BOWDEN CABLES
-Tagebuch eines LitAg
Zwanzig Sekunden nach Janes Entführung bemerkte die erste
Leserin merkwürdige Vorgänge auf Seite 107 der ledergebundenen
Luxusausgabe ihres Lieblingsromans. Nach einer halben Stunde
bildeten sich vor den Eingängen zur Bibliothek des Britischen
Museums lange Schlangen von Literaturfreunden, die alle nach Jane
Eyre fragten. Nach zwei Stunden bombardierten besorgte Brontë-Fans
sämtliche LitAg-Dienststellen des Landes mit Anrufen. Nach vier
Stunden sprach der Vorsitzende der Brontë-Gesellschaft beim
Premierminister vor. Am frühen Abend telefonierte der persönliche
Sekretär des Premierministers mit dem SpecOps-Chef. Um neun Uhr
las der SpecOps-Chef dem armen Braxton Hicks gehörig die Leviten.
Gegen zehn erhielt Hicks einen Anruf vom Premierminister
persönlich, der wissen wollte, was zum Teufel er in dieser
Angelegenheit zu unternehmen gedenke. Hicks stammelte wenig
Hilfreiches in den Hörer. Inzwischen hatte die Presse Wind davon
bekommen, daß die Fäden der Ermittlungen im Fall Jane Eyre in
Swindon zusammenliefen, und um Mitternacht umringten betroffene
Leser, Journalisten und die Übertragungswagen der
Nachrichtensender das SpecOps-Gebäude.
Hicks’ Laune war alles andere als gut. Er hatte angefangen, Kette zu
rauchen, und sich stundenlang in seinem Büro eingeschlossen. Nicht
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einmal sein geliebtes Golftraining vermochte seine Nerven zu
beruhigen, und kurz nachdem er den Anruf des Premierministers
erhalten hatte, zitierte er Victor und mich zu einer Besprechung aufs
Dach, wo er hoffte, den neugierigen Blicken der Presse-und GoliathLeute, vor allem aber der Überwachung durch Jack Schitt entzogen zu
sein.
»Sir?« sagte Victor, als wir uns dem Commander näherten, der an
einem bröckelnden Schornstein lehnte. Hicks starrte derart entrückt
auf die Lichter Swindons hinab, daß ich es mit der Angst zu tun
bekam. Die Brüstung war kaum zwei Meter entfernt, und einen
bangen Augenblick lang glaubte ich gar, er wolle allem ein Ende
machen und sich vom Dach stürzen.
»Schaut sie euch an«, murmelte er.
Uns fiel ein Stein vom Herzen, als wir erkannten, daß er nur hier
heraufgekommen war, damit er die Menschen sehen konnte, deren
Wohl zu mehren seine Abteilung einst geschworen hatte. Zu
Tausenden harrten sie hinter Absperrgittern aus und belagerten
schweigend das Revier, in der Hand flackernde Kerzen und alle
möglichen Ausgaben von Jane Eyre. Der Roman war inzwischen
erheblich entstellt: Irgendwo zwischen Seite 100 und 140, unmittelbar
nach dem Brand in Rochesters Zimmer drang ein mysteriöser »Agent
in Schwarz« in den Roman ein, und kurz danach brach die Geschichte
abrupt ab.
Der Commander hielt sein Exemplar von Jane Eyre hoch. »Ich
nehme an, Sie haben es gelesen?«
»Da gibt es nicht mehr viel zu lesen«, sagte Victor. » Eyre ist in der
ersten Person geschrieben; sobald die Protagonistin verschwunden ist,
weiß keiner, wie es weitergeht. Ich befürchte, daß Rochester noch
schwermütiger wird, als er es ohnehin schon war, Adele auf ein
Internat schickt und sich in seinem Haus verschanzt.«
Hicks warf ihm einen erbosten Blick zu.
»Das ist reine Spekulation, Analogy.«
»Das ist unsere Spezialität.«
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Hicks seufzte.
»Ich soll sie wiederbringen, dabei habe ich keinen Schimmer, wo sie
steckt! Hatten Sie vor dieser Sache eine Ahnung, wie beliebt Jane
Eyre ist?«
Wir sahen auf die Menge hinab.
»Ehrlich gesagt, nein.«
Die Zurückhaltung unseres Chefs war dahin. Er wischte sich die
Stirn; seine Hand zitterte merklich. »Was soll ich bloß machen? Es ist
zwar noch nicht amtlich, aber wenn wir in dieser verfluchten
Angelegenheit bis nächsten Donnerstag keine deutlichen Fortschritte
gemacht haben, übernimmt Jack Schitt unseren Laden.«
»Schitt interessiert sich nicht für Jane«, sagte ich und folgte seinem
Blick hinunter zu den Unmengen von Brontë-Fans. »Ihm geht es nur
um das ProsaPortal.«
»Wem sagen Sie das, Next? Mir bleiben noch sieben Tage, bis ich
der Vergessenheit anheimfalle, sieben Tage bis zu meiner historischen
und literarischen Verdammung. Ich weiß, daß wir uns nicht immer
einig waren, aber hiermit stelle ich Ihnen ausdrücklich frei, zu tun,
was Sie für richtig halten. Und«, setzte er großmütig hinzu, »Geld
spielt dabei keine Rolle.« Er atmete tief durch. »Was natürlich nicht
heißt, daß Sie es mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen sollen,
ja?«
Wieder ließ er den Blick über Swindon schweifen. »Ich bin ein
ebenso leidenschaftlicher Brontë-Fan wie jeder andere, Victor. Was
soll ich bloß tun? Was würden Sie sagen?«
»Ich würde seine Forderungen erfüllen, ohne Goliath etwas davon
zu sagen. Außerdem brauche ich ein Manuskript.«
Hicks’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was für ein
Manuskript?«
Victor gab ihm einen Zettel. Braxton las es und zog die
Augenbrauen hoch.
»Das besorge ich Ihnen«, sagte er langsam, »und wenn ich es
eigenhändig stehlen muß.«
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31.
In der Volksrepublik Wales
Ironischerweise wäre Wales ohne die blutige
Niederschlagung der Aufstände von Pontypool, Cardiff
und Newport im Jahre 1839 vermutlich nie eine Republik
geworden. Mit Unterstützung der Großgrundbesitzer und
infolge der allgemeinen Entrüstung über die Ermordung
von 236 wehrlosen Walisern und Waliserinnen konnten
die Chartisten die Regierung zu einer raschen
Parlamentsreform bewegen. Vom Erfolg beflügelt und im
Plenum zahlreich vertreten, gelang es ihnen, Wales nach
dem achtmonatigen »Großen Streik« von 1847
weitestgehende Autonomie zu verschaffen. 1854 erklärte
Wales unter der Führung von John Frost schließlich seine
Unabhängigkeit. Die komplizierte Lage in Irland und auf
der Krim machte es England quasi unmöglich, gegen die
zu allem entschlossenen, kampferprobten Waliser
vorzugehen. Die Handelsbeziehungen waren gut, und,
bereits ein Jahr später trat die Devolution, verbunden mit
einem anglo-walisischen Nichtangriffspakt, endgültig in
Kraft.
ZEPHANIA JONES,
Wales – Geburt einer Republik
Seit der Schließung der anglo-walisischen Grenze im Jahre 1965
fungierte die A4 von Chepstow nach Abertawe als
Wirtschaftskorridor, den nur Geschäftsleute und Fernfahrer passieren
durften, um in der Stadt Handel zu treiben oder im Hafen Frachtgut zu
laden. Rechts und links der A4 standen hohe Stacheldrahtzäune, die
den Besuchern deutlich machen sollten, daß es streng verboten war,
die vorgeschriebene Strecke zu verlassen.
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Abertawe galt als »Freihandelszone«. Die Steuern waren niedrig,
und Zölle gab es fast überhaupt keine. Bowden und ich fuhren
langsam ins Zentrum; die gläsernen Türme der Großbanken entlang
der Küstenstraße waren die steingewordenen Symbole einer
Freihandelsphilosophie, die, obgleich durchaus profitabel, keineswegs
bei allen Walisern auf Begeisterung stieß. Der Rest der Republik war
eher schmucklos und traditionell; in manchen Gegenden hatte sich das
kleine Land in den vergangenen hundert Jahren so gut wie gar nicht
verändert.
»Und jetzt?« fragte Bowden, als wir vor der Goliath First National
Bank hielten. Ich klopfte auf die Aktentasche, die Braxton mir am
Abend zuvor gegeben hatte. Er hatte mich gebeten, sparsam mit dem
Inhalt umzugehen; wie es aussah, war dies unsere letzte Chance, bevor
Goliath uns die Zügel aus der Hand nahm.
»Besorgen wir uns eine Mitfahrgelegenheit nach Merthyr.«
»Sie würden das nicht sagen, wenn Sie keinen Plan hätten.«
»Meinen Sie, ich habe in London Däumchen gedreht, Bowden? Mir
schuldet noch jemand einen Gefallen. Hier entlang.«
Wir gingen an der Bank vorbei und bogen in eine kleine
Seitenstraße, wo sich ein Laden an den anderen reihte; hier gab es
Geldscheine, Orden, Münzen, Gold – und Bücher. Wir zwängten uns
an den Händlern vorbei, die sich überwiegend auf walisisch
unterhielten, und standen schließlich vor einem kleinen Antiquariat, in
dessen Schaufenstern sich vergilbte Folianten türmten, von
vergessener Weisheit schwer. Bowden und ich wechselten einen
nervösen Blick, atmeten tief durch, ich stieß die Tür auf, und wir
traten ein.
Im hinteren Teil des Ladens klingelte ein Glöckchen, und von
irgendwoher erschien ein hochgewachsener Mann mit wirrem grauem
Haar und krummem Rücken. Er beäugte uns mißtrauisch über den
Rand seiner Halbbrille hinweg, doch als er mich wiedererkannte, wich
sein Mißtrauen einem Lächeln.
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»Thursday, bach! « murmelte er und umarmte mich liebevoll. »Was
führt dich hierher? Du bist doch sicher nicht extra nach Abertawe
gekommen, um einen alten Mann zu besuchen, oder?«
»Ich brauche deine Hilfe, Dai«, sagte ich leise. »So dringend wie
noch nie.«
Er hatte vermutlich die Nachrichten verfolgt, denn er verstummte
auf der Stelle. Er nahm einem potentiellen Kunden freundlich einen
frühen Gedichtband von R. S. Thomas aus der Hand und
komplimentierte ihn unter dem Vorwand, der Laden werde gleich
geschlossen, zur Tür hinaus, bevor der Lyrikfreund auch nur daran
denken konnte, sich zu beschweren.
»Das ist Bowden Cable«, erklärte ich, während der Buchhändler
absperrte. »Er ist mein Partner; wenn du mir vertraust, kannst du auch
ihm vertrauen. Bowden, das ist Manuskripte-Jones, mein walisischer
Kontaktmann.«
»Aha!« rief der Buchhändler und schüttelte Bowden herzlich die
Hand. »Thursdays Freunde sind auch meine Freunde. Das ist BücherHaelwyn«, stellte er uns seine schüchtern lächelnde Assistentin vor.
»Nun, meine kleine Thursday, was kann ich für dich tun?«
Ich zögerte. »Wir müssen nach Merthyr Tydfil …«
Der Buchhändler lachte nervös.
»… heute noch«, setzte ich hinzu.
Er hörte auf zu lachen, verschwand hinter dem Ladentisch und
rückte gedankenverloren einen Bücherstapel zurecht.
»Dein Ruf eilt dir voraus, Thursday. Wie man hört, bist du auf der
Suche nach Jane Eyre. Wie man hört, hast du ein gutes Herz – du hast
dem Bösen mutig die Stirn geboten, und du hast überlebt.«
»Und was hört man sonst so?«
»Daß tiefe Finsternis die Täler erfüllt«, fuhr Haelwyn mit
unheilschwangerer Stimme dazwischen.
»Danke, Haelwyn«, sagte Jones. »Der Mann, den du suchst …«
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»… und daß Rhondda seit Wochen unter dunklen Wolken liegt«,
fuhr Haelwyn fort, die offenbar noch nicht fertig war.
»Das reicht, Haelwyn«, befahl Jones. »Hinten liegen noch ein paar
neue Exemplare von Cold Comfort Farm, die nach Llan-dod
verschickt werden müssen, hmm?«
Haelwyn ging mit beleidigter Miene davon.
»Was hältst du davon, wenn …«, begann ich.
»… und die Kühe geben saure Milch!« rief Haelwyn hinter einem
Bücherregal hervor. » Und in Merthyr spielen seit Tagen die
Kompasse verrückt!«
»Beachtet sie gar nicht«, entschuldigte sich Jones. »Sie liest zu viele
Bücher. Aber wie soll ich euch helfen? Ich, ein alter Buchhändler
ohne Verbindungen?«
»Ein alter Buchhändler mit walisischer Staatsbürgerschaft und
Reisefreiheit braucht keine Verbindungen, um zu fahren, wohin er
will.«
»Moment mal, Thursday, bach; du willst, daß ich euch persönlich
nach Merthyr hineinschmuggeln soll?«
Ich nickte. Jones war meine letzte und einzige Chance. Leider gefiel
ihm mein Plan nicht halb so gut, wie ich gehofft hatte.
