DREIUNDZWANZIG
Das Haus, zu dem Idriss mich brachte, lag in einer schmalen Straße am südlichen Ende der Medina. Kinder beobachteten uns neugierig, als wir an ihnen vorbeigingen. Idriss trug mein Gepäck. Ein kleines Mädchen, dessen dunkle Augen vom Schein der orangefarbenen Natriumdampflampen erhellt wurden, zupfte mich am Ärmel. »Baksheesh, Madame. Please. Por favor. «
Idriss sagte rasch etwas auf Berberisch, und die Kinder rannten kreischend und lachend davon.
»Das ist nicht das erste Mal, dass sie Touristen sehen«, meinte ich ironisch.
»Die kleinen Affen, sie wissen genau, dass sie nicht betteln sollen. Ich habe es ihnen oft genug gesagt.«
»Dann kennen Sie sie?«
»Es sind meine Nichten und Neffen, die Kinder meines Bruders Rachid und seiner Frau Aïcha.« Vor einer Holztür, deren blauer Anstrich längst abgeblättert war, blieb er stehen, schloss auf und führte mich hinein. Dieses Haus war mit der blendenden Eleganz von Dar el-Bedi nicht zu vergleichen. Das grelle Licht einer nackten Glühbirne erleuchtete einen schmalen Flur, dessen Wände bis auf halbe Höhe mit bunten geometrisch gemusterten Kacheln aus einer Massenproduktion bedeckt waren. Ich hörte fremde Stimmen aus den verschiedenen Zimmern dringen, und einen plärrenden Fernseher. Idriss rief etwas über das Durcheinander hinweg, und plötzlich erschienen zwei Frauen in einer der Türen und fingen an, laut auf mich einzureden. Sie stürzten auf mich zu und hüllten mich in eine Wolke von Parfüm und Gewürzen, warmer Haut und bauschigen Gewändern. Unzählige Male küssten sie mich auf beide Wangen und drückten mir die Hände. »Marhaban, marhaban«, sagte die ältere immer wieder. Willkommen.
Schließlich ließen sie von mir ab. »Meine Mutter Malika«, sagte Idriss. Sie war eine Frau von undefinierbarem Alter; ihr Gesicht war von Runzeln gezeichnet und erinnerte an eine Höhenlinienkarte, auf der alle emotionalen Begebenheiten eines Lebens eingetragen waren. »Und meine belle-soeur, Aïcha, die mit Rachid verheiratet ist.«
Die zweite Frau grinste mir zu. Sie war jung - vielleicht Ende zwanzig - und trug einen Kittel, Jeans und einen hellen Seidenschal, den sie über ihr dunkles Haar zog. »Guten Tag«, sagte sie. »Idriss sagt, du bist Engländerin. Ich spreche Englisch ein wenig. Komm, komm mit mir. Ich zeige dir Zimmer.« Damit nahm sie mich bei der Hand und zog mich drei gekachelte Treppen hinauf zu einem Raum im obersten Stock. »Idriss’ Zimmer«, erklärte sie fröhlich. »Du schläfst hier.«
»Und wo soll Idriss schlafen?«, fragte ich nervös.
»Im Salon. Kein Problem. Ich bringe saubere Sachen.« Sie wuselte im Zimmer herum, zog mit gekonntem Schwung Laken und Decken vom Bett und verschwand. Ich blieb zurück und inspizierte mein neues Quartier. Ein Bett (schmal), ein Nachttisch, eine Lampe, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bücherregal, ein altmodischer Kerzenhalter, auf dem die Kerze halb heruntergebrannt war. Am Türhaken hing eine knöchellange Robe aus dunkelblauer Wolle mit einer spitzen Kapuze, wie ein Mönchsgewand, was den Eindruck, in eine Klosterzelle gestolpert zu sein, nur noch verstärkte.
