Wie bist du hergekommen?« fragte er. »Ich seh deinen Haufen gar nicht.«

Ich schilderte ihm kurz mein Entweichen als Blinder Passagier auf der Ladefläche eines Cola-Lasters und dann, in allen Einzelheiten, wie oft und von welchem Verkehrsmittel in welches andere ich anschließend hatte umsteigen müssen und was man mir dafür abgeknöpft und wie lange die ganze Prozedur gedauert hatte. »Und hier«, schloß ich mit einer Frage, »irgendwelche Vorkommnisse?«

Scuzzi nahm den Blick von seinem Spiegel und schüttelte den Kopf. »Alles ruhig. Ah, da fällt mit etwas ein: Heckenpennes hat angerufen. Er läßt sich entschuldigen, hat irgendwelche Probleme mit seinem Programm. Will sich aber wieder melden.«

Heckenpennes. Ja. Das brachte eine kleine Kette von Gedankengängen in Schwung, an deren Ende ich mich mit der Hand in der Innentasche meiner Lederjacke wiederfand. Meine Finger umfaßten den kleinen Bilderrahmen, zogen ihn ans Licht. Der Doktor und seine an sieben Jahre Dürre und die Freuden der Entsagung gemahnende Gattin starrten mich an. Wegen dieses Fotos hatte, wenn ich mich nicht irrte - was immer drin ist - wegen dieses Fotos hatte jemand - hatten zwei Mann - sich der Mühe unterzogen, mein Auto zu durchwühlen und waren sogar so weit gegangen, zu versuchen, in meine Wohnung einzubrechen. Wenn ich mich nicht irrte. Ich machte eine mentale Notiz, heute abend noch mal in der >Endstation< vorbeizuschauen und ein paar Worte mit Bernhard zu wechseln. Ich hatte immer noch keine Beschreibung der beiden Typen, doch ein Gefühl sagte mir, daß einer der beiden einen Bart trug und der andere ordentlich Fleisch auf den Rippen hatte.

Es mußte einen Wert besitzen, dieses Bild, der weit über das Materielle hinausging. Und zwar für den Doktor, für ihn ganz persönlich. Erinnerungen? Vielleicht war der hagere Säbelschnabel verblichen, und der grundgute Doktor zerdrückte eine Träne im Knopfloch, jedesmal wenn er sich und das Foto allein und unbeobachtet wußte? Nostalgische Tränen beim Gedenken an glücklichere Tage? Die Vorstellung war grotesk. Der Doktor war kein Typ für Sentimentalitäten, und seine Gattin war nicht der Typ, vor irgend jemandem zu sterben. Oh nein. Sie war, zumindest vom Bild her, genau die Sorte von Familientyrannin, die praktisch die gesamte Verwandtschaft überlebt, dann kurz vor knapp noch das Testament ändert und alles der Kirche vermacht und schließlich mit über Hundert im Altersheim unter einem Kissen erstickt werden muß, damit der Terror endlich ein Ende hat.

Ein Geräusch tiefster Agonie ging durch den Raum, ein Stöhnen wie aus einem offenen Grab. Scuzzi und ich sahen uns ruckartig an. »Das war es, was ich meinte mit >durch und durch<«, sagte er.

Roselius warf sich auf der Couch hin und her, stieß einen angstvollen, klagenden Ton aus, erwachte mit einem Ruck und setzte sich mit schreckgeweiteten Augen auf.

»Wir sind's nur«, sagte ich.

Er sah mich an und sackte ein bißchen in sich zusammen. Mag sein, er war erleichtert. Mag sein, andere Sorgen hatten ihn bei meinem Anblick eingeholt. »Ich hatte einen gräßlichen Traum«, murmelte er, beinahe entschuldigend. Er war schweißgebadet. Patsy beugte sich mit einem Handtuch über ihn.

»Etwas Tee?« fragte sie und rieb ihm den Kopf und den Nacken ab. »Und ein paar Kekse, vielleicht?« Mit einem Lächeln voll tiefer, ehrlicher Dankbarkeit sah er zu ihr hoch und nickte. Und Patsy flog nur so davon in die Küche.

Also, ich würde das erste Glied vom kleinen Finger meiner linken Hand opfern im Tausch für die Gabe, so zu lächeln. Ich kann das nicht. Bei mir wird irgendwie immer ein Grinsen daraus. Ein bißchen dreist, ein bißchen verschlagen, ein bißchen dämlich, immer schief. Manche Frauen stehen da drauf. Andere nicht. Es braucht ein Lächeln, ein Lächeln wie das von Bernd Roselius, um sie alle weich zu machen, jede einzelne, egalweg. Selbst bei mir löste es etwas aus. Sogar zweierlei. Ich brauchte einen Moment, um dahinterzukommen, doch dann traf es mich, und die Erkenntnis machte mich -grinsen, ja. Einerseits war ich mehr als nur ein bißchen gnatzig darüber, wer hier dankbar angelächelt und wer mit so einem >Uff, er nu wieder< -Blick bedacht wurde. Doch das hakte ich ziemlich rasch ab mit der ganzen Weisheit meines reifen Alters. Denn, machen wir uns nichts vor: Keine Schürze würde mir jemals so gut stehen wie Patsy ihre. Und etwas ganz anderes, wurde mir klar, war sowieso wichtiger als persönliche Empfindlichkeiten. Ich spürte, wie ich so erste Anzeichen zurückkehrenden Lebens bei ihm beobachten durfte, mit überraschend tiefer Zufriedenheit, wie richtig es gewesen war, ihn rauszuholen.

Tee und Gebäck wurden gereicht. Ich kam zu einem Entschluß.

»Bernd«, sagte ich zwischen schlürfenden Schlückchen und knabbernden Bissen, »wir werden uns unterhalten müssen.« Er nickte. Patsy wollte etwas einwenden, doch ich stoppte sie mit der Hand. Bei all meiner Erhabenheit über persönliche Empfindlichkeiten fing sie doch so allmählich an, mir auf den Drissel zu gehen mit ihrer Gluckenhaftigkeit. Ich beugte mich in meinem Sessel vor und sah ihm ins Gesicht. Es war dermaßen bleich, daß er aussah wie geschminkt. Und zum Schluß dann noch mit dem Daumen zwei dicke schwarze Halbmonde unter die Augen geschmiert. Kein Zweifel, er war nicht in der Verfassung für lange Interviews.

»Nur eine Frage«, log ich, um Patsy zuvorzukommen: »Kennst du Dets Nachnamen? Nicken oder Kopfschütteln reicht erstmal.«

Mein Tee war kalt, als das Kopfschütteln kam.

»Weißt du, wo er wohnt?«

Ich hatte ihn ausgetrunken, kalt oder nicht, da kam das zweite Kopfschütteln.

»Gut«, log ich. »Eine letzte Frage. Laß dir Zeit. Kannst du mir ein Lokal, einen Ort nennen, an dem Det sich regelmäßig aufhält? Einen Ort, wo er immer wieder hingeht?«

Here we go again, dachte ich. Das ganze, bleiche Gesicht geriet in Bewegung wie ... Wie der Tee in der Tasse, wenn man draufpustet. So ungefähr. Nur länger. Zeitlich gesehen. Ulrich Wickert hätte Zeit gehabt, einen Vortrag über das betörende Wesen französischen Käses zu halten, bis Roselius endlich den Mund aufmachte. Roman Herzog hätte eine aufrüttelnde Rede darüber halten können, warum das ganze Gejammer nichts nutzt, wenn man kriegt, was man verdient, nachdem man wieder und wieder den gleichen Pfälzer Klotzkopf zum Kanzler gewählt hat, in der Zeit, die es brauchte, bis Bernd Roselius den Mund aufmachte und mit der ersten, der allerersten brauchbaren Information herausrückte, seit ich das erste Mal eine Frage an ihn gerichtet hatte.

Im Nieselregen stapfte ich zur Bushaltestelle. Das Wetter war umgeschlagen, wie immer, wenn ich ohne Auto unterwegs bin. Doch solange die Bullen daheim die Carina bewachten und mich in meiner Wohnung wähnten, solange konnte ich mich völlig frei bewegen und meiner neuesten Spur nachgehen, ohne die ganze Zeit von einem lästigen Schatten verfolgt zu werden. Trotzdem dachte ich daran, daß es vielleicht gar nicht so verkehrt wäre, mich zu verkleiden.

Der Bus kam, um mich zum Oberhausener Bahnhof zu bringen. Ich hatte eine bestimmte Verkleidung im Kopf, doch keine Vorstellung, wie ich sie beschaffen sollte. Während ich grübelte, sah ich mich um. Die Leute im Bus waren, wie es normal ist, zum größten Teil schon älteren Kalibers. Wo - das habe ich mich schon oft gefragt - wo, jetzt mal ganz im Ernst, kaufen die eigentlich ihre Klamotten? Wo ist die Boutique, in der die Farben des Regenbogens zu 99% aus Brauntönen bestehen? Wo bekommt man Basthüte ä la Erich Honecker her, geblümte Kleider im Eierwärmer-Schnitt, wo sandfarbene Hosen mit Bügelfalten und graubeigebraunschwarz kleinkarierte Oberhemden mit - halbem Arm? Wo, um alles in der Welt, gibt es diese phantastischen Sandalen? Fast hätte ich angefangen, herumzufragen ('tschuldigung, aber dieses Jackett mit den herrlichen, hängenden Schultern und in diesem leuchtenden Bratwurst-Umbra, wo haben Sie das gekauft und, nur unter uns, wieviel haben Sie dafür gelatzt?), aber es war eh schon nach Acht und wenn, dann brauchte ich die Sachen noch heute. Vor allem auf so eine Hose war ich wild. Großzügig in jeder Hinsicht - allein in der Höhe bis unter die Achseln gehend und in der Länge unten noch mal umgeschlagen -strahlen sie einen lässigen Umgang mit dem Material aus, den höchstens ein Kaftan noch überbieten könnte. Sandalen hatte ich möglicherweise sogar selber noch welche, fiel mir ein, in meinem Fundus unterm Bett. Zwar nur das altertümliche, zehenfreie griechisch-römische Modell und nicht das hochmoderne deutsch-deutsche Design (vorne halbrund, kunstvoll geflochten und nur hintenrum richtig offen bis auf einen sexy Lederriemen mit Schnalle), aber geschickt kombiniert mit den richtigen Socken und der passenden Hose dürften sie trotzdem ihre Wirkung nicht verfehlen.

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verbohrte ich mich in meine Idee. Ich mußte so eine Hose haben, unbedingt! Alles schien plötzlich davon abzuhängen.

Der Bus hielt, und die meisten Fahrgäste kraxelten ins Freie. Gegenüber war ein Altersheim. Wir zockelten weiter durch eine graue Vorortstraße unter einem grauen, sich ganz allmählich ins nächtliche Dunkel abdimmenden Abendhimmel. Wir stoppten an einer Ampel. Draußen fischte ein Berber in einem Altglascontainer nach Schnapsflaschen, neben ihm stöberten zwei Halbwüchsige in einem Papiercontainer nach Fickheften.

Jesus, dachte ich, wie nötig muß man es haben, um so weit zu - Mit einem Satz war ich an der Türe. »Lassen Sie mich raus!« rief ich dem Fahrer zu.

Zwischen den Haltestellen sei das verboten, informierte er mich.

»Mir platzt die Blase!« schrie ich. >Psssccchhhh!< ging die Türe auf, und ich sprang raus; krempelte mir den Ärmel hoch und machte mich ohne Zögern an die Arbeit.

»Ey, Bruder«, laberte mich der Berber von der Seite an.