»Und warum sollte ich das tun?« fragte er in scharfem Ton. »Weißt
du, was auf so etwas steht? Ich bin ein alter Mann. Soll ich meine
Tage etwa in einer Zelle auf Skokholm beenden? Das ist zuviel
verlangt. Ich bin vielleicht verrückt – aber nicht dumm.«
Ich hatte gewußt, daß er das sagen würde.
»Wenn du uns hilfst«, begann ich und griff in meine Aktentasche,
»gebe ich dir … das.«
Ich legte das Blatt vor ihm auf den Ladentisch; Jones holte tief Luft
und sank mit einem schweren Seufzer auf einen Stuhl. Er brauchte es
sich nicht aus der Nähe anzusehen; er wußte auch so, was er da vor
sich hatte.
»Wo … wo hast du das her?« fragte er mich argwöhnisch.
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»Der englischen Regierung ist die Rückgabe von Jane Eyre sehr
wichtig – so wichtig, daß sie zu einem Tauschhandel bereit ist.«
Er beugte sich vor und betrachtete das Blatt. Dort, in all ihrer Pracht,
lag eine frühe, handschriftliche Fassung von I See the Boys of
Summer, dem ersten Gedicht der Sammlung 18 Poems, die Dylan
Thomas’ literarisches Debüt markierte; Wales hatte schon vor langer
Zeit die Rückgabe verlangt.
»Das gehört nicht einem einzelnen, sondern der ganzen Republik«,
befand der Buchhändler schließlich. »Es ist unser gemeinsames Erbe.«
»Einverstanden«, antwortete ich. »Du kannst mit dem Manuskript
machen, was du willst.«
Doch Manuskripte-Jones ließ sich nicht überreden. Er hätte uns
selbst dann nicht nach Merthyr gebracht, wenn ich Unter dem
Milchwald auf den Tisch des Hauses gelegt hätte, und Richard Burton
als Vorleser noch dazu.
»Thursday, das ist einfach zuviel verlangt!« jammerte er. »Die
Gesetze hier sind sehr streng! Die HeddluCyfrinach hat ihre Augen
und Ohren überall …!«
Meine Stimmung sank. »Ich verstehe, Jones – trotzdem danke.«
»Ich bringe Sie nach Merthyr, Miss Next«, fuhr Haelwyn
dazwischen und fixierte mich mit einem schiefen Lächeln.
»Das ist zu gefährlich«, protestierte Jones. »Ich verbiete es!«
»Klappe!« rief Haelwyn. »Ich kann dein Gerede nicht mehr hören.
Tag für Tag lese ich Abenteuer – jetzt kann ich endlich mal eins
erleben. Außerdem haben gestern abend die Straßenlaternen geflackert
– das war ein Zeichen!«
Wir saßen im Hinterzimmer des Antiquars, bis die Dunkelheit
hereinbrach, und verbrachten dann eine höchst unbequeme Stunde im
lauten, ungefederten Kofferraum von Bücher-Haelwyns Griffin-12.
An der Grenze der Freihandelszone hörten wir das Gemurmel der
walisischen Beamten, und auf der Fahrt über die mit Schlaglöchern
gespickte Straße nach Merthyr wurden wir gnadenlos
durchgeschüttelt. Kurz vor der Hauptstadt passierten wir einen
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zweiten Kontrollpunkt; das war ungewöhnlich – anscheinend hatten
die Truppenbewegungen der Engländer das Militär nervös gemacht.
Kurz darauf hielt der Wagen an, und der Kofferraum sprang knarrend
auf. Haelwyn ließ uns aussteigen, und wir streckten uns unter
Schmerzen, kein Wunder, nach der beengten Fahrt.
Haelwyn wies uns den Weg zum Penderyn-Hotel, und ich sagte ihr,
wenn wir bis Tagesanbruch nicht zurück seien, würden wir auch nicht
mehr kommen. Sie schüttelte uns grinsend die Hand, wünschte uns
viel Glück und fuhr davon, um ihre Tante zu besuchen.
Zur gleichen Zeit saß Hades pfeifeschmauchend in der
menschenleeren Bar des Penderyn-Hotel und genoß den Blick aus den
großen Panoramafenstern. Hinter dem hell erleuchteten Justizpalast
war der Vollmond aufgegangen und ließ die alte, von flirrenden
Lichtern und reger Betriebsamkeit erfüllte Stadt in kühlem Glanz
erstrahlen. Die Gipfel der Berge, die hinter dem Häusermeer
aufragten, verschwanden in dichten Wolken. Jane balancierte am
anderen Ende des Schankraums auf der Kante ihres Stuhls und
funkelte Hades wütend an.
»Eine herrliche Aussicht, finden Sie nicht auch, Miss Eyre?«
»Sie verblaßt neben dem Blick aus meinem Fenster in Thornfield,
Mr. Hades«, antwortete Jane mit spitzer Stimme. »Zwar könnte ich
mir durchaus schönere denken, doch war er mir ans Herz gewachsen
wie ein alter Freund, zuverlässig und beständig. Ich verlange,
unverzüglich dorthin zurückgebracht zu werden.«
»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe, alles zu seiner Zeit. Von mir
haben Sie nichts zu befürchten. Wenn ich mein Geld habe, dürfen Sie
zurück zu Ihrem Edward.«
»Die Habgier wird Ihnen noch einmal das Genick brechen, Sir«,
entgegnete Jane gelassen. »Sie glauben vermutlich, daß das viele Geld
Sie glücklich machen wird, aber Sie irren. Glück und Zufriedenheit
ziehen das reiche Mahl der Liebe der mageren Kost des Geldes vor.
Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels!«
Acheron lächelte.
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»Sie haben ja keine Ahnung, wie dumm Sie sind, Jane, Sie und Ihr
puritanisches Getue. Sie hätten mit Rochester fortgehen sollen, statt
sich an einen Schlappschwanz wie St. John Rivers zu verschwenden.«
»Rivers ist ein braver Mann!« widersprach Jane wütend. »Frommer
und tugendhafter, als Sie es sich je könnten träumen lassen.«
Das Telefon klingelte, und Acheron brachte Jane mit einer
Handbewegung zum Schweigen. Es war Delamare; er sprach aus einer
Telefonzelle in Swindon.
»Schlappohrige Kaninchen in fürsorgliche Obhut abzugeben«, las er
ihm eine Kleinanzeige aus dem Mole vor. Lächelnd legte Hades auf.
Na, wer sagt’s denn, dachte er, die Behörden spielen also doch mit. Er
winkte Felix8, und sein neuer Handlanger packte die sich vergeblich
sträubende Jane Eyre am Arm und zerrte sie hinter sich aus der Tür.
Bowden und ich hatten ein Fenster aufgebrochen und standen in den
finsteren Eingeweiden des Hotels. Der feuchte, heruntergekommene
Raum voller klobiger Gerätschaften zur Essenszubereitung mußte
wohl früher die Küche gewesen sein.
»Wohin jetzt?« zischte Bowden.
»Nach oben – sie sind bestimmt in einem Ballsaal oder so.«
Ich knipste eine Taschenlampe an und warf einen Blick auf unseren
hastig skizzierten Plan. Da es zu riskant gewesen wäre, nach den
Originalzeichnungen zu suchen, solange Goliath uns auf Schritt und
Tritt bewachte, hatte Victor den Grundriß des Gebäudes aus dem
Gedächtnis rekonstruiert. Ich stieß eine Schwingtür auf, und wir
befanden uns im Souterrain. Über uns lag die Empfangshalle. Im
trüben Licht der Straßenlaternen, das durch die schmutzigen Fenster
hereinfiel, stiegen wir vorsichtig die stockfleckige Marmortreppe
hinauf. Wir waren fast am Ziel, das spürte ich. Ich zog meine
Automatik; Bowden tat es mir nach. Ich warf einen Blick in die
Lobby. Eine Messingbüste von Y Brawd Ulyanov nahm den
Ehrenplatz in der riesigen Lobby ein, gleich gegenüber den
verrammelten Türen. Links war der Eingang zu Bar und Restaurant
und rechts der alte Empfangstisch; über uns führte eine imposante
Treppe zu den Ballsälen hinauf. Bowden tippte mir auf die Schulter
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und deutete zur Tür des Hauptsalons. Sie war angelehnt, und durch
den Spalt schimmerte ein schmaler Streifen orangefarbenen Lichts.
Wir wollten uns eben in Bewegung setzen, als wir von oben Schritte
hörten. Wir zogen uns in den Schatten zurück und verharrten mit
angehaltenem Atem.
Eine kleine Prozession kam die breite Marmortreppe herunter.
Angeführt wurde sie von einem Mann, den ich als Felix8 erkannte; in
der einen Hand hielt er einen Kerzenleuchter, die andere
umklammerte das Handgelenk einer zierlichen Frau. Sie trug ein
viktorianisches Nachtgewand und einen Wintermantel um die
Schultern. Aus ihren – durchaus resolut wirkenden – Zügen sprachen
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Der Mann hinter ihr warf im
Flackerschein der Kerzen keinen Schatten – Hades.
Wir sahen sie im Rauchsalon verschwinden. Rasch schlichen wir auf
Zehenspitzen quer durch die Halle zu der reichverzierten Tür. Ich
zählte bis drei, dann stießen wir sie auf und stürmten hinein.
»Thursday! Meine Liebe, wie vorhersehbar!«
Ich erstarrte. Hades thronte lächelnd auf einem riesigen Lehnsessel.
Mycroft und Jane saßen niedergeschlagen auf einer Chaiselongue.
Hinter ihnen stand Felix8 und hielt zwei Maschinenpistolen auf
Bowden und mich gerichtet. Vor ihnen befand sich das ProsaPortal.
Verflucht noch mal, wie hatte ich nur so naiv sein können? Wenn ich
Acherons Gegenwart spüren konnte, konnte er das umgekehrt
natürlich auch.
»Bitte lassen Sie Ihre Waffen fallen«, sagte Felix8. Er stand zu dicht
bei Mycroft und Jane, um einen Schuß zu riskieren; bei unserer letzten
Begegnung war er vor meinen Augen gestorben, und ich sprach den
ersten Gedanken aus, der mir in den Sinn kam.
»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal irgendwo gesehen?«
Er ging nicht darauf ein.
»Ihre Waffen, bitte.«
»Damit Sie uns wie die Dodos abknallen können? Nichts zu
machen. Die behalten wir.«
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Felix8 rührte sich nicht vom Fleck. Da er seine MPs auf uns
gerichtet hielt, hatten wir ohnehin kaum eine Chance.
»Es scheint euch zu wundern, daß ich euch erwartet habe«, sagte
Hades, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.
»Das könnte man sagen.«
»Das Blatt hat sich gewendet, Thursday. Ich dachte eigentlich, zehn
Millionen seien sehr viel Geld, bis jemand an mich herantrat, der mir
allein für die Maschine deines Onkels das Zehnfache bot.«
Mycroft rutschte verdrossen hin und her. Er hatte es sich längst
abgewöhnt, zu jammern oder zu lamentieren; das führte ohnehin zu
nichts. Er freute sich jetzt nur noch auf die kurzen Besuche bei Polly,
die man ihm ab und zu gewährte.
»Wenn das so ist«, sagte ich langsam, »können Sie Jane Eyre ja
wieder in ihr Buch zurückbringen.«
Hades dachte einen Augenblick nach.
»Warum nicht? Aber zuerst möchte ich dich mit jemandem bekannt
machen.«
Links von uns ging eine Tür auf, und herein kam Jack Schitt,
flankiert von drei seiner Leibwächter, die Plasmagewehre bei sich
trugen. Die Situation war alles andere als günstig. Ich raunte Bowden
eine halblaute Entschuldigung zu und sagte dann: »Goliath? Hier, in
Wales?«
»Dem Konzern stehen alle Türen offen, Miss Next. Wir kommen
und gehen, wie es uns gefällt.« Schitt setzte sich in einen verblichenen
roten Polstersessel und holte eine Zigarre hervor.
»Seit wann arbeitet Goliath mit Verbrechern zusammen?«
»Das ist eine relativistische Frage, Miss Next – extreme Situationen
erfordern extreme Maßnahmen. Ich bezweifle, daß Sie das verstehen.
Aber wir haben nun einmal sehr viel Geld zu unserer Verfügung, und
Acheron hat sich großzügigerweise bereit erklärt, uns Mr. Nexts
bemerkenswerte Erfindung zu überlassen.«
»Wozu?«
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»Wissen Sie, was das hier ist?« fragte Schitt und schwenkte die
klobige Waffe, die er auf uns gerichtet hielt.
»Ein Plasmagewehr.«
»Exakt. Ein tragbares Ein-Mann-Feldartilleriegeschütz, das genau
dosierbare Mengen reiner, komprimierter Energie abfeuert. Es ist ohne
weiteres in der Lage, aus hundert Meter Entfernung eine dreißig
Zentimeter dicke Panzerplatte zu durchschlagen; Sie werden mir
hoffentlich recht geben, wenn ich behaupte, daß jedes Landheer dieser
Welt damit praktisch unbesiegbar ist.«
»Falls Goliath liefern kann …«, wandte Bowden ein.