Dann kam Aïcha mit frischer Bettwäsche auf dem Arm zurück. Als wir gemeinsam das Bett machten, fragte ich: »Wohnst du auch hier?«
»Natürlich. Die ganze Familie. Ich und mein Mann Rachid, unsere Kinder Mohammed, Jamilla und Laitifa, Idriss, seine Mutter Malika, sein Bruder Hassan und unsere Großmutter Lalla Mariam, wenn sie nicht in den Bergen ist.« Sie zählte jeden einzeln an den Fingern ab. »Wenn andere aus der Familie nach Rabat kommen, wohnen sie auch bei uns. Solange du hier bist, gehörst du zur Familie.«
»Danke, das ist sehr nett von euch.«
Sie presste die flache Hand auf ihr Herz. »Barakalaufik. Ist unsere Ehre.« Als wir die gestreifte Decke über das Bett breiteten, setzte sie hinzu: »Badezimmer ist nebenan, dort kannst du dich vor dem Essen waschen. Komm einfach runter, wenn du fertig bist.«
Idriss’ Zimmer war spartanisch, das Bad hingegen mehr als bescheiden. Es bestand aus einer winzigen, von der Decke bis zum Boden gekachelten Kabine. Unten links sprang ein Wasserhahn aus der Wand, ziemlich weit oben ein Duschkopf aus Plastik. Ein Wassereimer, ein Holzschemel, Seife, ein Becher mit drei Rasierklingen, ein zerbrochener Spiegel an der Tür, ein kleines weißes Handtuch. Ein ominöses Loch im Boden vervollständigte die Szene. Sehnsüchtig dachte ich an das luxuriöse Badezimmer zurück, das ich im Dar el-Bedi zurückgelassen hatte und musste die Vorstellung mit aller Macht verdrängen. Verfluchter Michael.
 
In der Küche stand Idriss und arbeitete mit beiden Händen aromatisches Öl in einen dampfenden Haufen Couscous ein, umwabert von Dunstschwaden. Er sah aus wie ein Geist, der einer magischen Flasche entsteigt. Hinter ihm schöpfte seine Mutter mit einem Suppenlöffel eine herrlich duftende rote Flüssigkeit in eine riesige Schüssel aus Ton. Sie lachten und unterhielten sich laut auf Berberisch, bis sie plötzlich die Hände mit den Handflächen nach oben ausstreckte und Idriss die seinen darauf schlug, sodass die Couscouskörnchen durch die Luft flogen wie Stäubchen aus geschmolzenem Gold. Dann kreischten sie vor Lachen und schwatzten weiter, mehr wie Schulfreunde als wie Mutter und Sohn. Ich kam mir wie ein Eindringling vor und wandte mich ab.
»Nein, nein, kommen Sie rein.« Idriss’ mandelförmige Augen glänzten. Er wirkte ganz anders als der wortkarge, grimmig dreinblickende Führer, der mich heute Nachmittag durch Salé geführt hatte. »Hier versuchen Sie mal - ist das zu scharf für Sie?« Er hielt mir einen Löffel der roten Flüssigkeit hin. »Europäer mögen Chili nicht so sehr.«
Ich probierte. Verschiedene feurige Aromen breiteten sich in meinem Mund aus. »Nein, das ist wunderbar. Was heißt ›köstlich‹ auf Berberisch?«
»Imim«, sagte er.
Ich berührte den Arm seiner Mutter. »Imim«, sagte ich und deutete auf die Sauce. »Imim, schukran
Ihr Gesicht verzog sich vor lauter Stolz zu tausend Falten, und dann redete sie auf Idriss ein, während ihre mit Khol umrandeten Augen immer wieder zwischen mir und ihm hin- und herschweiften. Idriss schüttelte den Kopf und versetzte ihr einen kleinen Klaps mit dem Löffel, worauf die Lautstärke ihrer Unterhaltung um ein weiteres Dezibel anstieg. Zuletzt scheuchte sie ihn aus der Küche, und er führte mich in einen kleinen Salon, der an allen Wänden mit Sitzbänken ausgestattet war. In der Mitte stand ein kleiner runder Tisch.