»Das brauchsse doch nich mehr machen! Hasse noch nix von der Kleiderkammer bei der AWO gehört?«

Ich wühlte, prüfte, verwarf, wühlte weiter.

»Da-da kannze die Brocken sogar annprobiern. Unnn Watt nich paßt, gibbse zurück.«

»Verpiß dich«, sagte ich. Neun von zehn Sachen, die mir in die Finger fielen, sahen beinahe ungetragen aus. Alle, wirklich alle, waren frisch gewaschen.

»Kumma die Jeans hier«, fuhr der Berber ungerührt fort, »die ich anhab! Sche-schee-viingong! Ausse Kleiderkammer! Mit Knöppe vorne, anstelle vonn Reißverschluß. Hier, siehsse? Knöppe. Die iss echt! Da hat mir einer schon fuffzich Mark für geboten! Fuffzich auffe Kralle!«

»Verpiß dich«, wiederholte ich, ohne rechte Überzeugung. Staunend zog ich einen letzten Schrei nach dem anderen ans trübe Licht. Lauter letzte Schreie der letzten Jahre.

»Doch ich sach zu dem, ich sach: Watt soll ich mit deinen fuffzich Mark, unn dann steh ich hier ohne Buxe? Da sackt mich die Schmiere doch sofort ein, wenn ich hier ohne Buxe rumrenn! Da stecken die mich doch gleich innt Loch, sarich, unn watt soll ich dann mit deine fuffzich Mark?«

»Ha!« entfuhr es mir. Ich hatte schon nicht mehr dran geglaubt. Erdfarben, ordentlich zusammengefaltet, die Bügelfalten messerscharf, der Bund einstellbar; genau das, wonach ich gesucht hatte. Ich preßte sie mir vor den Bauch, sah dran herunter: gerade lang genug.

»Spitze«, sagte ich.

»Also«, meinte der Berber mit kritischem Blick, »also ich«, meinte er und machte einen Schritt zurück, »also ich möchte nich tot unn verwest gesehen werden in sonner ollen Oppa-Buxe!«

In der >Endstation< herrschte kaum Betrieb. Bernhard war eben kurz weg, ein Ersatzteil für die Zapfanlage besorgen. Ich ging nach oben, mich umziehen.

Unterm Bett habe ich einen Koffer, da sind Klamotten drin, die habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr angehabt. Sandalen! Sie wirkten ein wenig morsch, doch für eine Nacht, entschied ich, würden sie schon noch halten. Dazu braune Nylonsocken, meine neue Hose. Ich hastete zum Spiegel. Wenn ich jetzt obenrum nicht etwas vorsichtiger zu Werke ging, mußte ich aufpassen, daß sie mich nicht mit einem Netz von der Straße wegfingen. Also zog ich ein Tote-Hosen-T-Shirt über und pustete im Flur den Staub von einem ebenfalls seit Jahren vernachlässigten, leicht verschlissenen Blouson. Zurück vor dem Spiegel kämmte ich mir noch mit viel Wasser einen gewagten Seitenscheitel, dann trat ich zurück, um mich in voller Größe zu bewundern. Lonesome Lothar griente mich an, genannt Lodda, der Mofa-King. Lonesome Lodda, der Grapscher mit den feuchten Händen. Lonesome Lodda, der Tänzer mit den großen Füßen. Lonesome Lodda, der Aufreißer mit dem Charme einer Margarineknifte.

»Und komm-mir nich wieder so spät nach Hause«, keifte ich mit hoher Stimme.

»Nein, Mutti.«

»Und dasse mir bloß nich wieder sonne Schlampe hier anschleppst!«

»Nein, Mutti«, grummelte ich. »Sei unbesorgt.« Und nach einer letzten probeweisen Grimasse machte ich mich auf die Socken. Die Nacht war jung und ich brannte darauf, irgendeine Form von Resultat zu erzielen. Wenn ich schon Det nicht finden konnte, vielleicht konnte ich es ja so hinbiegen, daß Det mich fand? Versuch macht kluch, wie man bei uns sagt.

Unten sprang ich mit einem Satz in die Carina, startete und hatte schon eingekuppelt, ehe der Motor auch nur einmal richtig hochgedreht hatte. Erst nach zwanzig Metern schaltete ich das Licht an und riß den Wagen um eine Straßenecke, beschleunigte zügig.

Mit dem leicht panischen Ausdruck, den Scheinwerfer im Rückspiegel bekommen, wenn der Fahrer hinter einem heftig aufs Gas tritt, schloß sich mir ein anderes Auto an. Wild schlingernd bog ich um die nächste Ecke.

Ich weiß, was ich den Jungs schuldig bin. Man kann sie nicht den ganzen Tag in ihrem Auto hocken und Däumchen drehen lassen. Das ist nicht nett. Und man kann sicherlich nicht alle paar Stunden nach Hause kommen, ohne dem Anschein nach je das Haus verlassen zu haben. Das macht sie stutzig. Also hatte ich beschlossen, uns ein bißchen Bewegung zu verschaffen. Und Bernhard würde es auch freuen. Na, damit war doch allen gedient.

Bis nach Essen hielten sie wacker mit. Zweimal verschleppte ich das Tempo vor großen Kreuzungen, bis es so gerade eben Rot geworden war, bevor ich durchstartete, und einmal, auf der Autobahn, schoß ich im letzten Augenblick in eine Ausfahrt, nur um direkt danach wieder aufzufahren, doch, wie gesagt, sie hielten wacker mit.

Dann wurde es Zeit, sie loszuwerden. Wenn ich in Essen bin, fahre ich immer in das gleiche Parkhaus, das über der Aral-Tankstelle. Ich zog mir ein Ticket an der Schranke, jagte mit quietschenden Reifen zwei, drei Etagen hoch, stoppte dann abrupt direkt neben dem Treppenhaus, hastete hinein, drückte den Knopf für den Aufzug, der sich auch brav summend in Bewegung setzte, hastete dann auf leisen Sohlen eine Etage höher, überquerte im Eiltempo das Parkdeck, wetzte die Stufen des anderen Treppenhauses hinunter und trat hinaus in eine kaum beleuchtete Seitenstraße.

»Jetzt ein Bier!«, versuchte ich mich für die kommende Aufgabe in Stimmung zu bringen.

Wenn es etwas gibt, gäbe, das die Essener Innenstadt architektonisch prägt, dann ist es das krasse, dichte Nebeneinander von hellsten Ladenfronten und düstersten Ecken. Egal, wo man sich gerade aufhält, auch vor den besten Lagen, es braucht in den seltensten Fällen mehr als hundert Schritte bis zu einem nach Pisse stinkenden Treppenabgang, in dem Punker sich Seite an Seite mit Pennern ins Koma saufen, wenn nicht ein bewußtloser Junkie mitten im Weg liegt oder eine hohlwangige Vierzehnjährige im Plastikmini auf- und abstöckelt. Heil unten angekommen landet man dann zumeist in einer vor Verkehrslärm dröhnenden Unterführung, wo es keinen interessiert, sollte einer Horde Hirntoter deine Visage nicht gefallen. Und mitten in einem dieser schwach beleuchteten, ebenso langen wie breiten Tunnel, wo kein Tropfen Regen jemals hinkommt, um den Asbeststaub und den Dieselruß wegzuwaschen, mitten drin, eingelassen in eine abgasgeschwärzte Wand voller halbabgerissener Plakate, mittendrin leuchtete matt die Neonreklame des >Bierbrunnen<. Hier sollte es sein.

Du bist bescheuert, sagte ich zu mir und stemmte die Türe auf, denk dran.

Es war nicht unbedingt die Höhle des Löwen. Der Mief, die Feuchtigkeit, die ganze überheizte Schwüle erinnerten mich mehr an ein Affenhaus. Wenn sie die Affen rauchen ließen. Und saufen, natürlich. Das Gemurmel ringsum verebbte allmählich, wie ich so in der Tür stand und mich im Dreivierteldunkel zu orientieren versuchte. Eine Handvoll Vierzig-Watt-Birnen fochten einen aussichtslosen Kampf gegen den unablässig aufsteigenden Rauch.

»Mach Tür zu«, sagte schließlich einer, und ich ließ den Knauf los und stolperte in die Richtung, in der ich die Theke ausgemacht zu haben glaubte. Der Laden war nicht groß, aber durch zahlreiche dicke Säulen, haufenweise halbblinde Spiegel, willkürlich abgeteilte Separees und natürlich nicht zuletzt die fehlende Beleuchtung reichlich unübersichtlich. Vielleicht fünfzig mehr oder weniger abgerissene Gestalten beiderlei Geschlechts teilten sich den letzten, verbliebenen Sauerstoff. Eine Beschreibung, fiel mir auf, wie sie auch ans Ende des letzten Kapitels der Geschichte der Menschheit passen könnte.

Kaum war die Türe zugefallen, hob sich der Pegel des allgemeinen Gemurmeis wieder auf Normalmaß. Ich setzte mein schwachsinnigstes Grinsen auf und torkelte ein bißchen umher. Niemand nahm groß Notiz von mir. An der Theke angekommen, baute ich mich auf, wippte auf meinen Sandalen vor und zurück, startete eine Partie Taschenbillard und sah allen Umstehenden freundlich grinsend ins Gesicht.

»Mambo«, sagte ich. »Wambo.«

»Was willst du trinken?« fragte der Wirt mit einem Gesicht wie ein Halloween-Kürbis und einer Stimme wie eine Muskatnußreibe.

»Hoho!« stieß ich hervor und verdrehte die Augen.

»Haha!«

»Was du trinken willst«, fragte der Wirt um einiges lauter und akzentuierte seine Worte, indem er mit seinem Siegelring auf die Theke klopfte. »He! Du! Ich rede mit dir!«

Wie peinlich berührt sah ich von ihm weg, nahm meine Rechte aus der Hosentasche, hielt sie dem Nächstbesten vor die Nase und bewegte sie, als drehte ich einen imaginären Gasgriff.

»Hrmmm, hrrrmmm«, machte ich. »Zündapp!«

»Also was ist jetzt?!« brüllte der Wirt. »Pils oder Alt oder was?!«

»Du mußt was trinken«, sagte der Nächstbeste zu mir und drückte meine Hand gleichmütig aus seinem Gesichtsfeld. »Sonst fliegst du hier raus. Sag lieber, was du willst. Pils?«

Ich zuckte die Achseln, machte ein tief besorgtes Gesicht und zog mein Linke aus der Hosentasche, hielt sie ausgestreckt vor mich hin und sah fragend auf die paar Münzen in der Handfläche. Der Nächstbeste sortierte sie kurz mit dem Zeigefinger, klaubte dann ein Markstück und ein bißchen vom anderen Schrott heraus, sagte: »Ja, das reicht«, zu mir und »Mach ihm 'n Pils!« zum Wirt.

»Und mir auch noch eines!« Dann drehte er sich wieder zu mir. »Theo ist 'ne Natter«, vertraute er mir halblaut an und zog die Glut seiner Zigarette ein Stück in den Filter hinein. »Vor dem mußte dich in acht nehmen.«

Ich nickte ausdauernd wie ein Stoffhund auf der Hutablage eines Fords. Nebenbei sah ich ihn mir kurz etwas genauer an. Sein Haarschnitt war Scheiße, seine Rasur war Scheiße, seine Klamotten waren Scheiße, aber er selbst schien gar nicht so übel zu sein. Zumindest hatte er mich nicht um einen Pfennig beklaut. Wahrscheinlich einer von denen, die einfach nur Pech gehabt haben.