»Die Dinge liegen ein klein wenig komplizierter, Officer Cable«,
entgegnete Schitt. »Die Sache ist nämlich die – es funktioniert nicht.
Wir haben fast eine Milliarde in die Forschung gesteckt, und trotzdem
funktioniert das Mistding nicht. Schlimmer noch, seit kurzem steht
eindeutig fest, daß es auch niemals funktionieren wird; weil diese
Technologie überhaupt nicht funktionieren kann.«
»Aber die Krim steht kurz vor einem Krieg!« stieß ich wütend
hervor. »Was passiert, wenn die Russen dahinterkommen, daß die
neue Technologie bloß ein Bluff ist?«
»Sie werden nicht dahinterkommen«, antwortete Schitt. »Denn auch
wenn unsere Technologie hier draußen nicht funktioniert, da drin
funktioniert sie zweifellos.«
Er streichelte das ProsaPortal und beobachtete Mycrofts genetisch
manipulierte Bücherwürmer. Im Augenblick ruhten sie friedlich in
ihrem Goldfischglas. Sie hatten soeben eine gehörige Portion
Präpositionen verdaut & furzten nun munter Et-Zeichen und
Apostrophe; sie l’g’n g’r’d’zu in d’r Luft. Schitt hielt ein Buch hoch.
Es zeigte auf dem Umschlag einen heroischen, halbnackten Soldaten
mit gewaltigen Muskeln und darunter den martialischen Titel: Das
Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld. Ich warf einen Blick zu Mycroft
hinüber; der nickte traurig.
»Sehen Sie, Miss Next?« Schitt lächelte & klopfte mit dem
Fingerknöchel auf das triviale Machwerk.
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»Hier drin funktioniert das Plasmagewehr tadellos. Wir brauchen
dieses kleine literarische Meisterwerk mit dem ProsaPortal nur zu
öffnen, dann können wir die Gewehre herausholen & ausliefern. Das
ist die Mutter aller Waffen, Miss Next.«
Damit meinte er nicht etwa das Plasmagewehr. Er zeigte auf das
ProsaPortal. Prompt rülpsten die Bücherwürmer erhebliche Mengen
unnötiger Großschreibungen.
»Was Die Menschliche Vorstellungskraft Fortan Auch Ersinnen
Mag, Wir Können Es Reproduzieren. Betrachten Sie Das Portal Nicht
Etwa Als Tor Zu Zahllosen Welten, Sondern – als dreidimensionalen
Fotokopierer. Mit Seiner Hilfe Können Wir Buchstäblich Alles
Herstellen; Sogar Ein Zweites Portal – im Palmtop-Format. 365 Mal
im Jahr Weihnachten, Miss Next.«
»Noch mehr Tote auf der Krim; hoffentlich können Sie nachts noch
ruhig schlafen, Schitt.«
»Im Gegenteil, Miss Next. Die Russen Werden Sich Vor Angst In
Die Hosen Machen, Wenn Sie Sehen, Was Das Stonk Alles Kann. Der
Zar Wird England Die Halbinsel Endgültig Überlassen; Eine Neue
Riviera, Wär Das Nicht Schön?«
»Schön? Massenhaft Sonnenliegen & Bettenburgen? Erbaut auf
einer Insel, die die Russen in spätestens fünfzig Jahren
zurückverlangen werden? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Schitt.
Und wenn Rußland ein eigenes Plasmagewehr hat, was dann?«
Jack Schitt blieb stur.
»Ach, Machen Sie Sich Deswegen Keine Sorgen, Miss Next, Ich
Werde Denen Doppelt Soviel Berechnen Wie Der Englischen
Regierung.«
»Hört, Hört!« warf Hades ein, der von Schitts Skrupellosigkeit
zutiefst beeindruckt zu sein schien.
»Hundert Millionen Dollar Für Das Portal, Thursday«, setzte er
atemlos hinzu, »& 50% vom Reinerlös!«
»Sie Eine Marionette Der Goliath Corporation, Acheron? Das Sieht
Ihnen Aber Ganz & Gar Nicht Ähnlich.« Voller Ärger stellte ich fest,
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daß die Unnötigen Großschreibungen mich jetzt auch schon erfaßt
hatten.
Acherons Wangen bebten, doch er riß sich zusammen und
erwiderte: »Von Nichts Kommt Nichts, Thursday …«
Schitt beäugte ihn mißtrauisch. Er nickte einem seiner Männer zu,
worauf der eine kleine Panzerfaust auf Hades richtete.
»Die Gebrauchsanweisung, Hades.«
»Bitte!« flehte Mycroft. »Sie bringen die Würmer durcheinander!
Sie fangen an zu tren-nen!«
»Hal-ten S#e D’n M&, My-croft«, schnauzte Schitt. »Bit-te, H’-des,
Die G’-br’chs’n-wei-s’ng.«
»Guter Mann, v’n w’l-cher G’-br’chs-’n-wei-s’ng red’n S#e?«
»Mr. Hades!!!! Das Kl’-ne Art’lle-rie-geschütz Mei-n’s MitArbeiters Wird S’lbst #h-nen Kaum ’nt-gangen sein. Sie Ha-b’en
Mycrofts G’-br’chs-’n-wei-s’ng Für d’s Por-tal & Das G’-dicht, In
Dem S#e Mrs. Next Ge-fan-gen-hal-ten. Ge-b’n-S#e’s Mir.«
»Nein, Mr. Schitt. Geben S#e Mir Das Gewehr …«
Doch Schitt zuckte nicht mit der Wimper; die Macht, die Snood und
zahllosen anderen Menschen den Verstand geraubt hatte, konnte der
schwarzen Seele Schitts nichts anhaben. Hades klappte die Kinnlade
herunter. Jemand wie Schitt war ihm noch nicht begegnet, zumindest
seit dem ersten Felix nicht. Er lachte. »Sie Wa-g’n Es … Mich Über’s
Ohr Zu Hau-en?«
»S’lbst’ver-st’nd-lich. An-dern-falls Hät-t’n Sie Kei-nen R’s-pekt
Vor Mir, & Das Ist Kei-ne G’-s&e Basis Für Eine Funk-tio-nie-r’n-de
Part-ner-schaft.«
Hades sprang vor das ProsaPortal.
»& Ich Dach-te, Sie & Ich, Wir Sei-’n 1 Herz & 1 See-le …!« rief
er, legte das Originalmanuskript von Jane Eyre in die Maschine und
gab die Bücherwürmer dazu, die endlich aufhörten, zu rülpsen und zu
furzen, und sich an die Arbeit machten.
- 330 -
»Wirklich!« fuhr Hades fort. »Ich muß schon sagen, von Ihnen hatte
ich mehr erwartet. Ich dachte, wir wären Partner.«
»Aber früher oder später würden Sie alles für sich allein haben
wollen, Hades«, widersprach Schitt. »Vermutlich eher früher als
später.«
»Wie wahr.« Hades nickte Felix8 zu, der sofort das Feuer eröffnete.
Bowden und ich standen direkt in seiner Schußlinie; er konnte uns
unmöglich verfehlen. Mein Herz machte einen Satz, doch
komischerweise wurde die erste Kugel wie von unsichtbarer Hand
abgebremst und blieb knapp zehn Zentimeter von mir entfernt in der
Luft hängen. Sie war jedoch nur der Auftakt einer tödlichen Garbe
von Geschossen, die wie in Zeitlupe aus dem Lauf von Felix8s Pistole
drangen, dessen Mündung wie eine erstarrte Feuerchrysantheme
aussah. Ich blickte zu Bowden, der ebenfalls in der Flugbahn eines
Projektils stand; die glänzende Kugel hing dreißig Zentimeter von
seinem Kopf entfernt unbeweglich in der Luft. Doch er rührte sich
nicht von der Stelle. Auf den zweiten Blick bemerkte ich, daß
niemand im Raum sich bewegte. Mein Vater war ausnahmsweise
einmal genau im richtigen Moment erschienen.
»Komme ich ungelegen?« fragte Dad und blickte von der Tastatur
des verstaubten Flügels auf. »Ich kann auch wieder verschwinden,
wenn dir das lieber ist.«
»N-nein, Dad, das ist gut, echt gut«, stammelte ich.
Ich schaute mich um. Mein Vater blieb nie länger als fünf Minuten,
und wenn er wieder verschwand, würden die Kugeln ihr anvisiertes
Ziel mit ziemlicher Sicherheit treffen. Mein Blick fiel auf einen
schweren Eichen-Tisch. Ich kippte ihn um und stellte ihn auf die
Seite; Staub, Abfälle und Leek-U-Like-Kartons flogen nach allen
Seiten.
»Sagt dir der Name Winston Churchill etwas?« fragte mein Vater.
»Nein; wer soll das sein?« ächzte ich, während ich den schweren
Eichentisch vor Bowden schob.
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»Aha!« sagte mein Vater und kritzelte etwas in ein Büchlein.
»Eigentlich sollte er England im letzten Krieg regieren, aber ich
glaube, er starb als Teenager bei einem Sturz. Ausgesprochen
peinlich.«
»War er etwa auch ein Opfer der französischen Revisionisten?«
Mein Vater gab keine Antwort. Seine Aufmerksamkeit galt der
Raummitte, wo Hades sich am ProsaPortal zu schaffen machte. Für
Menschen wie Hades stand die Zeit nur selten still.
»Bitte lassen Sie sich durch mich nicht stören!« rief Hades, als ein
Lichtstrahl aus dem Portal fiel und das Dunkel erhellte. »Ich
verschwinde in den Roman, bis diese unangenehme Situation vorüber
ist. Ich habe immer noch Polly und die Gebrauchsanweisung, wir
können also durchaus noch verhandeln.«
»Wer ist das?« fragte mein Vater.
»Acheron Hades.«
»Ach ja? Ich hatte ihn mir kleiner vorgestellt.«
Doch Hades war verschwunden; das ProsaPortal summte leise und
schloß sich dann hinter ihm.
»Ich muß noch ein paar Korrekturen vornehmen«, verkündete mein
Vater, stand auf und klappte sein Notizbuch zu. »Wie heißt es noch so
schön? Die Zeit wartet auf niemanden.«
Mir blieb gerade noch genügend Zeit, hinter einem großen Sekretär in
Deckung zu gehen, bevor die Welt wieder zum Leben erwachte. Der
Feuerstoß aus den Maschinenpistolen von Felix8 traf nicht Bowden,
sondern den zum Schutzschild umfunktionierten Eichentisch, und der
für mich bestimmte Geschoßhagel bohrte sich mit dumpfen Schlägen
in die Holztür, hinter der ich eben noch gestanden hatte. Binnen zwei
Sekunden schwirrten uns die Kugeln nur so um die Ohren, als auch
die Goliath-Leute zu den Waffen griffen, um Jack Schitt Feuerschutz
zu geben, der, voller Erstaunen darüber, daß Hades mitten im Satz
verschwunden war, den Rückzug in den alten Atlantic Grill anzutreten
versuchte.
- 332 -
Mycroft – und kurz darauf auch Jane – warfen sich zu Boden,
während Staub und Trümmer nach allen Seiten spritzten. Ich brüllte
Jane ins Ohr, sich nicht zu bewegen, als eine Kugel gefährlich dicht an
unseren Köpfen vorbeipfiff, Zierleisten von einem Möbelstück
sprengte und eine Staubwolke auf uns herabregnen ließ. Ich kroch ein
Stück, bis ich Bowden sehen konnte; er lieferte sich einen heftigen
Schußwechsel mit Felix8, der hinter einem umgestürzten
pseudogeorgianischen Tisch am Eingang zu den Palm Court Tea
Rooms in der Falle saß. Kaum hatte ich ein paar Schüsse auf die
Goliath-Leute abgegeben, die Schitt eilig nach draußen gezerrt hatten,
als die Ballerei ebenso unvermittelt aufhörte, wie sie begonnen hatte.
Ich lud nach.
»Felix8!« rief ich. »Noch können Sie sich ergeben! Ihr richtiger
Name ist Danny Chance. Ich verspreche Ihnen, daß wir unser
möglichstes tun werden, um …«
Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Glucksen und spähte um die
Rückenlehne des Sofas. Ich dachte, Felix8 sei verwundet, doch im
Gegenteil: Er lachte. Sein im großen und ganzen ausdrucksloses
Gesicht verzerrte sich vor Freude. Bowden und ich wechselten ratlose
Blicke, rührten uns aber nicht von der Stelle.
»Was ist daran so komisch?« brüllte ich.
»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal irgendwo gesehen!« kicherte
er. »Jetzt hab ich’s kapiert!«
Er brachte seine Waffe in Anschlag und gab mehrere Schüsse auf
uns ab, während er sich rückwärts zur Tür hinausstahl und in der
dunklen Eingangshalle verschwand. Nun, da sein Herr und Meister
entkommen war, hatte er hier nichts mehr verloren.
»Wo ist Hades?« fragte Bowden.
»In Jane Eyre mitsamt der Gebrauchsanweisung für das Portal«,
antwortete ich und stand auf. »Behalten Sie das Ding im Auge – und
wenn er zurückkommt, benutzen Sie das hier.«
Ich reichte ihm die Panzerfaust. Plötzlich war Schitt wieder da. Von
der jähen Stille angelockt, stand er in der Tür.