»Was hat sie gesagt?«
Er wirkte verlegen. »Ganz gleich, was ich ihr erklären will, sie scheint zu glauben, dass Sie meine Freundin sind.«
Jetzt war ich verlegen. »Ich hätte nicht gedacht, dass man hier ›Freundinnen‹ hat.«
Er sah mich neugierig an. »Was meinen Sie damit?«
Ich breitete die Hände aus. »Verzeihen Sie, aber ich weiß eigentlich nicht besonders viel über Ihre Kultur. In meinem Führer habe ich gelesen, dass Sex vor der Ehe in Marokko verboten ist. Besonders zwischen Marokkanern und Ausländern.«
Sein Gesicht wurde ganz ruhig. »Vieles, was verboten ist, passiert trotzdem«, sagte er steif. »Aber es gibt einen gesellschaftlichen Kodex hier; die Leute versuchen, ihn zu respektieren. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen meiner Kultur und der Ihren.« Er zögerte, als wollte er einschätzen, ob der Schlag gesessen hatte, und fügte dann hinzu: »Meine Mutter findet auch, dass Sie sehr schön sind.«
Ich merkte, dass ich puterrot anlief. »Ich glaube, das hat noch nie jemand von mir behauptet.« Es war scherzhaft gemeint gewesen, als Antwort auf die unerwartete Äußerung, doch noch während ich es sagte, ging mir auf, dass es stimmte. Nicht einmal Michael hatte mir so etwas gesagt, in all der Zeit, die wir zusammen waren - Michael am allerwenigsten, denn er ging mit seinen Komplimenten ebenso sparsam um wie mit seinen Gefühlen und seinem Geld.
»Nun, dann haben Sie sich mit Leuten umgeben, die die Wahrheit nicht mögen oder vielleicht auch nicht sehen wollen.« Und bevor ich etwas darauf antworten konnte, war er wieder verschwunden.
Als er zurückkam, trug er eine riesige Schale mit Couscous - einem spitz zulaufenden Haufen gelber Körner, mit Zucchini, Möhren, Kürbis, grünen Bohnen und Fenchel verziert und mit der glänzenden würzigen Sauce übergossen. Ihm folgten wie dem Rattenfänger von Hameln jede Menge Menschen, die alle durcheinanderredeten: seine Mutter Aïcha, drei Kinder (darunter auch das kleine Mädchen, das mich draußen angesprochen hatte), ein hochgewachsener, stiller junger Mann im Anzug, der mir als Aïchas Mann Rachid vorgestellt wurde, noch einer, der wie eine jüngere Version von Idriss aussah (»mein Bruder Hassan, das bedeutet hübsch auf Arabisch - passt zu ihm, nicht?«), strahlend lächelte, sehr charmant war und seine Sonnenbrille nach oben geschoben hatte, und ein älteres Paar (»mein Onkel und meine Tante«), der Mann in einer abgetragenen Djellaba und seine plumpe Frau mit eisengrauem Haar, die mich mit einem feierlichen Nicken begrüßte und mir dann zuzwinkerte. Alle setzten sich um den Tisch, entweder auf die niedrigen Sitzbänke oder auf Lederpuffs, die aus anderen Zimmern herbeigeschleppt wurden, und fingen nach einem gemurmelten Gebet sofort an zu essen, indem sie mit den Fingern Couscous und Gemüse fachmännisch zu kleinen Bällchen rollten. Der ältere Mann machte einen großen Kloß aus der Mischung und warf ihn sich aus Armeslänge lässig in den Mund, sehr zum Entzücken der Kinder, die drauf und dran waren, es ihm nachzumachen, bis Aïcha sie zurechtwies. »Mange, mange«, forderte Idriss’ Mutter mich auf, stolz auf ihr Französisch.