Unsere Biere kamen, und wir prosteten uns zu. »Wolfgang«, stellte er sich vor und schickte, als ich wieder nur anhaltend vor mich hinnickte, »und wie heißt du?« hinterher.

»Lodda«, sagte ich, voller Stolz, »Zündapp-Lodda.«

Damit legte ich den Kopf schräg, setzte das halbvolle Bierglas an mein Ohr, kippte mir ein bißchen Bier über Ohrläppchen und Hals, machte dazu ein gluckerndes Geräusch mit der Zunge, nahm das Glas wieder runter und den Kopf wieder hoch und ließ einen mächtigen Rülpser von der Kette.

Links von mir setzte jemand mit einem Krachen seinen Humpen ab und prustete mindestens einen Viertelliter Bier schäumend quer über die Theke. »Habt ihr das gesehen, Leute«, brüllte er, kaum wieder bei Atem, außer sich, »der Typ hier säuft mit dem Ohr!«

Und mit einem Schlag war ich ein Star. So kann's geh'n im Showbusineß. Umgeben von einer Meute von Fans grinste ich mein Grinsen, lallte mein Mambo! oder Wambo!, zuckte die Achseln und zeigte mein Kleingeld herum und einer fand sich immer, der hinging und mir ein Bier holte. Dann stieß ich wahllos mit irgend jemand anderem an, nahm einen Schluck, sagte >Lodda!<, legte den Kopf auf die Schulter, kippte mir etwas Bier in den Jackenkragen, machte >Gluckgluckgluck< dazu und rülpste gehaltvoll, sobald ich damit fertig war. Es brachte sie um. Jedesmal. Als ich dann noch meinen Blouson aufzippte und mein T-Shirt von den Toten Hosen vorzeigte, war es ganz vorbei. Ich bin mir sicher, daß es ein paar von ihnen warm die Beine heruntergelaufen ist vor Lachen.

Ach so. Hatte ich das noch nicht erwähnt? Es war das legendäre BUMSEN FICKEN BLASEN-Motiv.

Nur jemand, der jemals die Süße des Applauses gekostet hat, wird verstehen können, daß ich tatsächlich drauf und dran war, in meiner Rolle aufzugehen und mich möglicherweise komplett vergessen und kolossal und bombig amüsiert hätte, wenn nicht die ganze Zeit über, immer so am Rande meines peripheren Sehvermögens, will heißen immer irgendwie in meinem Augenwinkel, mal ganz links, mal ganz rechts, jedoch, egal wie ich mich drehen und wenden mochte, nie vor mir, nie richtig sichtbar, nie greifbar, so ein kleiner Typ mit Sonnenbrille um mich herumgeschlichen wäre.

Möglich, daß er mir ohne die Sonnenbrille gar nicht aufgefallen wäre. Aber es war so schon so dermaßen duster in dem Schuppen, daß man sich automatisch fragte, wie er es schaffte, durch die schwarzen Gläser überhaupt noch etwas zu erkennen.

Mit einer Hand am Reißverschluß meiner Hose löste ich mich von meinem Publikum und, vorgebend, den Pott zu suchen, schwankte ich kreuz und quer durch die Kneipe und versuchte gleichzeitig, den Typen ins Blickfeld zu bekommen.

Das war gar nicht einfach. Nein, in Wahrheit stellte es sich als so gut wie unmöglich heraus. Ich konnte meine übertrieben ratlos suchenden Blicke richten, wohin ich wollte, die wieselige kleine Gestalt glitt immer an den Rand, wie die Spiegeleier der Frau, die ihren Mann mit der Pfanne erschlagen hat.

Als ich vom Klo zurückkam, sah ich ihn zufällig gerade noch durch den Ausgang schlüpfen. Sofort beeilte ich mich, hinterherzukommen.

»Hey, Lodda!« rief mir noch einer nach, doch da war ich schon an der Türe, und im nächsten Moment stand ich draußen. Allein.

Das war unbegreiflich. Selbst ein Weltklassesprinter hätte es in den paar Sekunden, die es mich gekostet hatte, die Kneipe zu durchqueren, nicht schaffen können, bis zu einem der beiden Tunnelausgänge links und rechts zu rennen. Und quer über die sechs Spuren tosenden Verkehrs auch nicht. Und trotzdem stand ich da allein.

Pauschal kann man glaube ich sagen, daß zwei bis drei Liter Pils beim raschen Denken ungefähr so hilfreich sind wie eine angezogene Handbremse beim Autofahren, und so fiel mir denn in meiner ersten Verwirrung nicht viel Besseres ein, als mich ein paarmal leicht schwankend um meine Achse zu drehen und ratlos in alle Richtungen zu starren. Abgesehen von der Kneipe war nirgendwo in der Wand eine Türe eingelassen, es gab wirklich und wahrhaftig nur die beiden Auswege nach links und rechts und keine einzige Möglichkeit, sich zu verstecken, außer ...

Außer, er hätte sich über die Leitplanke geschwungen und dahinter geduckt. Ich schluckte. Mir war wie in den bangen Momenten, bevor ich den Deckel von der Transportkiste mit der Katze nehmen muß, nicht wissend, ob sie klein und kläglich maunzend in einer Ecke hocken oder sich mir wie eine kreischende Furie mit ausgefahrenen Krallen ins Gesicht katapultieren wird.

Ich mimte ein Würgen und beugte mich zögerlich über die dreifach überhöhte Leitplanke. Ich würde so tun, als sei mir übel, und sollte der Typ tatsächlich auf der anderen Seite hocken, mich verwirrt lallend entschuldigen.

Vorsichtig linste ich über die Kante, blies schon mal die Backen auf, beugte mich weiter vor, mein Herz schlug wild -jeden Augenblick könnte der Kerl aufspringen und Buh!! machen oder sonstwas - doch da war niemand. Die zerfetzten Reste eines Warndreiecks lagen da, ein verbogenes Wischerblatt, sonst nichts. Unbegreiflich.

Scheiße, dachte ich, rotzte in den Staub und trollte mich mit langsamen, etwas ziellosen Schritten, jetzt kannst du morgen wieder hier hin und den Laffel machen. Meine ganze rechte Hälfte war klatschnaß, und ich stank wie ein Ascher, den einer mit Bier gelöscht hat.

Stadtverkehr rauscht nicht gleichmäßig daher wie ein Fluß, sondern kommt in Wellen, wie das Meer, gesteuert von Ampelphasen. Ich hatte den Tunnelausgang fast erreicht, entschlossen, heimzufahren, als in einem winzigen Moment von relativer Stille, wie er entsteht, sobald die eine Verkehrswelle fast abgerollt und die nächste noch nicht herangebraust ist, hinter mir ein leichtes Klatschen zu hören war, nein zwei. Patschatsch!, nur einen Sekundenbruchteil getrennt. Ich drehte mich um. War da, in dem dunklen Fleck, in dem Schatten einer ausgefallenen Laterne, eine Gestalt auszumachen, die sich an die Wand preßte? Oder war das Einbildung? Unsicher ging ich weiter.

Es war spät geworden. Der Nieselregen hatte aufgehört, doch der Himmel war weiterhin sternlos und schwer, die Nacht ungemütlich kühl und dunkel. Mein Weg führte mich an einem seit Jahren leerstehenden Lagerhaus vorbei, durch eine kahle Gasse zwischen den Rückseiten von Geschäftshäusern hindurch, eine zugige, nur von einer einzigen, flackernden Neonröhre beleuchtete Treppe hoch. Es war ein in jeder Hinsicht ungemütlicher Fußmarsch, kein Deut angenehmer gemacht durch das durchdringende und doch nicht beweisbare Gefühl, die ganze Zeit über verfolgt und beobachtet zu werden.

Was war das für ein Geräusch gewesen? Folgte mir tatsächlich jemand?

Ging ich schnurstracks zurück zum Wagen, ohne mir darüber Gewißheit verschafft zu haben, riskierte ich meine Tarnung. Lodda war einfach kein Typ für ein Auto. Lodda war mehr ein Fall für den ÖPNV. Solange sein Mofa in Reparatur war, zumindest.

Kurz entschlossen bog ich Richtung Bahnhof ab. Stolperte hier und da ein bißchen, sprach schon mal mit mir selbst, grinste einfältig vor mich hin, brachte alleine einhergehende Frauen mit Affengeräuschen dazu, ihre Schritte zu beschleunigen.

Im Bahnhof nahm ich die erstbeste Rolltreppe abwärts, wartete auf die erstbeste U-Bahn, schwang mich hinein und ließ mich auf einen Sitz fallen. Und exakt als das rhythmische Fiepen das Schließen der Türen ankündigte, sprang ich wieder raus. Um dieser Entscheidung etwas Glaubhaftigkeit zu verleihen, lehnte ich mich mit einer Hand an die nächste Säule, machte einen großen Schritt zurück, spreizte die Füße und ließ den Kopf hängen: Achtung Leute, aufgepaßt, hieß das, mir kommt's gleich gewaltig. Hoch, meine ich.

Der Zug fuhr ab. Außer mir war niemand wieder ausgestiegen. Doch ich hatte, mit hängendem Kopf, spuckend und röchelnd, aus dem Augenwinkel heraus, an der letzten Türe des abfahrenden Zuges eine höchstens mittelgroße Gestalt ausgemacht, die Hände gegen das Glas gepreßt wie ein frischgefangenes Tier. Mit Sonnenbrille auf.

Ich hatte also recht gehabt. Versonnen sah ich dem Zug hinterher. Der kleine Bastard war mir nachgeschlichen. Mit leisen, huschenden Schritten, jeden Schatten, jede Deckung ausnutzend. Ich hatte mich mehrmals umgedreht, vorgeblich, um den vor mir flüchtenden Frauen hinterherzustieren, und trotzdem war er mir nicht ein einziges Mal aufgefallen.

Nun, jetzt fuhr er Bahn. In dieser Gewißheit steuerte ich das Parkhaus ohne weitere Umwege direkt an, schaffte es aber trotzdem den ganzen Weg über nicht recht, dieses schwer zu beschreibende Gefühl im Nacken abzustreifen.

Die Spannung baute sich erst etwas ab, als ich meiner treuen Carina ansichtig wurde, und sie schlug regelrecht in Übermut um, als ich ein Stück weiter den bordeauxroten Astra meines persönlichen Geleitschutzes stehen sah. Mit langen Schritten ging ich rüber, riß die hintere Türe auf und schwang mich hinein.

»Einmal zur >Endstation<, Jungs«, sagte ich fröhlich, knallte die Tür zu, kramte nach meinem Autoschlüssel und ließ ihn am ausgestreckten Arm zwischen ihren beiden Köpfen baumeln. »Und wenn einer von euch beiden Süßen so nett wär, mir eben meinen Wagen mitzunehmen? Ich bin echt zu breit, um noch selber zu fahren.«

Der Fahrer, ein junger Blonder mit einem >Flat<, oder Bürstenhaarschnitt, wie man früher sagte, kurbelte hastig das Fenster herunter und sein Kollege, ebenfalls jung, aber dunkelhaarig und mit nach hinten geölten Locken, sah mit einiger Entgeisterung von den baumelnden Schlüsseln zu der Carina und wieder zurück. »So betrunken kommen Sie mir gar nicht vor«, meinte er.

»Echt nicht«, pflichtete sein Kollege ihm bei und fächelte sich eifrig Parkhausluft zu. »Auf mich wirken Sie völlig fit. Von uns aus können Sie ruhig noch fahren. Wir bleiben ja in der Nähe.«

»Na gut«, sagte ich. »Problem ist nur, ich hab kein Klein. Für den Automaten.« Beide kramten bereitwillig in ihren Hosentaschen und förderten jede Menge Münzen zutage.