- 333 -
»Hades?«
»Der ist in Jane Eyre.«
Schitt befahl mir, ihm das ProsaPortal auszuhändigen.
»Ohne die Gebrauchsanweisung werden Sie daran wenig Freude
haben«, sagte ich. »Wenn ich Hades aus Thornfield herausgeholt und
Mycroft meine Tante zurückgebracht habe, gehört die
Gebrauchsanweisung Ihnen. Entweder oder; Sie haben die Wahl. Ich
nehme Jane jetzt mit.«
Ich wandte mich an meinen Onkel. »Mycroft, bitte schick uns an die
Stelle zurück, wo Jane aus ihrer Kammer kommt, um den Brand in
Rochesters Zimmer zu löschen. Oder besser, noch ein kleines Stück
vorher. Als ob Jane nie aus dem Roman verschwunden wäre. Geht
das? Wenn ich zurückkommen will, gebe ich dir ein Zeichen.«
Jack Schitt rang die Hände und rief: »Welch süßer Wahn hält mich
umfangen?«
»Das ist das Zeichen«, sagte ich, »die Worte süßer Wahn. Wenn du
sie hörst, mußt du sofort das Tor aufmachen.«
»Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« fragte Bowden.
»Hundertprozentig«, sagte ich und half Jane auf die Beine. »Stell
bloß die Maschine nicht ab! So sehr mir das Buch auch gefällt, ich
habe keine Lust, meinen Lebensabend darin zu verbringen.«
Schitt knabberte an seiner Unterlippe. Ich hatte ihn ausgestochen. Er
konnte sein Blatt, wenn überhaupt, frühestens bei meiner Rückkehr
ausspielen.
Ich sah nach, ob meine Waffe noch geladen war, atmete tief durch
und nickte Jane zu.
Sie lächelte erwartungsvoll zurück.
Wir nahmen uns fest bei der Hand und traten durch das Tor.
- 334 -
32.
Heimkehr nach Thornfield Hall
Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich
dachte, Thornfield Hall wäre viel größer und luxuriöser
eingerichtet. Es roch stark nach Bohnerwachs, und auf
dem Flur im oberen Stock war es eiskalt. Im ganzen Haus
brannte kaum ein Licht, und das Labyrinth von Gängen
schien sich in tiefer Finsternis zu verlieren. Es war
unwirtlich und düster. Am auffallendsten aber war die
Stille; die Stille einer Welt ohne Flugmaschinen, Verkehr
und große Städte. Das Industriezeitalter hatte gerade erst
begonnen; der Planet hatte sein Haltbarkeitsdatum noch
nicht überschritten.
THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Die Landung brachte mich ziemlich aus dem Gleichgewicht: ein
greller Lichtblitz, gefolgt von sekundenlangem, ohrenbetäubendem
Rauschen. Ich fand mich auf dem Gang vor der Schlafkammer des
Hausherrn wieder, ein paar Zeilen über der Stelle, an der Hobbes
eingedrungen war. Das Feuer brannte lichterloh, und wie auf ein
Stichwort öffnete Jane ihre Tür, sprang mit Riesenschritten in
Rochesters Zimmer und goß einen Krug Wasser über das brennende
Bett.
Ich blickte mich rasch um, doch von Hades keine Spur; am anderen
Ende des Korridors brachte Grace Poole gerade die irre Bertha hinauf
in die Dachkammer. Die Verrückte wandte den Kopf und grinste
schwachsinnig. Grace Poole warf mir einen mißbilligenden Blick zu.
Mit einem Mal kam ich mir unendlich fremd vor; diese Welt war nicht
die meine, und ich gehörte nicht hierher.
Ich trat beiseite, als Jane aus Rochesters Zimmer stürzte, um frisches
Wasser zu holen; aus ihrer Miene sprach große Erleichterung.
- 335 -
Lächelnd riskierte ich einen Blick ins Zimmer. Jane hatte das Feuer
gelöscht, und Rochester fluchte, weil er in einer Wasserpfütze lag.
»Haben wir eine Überschwemmung?«
»Nein, Herr«, antwortete sie, »aber es hat gebrannt. Rasch, stehen
Sie auf; Sie sind ganz naß. Ich hole Ihnen eine Kerze.«
Rochester erblickte mich an der Tür und zwinkerte mir verstohlen
zu, bevor er von neuem eine bestürzte Miene aufsetzte.
»Bei allen Elfen der Christenheit, ist das nicht Jane Eyre?« fragte er
mit glänzenden Augen, als sie wiederkam. »Was hast du mit mir
gemacht …«
Ich trat vor die Tür, in der sicheren Gewißheit, daß sich das Buch zu
Hause von selbst umschreiben würde. Der Hinweis auf den »Agenten
in Schwarz« würde überschrieben werden, und mit ein wenig Glück
würde wieder Normalität einkehren, wenn sich Hades nicht
einmischte. Ich bückte mich nach der Kerze, die noch auf dem Boden
stand, und zündete sie wieder an. Jane kam aus Rochesters Zimmer,
bedachte mich zum Dank mit einem Lächeln, nahm mir die Kerze ab
und ging wieder hinein. Ich schlenderte den Flur entlang, betrachtete
ein schönes Bild von Landseer und ließ mich schließlich auf einem
von zwei Regency-Stuhl nieder.
Obwohl das Haus nicht allzu groß war, bot es Acheron zahlreiche
Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ich sagte seinen Namen vor mich
hin, damit er wußte, daß ich da war, als plötzlich irgendwo im Haus
eine Tür knallte. Ich zog einen Fensterladen auf und erblickte Hades’
unverkennbare Gestalt, die im Mondschein über die Wiese lief. Ich
sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Obwohl er auf den
Feldern praktisch unerreichbar für das Gesetz war, hatte ich jetzt die
Oberhand: Ich wußte, wie das ProsaPortal zu öffnen war, und er nicht.
Ich hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß er mir etwas antun
würde. Ich setzte mich wieder und dachte über Landen und Daisy
Mutlar nach, bis der Schlaf mich übermannte.
Ich fuhr hoch, als Rochesters Zimmertür aufging und Edward
erschien. Er hielt eine Kerze in der Hand und sprach an der Tür mit
Jane.
- 336 -
»… ich muß in das obere Stockwerk hinauf. Sei ruhig und rühr dich
nicht von der Stelle.«
Er tappte leise den Flur entlang und zischte: »Miss Next, sind Sie
da?«
Ich stand auf. »Hier, Sir.«
Rochester nahm mich am Arm und führte mich die Galerie entlang
zum Treppenabsatz. Dort blieb er stehen, stellte die Kerze auf einen
niedrigen Tisch und ergriff meine Hände.
»Ich danke Ihnen, Miss Next, ich danke Ihnen von ganzem Herzen!
Es hat mir regelrechte Höllenqualen bereitet, nicht zu wissen, ob und
wann meine geliebte Jane zurückkommen würde!«
Er sprach mit glühender, tief empfundener Leidenschaft; ich fragte
mich unwillkürlich, ob Landen mich je so geliebt hatte wie Rochester
seine Jane.
»Aber das war doch wohl das mindeste, Mr. Rochester«, sagte ich
glücklich, »nachdem Sie sich an dem Abend vor dem Lagerhaus so
rührend meiner Wunden angenommen haben.«
Er wischte meine Worte brüsk beiseite. »Wollen Sie gleich wieder
zurück?«
Ich blickte zu Boden. »Das ist leider nicht ganz so einfach, Sir.
Außer mir befindet sich noch ein Eindringling in diesem Buch.«
Rochester trat ans Geländer. Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Er,
nicht wahr?«
»Sie kennen ihn?« fragte ich erstaunt zurück.
»Er hat viele Namen. Haben Sie einen Plan?«
Ich erklärte ihm das vereinbarte Zeichen und beharrte darauf, daß es
sicherer sei, wenn ich bis zum Ende des Romans in Thornfield bliebe.
Danach würde ich Hades mitnehmen – so oder so.
»Das Ende des Romans«, murmelte Rochester bedrückt. »Wie ich
diesen Schluß doch hasse. Allein der Gedanke, daß meine Jane mit
diesem erbärmlichen Feigling St. John Rivers nach Indien reist, läßt
mir das Blut in den Adern gefrieren.« Er gewann seine
- 337 -
Selbstbeherrschung zurück. »Aber bis dahin bleiben mir wenigstens
noch ein paar glückliche Monate. Kommen Sie, Sie haben doch gewiß
Hunger.« Er ging den Flur entlang und winkte mir, ihm zu folgen.
»Ich schlage vor, wir fangen ihn, wenn Jane abgereist ist, nach …«
– ihn schauderte bei dem Gedanken – »… nach der Hochzeit. Wir
werden dann ganz allein sein, weil sich mit Jane naturgemäß auch die
Handlung nach Moor House zu diesen albernen Verwandten verlagert.
Da ich im Buch dann nicht mehr vorkomme, können wir tun, was uns
beliebt, und ich bin durchaus geneigt, Ihnen zu helfen.
Doch wie Sie bereits ganz richtig sagten, dürfen Sie Jane auf keinen
Fall beunruhigen oder gar verwirren; dieses Buch ist in der ersten
Person geschrieben. Ich kann mich nur dann davonstehlen, um mit
Ihnen zu sprechen, wenn ich in der Geschichte keine Rolle spiele.
Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie Jane aus dem Weg gehen.
Mrs. Fairfax und Adele werde ich persönlich ins Vertrauen ziehen sie
werden Verständnis dafür haben. Die Dienstboten Mary und John tun
ohnehin das, was ich ihnen sage.«
Wir standen vor einer Tür, und Rochester klopfte energisch an. Erst
stöhnte jemand, dann tat es einen dumpfen Schlag, und schließlich
erschien eine reichlich aufgelöste Gestalt.
»Mrs. Fairfax«, sagte Rochester, »das ist Miss Next. Sie wird ein
oder zwei Monate bei uns wohnen. Ich möchte, daß Sie ihr etwas zu
essen holen und ein Bett bereiten; sie hat eine weite Reise hinter sich
und bedarf dringend der Stärkung und Ruhe. Es wäre schön, wenn Sie
mit niemandem über ihre Anwesenheit sprechen würden, und ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie dafür Sorge tragen könnten, daß Miss Next
und Miss Eyre sich nicht begegnen. Ich brauche wohl nicht extra zu
betonen, wie wichtig mir das ist.«
Mrs. Fairfax musterte mich von Kopf bis Fuß, zeigte sich von
meinem Pferdeschwanz und meiner Jeans gleichermaßen bestürzt und
fasziniert, nickte und ging voran zum Speisezimmer.
»Wir unterhalten uns morgen weiter, Miss Next«, sagte Rochester,
und in seinem gramerfüllten Gesicht machte sich ein mattes Lächeln
breit. »Und ich möchte Ihnen nochmals danken.«
- 338 -
Er wandte sich um und überließ mich Mrs. Fairfax, die sogleich die
Treppe hinunterhastete und mich bat, im Speisezimmer zu warten, sie
werde mir etwas zu essen holen. Kurz darauf brachte sie mir etwas
Brot und kalten Braten. Ich aß gierig, während Pilot – der
hereingekommen sein mußte, als Hades das Haus verließ – mein
Hosenbein beschnüffelte und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte.
»Er erinnert sich an Sie«, sagte Mrs. Fairfax verwundert, »aber
obwohl ich seit vielen Jahren hier in Diensten stehe, kann ich mich
nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben.«
Ich kraulte Pilot hinterm Ohr.
»Ich habe ihn einmal ein Stöckchen apportieren lassen. Bei einem
Spaziergang mit seinem Herrn.«
»Aha«, erwiderte Mrs. Fairfax mißtrauisch. »Und woher kennen Sie
Mr. Rochester?«
»Ich, äh, habe die Rochesters auf Madeira kennengelernt. Ich war
eine Freundin seines Bruders.«
»Aha. Furchtbar tragisch.« Ihre Augen verengten sich. »Dann
kennen Sie die Masons?«
»Nur flüchtig.«
Wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf meine Jeans.
»Und wo Sie herkommen, tragen Frauen Hosen?«
»Sehr oft sogar, Mrs. Fairfax.«
»Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf? Aus London?«
»Nein. Von sehr weit her.«
»Ach!« rief Mrs. Fairfax und lächelte verschmitzt. »Aus Osaka,
nicht wahr?«
Nachdem sie mir das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß
ich Pilot nicht füttern würde, eilte sie davon und ließ mich mit dem
Hund allein. Zehn Minuten später kam sie mit einem Teetablett
zurück und überließ mich dann eine weitere halbe Stunde mir selbst,
um mir ein Zimmer zurechtzumachen. Schließlich führte sie mich in
- 339 -
eine Kammer im ersten Stock mit einem herrlichen Ausblick. Ich hatte
darauf bestanden, daß Pilot bei mir blieb, und er schlief vor der
verschlossenen Tür, wohl weil er unbewußt spürte, in welcher Gefahr
ich schwebte. Ich schlief unruhig und träumte, daß Hades mich
auslachte.