Ich lächelte schwach und fing Idriss’ Blick auf. Er beobachtete mich erwartungsvoll, als wollte er sehen, wie ich mit dieser heiklen Situation fertig wurde. Ich riss mich zusammen. Jedenfalls würde ich nicht die weichliche Europäerin spielen und um einen Teller und eine Gabel bitten. Ich tauchte die Finger in den Körnerberg und hätte beinahe aufgeschrien, denn er war außergewöhnlich heiß. Dann kam ich auf die Idee, ein Stück Möhre als Löffel zu gebrauchen und schaffte es, einen großen Happen in den Mund zu bekommen, ohne alles auf dem Tisch zu verteilen.
Das Tajine im Dar el-Bedi gestern Abend war ausgezeichnet gewesen, doch das hier war ein ganz neuer Vorstoß in die Welt der Gewürze. Es schmeckte feiner als die thailändische, komplexer als die indische, anspruchsvoller als die chinesische Küche und war eine wunderbar köstliche Erfahrung.
»Hier.« Der junge Mann, der Idriss ähnelte, schob mir ein Stück weichen, orangefarbenen Kürbis zu. »Das Beste: Bei uns heißt er Käse der Berber.«
»Schukran
Alle nickten beifällig angesichts meiner Sprachkenntnisse, und bald pickten sie die leckersten Bissen aus dem Berg und drängten sie mir auf, bis ich nicht mehr konnte.
Später, sehr viel später, so schien es - nachdem ich die Fragen über mein Leben, meine Familie, meine Freunde, meinen Familienstand, das Leben in London, den Grund meiner Reise nach Marokko, wie ich Idriss kennen gelernt hatte und warum ich bei ihnen übernachtete, abgewehrt hatte -, stand ich auf der Dachterrasse des Hauses und rauchte meine erste Zigarette seit zwanzig Jahren. Sie schmeckte fürchterlich, aber ich rauchte sie trotzdem. An diesem Tag waren meine Nerven so oft überstrapaziert worden, dass ich das Gefühl hatte, das gewohnte Muster durchbrechen zu müssen, egal wie.
Idriss lehnte an einer Wand, und der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich in die stille Nachtluft. »Also Julia, erzählen Sie mir, warum Sie vor dem Mann flüchten, der sich als Ihr Ehemann ausgibt?«
Ich seufzte und zog ein letztes Mal an der Zigarette, um die Antwort hinauszuzögern. Seit wir das Dar el-Bedi verlassen hatten, hatte ich diese Frage erwartet und wusste immer noch nicht, was ich antworten sollte, ob ich diesem Fremden die Wahrheit sagen oder mir eine strategische Lüge ausdenken sollte. Unter uns erkannte ich die Reste eines kleinen Markts: gestreifte Planen, die lose über ein Gerüst gezogen waren, vom Wind verwehter Unrat, verstreutes Gemüse. Eine hagere Katze saß mittendrin, nachdem sie sich ihr Territorium für die Nacht zurückerobert hatte, und putzte ihr ausgestrecktes Bein. Am Ende sagte ich: »Ich besitze etwas, was er haben will. Etwas sehr Wertvolles.«
Im Dunkeln war es schwer zu sagen, ob seine Augen aus Neugier oder Habgier funkelten. »Dieses Etwas muss sehr wichtig für ihn sein, wenn er einen ganzen Kontinent überquert, um es zu finden.« Er ließ den Stummel fallen und drückte ihn mit dem Absatz aus, bis die Glut gelöscht war. »Vielleicht sind Sie ja das, was er haben will.«
»Das glaube ich nicht!«
»Das klingt sehr entschieden, und, wenn ich das so sagen darf, auch ein wenig bitter!«
Ich starrte ihn an und wandte dann den Blick ab.