»Gebt mal euer Ticket mit«, sagte ich freundlich, »kann ich dann gleich mit erledigen.«

Hinter der ersten Ecke knüllte ich es zusammen und schmiß es weg, löste meine eigenes ein, unterquerte das Parkdeck, kam direkt neben der Carina wieder raus, sprang hinein, stieß jaulend zurück und schoß die Rampe runter. Vor der Schranke stieg ich in die Eisen, riß mir das Ticket aus den Zähnen und puschte es in den Schlitz, jubelte den Motor hoch und stach knapp unter dem aufgehenden Schlagbaum hindurch hinaus in die Nacht.

An der ersten roten Ampel standen sie wieder hinter mir. Im Rückspiegel konnte ich sie feixen sehen. Sie waren durch die Schranke durchgebrettert! Klasse.

Die >Endstation< hatte schon Feierabend. Ich parkte, stieg aus, winkte meiner Eskorte noch zu und ging gähnend um die Ecke zur Haustür. Zeit fürs Bett. Der kleine, wieselige Typ mit der Sonnenbrille ging mir nicht aus dem Kopf, und auch dieses Patschatsch! aus dem Tunnel nicht. Plötzlich kam ich drauf: Es war das Geräusch zweier Füße, die aus ziemlicher Höhe auf dem Pflaster landen. Der Kerl hatte sich irgendwo oben, in der tragenden Konstruktion des Tunnels aufgehalten, als ich aus der Kneipe kam. Wie war er da hochgekommen?

Scheiße, dachte ich. Er hat dich die ganze Zeit beobachtet. Hat gesehen, wie du rumgesucht, wie du über die Leitplanke gelinst hast . Hatte ich unschuldig genug getan? War ich meiner Rolle treu geblieben? Es blieb zu hoffen.

Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloß stecken, als sich mir ein kräftiger Arm von hinten um die Gurgel legte und mich rückwärts gegen eine kräftige Gestalt riß. Eine zweite Gestalt -ich meinte, einen Bart auszumachen im Dunkeln - erschien in meinem Blickfeld, holte aus und grub mir ihre Faust in den Magen, daß es alles Bier daraus heraus und hoch in die Speiseröhre drückte. Pfleger Weber. Ich hätte ihn explosionsartig vollgekotzt, wenn mir sein Kollege (Neuhaus? Ich war mir fast sicher) nicht gewaltsam den Hals zugehalten hätte.

»Kryszinski«, knurrte mir Neuhaus (recht gehabt!) ins Ohr, und ich strampelte und zappelte und erschlaffte dann einfach, als mir aufging, daß die ganze Anstrengung umsonst war und mich nur noch mehr Luft kostete, die ich nicht bekam, »du hast unserem Boß was geklaut, das der gerne wiederhätte.« Neuhaus mißdeutete mein Erschlaffen als Ausdruck des Aufgebens oder beginnender Bewußtlosigkeit und lockerte seinen Griff etwas. Ich atmete ein. Mit dem Ausatmen zusammen erbrach ich mich über seinen klammernden Arm und über Pfleger Webers meinen Blouson absuchende Finger. Angeekelt fluchte er und machte einen unwillkürlichen Schritt zurück, wischte an sich herum. Der Schein einer Straßenlaterne fiel als Dreieck zwischen seinen leicht auseinanderstehenden Beinen hindurch.

Gewalt ist mir zuwider. Vor allem allerdings, soviel sei zugegeben, gegen mich. Und deshalb konnte ich in diesem Augenblick nicht widerstehen. Ich riß den rechten Fuß hoch, als wolle ich Weber mit einem einzigen Tritt in die Dachrinne hieven. Er schnaubte. Eruptiv. Krümmte sich wie in Zeitlupe, sein Hirn völlig unvorbereitet, eine solche Dosis von Schmerz in so kurzer Zeit verarbeiten zu müssen.

Immer noch sicher in Neuhaus' Umarmung, zog ich beide Füße an, riß sie seitlich herum und stieß mich gewaltsam von der Hauswand ab. Neuhaus stolperte ein paar wackelige Schritte zurück, verfing sich dann mit dem Fuß, ließ mich los, um mit den Armen rudern zu können, und fiel rücklings in die Brombeeren, die Bernhard und ich eigentlich schon seit Jahren zurückschneiden wollten. Seit Jahren haben wir das vor. Es gab ein generelles Knistern berstenden Reisigs, unterlegt, wenn man genau hinhörte, von vielen kleinen, reißenden Geräuschen, nur ein Teil davon Stoff, da war ich mir sicher.

Ich rückte meinen Kehlkopf wieder an seinen angestammten Platz, hob meinen Schlüsselbund vom Boden auf, sortierte in meinem Kopf ein paar coole Sprüche durch.

Oder sollte ich die Bullen rufen? Die hockten gleich um die Ecke in ihrem Astra.

Schließlich schloß ich nur wortlos die Haustüre auf, ging hindurch und schloß sie genauso wortlos wieder hinter mir. Ich hatte keine Lust mehr. Von Kopf bis Fuß voll Bier und Kotze wollte ich nur noch duschen. Und dann schlafen.

»Ja«, sagte ich zu ihr, als ich reinkam und sie sich auf mich stürzte, »ja, ja ja. Also gut: Erst duschen, dann die Katze füttern, dann schlafen. Ist das okay?«

War es natürlich nicht - wieso erst duschen? - doch ich hatte gerade erst zwei echte Kampfschweine in die Knie gezwungen und war in keiner Stimmung für Verhandlungen.

Frisch geduscht und die Katze versorgt, wollte ich noch einen langen, konzentrierten Blick auf das Ehepaar Blandette werfen, nur um feststellen zu müssen, daß ich das Foto bei Scuzzi liegengelassen hatte.

Ich watete durch knöcheltiefes, immer längere, immer dickere Fäden ziehendes Kaugummi, einen kleinen, mund-naseohrenlosen, aber sonnenbebrillten, an meine Hosenbeine geklammerten Typen auf dem Bauch hinter mir herschleifend, ächzend unter der Last von Weber und Neuhaus, die mir im Kreuz saßen und meinen Hals abschnürten, während in der Ferne, am Horizont, Veronika van Laar immer wieder demonstrativ auf ihre Armbanduhr tippte und voller Ungeduld ihr lockiges Haupt schüttelte. Als wäre das alles noch nicht genug, klingelte irgendwo ausdauernd ein Telefon.

Es war bei mir, neben dem Bett. Ich hob ab und krächzte: »Wie spät ist es?«

»Oh, verdammt«, sagte eine Stimme in mein Ohr. »Ich hab dich geweckt.« Es war eine Feststellung. Ohne eine Spur von Bedauern. »Das passiert mir öfter«, fuhr die Stimme fort. »Ich vergesse schon mal einfach die Zeit.«

Wie schön, dachte ich. Wie beneidenswert. Heftig mit den Lidern plinkernd, schaffte ich es, meine Linsen soweit von den Schlieren des Schlafes zu befreien, daß ich die Zeiger meines Weckers ausmachen konnte. Es war noch keine Vier. Der Impuls, etwas Gutturales in den Hörer zu spucken und ihn dann auf die Gabel zu donnern war nahezu unwiderstehlich.

»Doch warum ich anrufe: Ich habe das Material, das du bestellt hast.« Die Stimme sagte mir nichts, die Worte auch nicht. Vier Uhr morgens ist, seien wir mal ehrlich, einfach nicht meine Zeit. »Ich wollte es dir rüberschicken, aber so wie es aussieht, bist du praktisch an kein Netz angeschlossen und hast noch nicht einmal ein Fax.«

Ich hab noch nicht mal 'nen Anrufbeantworter, dachte ich mißmutig, der sich um solche Unzeiten mit solchen Belästigungen beschäftigen könnte.

»Jetzt ist das so, ich flieg um Sieben ab nach Seattle, ich brauche neue Teile, und die kriege ich nur da. Wenn du es also eilig hast, wäre es wahrscheinlich das Beste, du kämst jetzt gleich rüber und holst dir den Krempel, denn ich selber bin nicht vor Donnerstag zurück.«

Mir fiel auf, daß ich keine Ahnung hatte, welcher Wochentag war. Und noch weniger, wer mein Anrufer sein könnte.

»Ahm«, sagte ich, vom Fragen abgehalten durch das verunsichernde Gefühl, eben das eigentlich wissen zu müssen.

»Du weißt nicht, wer ich bin und wovon ich rede, stimmt's?«

»Nuun«, machte ich gedehnt.

»Hier spricht Alexander. Klingelt's?«

»Es surrt. So ein bißchen.«

»Alexander Len-«

»Keine Namen!« unterbrach ich ihn, plötzlich wach werdend.

Ein Seufzer. »Genannt Heckenpennes«, kam es etwas gequält aus dem Hörer.

Ich stand neben dem Bett.

»Bin unterwegs!« bellte ich.

Ich stieg geschmeidig aus dem Schlafzimmerfenster, balancierte wie auf rohen Eiern über die Dachpfannen des hinteren Anbaus, kraxelte am Fallrohr hinab in den Hof, tastete mich durch das Durcheinander aus leeren Fässern, vollen Müllsäcken und nachlässig gestapelten Getränkekisten, das sich an der Rückseite jeder Kneipe ansammelt, schnappte mir eine Palette, lehnte sie gegen den Zaun, stieg drauf, schwang mich drüber, landete wie eine Katze und schlich wie eine Katze weiter zu der nur einen knappen Meter hinter dem Bullen-Opel geparkten Carina, schmiegte mich auf Knien an ihr kühles Blech und öffnete mit angehaltenem Atem die Beifahrertüre, schlängelte mich ins Innere, zog die Türe hinter mir ach so sachte ins Schloß, rutschte geduckt rüber auf den Fahrersitz, steckte den Zündschlüssel in den Schlitz und entriegelte das Lenkrad, nahm den Gang raus, löste gefühlvoll die Bremse und steuerte den mit einem schwachen, metallischen Mahlen anrollenden Wagen erst langsam, dann immer schneller werdend rückwärts die abschüssige Straße hinab, bis wir nach Umrunden einer Biegung aus dem Blickfeld der Opel-Insassen verschwunden waren.

Eigentlich Quatsch, dachte ich dabei. Was ich vorhatte, war offizieller und relativ legaler Teil meiner Berufsausübung. >Relativ<, dachte ich dann noch, nickte mir eins und ließ den Motor an.

Heckenpennes stopfte, was ihm gerade in die Finger fiel, in eine große Reisetasche. Ich lehnte an der Wand, unter einer kleinen Leuchte, und blätterte Seite für Seite durch, was der Anstaltscomputer des Christopherus-Asylums an Daten über Victor Blandette gespeichert hatte. Es war weniger, als man meinen sollte.

Die erste Seite waren persönliche Daten, aus denen hervorging, daß er aus Strasbourg originierte, bald 62 werden würde, somit ein Jahr jünger war als seine aus Stuttgart stammende Gattin Eva-Maria, geborene Meggle, daß die beiden seit rund dreißig Jahren verheiratet waren, einen gemeinsamen Sohn namens Jean-Baptiste hatten und in Kaiserswerth wohnten.

Dann kam seine Personalakte: Beruflicher Werdegang, Besoldungsgruppe, so ein Gedöns.

Ich las nicht alles, überflog nur das, was mir wichtig erschien und das, was ich dabei herausfand, verfehlte es gänzlich, mich zu beeindrucken: So, wie es sich bei der ersten Durchsicht präsentierte, war seine Karriere weder sehr steil noch in irgendeiner Hinsicht spektakulär verlaufen. Abgesehen von seinem Lehrstuhl an der Düsseldorfer Uni hatte Victor Blandette praktisch sein ganzes Berufsleben im Christopherus-Asylum verbracht. Er hatte sich hochgedient, Schritt für Schritt hochgedient, bis hin zu dem pompösen Messingschild mit der Unterzeile >Anstaltsleiter<.