Während ich schlief, hatten Victor und die Kollegen in der
Swindoner LitAg-Außenstelle die Rückkehr der Ich-Erzählerin in den
Roman gefeiert. Abgesehen von einer flüchtigen Bemerkung über die
Geräusche, die in der Nacht des Zimmerbrandes aus Mrs. Fairfax’
Kammer dringen, war alles mehr oder weniger genauso wie zuvor. Ein
Mitglied der Brontë-Gesellschaft überprüfte den Text, während der
sich selber schrieb und die letzten zweihundert Seiten füllte, die
tagelang leer gewesen waren. Der Brontë-Experte kannte den Roman
auswendig, und seine zufriedene Miene gab keinerlei Anlaß zur
Besorgnis.
Ich wurde wach, als Pilot an der Tür zu scharren begann, weil er
hinausgelassen werden wollte. Lautlos schob ich den Riegel zurück
und öffnete. Als ich Jane über den Flur huschen sah, machte ich die
Tür gleich wieder zu und schaute auf die Uhr. Es war noch nicht
einmal sechs, und die meisten Dienstboten schliefen noch. Nachdem
ich ein paar Minuten gewartet hatte, ließ ich Pilot hinaus und folgte
zögernd, immer auf der Hut, falls mir Jane über den Weg lief. Da die
meisten Hausbewohner den Vormittag damit zubringen würden, Mr.
Rochesters Kammer wiederherzurichten, wollte ich nach dem
Frühstück einen Spaziergang unternehmen, doch die Haushälterin
hielt mich zurück.
»Miss Next«, verkündete sie, »Mr. Rochester hat mich über die
Ereignisse der vergangenen Woche aufgeklärt, und ich möchte Ihnen
ebenfalls herzlich danken.« Obwohl ihre Stimme keinerlei
Gefühlsregung erkennen ließ, zweifelte ich nicht an ihrer
Aufrichtigkeit. Sie setzte hinzu: »Er hat mich beauftragt, das Haus
gegen Agenten zu sichern, die Miss Eyre etwas antun könnten.«
Ich sah aus dem Fenster; draußen stand ein Feldarbeiter mit einer
großen Spitzhacke Wache. Plötzlich warf er einen Blick ins Haus und
- 340 -
lief eilig davon. Gleich darauf trat Jane aus der Tür, nahm einen tiefen
Zug der frischen Morgenluft und ging wieder hinein. Sofort bezog der
Feldarbeiter von neuem seinen Posten.
»Miss Eyre darf unter keinen Umständen erfahren, daß wir sie
bewachen und beobachten«, mahnte Mrs. Fairfax.
»Verstehe.«
Mrs. Fairfax nickte und musterte mich prüfend. »Gehen Frauen dort,
wo Sie herkommen, ohne Kopfbedeckung aus dem Haus?«
»Sehr häufig sogar.«
»Bei uns ist das nicht üblich«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.
»Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein paar anständige Kleider.«
Mrs. Fairfax nahm mich mit in ihr Zimmer und reichte mir eine
Haube sowie eine dicke schwarze, knöchellange Pelerine. Ich dankte
ihr, und Mrs. Fairfax knickste höflich.
»Ist Mr. Rochester heute im Haus?« fragte ich.
»Er hat anderweitige Verpflichtungen. Soviel ich weiß, weilt er bei
Mr. Eshton. Colonel Dent und Lord Ingram werden auch dort sein. Ich
erwarte ihn frühestens in einer Woche zurück.«
»Halten Sie das für ratsam, nach allem, was passiert ist?«
Mrs. Fairfax sah mich an, als sei ich ein kleines Kind.
»Sie haben es offenbar noch immer nicht begriffen, wie? Nach dem
Brand verreist Mr. Rochester für eine Woche. So ist das nun einmal.«
Ich wollte weiter in sie dringen, doch die Haushälterin entschuldigte
sich und ließ mich allein. Ich sammelte meine Gedanken, strich die
Pelerine glatt und machte einen Gang ums Haus, um nachzusehen, ob
alles fest verriegelt war. Die bewaffneten Feldarbeiter nickten mir im
Vorbeigehen ehrfürchtig zu. In der Hoffnung, daß sie Hades nie
begegnen würden, ging ich über die Wiese in dieselbe Richtung, in die
er am Vorabend verschwunden war. Kaum hatte ich die hohen Birken
am Grenzzaun hinter mir gelassen, hörte ich eine vertraute Stimme.
Ich fuhr herum.
»Haben wir überhaupt eine Chance gegen ihn?«
- 341 -
Es war Rochester. Er stand hinter einem der mächtigen
Baumstämme und blickte mich mit tiefbesorgter Miene an.
»Auf jeden Fall, Sir«, antwortete ich. »Ohne mich ist er hier
gefangen; wenn er zurückwill, muß er mit uns verhandeln.«
»Und wo ist er?«
»Ich wollte mal in der Stadt nachsehen. Ich dachte, Sie seien bei Mr.
Eshton?«
»Ich mußte vor meiner Abreise unbedingt noch einmal mit Ihnen
sprechen. Sie werden Ihr möglichstes tun, nicht wahr?«
Ich versprach ihm, nichts unversucht zu lassen, und machte mich auf
den Weg in die Stadt.
Millcote war ein malerisches Städtchen. Im Zentrum gab es eine
Kirche, eine Poststation, drei Wirtshäuser, eine Bank, zwei
Tuchgeschäfte, einen Getreidehändler sowie verschiedene andere
Läden. Es war Markttag, und auf den Straßen herrschte Hochbetrieb.
Niemand würdigte mich eines Blickes, als ich zwischen den Ständen
umherging, die sich unter der Last von Wild und Wintergemüse
bogen. Abgesehen von dem schwachen Tintengeruch, der die Luft
erfüllte, wirkte alles täuschend echt. Der erste Gasthof, auf den ich
stieß, hieß The George. Da er im Buch namentlich Erwähnung fand,
hatte ich dort vermutlich die besten Chancen.
Ich trat ein und fragte den Wirt, ob ein Mann von hünenhafter Statur
sich vormittags ein Zimmer genommen habe. Er verneinte, gab mir
jedoch den Rat, mein Glück in einem der anderen Gasthäuser zu
versuchen. Ich dankte ihm und wollte eben wieder gehen, als das
gänzlich deplacierte Klicken eines Kameraverschlusses meine
Aufmerksamkeit weckte. Langsam drehte ich mich um.
Hinter mir stand ein japanisches Pärchen in zeitgenössischer Tracht;
die Frau hielt eine große Nikon-Kamera in der Hand. Eilig versuchte
sie den eklatanten Anachronismus zu verbergen und schleifte ihren
Mann mit sich zur Tür.
»Warten Sie!«
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Sie blieben stehen und wechselten nervöse Blicke.
»Was machen Sie hier?« fragte ich ungläubig.
»Wir sind nur zu Besuch, aus Osaka«, versicherte die Frau eilig,
worauf der Mann – er sprach offenbar kein Englisch – heftig nickte
und die Nase in einen japanischen Brontë-Führer steckte.
»Wie …?«
»Ich bin Mrs. Nakijima«, sagte die Frau, »und das ist Mr. Suzuki.«
Der Mann grinste mich an und schüttelte mir aufgeregt die Hand.
»Das gibt’s doch nicht!« rief ich wütend. »Wollen Sie damit sagen,
Sie sind Touristen?«
»Genau«, gestand Mrs. Nakijima, »ich mache den Sprung jedes Jahr
einmal und nehme einen zahlenden Besucher mit. Wir rühren nichts
an und sprechen auch nie mit Miss Eyre. Wie Sie sehen, sind wir
passend gekleidet.«
»Japaner? Im England des 19. Jahrhunderts?«
»Warum nicht?«
Ja. Warum eigentlich nicht?
»Und wie machen Sie das?«
Die Frau zuckte die Achseln.
»Ich kann es einfach«, lautete ihre schlichte Antwort. »Ich
konzentriere mich, sage mein Sprüchlein auf und, peng, hier bin ich.«
Dafür hatte ich jetzt keine Zeit.
»Passen Sie auf. Ich heiße Thursday Next. Ich arbeite für Victor
Analogy in der LitAg-Außenstelle Swindon. Ich nehme an, Sie haben
vom Diebstahl des Manuskripts gehört?«
Sie nickte.
»In diesem Buch treibt eine finstere Gestalt ihr Unwesen, und die
muß ich extrahieren. Der Mann ist äußerst gefährlich und schreckt vor
nichts zurück. Wenn er sie findet, wird er versuchen, Sie zu benutzen,
um hier herauszukommen. Ich empfehle Ihnen dringend, sofort
- 343 -
abzureisen. Springen Sie zurück nach Hause, solange es noch geht.
Wenn er Sie findet, könnte er Ihnen sehr weh tun!«
Mrs. Nakijima besprach sich mit ihrem Kunden. Schließlich erklärte
sie mir, daß Mr. Suzuki wegen Jane gekommen sei und sein Geld
zurückhaben wolle, wenn sie ihn nicht in die Nähe von Thornfield
Hall führte, damit er einen Blick auf Jane werfen konnte. Also setzte
ich ihr meinen Standpunkt noch einmal auseinander, und schließlich
sagten sie ja. Ich folgte ihnen nach oben in ihr Zimmer und wartete,
während sie packten. Schließlich gaben mir Mrs. Nakijima und Mr.
Suzuki die Hand, hielten sich aneinander fest und lösten sich in Luft
auf.
Ich schüttelte traurig den Kopf. Es gab offenbar so gut wie keinen
Flecken mehr auf dieser Welt, den die Tourismusindustrie noch nicht
entdeckt hatte.
Ich trat aus dem warmen Gasthaus in den kalten Vormittag hinaus,
ging an einem Stand vorbei, an dem Wurzelgemüse feilgeboten
wurde, und weiter ins Millcote, wo ich mich nach neuen Gästen
erkundigte.
»Und wen darf ich Mr. Hedge melden?« fragte der Wirt und spuckte
in einen unförmigen Bierkrug, den er sodann mit einem Lappen
polierte.
»Sagen Sie ihm, Miss Next möchte ihn sprechen.«
Der Wirt verschwand nach oben und kam kurz darauf zurück.
»Zimmer sieben«, sagte er knapp und machte sich wieder an die
Arbeit.
Acheron saß am Fenster, mit dem Rücken zur Tür. Er rührte sich
nicht, als ich hereinkam. »Hallo, Thursday.«
»Mr. Hedge?«
»Die Engländer des 19. Jahrhunderts sind ziemlich abergläubisch.
Ich dachte, der Name Hades könnte sie auf falsche Gedanken
bringen.«
Er drehte sich zu mir um; seine stahlblauen Augen schienen direkt
in mich hineinzublicken. Aber seine Macht über mich hatte
- 344 -
nachgelassen; er konnte nicht in mir lesen wie in anderen. Er spürte
das sofort, verzog die Lippen zu einem müden Lächeln und starrte
wieder aus dem Fenster.
»Du wirst immer stärker, Thursday.«
»Ich wachse an meinen Gegnern.«
Er lachte höhnisch.
»Ich hätte schon in Styx’ Wohnung auf Nummer sicher gehen
sollen.«
»Und sich dadurch den ganzen Spaß verderben? Wenn ich und die
anderen SpecOps Ihnen nicht immer wieder die Tour vermasseln
würden, wäre Ihr Leben doch todlangweilig.«
Statt mir eine Antwort zu geben, wechselte er das Thema. »Jemand,
der so raffiniert ist wie du, wäre nie in dieses Buch gekommen, wenn
er nicht auch wüßte, wie er wieder hinauskommt. Sag schon,
Thursday. Was habt ihr abgemacht? Ein Codewort, das Mycroft
anzeigt, wann er das Tor öffnen soll?«
»So ähnlich. Wenn Sie mir die Gebrauchsanweisung und Polly
aushändigen, bekommen Sie einen fairen Prozeß, das verspreche ich
Ihnen.«
Hades lachte. »Ich glaube, für einen fairen Prozeß ist es zu spät,
Thursday. Ich könnte dich auf der Stelle umbringen, und um ehrlich
zu sein, verspüre ich einen nahezu unwiderstehlichen Drang, das zu
tun; lediglich die traurige Aussicht, bis in alle Ewigkeit in dieser
provinziellen Geschichte gefangen zu sein, hält mich davon ab. Ich
wollte nach London, aber das ist unmöglich; die einzigen Städte in
dieser Welt sind die Ortschaften, die Charlotte Brontë sich abgedacht
hat und die im Roman vorkommen. Gateshead, Lowood – mich
wundert, daß dieses Kaff so groß ist. Gib mir das Codewort, dann
bekommst du die Anleitung und Polly.«
»Nein. Erst geben Sie mir die Gebrauchsanweisung und meine
Tante.«
»Siehst du? So kommen wir nicht weiter. Ich nehme an, du möchtest
warten, bis sich das Buch neu geschrieben hat, nicht wahr?«
- 345 -
»Natürlich.«
»Dann hast du von mir nichts zu befürchten, bis Jane endgültig aus
Thornfield fortgeht. Danach verhandeln wir.«
»Nein, Acheron, ich verhandle nicht.«
Hades schüttelte langsam den Kopf.