»Ist er Ihr Mann? Oder war er einmal Ihr Mann?«
»Nein. Weder jetzt noch jemals. Warum interessiert Sie das eigentlich so? Sie haben mich doch gerade erst kennen gelernt.«
»Julia! Ich habe noch nie eine so verängstigte Frau gesehen wie Sie heute Nachmittag im riad. Irgendwas an diesem Mann hat Sie furchtbar erschreckt, und das gefällt mir nicht. Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie hier sicher sind. Mein Haus ist Ihr Haus, und solange Sie hier sind, gehören Sie zur Familie. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: Niemand kann Sie hier bedrohen.«
Tränen brannten in meinen Augen. Ich lehnte den Kopf gegen die Balustrade, und sie fühlte sich kühl und rau auf meiner erhitzten Haut an. »Sie haben gesagt, dass Sie jemanden in der Universität kennen, der sich mit den Korsaren auskennt?«
Er nickte. »Ein Freund, ja, Khaled. Er ist Historiker und unterrichtet dort.«
»Kennen Sie ihn schon lange? Kann man ihm trauen?«
»Er ist ein guter Mann und war ein Freund meines Vaters. Sie sind zusammen in den Bergen aufgewachsen. Er ist wie ein Onkel für mich. Wenn Sie mich fragen, ob er vertrauenswürdig ist, dann sage ich, ja, absolut.«
»Glauben Sie, dass wir ihn morgen aufsuchen könnten?«
»Vormittags unterrichtet er, und danach geht er in die Moschee, aber vielleicht kann er uns am Nachmittag empfangen. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn an.«
»Vielen Dank.« Ich schaute auf, ein wenig erleichtert.
Doch er sah mich nicht an. Sein Blick war auf den Nachthimmel hinter mir gerichtet. »Schauen Sie!«
Seine Hände waren warm, als er sie auf meine Schultern legte und mich gerade noch rechtzeitig herumdrehte, um einen Stern durch die schwarze Nacht fallen zu sehen. »Oh!« Am nördlichen Himmel, direkt über dem Meer, fiel ein zweiter, und noch einer. »Sternschnuppen …« So etwas hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich als Siebenjährige mit meinem Vater an einem Kiesstrand in der Nähe unseres Hauses gesessen hatte, als die Zukunft noch unvorstellbare Verheißungen enthielt und alles neu und voller Magie war.
»Schön, nicht? Meine jeddah, meine Großmutter, hat uns immer erzählt, sie wären das Feuerwerk des Teufels. Aber das sind keine Sterne, sondern Meteorschauer - die Perseiden, um diese Jahreszeit. Es ist ein riesiges Glück, sie zu sehen.«
»Vielleicht brauche ich dann für eine Weile keine Chamäleons zu verbrennen.«
Ich spürte sein Lachen wie eine Vibration, die durch seine Hände bis in meine Knochen fuhr. Sein warmer Atem streifte meinen Nacken, und für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete ich, ich könnte mich umdrehen und ihn küssen. Bei dem Gedanken, dieses starke, dunkle Gesicht in den Händen zu halten, seine Lippen zu berühren, seine schmalen Hände auf der Haut unter meinem Hemd zu spüren, erschauerte mich am ganzen Körper. Die sexuelle Spannung hielt uns fest wie ein Schraubstock, dann trat ich hastig zur Seite und war wieder frei.