Schließlich folgte eine Auflistung seiner Publikationen. Und die war lang. Ellenlang. Jedes einzelne seiner Gutachten fand Erwähnung, alle seine Artikel für Fachzeitschriften (>Pyromanie - ein Hilferuf?<), seine wissenschaftlichen Essays, (>Isolation als Korrektiv<), seine insgesamt sieben Buchtitel (>Verrannt - Grenzen und Sackgassen der Forensik<, >Der geregelte Trieb - Destimulierende Psychopharmaka in der Langzeittherapie< usw.). Alles säuberlich aufgelistet und alles, aber auch wirklich alles deutlich und unmißverständlich mit dem Namen des Verfassers versehen, mit Hinweis auf das Copyright und jedesmal mit vollem Titel: Prof. Dr. Dr.Victor Blandette. Jedesmal.

Was waren das eigentlich für Titel? Doktorgrade gibt es ja für alles mögliche, angefangen von Bergbau über Landwirtschaft bis hin zur Bibelkunde. Ich blätterte noch mal zurück. Studiert hatte er in Strasbourg. Doch die Doktorwürde hatten sie ihm woanders verliehen. Es dauerte ein Weilchen, bis ich den entsprechenden Vermerk fand, bescheiden in einer Liste anderer Auszeichnungen und Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinigungen untergebracht. Victor Blandette hatte einen DSc. einen Doctor of Science an der Columbus-University in Oakville, Massachusetts erworben und seinen MD, sprich Dr. med. von der George Washington Academy in Trinity, Arizona. Und das, ohne einen einzigen Vermerk in seinen Personalunterlagen über einen Studienaufenthalt in den Staaten.

Siehe da. Kaum in die Unterlagen gekniet und schon etwas zum Nachhaken entdeckt. Das gefiel mir. Sagen wir es so: Wer einen Boxer reizt, muß damit rechnen, ein paar auf die Nase zu kriegen. Wer sich mit einem Anwalt überwirft, wird seinen Briefkasten voll Einschreiben und Vorladungen finden. Und wer meint, sich einen Detektiv zum Feind machen zu müssen, braucht sich nicht zu wundern, wenn der hingeht und das macht, was er am besten kann: schnüffeln.

Ich unterstrich die Namen der beiden Institute.

»Kannst du deinen Kasten dazu bringen, mir Informationen über diese beiden Adressen zu besorgen?« fragte ich Heckenpennes, der mir das Blatt aus der Hand nahm und sich wortlos über seine Tastatur beugte.

»Das dürfte kein Problem sein«, meinte er. »Die haben garantiert eine Webseite.« Ich nickte, als habe ich genau den gleichen Gedanken gehabt. »Eine Internet-Adresse«, fügte Heckenpennes erklärend hinzu. Ich nickte wieder.

Klick, klick, klick und flacker, flacker und Liste rauf und Liste und runter und noch mehr klick, klick, klick und das beeindruckende Logo der Columbus-University füllte den Schirm, zusammen mit einem WELCOME und der freundlichen Aufforderung, doch in aller Ruhe über ihren elektronischen Campus zu spazieren.

»Was willst du wissen?« fragte Heckenpennes.

»Was das für ein Laden ist«, sagte ich. Wenig präzise, kritisierte ich mich selber. Der Umgang mit elektronischen Medien erfordert ein anders strukturiertes Denken als, sagen wir mal, der Umgang von Mensch zu Mensch mit, beispielsweise, einem Gebrauchtwagenhändler. (>Wieviel steht aufm Ticker? Stimmtatt auch? Der Lack is aber Käse. Und die Schluffen sind nieder. Watt willze dafür sehen? Wieviel gibbse mir für meinen?<)

»Wie man sich einschreibt«, schlug ich vor. »Wann die Semester anfangen. Und dann, wie man einen Doktorgrad erwirbt.«

»Welche Fakultät?«

»Science.«

»Science. So, da haben wir's. Nun, so wie ich das sehe, ist das Einschreiben denkbar einfach. Alles, was du machen mußt, ist, ihnen einen Scheck zu schicken. Mehr scheint nicht erwartet zu werden. Und Semester haben sie keine. Ihr Service umfaßt 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr.«

Ich machte »Hä?«

»Es scheint sich um eine Fern-Uni zu handeln. Du schickst ihnen das Geld und sie schicken dir das Studienmaterial. Anschließend kannst du verschiedene Grade erwerben. Lehrer, Magister, Doktor. Hier:« Er zeigte mir die Liste. Es schien in erster Linie eine Preisfrage zu sein. Doktor, zum Beispiel, egal ob Sc. Phil, oder Dent. kostete 6000 Dollar. Zertifikat und Hut inbegriffen, Verleihungszeremonie (auf Wunsch) kam jedoch extra und die Anreise mußte in dem Fall dann auf eigene Kosten bestritten werden. Und, nachdem das also alles geklärt war, kam noch klein und unauffällig und in Klammern gesetzt der Hinweis, sämtliche Titel und Grade seien >for private use only<.

»Siehst du das?« fragte ich. Heckenpennes nickte, ließ die Seite verschwinden, zappte hin und her und graste dann wieder lange Listen ab.

»Also der eine seiner beiden Doktortitel ist, bei Licht betrachtet, in gelehrten Kreisen ungefähr soviel wert wie ein Karnevalsorden auf der Militärakademie. Da wollen wir doch gleich noch mal nach dem anderen schauen.«

Es war, um es gleich zu sagen, der gleiche Humbug. Man kaufte sich Lehrmaterial, studierte es oder auch nicht, sandte dann einen Text seiner Wahl ein - um die Form zu wahren, nehme ich an - plus einen fetten Scheck, und schon war man Doktor. Für den Hausgebrauch only.

Da trug dieser aufgeblasene Sack zwei Doktortitel spazieren, die einer näheren Prüfung ungefähr so lange standhielten wie ein von einem Sechsjährigen selbstgemalter Tausendmarkschein, und keiner merkte das? Ein Mann mit seinem Auftreten mußte doch Feinde haben? Neider? Und keiner von denen war auch nur halbwegs smart genug gewesen, diese beiden unablässig vor ihren Augen herumgeschwenkten Titel mal zu hinterleuchten? Der Kerl hatte sich einen Job besorgt, einen hochdotierten Posten sogar, eine Professur noch dazu, hatte Hunderte von Texten publiziert, alles im Glorienschein des Doppeldoktoranden, und keiner hatte die Farce durchschaut?

Eine Frage klärte sich mit meiner Entdeckung allerdings. Warum es einen Mann wie ihn, von so unverhohlenem Ehrgeiz, nie an eine andere Institution gelockt hat. Da er mit wachsender Reputation immer weniger riskieren konnte, aufzufliegen, wurde das Christopherus-Asylum für ihn zu einer beruflichen Sackgasse.

Heckenpennes zog den Reißverschluß seiner Reisetasche zu und sah sich im Zimmer um, ob er nichts vergessen hatte.

»Hast du noch einen Moment Zeit?« fragte ich. Er blickte auf seine Uhr.

»Wenn du mich zum Flughafen fährst, ja.«

»Dann verbinde uns doch mal mit der Uni Strasbourg.«

Denn die eine Frage blieb: Wieso hatte Blandette es nicht wie alle gemacht und ein paar hundert Seiten Fachchinesisch aus anderen Dissertationen abgeschrieben, neu zusammengestellt, sich eine schöne Überschrift ausgedacht und den ganzen Schmonzes als Frucht seiner eigenen Bemühungen dargestellt?

»Unis sind einfach«, meinte Heckenpennes. »Bis auf so ein paar Forschungsprogramme ist eigentlich alles zugänglich. Da kämst sogar du rein.«

»Geh mal ins Archiv.«

»Da ist es. Blandette?«

»Ja.«

»Haben wir. Und jetzt?« »Bei wem hat er studiert?«

Wir fanden einen Prof. Dr. Ivan Schaeffer. Ein Schwenk in die Verwaltung der Universität brachte allerdings nur die Erkenntnis, daß Dr. Schaeffer nicht mehr auf der Gehaltsliste stand. Er war wohl in Rente oder dahin. Also zurück ins Archiv. Da fanden wir seine Anschrift. Ich rief die Auslandsauskunft an, und sie gaben mir eine Telefonnummer. Das hieß, der Professor weilte mit hoher Wahrscheinlichkeit noch unter uns. Mein Gefühl sagte mir allerdings, daß ich mit einem Anruf nicht weit kommen würde.

Bis Strasbourg, schätzte ich, waren es vielleicht vier Stunden Fahrt. Es war noch total früh am Morgen. Ich könnte schon nachmittags wieder zurück sein. Und vor heute abend hatte es wenig Zweck, meine Suche nach Det wieder aufzunehmen.

Ich pumpte Heckenpennes um einen Blauen an, setzte ihn am Flughafen ab und ging auf die Bahn.

Die Fahrt verlief relativ ereignislos und beinahe angenehm, abgesehen einmal von den üblichen potenzproblembehafteten Audi-BMW- und Mercedes-Lichthupenhysterikern. Sobald ich rübergerückt bin und sie vorbeikommen, seh ich sie mir immer an, wie sie sich unter orgiastischem Aufstöhnen wieder aufs Gas stemmen. Vielleicht wird man ja unweigerlich so, denke ich dann oft, wenn alle im Büro/Verein/Bekanntenkreis/Stadtviertel wissen, daß deiner ganzen zwanghaften Angebereien zum Trotz dein schrumpeliger kleiner Pimmel nicht mehr härter wird als ein Marshmallow und bestenfalls noch zum Pissen taugt. Vielleicht. Wer weiß.

Trotzdem regen sie mich auf.

Strasbourg lag unter einem strahlend blauen Himmel. Der Verkehr war wüst und das Straßennetz unübersichtlich, doch wer aus Mülheim an der Ruhr kommt, ist in der Hinsicht nicht mehr zu schrecken. Noch an der Autobahn hatte ich einen Stadtplan mitgehen lassen und fand die Adresse ohne großes Theater. Dr. Ivan Schaeffer wohnte in einem freundlich aussehenden Häuschen in einem sympathischen, alten Viertel etwas außerhalb des Zentrums.

Hoffentlich ist er auch da, dachte ich und klingelte an der Haustür. Eine Weile lang passierte nichts. Ich massierte meine Schläfen, weigerte mich, auch nur den Gedanken daran zuzulassen, eventuell viereinhalb Stunden lang das Gedröhne meines abgerissenen Auspuffs für Nüsse ertragen zu haben und klingelte noch mal. Schließlich, ich wollte mich schon auf die Stufe setzen - an eine sofortige Rückfahrt war nicht zu denken, nicht mit einem Kopfschmerz wie diesem - näherten sich drinnen schlurfende Schritte und die Türe schwang knarzend auf. Ein hagerer Greis mit gelblicher, durchsichtiger Haut und einer scharfen Nase starrte mich unter einem Gärtnerhut hervor unfreundlich an. Er trug ein verschossenes Flanellhemd über einer grauen Hose von ähnlichem Schnitt wie die, die bei mir zuhause auf dem Badezimmerboden lag und darauf wartete, weggeschmissen zu werden, und grüne Gummistiefel, die in großen Überpantinen aus Filz steckten.