»Und ob du verhandeln wirst. Du bist zwar derart anständig und
solide, daß einem das Kotzen kommt, aber selbst du wirst schwerlich
den Rest deines jämmerlichen Lebens hier verbringen wollen. Du bist
doch eine intelligente Frau; dir wird schon was einfallen.«
Ich seufzte und ging; nach dieser Begegnung mit Hades’ finsterer
Seele war das geschäftige Treiben der Käufer und Händler eine wahre
Wohltat.
- 346 -
33.
Das Buch wird geschrieben
Wir saßen im Rauchsalon des Penderyn-Hotels und
sahen, daß Thursday ganze Arbeit leistete. Die
Geschichte entwickelte sich rasant; ganze Wochen
schrumpften auf wenige Zeilen zusammen. Mycroft oder
ich lasen den Text, der sich selbst neu schrieb, laut vor.
Wir alle warteten darauf, daß die Worte »süßer Wahn«
auftauchten, doch vergeblich. Wir machten uns auf das
Schlimmste gefaßt; daß wir Hades vielleicht nie
erwischen würden. Daß Thursday als eine Art ewige
Hausmeisterin in dem Roman gefangen bleiben könnte.
BOWDEN CABLES
- Tagebuch eines LitAg
Die Wochen in Thornfield Hall vergingen wie im Flug, und ich
verwandte meine ganze Energie darauf, Jane zu beschützen, ohne daß
sie etwas davon merkte. Ich postierte einen jungen Burschen vor dem
Millcote, der Hades überwachen sollte, aber der begnügte sich damit,
jeden Morgen einen Spaziergang zu unternehmen, den örtlichen Arzt
um Lektüre anzugehen und sich die Zeit im Wirtshaus zu vertreiben.
Seine Untätigkeit bot einigen Anlaß zur Besorgnis, ich war aber froh,
daß er sich vorerst zurückhielt.
Rochester hatte seine Heimkehr brieflich angekündigt, und ihm zu
Ehren fand eine kleine Feier im engsten Freundeskreis statt. Das
Erscheinen der dusseligen Blanche Ingram setzte Jane ziemlich zu,
aber das kümmerte mich wenig. Ich war viel zu sehr damit
beschäftigt, mit John, dem Gatten der Köchin, die nötigen
Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich hatte ihm beigebracht, mit
Rochesters Pistolen zu schießen, und zu meiner großen Freude erwies
er sich als exzellenter Schütze. Ich hatte angenommen, daß Hades sich
vielleicht unter die Gäste mischen würde, doch abgesehen vom
- 347 -
Erscheinen Mr. Masons von den Westindischen Inseln ereignete sich
nichts Außergewöhnliches.
Aus Wochen wurden Monate, und obwohl ich Jane – natürlich
absichtlich – nur selten sah, blieb ich mit dem Personal und Mr.
Rochester in ständiger Verbindung, um dafür zu sorgen, daß alles
glattging. Und wie es schien, ging alles glatt. Mr. Mason wurde von
seiner irren Schwester im zweiten Stock gebissen; ich stand vor der
verschlossenen Tür, während Jane die Wunden versorgte und
Rochester nach dem Arzt schickte. Als der Arzt kam, hielt ich draußen
in der Laube Wache, weil ich wußte, daß sich Jane und Rochester dort
treffen würden. Und so ging es ohne Unterlaß, bis Jane zu ihrer
todkranken Tante in Gateshead fuhr.
Inzwischen hatte Rochester beschlossen, Blanche Ingram zu
heiraten, und das Verhältnis zwischen ihm und Jane war merklich
abgekühlt. Als sie abreiste, war ich erleichtert; endlich konnte ich
mich ein wenig entspannen und mich in Ruhe mit Rochester
unterhalten, ohne Janes Verdacht zu erregen.
»Sie bekommen zuwenig Schlaf«, bemerkte Rochester bei einem
gemeinsamen Spaziergang über die Wiese. »Sie wirken müde und
haben dunkle Ringe unter den Augen.«
»Ich schlafe nicht sehr gut, jedenfalls nicht, solange Hades kaum
fünf Meilen entfernt ist.«
»Aber Ihre Späher würden Ihnen doch gewiß mitteilen, wenn er
etwas unternähme?«
Er hatte recht; das Spionagenetz funktionierte tadellos, wenn auch
nur dank Rochesters beträchtlicher finanzieller Unterstützung. Wenn
Hades den Fuß vor die Tür setzte, erfuhr ich es binnen zwei Minuten,
von einem Reiter, der sich für ebendiesen Fall bereithielt. So wußte
ich jederzeit, wo ich ihn finden konnte, einerlei ob er einen
Spaziergang machte, las oder die Bauern mit seinem Stock
verprügelte. Er hatte sich nie näher als eine Meile an das Haus
herangewagt, und so sollte es auch bleiben.
»Meine Späher haben mir bislang nichts Beunruhigendes berichtet,
obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß jemand
- 348 -
wie Hades tatsächlich so untätig ist. Ich finde das geradezu
beängstigend.«
So gingen wir eine Weile vor uns hin. Rochester zeigte mir
allerhand Interessantes, doch ich war nicht recht bei der Sache.
»Wie sind Sie eigentlich zu mir gekommen in jener Nacht, als ich
angeschossen vor dem Lagerhaus lag?« fragte ich schließlich.
Rochester blieb stehen und sah mich an.
»Es ist einfach geschehen, Miss Next. Ich kann es Ihnen nicht
erklären, ebensowenig wie Sie mir erklären können, wie Sie als
kleines Mädchen hierhergelangt sind. Außer Mrs. Nakijima und einem
Reisenden namens Foyle ist mir auch niemand sonst bekannt, dem das
je gelungen wäre.«
Ich war erstaunt. »Sie kennen Mrs. Nakijima?«
»Selbstverständlich. Gewöhnlich zeige ich ihren Gästen Thornfield,
solange Jane in Gateshead weilt. Das ist völlig ungefährlich und –
nebenbei gesagt – auch sehr lukrativ. Ein Landhaus zu unterhalten ist
auch in diesem Jahrhundert nicht gerade billig, Miss Next.«
Ich gönnte mir ein Lächeln. Mrs. Nakijima sahnte dabei vermutlich
ordentlich ab; schließlich war eine Reise wie diese der Wunschtraum
jedes Brontë-Fans, und davon gab es in Japan jede Menge.
»Was haben Sie vor, wenn Ihre Arbeit hier beendet ist?« fragte
Rochester und zeigte Pilot ein Kaninchen; der rannte bellend davon.
»Zurück zu SpecOps«, antwortete ich. »Und Sie?«
Rochester sah mich nachdenklich an; er runzelte die Stirn, und ein
zorniger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Wenn Jane mit diesem
schleimigen St. John Rivers fortgeht, ist es mit mir aus und vorbei.«
»Und was wollen Sie dann tun?«
»Tun? Nichts. Das bedeutet mein Ende.«
»Den Tod?«
- 349 -
»Nicht direkt«, entgegnete Rochester und wählte seine Worte mit
Bedacht. »Wo Sie herkommen, wird man geboren, lebt und stirbt.
Habe ich recht?«
»Mehr oder weniger.«
»Was für ein jämmerliches Dasein muß das sein!« rief Rochester
lachend. »Und wenn Sie niedergeschlagen sind, suchen Sie vermutlich
Trost bei jenem inneren Auge, das wir Gedächtnis nennen, nicht?«
»Meistens«, antwortete ich, »obwohl das Gedächtnis hundertmal
schwächer ist als unsere tatsächlich erlebten Gefühle.«
»Ganz Ihrer Meinung. Hier werde ich weder geboren, noch sterbe
ich. Ich erblicke mit achtunddreißig Jahren das Licht der Welt und
verlasse sie bald darauf schon wieder, nachdem ich mich zum ersten
Mal verliebt und dann das Objekt meiner Verehrung sogleich wieder
eingebüßt habe!«
Er blieb stehen und hob den Stock auf, den Pilot ihm statt des
entwischten Kaninchens gebracht hatte.
»Sie müssen wissen, daß ich mich in Sekundenschnelle an jede
gewünschte Stelle des Romans und wieder zurück expedieren kann;
ein gut Teil meines Lebens liegt zwischen dem Augenblick, da ich
jenem zarten, spitzbübischen Wesen meine aufrichtige Liebe gestehe,
und dem Moment, wo der törichte Mason und sein Anwalt mir die
Hochzeit verderben. In diese Wochen kehre ich am häufigsten zurück,
aber ich besuche auch die schlechten Zeiten – denn ohne einen
Maßstab ist man geneigt, die Höhepunkte für selbstverständlich zu
nehmen. Zuweilen spiele ich mit dem Gedanken, die beiden von John
am Kirchtor abpassen und hinhalten zu lassen, bis die Trauung
abgeschlossen ist, aber das läßt der Roman leider nicht zu.«
»Das heißt, während Sie hier stehen und mit mir plaudern …«
»… begegne ich Jane gleichzeitig zum ersten Mal, umwerbe und
verliere sie für immer. Ich sehe Sie deutlich vor mir, als kleines Kind,
mit angsterfüllter Miene angesichts der donnernden Hufe meines
Pferdes …«
Er betastete seinen Ellbogen.
- 350 -
»Sogar die Schmerzen spüre ich, die mir der Sturz verursacht.
Wie Sie sehen, hat meine Existenz, obgleich befristet, durchaus ihre
Vorteile.«
Ich seufzte. Ach, wenn das Leben doch auch in Wirklichkeit so
einfach wäre; wenn man sich auf die guten Zeiten beschränken und
die schlechten einfach überspringen könnte …
»Gibt es einen Mann, den Sie lieben?« fragte Rochester mit einem
Mal.
»Ja; aber unser Verhältnis ist gespannt. Er hat meinen Bruder eines
tödlichen Irrtums bezichtigt, und ich fand es ungerecht, den Fehler
einem Toten anzulasten, der sich nicht mehr verteidigen kann. Und
jetzt fällt es mir schwer, ihm zu vergeben.«
»Was gibt es denn da zu vergeben?« fragte Rochester. »Setzen Sie
einen Strich darunter, und konzentrieren Sie sich darauf zu leben. Ihr
Leben ist kurz; viel zu kurz, um die Zeit mit Bösesein zu vertrödeln
und auf das Glück zu verzichten, das ohnehin nur von begrenzter
Dauer ist.«
»Ach!« entgegnete ich. »Er ist verlobt!«
»Na und?« spottete Rochester. »Vermutlich mit jemandem, der
ebensowenig zu ihm paßt wie Blanche Ingram zu mir!«
Ich dachte an Daisy Mutlar, und es schien da in der Tat einige
Parallelen zu geben.
Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bis Rochester eine Uhr
aus seiner Westentasche zog. »Meine Jane kehrt soeben aus Gateshead
zurück. Wo sind mein Stift und mein Notizbuch?«
Er kramte in seinen Taschen und förderte einen Bleistift und ein
gebundenes Zeichenbuch zutage. »Ich soll ihr wie zufällig begegnen;
sie wird in Kürze hier übers Feld kommen. Wie sehe ich aus?«
Ich strich seine Krawatte glatt und nickte zufrieden.
»Finden Sie eigentlich, daß ich gut aussehe, Miss Next?« fragte er
gänzlich unerwartet.
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß.
- 351 -
»Pah!« stieß Rochester hervor. »Frauenzimmer! Hinfort, mir aus
den Augen; wir sprechen uns noch!«
Ich ließ ihn stehen und ging am See entlang zum Haus zurück, in
tiefes Nachdenken versunken.
Und so verstrich Woche um Woche, es wurde langsam wärmer, und
die Bäume schlugen aus. Ich bekam Rochester und Jane kaum zu
Gesicht; die beiden hatten nur noch Augen füreinander. Mrs. Fairfax
gefiel die Liaison gar nicht, und ich mußte sie mehrfach ermahnen.
Darüber plusterte sie sich auf wie eine alte Henne und gab sich fortan
verschnupft. Monatelang ging in Thornfield alles seinen gewohnten
Gang; aus dem Frühling wurde Sommer, und auch am Tag der
Hochzeit war ich da, auf Rochesters ausdrückliche Bitte in der
Sakristei versteckt. Ich sah, wie der Pfarrer, ein wohlbeleibter Mann
namens Wood, die Frage stellte, ob einem der Anwesenden ein
Hindernis bekannt sei, welches die Eheschließung vor dem Gesetz
oder vor Gott verbiete. Ich hörte, wie der Anwalt sein schreckliches
Geheimnis preisgab. Rochester geriet völlig außer sich vor Zorn, als
Briggs die eidesstattliche Erklärung verlas und erklärte, die
wahnsinnige Bertha Mason sei Rochesters rechtmäßige Ehefrau.
Während sie noch herumstritten, hielt ich mich verborgen und kam
erst aus meinem Versteck, als Rochester die Anwesenden zu seinem
Haus führte, um ihnen die Verrückte zu zeigen. Statt ihnen jedoch zu
folgen, unternahm ich einen Spaziergang. Ich hatte keine Lust, dabei
zu sein, wenn Jane und Rochester sich damit auseinandersetzen
müssen, daß sie nicht heiraten können.