»Kommen Sie mit«, sagte ich, die Entscheidung war gefallen. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
 
»Das ist das Ding, das Michael so dringend haben will, dass er mir bis nach Marokko gefolgt ist.« Ich nahm Cats Büchlein aus meiner Handtasche und reichte es Idriss. Dann setzte ich mich aufs Bett, während er den Stuhl näher an die Kerze rückte und den Kopf über das Buch beugte. Ehrfürchtig strich er über den Einband aus Kalbsleder und schlug es vorsichtig auf, als wären die Seiten Blätter einer zerbrechlichen und seit Langem gepressten Blüte. Eine ganze Weile überflog er es still, dann las er laut, stockend und mit einigen Berichtigungen: »›… Ich fürchte mich vor der Zukunft, wegen meiner dummen Lüge, daß wir aus einer reichen Familie stammen, die ein großes Lösegeld zahlen kann, damit wir zurückkehren. Aber er droht mir auch damit, mich an den Sultan zu verkaufen, der so etwas wie ein König in ihrem Land ist; er sagt, ich werde einen guten Preis auf dem Markt von Sallee holen mit meinem roten Haar & der blassen Haut. Ich wünschte, ich hätte den Rat der alten Annie Badcock beherzigt und wäre mit Rob nach Kenegie zurückgekehrt …‹ Tut mir leid, mein Englisch ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Ich habe Probleme, es zu lesen. Aber wenn ich richtig verstehe, scheint es sich um den Bericht einer weiblichen Gefangenen in der Hand der Korsaren zu handeln, den sie selbst verfasst hat?«
Ich nickte.
»Ist er echt?«
»Das hängt davon ab, was Sie unter echt verstehen. Ich glaube, dass er authentisch ist, aber ich brauche die Meinung eines Experten.«
Seine Augen glänzten. »Das ist unglaublich! Wenn es echt ist, haben Sie hier ein Stück der wahren Geschichte Marokkos in der Hand, Julia Lovat. Es ist ein Wunder, ein magisches Fenster in die Vergangenheit. L’histoire perdue. So etwas habe ich noch nie gehört, jedenfalls nicht schon 1625 und erst recht nicht von einer Frau. C’est absolument incroyable
Er küsste das Buch, und dann, als hätte er etwas übersehen, kam er quer durchs Zimmer und küsste mich vier Mal auf beide Wangen. Ich spürte noch den Druck seiner Finger auf meinen Oberarmen, als er zurückwich.
»Tut mir leid, verzeihen Sie bitte.«
Ich zwang mich zu einem Lachen. »Es gibt nichts zu verzeihen. Es ist wirklich erstaunlich, nicht wahr?«
»Kann man wohl sagen. Aber eins verstehe ich nicht - was sind das für Bilder?« Er zeigte auf eins der Stickereimuster, ein hübsches Vogelpaar, dessen Köpfe sich umschlangen, umgeben von einer Laube aus Blättern und Rosen.
»Das sind Vorlagen, Stickereivorlagen«, erklärte ich und nahm ihm das Buch aus der Hand. »Ganz einfache Muster für junge Mädchen bei ihrer Handarbeit.« Ich ahmte den Vorgang des Stickens nach. »Um ihre Kleider zu schmücken oder Dinge im Haus - Bettwäsche, Tischdecken, alles Mögliche. Englische Frauen haben im Lauf der Jahrhunderte eine Menge Zeit damit verbracht. Manche tun es heute noch.« Ich steckte Cats Buch in meine Handtasche und nahm die einzige Stickerei heraus, an der ich gerade arbeitete - den Schal, der an drei von vier Ecken schon mit Pfauenfedern in herrlichen Grün- und Blautönen geschmückt war. Ich überlegte noch, ob ich das Motiv in der letzten Ecke verändern sollte, allerdings war mir bislang nichts eingefallen.
»Haben Sie das gemacht?«
»So erstaunt brauchen Sie nun auch nicht zu sein.«
Er lächelte. »Es ist nur … nun ja, ich dachte, Frauen wie Sie hätten zu viel zu tun, wären zu modern, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. So etwas hätte meine Großmutter sticken können. Sie müssen es ihr zeigen, wenn sie von ihrem Besuch zurückkehrt. Sie liebt die Federn des paoni. Sie hat sogar welche in einer Vase in ihrem Zimmer stehen.«
»Pfauenfedern?«
»Pfauen, ja. Jeddah wird morgen oder übermorgen Abend zurück sein. Rachid holt sie mit dem Wagen ab.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich dann noch hier bin. Wenn wir morgen mit Ihrem Experten sprechen können und ich weiß, woran ich bin, werde ich wahrscheinlich abends den Zug nach Casablanca nehmen und übermorgen nach Hause zurückfliegen.«
Ein unergründlicher Ausdruck flog über sein Gesicht. Dann sagte er: »Warten Sie.«
Kurz darauf kehrte er mit einem Kleidungsstück über dem Arm zurück.