»Guten Tag«, sagte ich und beugte ein wenig förmlich das Haupt dazu. »Sind Sie Professor Schaeffer?«

»Ich war im Garten«, sagte der Greis. »Und Professor auch.«

Ich verstand nicht ganz. Man sah es mir an.

»Ich war mal Professor. Ich bin es nicht mehr.« Er hatte die Stimme gehoben. »Ich bin alt«, rief er ungeduldig.

»Also, was wollen Sie?«

Das ist immer so ein Moment, in meinem Beruf. Man steht jemandem zum ersten Mal gegenüber und muß spontan entscheiden, was man ihm auftischt und als was man sich ausgibt. Jedesmal die Wahrheit zu sagen, hieße, sich andauernd mit der Nase platt vor frischverschlossenen Türen wiederzufinden.

»Mein Name ist Kryszinski«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektiv und versuche, Informationen über einen Ihrer früheren Studenten zusammenzutragen. Sein Name ist Victor Blandette.«

Man braucht ein Gespür für die Leute.

Dr. Schaeffer sah einen Augenblick lang mit halbgeschlossenen Augen zur Seite, ganz so, als wäre ich der mindestens achte Spendensammler heute Vormittag und er in momentaner Verlegenheit, was noch nicht verwendete Kraftausdrücke anging.

»Erinnern Sie sich noch an ihn?« fragte ich, wie immer bemüht, nur ja kein Schweigen entstehen zu lassen.

»Erinnern Sie sich noch an ihn?« äffte er mich nach.

»Erinnern Sie sich noch, Professor?« Sein Augen blitzten wütend. »Ich kann kaum zum Bäcker gehen, ohne daß ein Sportwagen mit quietschenden Bremsen neben mir anhält und ein Schnösel mit einem Krokodil auf dem Hemd herausspringt, sich mir in den Weg stellt und mich das fragt: Erinnern Sie sich noch an mich? Erinnern Sie sich noch an mich?« Seine Stimme reichte bis auf die andere Straßenseite.

»>Wie soll ich?< frage ich dann immer zurück. Ich bin alt! Und ich habe mich mit Tausenden von eurer Sorte herumgeärgert!« Er schnaubte mißmutig und wandte sich von mir ab.

»Aber an Victor Blandette«, murmelte er und winkte mir, ihm zu folgen, »an den erinnere ich mich gut.«

»Treten Sie sich die Füße ab!«

Ich folgte ihm in den Flur, ins Wohnzimmer. Auf einer - wie sagt man? - Anrichte? - stand eine gerahmte Fotografie einer älteren Frau mit lebhaften Augen und einem durchaus kessen Lächeln. Eine schwarze Schleife verdüsterte den rechten oberen Rand des Rahmens.

»Sagen Sie nichts! Das geht Sie nichts an! Kommen Sie, kommen Sie weiter.« Sein Deutsch war makellos, akzentfrei. Ich machte eine entsprechende Bemerkung.

»Aber Ihres nicht«, gab er gleichgültig zurück. »Ruhrgebiet, habe ich recht?« Ich nickte.

»Ich bin Elsässer«, sagte er, »und alt.« Wir traten hinaus in den Garten. Vögel piepten, Bienen summten. »Ich war zweimal in meinem Leben Deutscher und bin jetzt das dritte Mal Franzose.« Der Garten war ein Traum. Wild-, Über- und Zugewuchertes grenzte an ordentlich geharkte Beete, alte Obstbäume und Sträucher machten weiter hinten einer sanft geschwungenen Blumenwiese Platz, durch die sich ein träger, tiefer, kühl und klar aussehender Bach schlängelte. »Ich habe auf deutscher und auf französischer Seite gekämpft, ich habe auf deutsch und französisch unterrichtet, ich weiß bei Länderspielen bis heute nicht, zu wem ich halten soll.«

»Der Garten ist ein Traum«, sagte ich.

»Alles eine Frage des Komposts«, meinte er sachlich.

»Kommen Sie, kommen Sie, ich zeig's Ihnen!« Er führte mich um einen kleinen Schuppen herum und deutete voller Stolz auf einen Misthaufen, wie man ihn sich gewöhnlicher kaum vorstellen kann. Braun, haufenförmig, ganz leicht dampfend, mehr als nur ganz leicht miefend, dekoriert mit Kringeln von Kartoffelschale.

»Pferdemist, Kuhmist«, fing der Professor an, aufzuzählen, »Hühnermist und Hasenkötel, Garten- und Küchenabfälle. Einmal die Woche gewendet, und man kriegt einen Kompost, mit dem einfach alles wächst! Hier kommen Sie! Fühlen Sie mal, wie warm der ist! So lieben es die Würmer! Da ist richtig Leben drin! Hier, schieben Sie mal Ihre Hand hinein!«

Ich schenkte ihm einen etwas, na, skeptischen Blick.

»Sie wollen im Ernst«, fragte ich, »daß ich meine Hand in einen Haufen Haustierscheiße, Müll und Würmer stecke?«

Er schnalzte verächtlich und machte es vor, griff sich eine Handvoll und ließ sie zerkrümelt auf den Haufen zurückrieseln. »Man merkt, daß Sie kein Mediziner sind«, meinte er. »So empfindlich! Was glauben Sie, in was man als Medizinstudent so alles seine Finger stecken muß! Sagt Ihnen das Wörtchen >Dekubitus< etwas?«

»Ja«, sagte ich und schmeckte Raststättenrührei, hinten im Hals, zusammen mit ein wenig Galle. Und, auf seinen leicht überraschten Blick hin: »Ich habe einen Teil meines Zivildienstes im Krankenhaus abgerissen.«

Bis sie mit dem Nachfüllen des Giftschranks nicht mehr nachkamen.

»Und den Rest?« fragte er, spöttisch, wohl annehmend, ich sei den Härten des Klinikalltages nicht gewachsen gewesen.

»Bei >Essen auf Rädern<.«

Bis sie mit dem Nachkaufen von Autos nicht mehr nachkamen. Weil ich eines pro Woche zu Klump fuhr.

»Na, egal. Kommen Sie«, sagte er und wandte sich ungeduldig zum Gehen. »Wir setzen uns auf die Terrasse, und ich mache uns einen Tee.«

Professor - oder Ex-Professor, wie dem auch sei - Schaeffer goß Tee in zwei Becher und riß eine Packung Kekse auf, die er zwischen uns stellte, ehe er sich in seinen Korbstuhl fallen ließ und einmal tief Luft holte. Ich spürte, daß ein kleiner Vortrag anstand, nahm einen Keks und sperrte meine Lauscher auf.

»Victor Blandette«, begann er, »war genau die Sorte von Student, wie ich sie mein Leben lang gehaßt habe.«

Er legte die Hände in den Nacken und schloß halb die Augen.

»Wissen Sie, die Leute wenden sich aus sehr unterschiedlichen Gründen der Medizin zu«, fuhr er fort. »Da gibt es die Idealisten mit dem Helfer-Syndrom, die allen Ernstes glauben, mit dem Stab des Äskulap gegen das Elend dieser Welt ankämpfen zu können. Gehen gerne nach Afrika, um sich erst einen Kulturschock und kurz darauf irgend etwas Unheilbares einzufangen.« Er lachte kurz und trocken und nahm einen Schluck Tee. »Dann gibt es die Pragmatiker, die sich sagen, ich zieh das Studium jetzt durch und habe anschließend einen Beruf, der mir alles zwischen einem lebenslangen, halbwegs vernünftigen Auskommen bis hin zu einem ausgesprochen flotten Lebensstil zwischen Behandlungsstuhl und Golfplatz einbringen kann.« Er sah mich an. »Ihr Zahnarzt ist so einer«, sagte er und lehnte sich wieder zurück, »und meiner auch.«

»Und dann«, seufzte er, »haben wir die Berufenen. Die, die schon zur ersten Vorlesungsstunde im weißen Kittel erscheinen und daheim vor dem Spiegel gravitätisches Schreiten üben. Die sehen im Arztberuf vor allem den Nimbus. Sie brauchen Publikum, sie fühlen sich in Hierarchien wohl, sie genießen die Machtausübung. Heilkunst interessiert sie einen Furz. Erstaunlich viele von ihnen sind bei der Wahl ihres Studiums nur um Haaresbreite an der Theologie vorbeigeschrammt. Es ist tatsächlich das gleiche Material, aus dem sich ein bestimmter Teil der Priesterschaft rekrutiert. Die späteren Bischöfe, wenn Sie mir folgen. Lebensziel: So hoch kommen wie nur möglich, mit dem Chefarzttitel als Minimum. Selbsteinschätzung: Allwissend, unfehlbar, vom ersten Tag an. Und genau so einer von diesen aufgeblasenen Kretins war Victor Blandette.« Er blickte finster ins Leere, kaum merklich vor sich hinnickend, während die Erinnerungen zurückkamen.

»Victor Blandette. Ja. Kam aus einer Medizinerfamilie, wie so viele. Vater war Chefarzt, irgendwo. Selestat, glaube ich. Trotzdem kein Talent. Ungeheuer ehrgeizig, das war er, dabei faul. Kennen Sie ihn?« fragte er unvermittelt und warf mir einen lebhaften Blick zu. Ich nickte.

»Sagen Sie mir, als was praktiziert er heute?«

»Er leitet eine Klinik für forensische Psychiatrie in der Nähe von Düsseldorf.«

»Psychiater also.« Er nickte, als wolle er sagen: Es hätte schlimmer kommen können. »Und Chefarzt, natürlich. Haben Sie eine Ahnung, was dieser imbecile ursprünglich werden wollte?« Seine Augen blitzten mich an. »Na, raten Sie. Denken Sie an ... Prestige!«

Hm. Das war nicht schwer. Als was würde ich mich ausgeben . »Gehirnchirurg?« bot ich an.

»Genau! Ha! Gehirnchirurg! Kann man sich den Friedhof hinter der Klinik ausmalen?« Er beschattete die Augen mit der Hand und reckte den Hals, wie ein Indianer, der den Blick über die Weiten der Prärie schweifen läßt. Wir mußten beide lachen.

»Lassen Sie es mich so ausdrücken«, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: »Victor Blandette könnte keine Wurst anritzen, ohne mit dem Messer auf der anderen Seite wieder rauszukommen!« Kopfschüttelnd goß er Tee nach und griff sich einen Keks.

»Also«, meinte er abschließend, »wegen welcher Art von falscher Behandlung sind Sie hinter ihm her? Ersparen Sie mir allerdings die sicherlich grausigen Details.«

Ich beugte mich vor. »Er hat einen Klienten von mir, Insasse in seiner Anstalt, mittels Psychodrogen binnen weniger Tage in ein hilfloses, schlotterndes Wrack verwandelt. Wahrscheinlich, so meine Mutmaßung, um ihn daran zu hindern, in eigener Sache auszusagen. Was ich zu verstehen, zu ergründen versuche, ist, warum.«

Der alte Professor zuckte die Achseln. Was kommen Sie damit zu mir? schien seine Geste ausdrücken zu wollen.