Am nächsten Morgen ging Jane fort. Ich folgte ihr in sicherem
Abstand auf der Straße nach Whitcross; sie schien mir wie ein kleines,
verirrtes Tier, das anderswo nach einem besseren Leben sucht. Ich
blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, und ging dann auf einen
Imbiß nach Millcote. Nachdem ich im George zu Mittag gegessen
hatte, maß ich mich mit drei fahrenden Kartenspielern; bis zum Abend
hatte ich ihnen sechs Guineas abgeknöpft. Während wir noch spielten,
trat ein Knabe an unseren Tisch. »Hallo, William!« sagte ich. »Was
gibt’s Neues?« Ich beugte mich zu dem Dreikäsehoch hinunter, der
gebrauchte Erwachsenenkleider trug, die man auf ihn
zurechtgeschneidert hatte.
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»Verzeihung, Miss Next, aber Mr. Hedge ist verschwunden.«
Erschrocken sprang ich auf, nahm die Beine in die Hand und hielt erst
an, als ich im Millcote angekommen war. Ich stürzte treppauf zum
Absatz, wo einer meiner verläßlichsten Spione stand und verlegen an
seiner Mütze zupfte. Hades’ Zimmer war leer.
»Es tut mir leid, Miss. Ich war unten im Schankraum, habe aber
nichts getrunken; ich schwör’s. Er muß sich unbemerkt
davongeschlichen haben …«
»Ist sonst noch jemand die Treppe heruntergekommen, Daniel?
Raus mit der Sprache, schnell!«
»Nein, niemand. Niemand außer der alten Dame …«
Ich nahm das Pferd meines Kundschafters und war im Nu in
Thornfield. Keiner der Wachtposten vor den Türen hatte Hades
gesehen. Ich ging hinein und fand Rochester im Morgenzimmer, wo er
sich an einer Flasche Brandy gütlich tat. Als ich eintrat, hob Edward
das Glas.
»Sie ist fort, nicht wahr?« fragte er.
»Ja.«
»Verdammt! Verflucht seien die Umstände, die mich zur Heirat mit
dieser Närrin zwangen, und verflucht seien auch mein Vater und mein
Bruder, denen ich diese Liaison verdanke!«
Er sank in einen Sessel und starrte zu Boden.
»Ist Ihre Arbeit hier beendet?« fragte er niedergeschlagen.
»Ich glaube schon, ja. Sobald ich Hades gefunden habe, bin ich auf
und davon.«
»Ist er denn nicht im Millcote?«
»Nicht mehr.«
»Aber Sie glauben, ihn fassen zu können?«
»Ja; in dieser Welt scheint er geschwächt zu sein.«
- 353 -
»Dann sollten Sie mir lieber Ihr Paßwort verraten. Wenn es soweit
ist, könnte es knapp werden. Wer gewarnt ist, ist gewappnet.«
»Stimmt«, gestand ich. »Um das Portal zu öffnen, müssen Sie …«
Da plötzlich schlug die Haustür zu, ein Windstoß wirbelte Papiere
auf, und vertraute Schritte hallten über den Flur. Ich erstarrte und warf
einen hastigen Blick auf Rochester, der immer noch in sein Glas
stierte.
»Das Codewort …?«
Eine Stimme rief nach Pilot. Der voluminöse Baß des Hausherrn.
»Mist!« knurrte Hades, gab die Gestalt Rochesters auf und sprang
durch die Wand. Latten und Kalkbewurf zerbrachen wie Reispapier
vor ihm. Als ich endlich auf den Korridor kam, war er schon fort, im
Labyrinth des Hauses verschwunden. Inzwischen stand der echte
Rochester neben mir, und gemeinsam lauschten wir die Treppe hinauf,
doch kein Laut drang an unser Ohr. Edward ahnte, was geschehen
war, und rief seine Knechte zusammen. Binnen zwanzig Minuten
hatte er das Haus umstellen lassen und den Befehl erteilt,
unverzüglich auf jegliche Person zu schießen, die ohne das
verabredete Losungswort zu entkommen versuchte. Dann gingen wir
in die Bibliothek, wo Rochester ein Paar Pistolen hervorholte und
vorsichtig lud. Er blickte mit Unbehagen auf meine BrowningAutomatik, während er zwei Zündhütchen auf den Zündkegeln der
Pistolen placierte und die Schlaghämmer spannte.
»Kugeln machen ihn bloß böse«, sagte ich.
»Haben Sie eine bessere Idee?«
Ich schwieg.
»Dann folgen Sie mir jetzt. Je schneller dieser Lump aus meinem
Buch verschwindet, desto besser!«
Bis auf Grace Poole und die Verrückte hatte man das Haus geräumt,
und Mrs. Poole hatte Anweisung, bis zum Morgen niemandem, nicht
einmal Mr. Rochester, die Tür zu öffnen. Rochester und ich begannen
in der Bibliothek und arbeiteten uns von dort über das Speisezimmer
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in das ausschließlich nachmittäglichen Besuchern vorbehaltene
Empfangszimmer vor.
Nichts.
Wir kehrten zur Treppe zurück, wo wir John und Matthew postiert
hatten, die beide Stein und Bein schworen, daß sie niemanden gesehen
hätten. Unterdessen war die Nacht hereingebrochen; die Wachtposten
hatten Fackeln erhalten, deren trüber Schein flackernd die Flure
erhellte. Treppe und Täfelung des Hauses waren aus dunklem Holz,
das nur wenig Licht zurückwarf; es war finster wie im Bauch eines
Wals. Als wir die Treppe erklommen hatten, sahen wir nach rechts
und links, doch das Haus war stockfinster. Ich verfluchte mich, daß
ich keine vernünftige Taschenlampe mitgenommen hatte.
Als habe jemand meine Gedanken erhört, blies mit einem Mal ein
Windstoß alle Kerzen aus, und vor uns schlug eine Tür. Mir stockte
das Herz, und Rochester stieß einen derben Fluch aus, als er gegen
eine Truhe stieß. Rasch zündete ich den Kandelaber wieder an. Im
warmen Schein starrten wir einander ins Gesicht, und als Rochester
bemerkte, daß ich ebenso große Furcht empfand wie er, stählte er
seinen Mut und rief: »Feigling! Zeig dich!«
Es gab einen lauten Knall, gefolgt von einem grellen,
orangefarbenen Blitz, als Rochester einen Schuß in Richtung der
Treppe zum Dachgeschoß abgab.
»Da! Da läuft er, wie ein Hase; ich glaube, ich habe ihn getroffen!«
Wir eilten zu der Stelle, fanden jedoch kein Blut, sondern nur die
schwere Bleikugel, die in der Brüstung steckte.
»Jetzt haben wir ihn!« jauchzte Rochester. »Von hier oben gibt es
kein Entkommen, außer über das Dach, und auch keinen Weg nach
unten, es sei denn er will an den Regenrinnen seinen Hals riskieren!«
Wir stiegen die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Obgleich die
Fenster hier etwas größer waren, herrschte unheimliche Dunkelheit.
Plötzlich erstarrten wir. Mitten auf dem Flur, halb im Schatten, das
Gesicht von einer einzigen Kerze schwach erhellt, stand Hades. Er
gehörte nicht zu jenem Typus des Verbrechers, der sich versteckte. Er
hielt die Kerzenflamme an ein aufgerolltes Stück Papier, bei dem es
- 355 -
sich nur um das Wordsworth-Gedicht handeln konnte, in dem meine
Tante gefangen war.
»Das Codewort, Thursday, wenn ich bitten darf!«
»Niemals!«
Er hielt die Kerze noch näher an das Blatt und verzog die Lippen zu
einem Lächeln.
»Das Codewort, bitte!«
Doch sein Lächeln gerann jäh zu einer schmerzverzerrten Fratze; er
heulte auf in unmenschlicher Qual, und Kerze und Gedicht fielen zu
Boden. Als er sich langsam umwandte, sahen wir, woher seine
Schmerzen rührten. Auf seinem Rücken saß, sich wildentschlossen an
ihn klammernd, die irre Mrs. Rochester. Sie gackerte wie toll und
zerrte an einer Schere, die sie Hades zwischen die Schulterblätter
getrieben hatte. Er schrie erneut auf und sank auf die Knie, während
seine Kerze einen mit Wachs polierten Sekretär in Brand setzte.
Gierig leckten die Flammen an dem Möbelstück, und Rochester riß
einige Vorhänge herab, um sie zu ersticken. Doch Hades stand schon
wieder, strotzend vor neugewonnener Kraft: Die Schere war
zurückgezogen worden. Er schlug nach Rochester und streifte ihn am
Kinn; Edward taumelte und stürzte zu Boden.
Mit einem manischen Grinsen im Gesicht nahm Acheron eine
Petroleumlampe vom Buffett und schleuderte sie quer durch den Flur;
sie explodierte und entzündete einen Wandbehang. Dann wandte er
sich zu der Irren um, die sich, scheinbar blindlings um sich schlagend,
auf ihn stürzte. Mit einem geschickten Hieb riß sie Hades das
zerfledderte Schulheft mit Mycrofts Gebrauchsanweisung aus der
Tasche, stieß einen infernalischen Triumphschrei aus und lief davon.
»Geben Sie auf, Hades!« brüllte ich und drückte zweimal ab.
Acheron schwankte unter der Wucht der Schüsse, hatte sich jedoch
rasch wieder gefangen und lief Bertha und der Gebrauchsanweisung
hinterher. Hustend hob ich das kostbare Gedicht auf; unterdessen
erfüllte dichter Rauch den Flur. Die Gobelins standen in Flammen. Ich
half Rochester auf die Beine. Wir rannten hinter Hades her, der auf
seiner Jagd nach der Gebrauchsanweisung und der schwachsinnigen
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Kreolin weitere Brände gelegt hatte. Wir fanden die beiden in einem
großen Hinterzimmer.
Es gab keinen geeigneteren Augenblick, um das Portal zu öffnen;
das Bett brannte lichterloh, und Hades und Bertha vollführten ein
wahnsinniges Katz-und-Maus-Spiel. Das Heft umklammernd, schlug
sie mit der Schere nach ihm, wovor er große Angst zu haben schien.
»Sagen Sie das Codewort!« rief ich Rochester zu.
»Wie lautet es?«
»Süßer Wahn!«
Rochester schrie das Losungswort. Nichts. Er schrie es noch lauter.
Noch immer nichts. Ich hatte einen Fehler gemacht. Jane Eyre war in
der ersten Person geschrieben. Bowden und Mycroft konnten folglich
nur das lesen, was Jane erlebte – was wir erlebten, kam im Buch nicht
vor. Das hatte ich nicht bedacht.
»Was jetzt?« fragte Rochester.
»Ich weiß nicht. Achtung!!! «
Bertha stürzte wie eine Furie an uns vorbei zur Tür, gefolgt von
Hades, der die Gebrauchsanweisung offenbar so dringend
zurückhaben wollte, daß er Rochester und mich darüber fast vergessen
hatte. Wir liefen hinter ihnen her auf den Korridor, doch das
Treppenhaus war unterdessen eine regelrechte Flammenwand, und
Hitze und Rauch drängten uns zurück. Hustend und mit tränenden
Augen flüchtete sich Bertha aufs Dach, dicht gefolgt von Hades,
Rochester und mir. Die frische, kühle Luft war eine Wohltat. Bertha
lief uns voran auf das Bleidach des Ballsaals. Wir konnten sehen, wie
sich das Feuer unten ausgebreitet hatte. Die stark gewachsten Möbel
und Fußböden versorgten die hungrigen Flammen mit immer neuer
Nahrung; nur noch wenige Minuten, und das große, zundertrockene
Haus war ein Inferno.
Die Irre vollführte einen trägen Tanz in ihren Nachtgewändern; eine
trübe Erinnerung, vielleicht, an eine Zeit, da sie noch eine Dame
gewesen war, himmelweit entfernt von dem traurigen, jämmerlichen
Dasein, das sie jetzt fristete. Sie knurrte wie ein Tier im Käfig und
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bedrohte Hades mit der Schere, als er fluchend die Rückgabe des
Heftes forderte, mit dem sie ihm höhnisch vor der Nase
herumwedelte. Rochester und ich sahen zu; das Splittern der Scheiben
und das Brüllen des Feuers durchbrachen die Stille der Nacht.
Weil Rochester es nicht über sich brachte, untätig herumzustehen
und seiner Frau und Hades bei ihrem Danse macabre zuzuschauen,
verpaßte er Hades mit der zweiten Pistole eine Kugel ins Kreuz.
Hades wirbelte herum, unverletzt, doch außer sich vor Zorn. Er zog
seine Waffe und feuerte mehrmals auf Rochester; ich brachte mich
hinter einem Kamin in Sicherheit. Bertha nutzte die Gelegenheit und
rammte Hades die Schere bis zum Anschlag in den Arm. Er schrie auf
vor Schreck und Schmerz und ließ die Waffe fallen. Bertha tanzte
glücklich um ihn herum und fing wild an zu gackern. Hades sank in
die Knie.
Ich hörte ein Stöhnen hinter mir und wandte mich um. Eine von
Acherons Kugeln hatte Rochesters Handteller durchbohrt. Er zog ein
Taschentuch hervor, und ich half ihm, es um seine zerschmetterte
Hand zu wickeln.