»Ich dachte, morgen sollten Sie lieber das hier tragen, für den Fall, dass wir unterwegs Ihrem … Michael? begegnen.«
Es war eine mitternachtsblaue Djellaba, ganz schlicht, aber aus feiner Baumwolle, obwohl die Ärmelaufschläge und Säume mit der Maschine bestickt und nichts Besonderes waren. Dazu gehörte ein Stück weiße Baumwolle, das ich als Hijab benutzen konnte.
Ich lachte. »Damit werde ich aussehen wie eine Nonne.«
Er runzelte die Stirn. »Eine Nonne?«
»Wie ein Mönch, ein frère, aber als Frau … eine soeur
Nun musste Idriss lachen. »Ich glaube, nicht mal, wenn Sie sich Mühe geben, würden Sie wie eine Nonne aussehen. Nicht mit solchen Augen.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, deshalb sagte ich gar nichts. Als er merkte, dass er mich in Verlegenheit gebracht hatte, senkte Idriss den Kopf. »Ich muss jetzt gehen und mit meinem Bruder sprechen, bevor er schläft. Ich möchte, dass meine Großmutter etwas aus den Bergen mitbringt. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Julia. Timinciwin. Ollah.« Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, küsste die Handflächen und legte sie auf sein Herz. »Schlafen Sie gut.« Und damit verschwand er.
 
Ich stieß die Fensterläden auf und setzte mich auf den kleinen Gebetsteppich, um zu beobachten, wie der Mond über den Dächern der Medina aufging. Wie lange ich dort saß, weiß ich nicht. Der Muezzin sang, und die Sterne kreisten. Ich dachte an Michael und daran, dass das Leben uns so weit gebracht hatte, dass er mich über Kontinente hinweg verfolgte, um ein Geschenk zurückzufordern, das das Ende unserer Affäre symbolisiert hatte. Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich ihn mir nicht mehr vorstellen konnte. Seine Augen, ja, seinen Mund, die Form seines Kopfes, aber nicht alles zusammen. Ich konnte das Gesicht als Ganzes nicht erkennen, auch nicht einen einzigen Ausdruck. Was für ein Mensch war das eigentlich gewesen, mit dem ich die ganze Zeit eine Beziehung gehabt hatte? Je mehr ich versuchte, an Michael zu denken, umso mehr entglitt er mir, und nach einer Weile begriff ich, dass allein das bezeichnend genug war. Ich hatte die letzten sieben Jahre in meiner Fantasie gelebt und eine Rolle gespielt mit einem Mann, der kam und ging, wie es ihm gerade passte.
Mit solchen Gedanken im Kopf ging ich schließlich zu Bett. Es war ein komisches Gefühl, zum ersten Mal seit Teenagerzeiten wieder in einem Einzelbett zu liegen, komisch, aber irgendwie auch tröstlich, so eingeschränkt zu sein. Trotzdem wälzte ich mich hin und her, und immer wieder wurde mein Schlaf von Bilderfetzen unterbrochen, wie ich in Rabat und Salé herumgelaufen war. Verschleierte Frauen und Kapuzenmänner verfolgten mich durch schmale Gassen, in deren Gewirr ich mich verlor, und stellten mich in einer Sackgasse mit lauter Türen, die sich nicht öffnen ließen.
Mitten in der Nacht war ich plötzlich überzeugt, dass mir jemand den ganzen Weg bis zu Idriss’ Haus gefolgt war, dass er ins Haus eingedrungen und sich in dieses Zimmer geschlichen hatte, in dem ich schlief. Ich fuhr auf. Schweiß rann zwischen meinen Brüsten hinab, mein Puls raste. Niemand war da. Mit hämmerndem Herzen legte ich mich wieder hin und zwang mich zur Ruhe, doch an Schlaf war nicht zu denken.