»Dazu sammle ich Informationen. Auch und gerade über die Person Victor Blandettes. So bin ich bei meinen Recherchen zum Beispiel darauf gestoßen, daß seine beiden Doktortitel aus den USA stammen, und das, obwohl er nie dort studiert hat. Wieso, frage ich mich da, hat er nicht hier, in Strasbourg, bei Ihnen promoviert?«

»Gleich zwei Titel?« Professor Schaeffer ließ eine, seine linke, Augenbraue die halbe Stirn hochwandern. »Und beide aus den Vereinigten Staaten? Per Post, will ich meinen? Hmm, das sieht ihm ähnlich. Sehen Sie, Ihre Frage ist genau der Grund, warum ich mich an den Kerl überhaupt noch erinnere. Lassen Sie mich ein bißchen ausholen: Wer nach abgeschlossenem Studium die Doktorwürde anstrebt und, sagen wir, arm ist, aber fleißig und ehrlich, schreibt seine Dissertation selber. Wer reich ist und faul, läßt sie schreiben. Wer faul, aber geizig ist, stückelt sich eine aus bestehenden Dissertationen früherer Jahre zusammen. Die sind alle frei zugänglich. Und nur wer faul, geizig und obendrein impressionnant stupide ist, läßt sich dabei erwischen.« Sein Blick suchte den meinen, fragend, ob ich soweit mitgekommen war. Ich signalisierte ein >Ja< und fühlte mich, wie eine ganze Zeitlang schon, eigentümlich in meine Schulzeit zurückversetzt.

»Unserem Kandidaten, also, war sogar das Zusammenstückeln zu mühsam. Dazu hätte eine Menge Material gesichtet, sondiert, hätten Nahtstellen geglättet und verschiedene Schreibstile aneinander angeglichen werden müssen. Nein, das war ihm zu beschwerlich. Er hat seine Arbeit deshalb praktisch komplett übernommen und abgeschrieben. Nur die Einleitung hat er wohl selbst verfaßt und den Schluß ein wenig verändert. Der Rest stammte Wort für Wort, Zeile für Zeile, zu einhundert Prozent von David Bovet.« Er nickte zufrieden, als sagte das alles. Was es nicht tat. Nicht mir, zumindest.

»Sie müssen sich das vorstellen - hätte er bei irgend jemand abgeschrieben, er hätte gute Chancen gehabt, damit durchzukommen. Aber nein: Für die Dissertation dieses idiot pretentieux durfte es kein Geringerer sein als David Bovet, Medizin-Nobelpreisträger 1957!«

»Kryszinski, sind Sie's? Sind Sie wach?«

Ich hatte mich mit einem Geräusch gemeldet. >Wrglbrgl?< oder so ähnlich.

»Nein«, antwortete ich, nach einem kurzen Abhusten, »dies ist mein Anrufbeantworter. Ehrliche Menschen schlafen um diese Zeit noch.« Sieben Uhr! Sicher, draußen schien die Sonne, aber trotzdem! Wenn man danach gehen will, scheint immer irgendwo gerade die Sonne.

»Haben Sie heute schon die Nachrichten gehört?« fragte Menden.

»Nein, aber ich habe schon Frühsport gemacht.« Füße aus dem Bett (Teil I,) und den Hörer ans Ohr gehievt, (Teil II meines neuerschienenen Fitneßvideos). Gott, ich hatte geratzt wie schon lange nicht mehr. (Titel: Alkohol und fettes Essen -Das neue Aerobic für Körper und Geist). Ohne ein gründlich durchfeuchtetes und auf mindestens 90° erhitztes Pfund Kaffee würde ich die Klüsen heute morgen nur schwer aufkriegen, fürchtete ich.

»Also wissen Sie noch gar nicht, was wir gestern abend in Oberhausen entdeckt haben?«

Wie man sich täuschen kann!

Ich stand, kerzengerade, die Augen weit, weit offen, und ich war wach, wach wie schon lange nicht mehr, und all das in einem Zeitraum nicht länger als der, den ein Peitschenknall zum, äh, Knallen braucht. Hose gestrichen voll, habe ich, glaub ich, noch zu erwähnen vergessen.

»Nein«, brachte ich mit einiger Mühe das eine Wort hervor, das mir im Umgang mit Hauptkommissar Menden immer als erstes einzufallen scheint.

»Nun, was schätzen Sie?«

Eine mit großer Hast verlassene Mietwohnung unterm Dach, Restspuren unterschiedlichster Drogen in den Ecken von Schubladen und sonstigen Behältnissen und die Fingerabdrücke eines des Mordes verdächtigten, steckbrieflich Gesuchten all over the place. Schätzte ich. Und der Schweiß brach mir aus. Wo mochten sie stecken? Irgend etwas mußte ich jetzt sagen. Irgend etwas Flapsiges, meiner Art Entsprechendes. Es wollte nichts kommen.

Ich sagte: »Sie wissen, ich hasse Ratespiele.«

»Wir haben in einem Gartenhäuschen die verstümmelte Leiche einer Frau gefunden. Auf die gleiche Art getötet und verstümmelt wie Monika Siebert.«

Heilige Scheiße! Jetzt würde es natürlich sofort heißen, der entsprungene >Schlächter von Bottrop< habe wieder zugeschlagen! Das würde den Fahndungsdruck noch mal erhöhen und brachte mich in eine beschissene Situation: Ich müßte jetzt Roselius' doppelte Unschuld beweisen, und das gegen die zweifach erhärtete Überzeugung der Polizei. Und sicher würden sie mich unter noch engere Beobachtung stellen, wenn nicht gar für ein paar Stunden jeden Tag auf die Wache zitieren und mit den immer gleichen Fragen nerven. Oh, Mann! Mein Hirn rotierte wie der Abflußstrudel einer Wanne, in der man einen langhaarigen Hund gebadet hat: Im Moment noch ein quirlendes, schäumendes Allerlei, doch jeden Augenblick konnte es Glucks machen und nichts würde mehr gehen. Dabei, und das war der Irrsinn, hatte Roselius einen Traum von einem Alibi.

Ich griff mir selbst an die Gurgel, in einer Attacke akuter Panik, jetzt das Falsche zu sagen.

»Sie sagen ja nichts«, beobachtete Menden mit professioneller Kühle.

Ich schüttelte mich wie ein frisch gebadeter Hund und riß mich am Riemen wie der eingenebelte Besitzer mit dem Handtuch in der Hand.

»Der Zeitpunkt, der ... wissen Sie schon wann, wie lange ...« stammelte ich.

»Sie meinen die Zeitspanne zwischen Eintritt des Todes und dem Auffinden der Leiche? Ja?«

Ich nickte, was er durchs Telefon nicht sehen konnte, aber er sprach trotzdem weiter. »Zirka fünf Tage, schätzt die Gerichtsmedizin.«

»Ha!« entfuhr es mir, »da saß Roselius ja noch in Ratingen -«

»Ich weiß«, unterbrach er mich. »Darum rufe ich Sie ja an.«

Das hätte er auch gleich sagen können, der Sack, dachte ich finster. Typisch.

»Wie es aussieht, ist der Mieter des Gartenhäuschens flüchtig. Ein 32jähriger Mann von außerordentlich beschränkter Intelligenz, der als besonderes Kennzei-«

»Sprechen Sie nicht weiter!« unterbrach ich ihn diesmal, »einen Überbiß hat wie Bart Simpson. Stimmt's?«

»Ich kenne zwar keinen Bart Simpson«, kam es etwas ratlos aus dem Hörer, »aber ich sage mal, Sie haben recht. Wissen Sie vielleicht auch wo -«

»Brechen Sie die Fahndung ab«, sagte ich. »Holen Sie sich lieber ein paar Taucher und 'ne Hundertschaft Fußvolk und durchkämmen sie die umliegenden Grüngürtel und Gewässer. Irgendwo wird er rumliegen, baumeln oder treiben. Und es wird wie Selbstmord aussehen. Denn er ist tot, glauben Sie mir.« Schweigen am anderen Ende.

Inzwischen stieg in mir die Hitze auf. Es war passiert, was ich vorhergesagt hatte. Es war passiert, obwohl ich es vorhergesagt hatte. Laut und deutlich. Und es würde wieder passieren, wenn nicht bald etwas geschähe.

»Und wenn Sie eh schon am Telefon hängen, dann rufen Sie auch gleich noch mal in Bottrop an, lassen sich ihren Kollegen Kujak geben und von ihm das Protokoll meines letzten Anrufs vorlesen. Vielleicht dämmert es Ihnen beiden dann ja, daß die Frau noch leben könnte, wenn Ihr Bullen nicht so elend hochnäsig und so gottverdammt borniert wärt.«

Nicht ganz der Tonfall, den ich normalerweise Menden gegenüber an den Tag lege, aber bei Gott, ich kochte und er hatte mir kurz nacheinander zwei massive Schrecken eingejagt, und dafür mußte er einfach etwas zurückkriegen.

»Und wenn Sie nur ein bißchen weiter nachforschen, werden Sie ohne Mühe ans Licht bringen, daß ihr Verdächtiger in der letzten Zeit öfter mal in Gesellschaft eines kleinen, wieseligen Typen gesehen wurde, und anschließend werden Sie und Ihre Kollegen es hoffentlich allmählich mal in Ihre dicken Schädel kriegen, daß ich recht habe. Der Killer läuft frei herum, und Bernd Roselius gehört, genau wie Ihr Mann mit den Kamelhauern, zu seinen Opfern! So, und jetzt Tschüs, ich habe zu tun.«

Damit wollte ich den Hörer auf die Gabel knallen, doch Mendens Stimme hielt mich zurück.

»Alles schön und gut, Kryszinski«, sagte er schnell, »doch trotzdem: Wissen Sie, was meine Vorgesetzten mir sagen werden, wenn ich denen mit dieser ganzen Geschichte komme? Die werden sagen: >Finden Sie uns erstmal diesen Roselius; und dann sehen wir weiter.< Dies ist eine Behörde, Kryszinski.« Er klang beinahe entschuldigend, er klang so, als ob er wirklich nur Roselius zu finden brauchte und ab da würde sich eine wohlwollende Staatsmacht um alle unsere Probleme kümmern. Alles würde sich in eitel Sonnenschein auflösen.

Oh nein, dachte ich. Komm mir nicht so.

»Gut«, sagte ich, »dann vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe, finden Sie meinen Klienten, schicken Sie ihn zurück nach Ratingen, finden Sie ihren Oberhausener Verdächtigen, tot oder lebendig, hängen Sie ihm rasch den letzten Mord an, und dann legen Sie sich alle wieder schlafen. Und Tschüs!«

»Augenblick noch. Das wird Sie interessieren. Wir haben den Besitzer des Geländewagens ausfindig gemacht. Ein Barbesitzer, wie es scheint.«

Heiko! Oh, Mann! Ich hatte ihn verdrängt gehabt. Kam es mir nur so vor, oder war ich tatsächlich bis vor fünf Sekunden ein glücklicherer, vergleichsweise sorgloser Mensch gewesen?

»Und?« fragte ich, nach außen hin unbeeindruckt.

»Wir haben ihn natürlich verhört, doch sein Alibi ist makellos. Er blieb auch erstaunlich kooperativ und gelassen, bis wir ihm die Reste seines Autos zeigten. Da war es mit seiner Fassung ein wenig vorbei. Und als dann noch Ihr Name fiel .«

»Mein Name?!« schrie ich. »Sind Sie von Sinnen?!! Was habe ich damit zu tun?!«

»Das wollte der Barbesitzer auch gerne wissen. Wir haben ihn dann über Ihre berufliche Verwicklung in den Fall Roselius im allgemeinen aufgeklärt, und er hat sich im Weggehen noch verwundert geäußert, wie jemand nur einen bekanntermaßen so ungeheuer lebensgefährlichen Beruf wie den Ihren ausüben könne. Ungeheuer lebensgefährlich, das waren seine Worte. Finden Sie nicht auch«, fragte Menden väterlich, »daß wir uns dringend mal zusammensetzen sollten, um Licht in diese ganze Angelegenheit zu bringen?«

Diesmal knallte ich den Hörer auf die Gabel. Wortlos. Nach zwei- oder dreimaligem tiefem Durchatmen begann ich, mich anzuziehen. Eigentlich erwartete ich, daß das Telefon sofort wieder zu schrillen anfing, doch es blieb stumm.