Letztendlich schwang ich die Beine aus dem Bett, tappte quer durchs Zimmer und zündete die Kerze an. Der Himmel, den ich durch die Ritzen der Klappläden sehen konnte, war pechschwarz: Bis zur Dämmerung würde es noch eine ganze Weile dauern. Ich beschloss, weiter in Catherines Tagebuch zu lesen, vielleicht könnte ich dann einschlafen. Ich stellte die Kerze auf den Nachttisch, damit ihr Schein auf das Buch fiel, dann zog ich meine Handtasche näher und griff hinein. Meine Finger tasteten durch den Inhalt: Brieftasche, Pass, Handy, Bürste, Schminksachen, Taschentücher, Kaugummi. Im zweiten Fach fand ich nur meine Stickerei, ein Notizbuch und einen Stift.
Das Tagebuch war verschwunden.
Mit einem Mal war mir eiskalt. Zuallererst dachte ich, dass mein Traum doch kein Traum gewesen war. Aber das war ganz sicher verrückt. Ich stand auf, strich über die Bettdecke, falls mein Gedächtnis ausgesetzt hatte und ich das Buch auf dem Bett hatte liegen lassen, bevor ich eingeschlafen war. Natürlich war es nicht da. Auch nicht auf dem Boden, auf dem Stuhl oder im Bücherregal. Angesichts der kargen Einrichtung konnte ich wirklich nirgendwo sonst nachschauen, und so blieb mir keine andere Wahl als anzunehmen, dass irgendwer - Michael? - tatsächlich ins Zimmer gekommen und es gestohlen hatte, während ich schlief.
Ich zog die Djellaba über T-Shirt und Unterhose, in denen ich geschlafen hatte, und bewegte mich durch das stille, dunkle Haus nach unten. Die ersten beiden Treppen trug mich meine Wut, doch als ich die dritte erreichte, wich sie der Unsicherheit. Im Erdgeschoss stockte mir das Herz. Flackerndes Licht tanzte über den gekachelten Boden und warf düstere Schatten an die Wand, sodass ich unwillkürlich an die Djinn aus 1001 Nacht denken musste, Geister, die aus rauchlosen Feuern erschaffen wurden und auf Quälerei und Zerstörung aus sind oder die Unvorsichtigen und Törichten verleiten. Ich holte tief Luft, verdrängte meine abergläubischen Ängste und ging direkt auf die Quelle des Lichts zu.
Es fiel durch die offene Tür des Salons, wo eine einzelne Kerze brannte und die Gestalt, die dort saß und ein Buch las, in goldenes Licht tauchte. Mein Buch: Catherines Buch.
Ebenso seltsam geistesgegenwärtig wie eine schläfrige Katze wandte sich Idriss genau in dem Moment um, als ich über die Schwelle trat. Wir setzten beide gleichzeitig zum Sprechen an.
»Was machen Sie -«
»Tut mir leid -«
Dann hielten wir inne und starrten uns an, jeder spiegelte die Bestürzung des anderen wider. Idriss winkte mich herein. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und hören Sie sich das an.« Und dann zeigte er mir die Seite, die er gerade gelesen hatte.
»›Sie stellten mich auf den Block und öffneten das Gewand, um mein rotes Haar und die weiße Haut bloßzustellen. Sie priesen meine blauen Augen, meine Jungfreulichkeit und Reinheit, und viele Männer boten auf mich, als wäre ich eine Ware, bis ich verkauft war und zur Seite geführt wurde. Das war das lezzte Mal, daß ich meine Mutter oder Tante sah, ein grausamer Abschied, doch die schmerzlichste Trennung war die von meiner guten Matty, und wir beide schluchzten bitterlich, als sie mich mitnahmen …‹«
Die Zehnte Gabe: Roman
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