Über den Schnürsenkeln ging ich das Gespräch mit Menden noch mal durch. Nein, ich hatte mich nirgendwo verplappert. Und das, obwohl mir mittendrin nicht schlecht der Kragen geplatzt war.

Dann erst traf es mich wie eine Keule: >Det<, oder wer immer sich hinter diesem Kürzel verbarg, befand sich mittlerweile schon wieder vollkommen unbehelligt auf der Suche nach neuen Opfern. Auf der Suche nach mir. Oder nach Lodda, besser gesagt. Der Gedanke trieb mich ins Bad.

Die Hose hatte noch am wenigsten abbekommen. Ich warf sie über eine Stuhllehne. Blouson und T-Shirt waren im Grunde genommen reif für die Tonne, trotzdem weichte ich sie im Waschbecken ein, ging frühstücken, knetete die Sachen danach mit einer Mischung aus Duschgel und Zahnpasta durch und hängte sie über die Heizung. Wenn ich auf etwas Wert lege, dann auf eine gepflegte Abendgarderobe.

Menden hatte seine Leute vor dem Haus abgezogen. Aus welchen Gründen auch immer. Zwecklosigkeit kam mir als erstes in den Sinn und machte mich feixen. Heiko kam mir als zweites in den Sinn, und das Feixen ging von ganz allein wieder. Zwei Bullen vor der Türe zu haben hat, wenn man sich einen Moment Zeit zum Nachdenken nimmt, nicht nur Nachteile. Doch schade eigentlich, weg waren sie. Und heute hätte ich sie richtig gerne dabeigehabt. Ihre Anwesenheit hätte meinem unangemeldeten Auftauchen und drängendem Befragen von Eigentümern von Werkstätten und Schrottplätzen so einen, na, halboffiziellen Touch verliehen. Doch sei's drum. Wenn ich ehrlich mit mir war, machte ich das ja sowieso nur noch um des Gefühls willen, etwas getan zu haben. Von unterwegs telefonierte ich noch mal mit Kurt Hoffman und Dohle, aus dem gleichen Grund und mit dem gleichen Ergebnis. Negativ. Ich hing ein und stierte vor mich hin. So, jetzt hatte ich etwas getan.

Daheim wartete Mr. Lodda ungeduldig darauf, zum Leben erweckt zu werden. Ich hatte Pläne mit ihm. Doch vorher mußte ich noch zwei Telefongespräche hinter mich bringen, die ich unmöglich von zuhause aus führen konnte.

Bei Charly ging die Quatsche dran. Ich wartete den Pieps ab und sagte: »Nimm dich in acht vor Heiko.«

Dann wählte ich noch kurz entschlossen Scuzzis Nummer. Mal fragen, wie es unserm Bernd so geht.

»Du, was soll ich sagen«, meinte Scuzzi. »Er schläft. Soll ich ihn wecken? Willst du mit ihm sprechen?« Wollte er mich verarschen? Eine Dreiviertelstunde mit dem Hörer am Ohr für ein zögerndes >Nein<, während gleichzeitig die Gebühren wegtickten wie bei einer Stöhn-und-Grunz-Line?

»Nein, danke«, sagte ich, »aber es ist gut möglich, daß ich heute im Laufe des Abends, oder der Nacht, mal 'reinschaue. Möglicherweise in Begleitung. Und es wäre möglicherweise auch ganz gut, wenn du dir irgendeine Form von, na, Waffe in den Schreibtisch packst. Nur für den Fall.«

»Laß mich wiederholen, Schatz«, meinte Scuzzi mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Du kommst heute, irgendwann, oder auch nicht, und wenn, dann in Begleitung, oder auch nicht, von jemandem, der gefährlichen Stunk machen könnte. Oder auch nicht. Richtig?«

»Genau«, sagte ich.

»Gott, ich freu mich drauf«, seufzte es in mein Ohr.

»Es wird bestimmt nett. Wie immer, wenn du uns heimsuchst.« Damit hängten wir ein. Langsam, hatte ich das Gefühl, wurde es ernst.

Ich kniete mich vor mein Bett, klappte den Teppich zurück, hob das lose Dielenbrett an und kramte mein Arsenal hervor. Viel war es nicht: Zwei Paar Handschellen, eine Reitpeitsche, ein schwarzer Dildo, eine aufblasbare Gummiente, ein Glas Vaseline, ein Hundehalsband mit Kette, eine geblümte Kittelschürze, eine Pfauenfeder, die schon bessere Tage gesehen hatte. Ah ja, und ein Axtgriff aus Eschenholz und ein Totschläger aus Edelstahl, Titan und Blei. Den nahm ich raus. Lange nicht gesehen, dachte ich, wog ihn in der Hand und ließ ihn prüfend einmal auf das Kopfkissen niederzischen. Fünf Minuten später, als sich die Daunen weit genug gelegt hatten, daß man die Umrisse des Zimmers wieder erkennen konnte, steckte ich ihn in die rechte Hosentasche, ein Paar Handschellen in die linke, klopfte mich gründlich ab und verließ das Haus. Das ist ein cleveres kleines Instrument, mein Totschläger. Nicht länger als meine Hand, fährt er beim Zuschlagen blitzartig auf die Länge eines Armes aus, trifft präzise und, dank seiner bleigefüllten Spitze, mit Wucht und schnalzt dann geschmeidig zurück auf seine ursprüngliche Größe. Die Vorteile gegenüber einer simplen Länge Stahlrohr liegen in seinem wesentlich unauffälligeren Packmaß und dem erheblich geringeren Risiko, ihn während einer Rangelei entwunden und selber zu schmecken zu kriegen.

So gewappnet, nahm ich den Bus in die Stadt und von da aus die S-Bahn nach Essen.

Mit einer - ich muß es einfach zugeben - gewissen Lust ließ ich mich unterwegs in meine Idiotenrolle sacken. Ein Teil von mir war aufgezogen wie ein alter Wecker kurz vor dem Schnack! nach dem gar nichts mehr geht, doch der Rest meines Nervenkostüms schaffte es irgendwie, sich gleichzeitig mit perversem Vergnügen an meinem Rollenspiel zu ergötzen.

Unwiderstehlich grinsend schmatzte ich viel und feucht mit den Lippen, stierte unter lüstern gesenkten Lidern ungeheuer unauffällig um mich und überließ es der Phantasie meiner Umgebung, zu entscheiden, was es sein mochte, womit sich meine tief in die Taschen meiner überweiten Bundfaltenhose vergrabenen Hände wohl so beschäftigten.

In Essen angekommen, lungerte ich eine Weile im Bahnhof herum. Abgesehen von den paar versprengten Reisenden, die auf mich stets den Eindruck von Leuten auf der falschen Party machen - ganz so, als habe ihnen jemand erzählt, die Institution Bahnhof sei für sie und ihre Bedürfnisse eingerichtet worden und nicht als ein zentrales Sammelbecken für sämtliche Randfiguren der Stadt - einmal abgesehen also von diesen Exoten, denen man beim kofferzerrenden Defilee durch die Zombies unserer Gesellschaft immer >Nächstes Mal nehm ich wieder das Auto< von den angestrengt geradeaus starrenden Gesichtern ablesen kann, also diese Handvoll einmal außer acht gelassen, war dies hier in jeder Hinsicht genauso Dets Szene wie der Bierbrunnen, den ich später, und von da ab stündlich, aufsuchen wollte. Doch später.

Erstmal mischte ich mich unter die bierverblödeten Punker, die wenn's geht noch bierverblödeteren Fußballfans, die von Haus aus blöden und dann noch stumpf gesoffenen Skinheads, die gar nicht mehr ansprechbaren Berber, die nicht weniger weggetretenen, ausgemergelten Junkies, umschiffte die rosig angehübschten Stricher mit ihren Schnappmessern in den Augen und den Schäften ihrer Stiefelchen, umschiffte auch die abgefuckten und samt und sonders viel zu früh gealterten Drogennutten und schlug bewußt große Bögen um die immer, immer zu zweit oder zu dritt auf ladenneuen Trainern hellwach herumstehenden, jeder durch dunkle, dunkle Gläser in eine andere Richtung blickenden, ganz harten, ganz schnellen, handybewehrten Jungs in Schwarz.

Bis es mir langweilig wurde, denn kaum jemand beachtete mich.

Gemächlich wie eine Wasserleiche ließ ich mich von da aus die Kettwiger Straße hinuntertreiben, hier und da verweilend, ab und an einmal um meine Hochachse rotierend, mit schlappenden Sandalen und der gelösten Haltung und Miene von jemandem, der den lieben langen Tag lang nichts zu tun hat außer schnorren, popeln, saufen und onanieren; jemand, in dessen Oberstübchen die strahlenden Lichtverhältnisse und der geballte gedankliche Reichtum eines Pornokinos herrschen und der das alles klasse findet.

Die Sonne schien, darum war es schwül, aber es war auszuhalten. Ich eierte ziellos umher, ich gaffte, ich sabberte ein bißchen, ich sprach immer mal wieder ein paar Worte zu mir selbst, ich stellte mich vor das Schaufenster einer Dessousboutique und klopfte solange meine Hose von innen aus, bis die Ladeninhaberin mich bemerkte, mit einem Satz zum Telefon hechtete und ostentativ drei Nummern einhackte. Da ich keinen rechten Bock verspürte auf eine Fahrt mit der Minna und eine Tracht mit dem Knüppel, verdrückte ich mich um ein paar Ecken, fand mich auf dem Kennedyplatz wieder, wo ich schwärmeweise Tauben aufscheuchte und dafür um ein Haar von einer kleinen, alten Dame mit ihrer scharfkantigen Handtasche skalpiert worden wäre. Unter ihrem nervenzerfetzenden Gekeife zog ich weiter, allerdings nicht ohne meinen Gleichmut durch zwei oder drei wirklich obszöne Gesten wiederhergestellt zu haben.

Ich wollte auffallen und möglicherweise in leichte Schwierigkeiten geraten, wollte von Det bemerkt werden und ihm, falls er mir wieder nachschleichen sollte, eine Gelegenheit zum Eingreifen geben; es war ein bißchen wie eine raffinierte Brautschau. Nur, halt, nicht mit einer Schönen, sondern mit einem Mörder. Das war der kleine Unterschied, an den ich mich wieder und wieder selbst erinnern mußte, um nicht zu sehr in meiner Rolle aufzugehen und darüber meine Wachsamkeit eindösen zu lassen.

Denn mich in auffälliger Weise daneben zu benehmen schien meinem Naturell nur zu gut zu entsprechen. Ohne auch nur groß nachdenken zu müssen, fiel mir dummes Zeug zuhauf ein. Lauter Sachen, die ich immer schon mal hatte machen wollen. Und die Kettwiger Straße war in jeder Hinsicht genau der richtige Ort dafür. Hier gab's einfach alles: Obststände, wo man eigenohrig erfahren konnte, warum Marktschreier so heißen. Anstatt -flüsterer. Oder -grummler. Man braucht dazu nur unter den mißtrauisehen Augen der Standbesitzerin nach den mit dem Flugzeug aus den hinterletzten Ecken unseres Planeten importierten, sündteuren Exotika zu grapschen.

Grillstände, die einem die Möglichkeit boten, extra zur Erbauung einer zwischen Abscheu und gibbelnder Faszination hin- und hergerissenen, nicht-wohin-mit-sichwissenden Gruppe von Teenies unaussprechliche Akte oralen Sexes mit einer senftriefenden Bratwurst zu praktizieren.