Als ich mich wieder umdrehte, sah ich gerade noch, wie sich Hades
die Schere aus dem Arm riß; sie segelte durch die Luft und landete
nicht weit von mir entfernt. Im Nu hatte er seine alte Kraft
zurückgewonnen und stürzte sich wie ein Löwe auf die unselige
Bertha. Er packte sie an der Kehle und entriß ihr das Heft. Dann
stemmte er sie in die Luft und hielt sie hoch über seinen Kopf,
während sie einen Schrei ausstieß, der selbst das Brüllen des Feuers
noch übertönte. Einen Augenblick lang zeichneten sich ihre
Silhouetten gegen die Flammen ab, die zuckend in den Nachthimmel
schlugen, dann trat Hades mit zwei raschen Schritten an die Brüstung
und warf Bertha vom Dach; ihr Kreischen verstummte erst, als sie drei
Stockwerke tiefer mit einem dumpfen Schlag aufprallte.
Hades trat von der Brüstung zurück und fuhr mit loderndem Blick
zu uns herum.
»Süßer Wahn, hä?« Er lachte. »Jane ist zu ihren Verwandten
gefahren und hat die Handlung mitgenommen. Und ich habe die
Gebrauchsanleitung!«
- 358 -
Er fuchtelte mit dem Heft, schob es sich in die Tasche und hob seine
Waffe auf.
»Wer schießt zuerst?«
Ich drückte ab, doch Hades fischte die heransausende Kugel mit der
bloßen Hand aus der Luft. Er öffnete die Faust; das Geschoß hatte sich
in eine winzige Bleischeibe verwandelt. Er lächelte, und hinter ihm
stoben Funken in den Himmel. Ich schoß noch einmal; wieder fing er
die Kugel.
Der Schlitten meiner Automatik ging in Ladestellung: Das Magazin
war leer und wartete auf Nachschub. Zwar hatte ich durchaus noch
Munition, aber das spielte keine Rolle mehr. Ich mußte dem
Unvermeidlichen ins Auge sehen: Bisher war alles gutgegangen, ich
hatte länger als jeder andere überlebt und alles menschenmögliche
getan. Doch jetzt hatte mein Glück mich verlassen. Er würde mich
abknallen.
Hades lächelte mich an.
»Timing ist alles, Thursday. Ich habe das Paßwort, die
Gebrauchsanleitung und nicht zuletzt die Oberhand. Wie du siehst, hat
sich das Warten gelohnt.«
Triumph spiegelte sich in seiner Miene.
»Es mag dir zum Trost gereichen, daß ich dir die Ehre angedeihen
lassen wollte, Felix9 zu werden. Ich werde dich als meine größte
Rivalin in Erinnerung behalten – Chapeau! Und du hast
selbstverständlich recht – du hast dich nie auf Kompromisse
eingelassen.«
Ich hörte gar nicht mehr hin. Ich dachte an Tamworth, Snood und
seine anderen Opfer. Ich blickte zu Rochester, der sich die
blutgetränkte Hand hielt; sein Kampfgeist war erloschen.
»Die Krim wird uns ein Vermögen bringen«, fuhr Hades fort.
»Wieviel man an so einem Plasmagewehr wohl verdient? Fünfhundert
Pfund? Tausend? Zehntausend?«
Ich dachte an meinen Bruder auf der Krim. Er hatte mich gebeten,
zurückzukommen und ihn rauszuholen. Auf dem Rückweg wurde
- 359 -
mein Panzer von einer Artilleriegranate getroffen. Ich mußte mit
Gewalt daran gehindert werden, ein anderes Fahrzeug zu requirieren
und ins Feld zurückzukehren. Ich sah ihn nie wieder. Ich hatte mir nie
verziehen, ihn dort zurückgelassen zu haben.
Hades schwadronierte immer noch vor sich hin, und ich wünschte
beinahe, er würde ewig weiterreden. Nach allem, was ich
durchgemacht hatte, erschien mir der Tod mit einem Mal seltsam
verlockend. Es heißt, daß auf dem Höhepunkt der Schlacht eine tiefe,
feierliche Stille eintritt und man – durch den schweren Vorhang des
Schocks gegen alle Schrecken der Umgebung geschützt – plötzlich
wieder ruhig und nüchtern denken kann. Obwohl mein Tod
beschlossene Sache war, kam mir nur eine scheinbar banale Frage in
den Sinn: Warum, in drei Teufels Namen, hatte Berthas Schere auf
Hades eine so verheerende Wirkung? Ich hob den Kopf und sah zu
Acheron, dessen Lippen Worte formten, die ich nicht hören konnte.
Ich stand auf, und er drückte ab.
Aber er hatte bloß mit mir gespielt: Die Kugel verfehlte mich bei
weitem, und ich zuckte nicht mal mit der Wimper. Die Schere war der
Schlüssel: Sie war aus Silber!
Ich durchwühlte meine Hosentasche nach der Silberkugel, die ich
vor langer Zeit von Spike bekommen hatte, während Acheron in
seiner Eitelkeit und Arroganz immer weiterschwafelte. Diese
Dummheit würde ihn teuer zu stehen kommen. Ich schob die
schimmernde Patrone in meine Automatik und zog den Schlitten
durch. Die Kugel glitt in die Kammer, ich zielte und drückte ab.
Zunächst geschah gar nichts. Dann verstummte Acheron plötzlich
und griff sich dorthin, wo die Kugel eingedrungen war. Er hob die
Finger und betrachtete sie wie vom Donner gerührt; er war es
gewohnt, daß Blut an seinen Händen klebte – doch nicht sein eigenes.
Erst sah er mich an, als wolle er noch etwas sagen, dann fing er leise
an zu wanken, bis er schließlich vornüberkippte, der Länge nach
hinschlug und reglos liegenblieb. Acheron Hades, der drittböseste
Mensch der Welt, war endlich tot, erschossen auf dem Dach von
Thornfield Hall und von niemandem beweint und betrauert.
- 360 -
Um über Acherons Ableben nachzudenken, blieb uns nicht viel Zeit;
die Flammen schlugen von Sekunde zu Sekunde höher. Ich nahm
Mycrofts Heft und half Rochester auf die Beine. Wir schleppten uns
zur Brüstung; das Dach war heiß geworden, und wir spürten, wie sich
die Balken unter unseren Füßen bogen. Das Bleidach hob und senkte
sich, als sei es lebendig. Wir blickten über die Brüstung, doch kein
Weg führte nach unten. Rochester ergriff meine Hand und zog mich
zu einem zweiten Dachfenster. Als er es einschlug, mußten wir vor
einem Schwall von heißem Rauch in Deckung gehen.
»Der Dienstbotenaufgang!« rief er hustend. »Hier entlang!« Wir
ließen uns durch das Fenster hinunter, bis wir festen Boden unter den
Füßen spürten. Rochester tastete sich durch den dunklen,
verräucherten Flur. Ich folgte ihm ergeben und klammerte mich an
seine Rockschöße, damit ich mich nicht verlief. Wir kamen zum
Dienstbotenaufgang; das Feuer schien diesen Teil des Hauses noch
nicht erreicht zu haben, und Rochester führte mich eilig treppab.
Wir hatten die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, als in der
Küche ein Feuerball explodierte und eine lohende Masse aus Feuer
und heißen Gasen über den Flur und die Stiege hinaufraste. Ich sah
nur noch, wie eine riesige Blase aus roter Glut zerplatzte, als die
Treppe unter uns nachgab. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
- 361 -
34.
Ihr Buch geht zu Ende
Wir warteten umsonst auf Thursdays Codewort. Ich las
das Buch zum x-ten Mal und suchte nach einem Hinweis
darauf, was ihr zugestoßen war. Ich hatte vermutet, daß
Thursday beschlossen haben könnte, im Roman zu
bleiben, weil es ihr nicht gelungen war, Hades zu fassen.
Der Schluß der Geschichte rückte näher; wenn Jane nach
Indien ging, war das Buch zu Ende. In diesem Fall
konnten wir die Maschine abschalten. Denn dann waren
Thursday und Polly für immer verloren.
BOWDEN CABLES
- Tagebuch eines LitAg
Ich schlug die Augen auf und sah mich um. Ich befand mich in
einem kleinen, aber geschmackvoll möblierten Zimmer, gleich unter
einem halboffenen Fenster. Jenseits einer Wiese wiegten sich hohe
Pappeln im Wind, doch die Aussicht war mir fremd; in Thornfield sah
es anders aus. Da ging die Tür auf, und Mary trat ein.
»Miss Next!« sagte sie freundlich. »Sie haben uns einen
fürchterlichen Schrecken eingejagt!«
»War ich lange bewußtlos?«
»Drei Tage. Eine schwere Gehirnerschütterung, hat Dr. Carter
gesagt.«
»Wo …?«
»Sie sind in Ferndean, Miss Next«, antwortete Mary
beschwichtigend, »einem von Mr. Rochesters anderen Gütern. Sie
werden schwach sein; ich bringe Ihnen etwas Brühe.«
Ich ergriff ihren Arm. »Und Mr. Rochester?«
- 362 -
Sie hielt inne, tätschelte mir lächelnd die Hand und sagte, sie werde
jetzt die Brühe holen. Ich sank in die Kissen zurück und dachte an die
Nacht, in der Thornfield gebrannt hatte und Acheron starb. Die arme
Bertha Rochester. Ob ihr bewußt gewesen war, daß sie uns durch ihre
zufällige Wahl der Waffen das Leben gerettet hatte? Vielleicht hatte
sie in ihrer geistigen Umnachtung eine besondere Antenne für den
Schwachpunkt des Scheusals gehabt? Ich würde es nie erfahren, war
ihr aber dennoch dankbar.
Nach einer Woche konnte ich wieder aufstehen und gehen, obwohl
ich nach wie vor unter starken Schwindelgefühlen litt. Man erzählte
mir, daß ich beim Einsturz des Dienstbotenaufgangs einen Schlag auf
den Kopf erhalten und das Bewußtsein verloren hatte. Rochester hatte
mich in einen Vorhang gewickelt und aus dem brennenden Haus
geschleppt. Dabei war er von einem herabstürzenden Balken getroffen
worden und hatte das Augenlicht verloren; die Hand, die Acherons
Kugel zerschmettert hatte, war am Morgen nach dem Feuer amputiert
worden. Wir trafen uns im dunklen Speisezimmer.
»Haben Sie große Schmerzen, Sir?« fragte ich beim Anblick seiner
erbarmungswürdigen Gestalt; seine Augen waren verbunden.
»Zum Glück nicht«, log er, obwohl er bei der leisesten Bewegung
das Gesicht verzog.
»Ich danke Ihnen; Sie haben mir ein zweites Mal das Leben
gerettet.«
Er lächelte matt. »Sie haben mir meine Jane zurückgebracht. Für
jene Monate des Glücks würde ich diese Wunden mit Freuden doppelt
und dreifach erleiden. Aber sprechen wir nicht über meinen
jämmerlichen Zustand. Geht es Ihnen gut?«
»Dank Ihnen.«
»Ja, ja, aber wie wollen Sie in Ihre Welt zurückkehren? Jane und
dieser feigherzige Hanswurst Rivers sind vermutlich längst in Indien;
und mit ihnen die Handlung. Wie könnten Ihre Freunde Sie da
retten?«
»Mir wird schon was einfallen«, sagte ich und tätschelte ihm den
Arm. »Man kann nie wissen, was die Zukunft bringt.«
- 363 -
Für meine Kollegen von Spec-Ops war der nächste Tag angebrochen.
Die Monate, die ich in dem berühmten Buch zugebracht hatte, waren
für sie so rasch vergangen wie die Zeit, die man braucht, um davon zu
lesen. Angesichts der kriminellen Umtriebe vor seiner Haustür hatte
das walisische Politbüro Victor, Finisterre und einem Mitglied der
Brontë-Gesellschaft freies Geleit ins Hotel Penderyn zugesichert, wo
die drei jetzt mit Bowden, Mycroft und einem zunehmend nervöser
werdenden Jack Schitt zusammensaßen. Der Vertreter der BrontëGesellschaft las den Text, der auf den vergilbten Seiten erschien, laut
mit. Von ein paar kleinen Änderungen abgesehen, nahm der Roman
den üblichen Verlauf; seit zwei Stunden folgte der Wortlaut exakt dem
Original: Jane erhielt einen Heiratsantrag von St. John Rivers, der sie
als seine rechtmäßige Ehefrau nach Indien mitnehmen wollte, und sie
bat um Bedenkzeit.
Mycroft trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und ließ
den Blick über die zuckenden Nadeln und Skalen an seiner Maschine
schweifen; er wartete auf das Stichwort zum Öffnen des Portals. Das
Problem war nur, daß das Buch langsam, aber sicher seinem Ende
zuging.
Da geschah das Unglaubliche. Der Experte der Brontë-Gesellschaft,
ein gewöhnlich überaus beherrschter kleiner Mann namens Plink, war
plötzlich wie elektrisiert. »Moment mal; das ist neu! Das gab es früher
nicht!«
»Was?« rief Victor und blätterte rasch in seinem Exemplar. Und
tatsächlich, Mr. Plink hatte recht. Die Worte, die eines nach dem
anderen auf dem Papier erschienen, gaben der Handlung eine völlig
neue Wendung. Nachdem Jane der Heirat mit St. John Rivers
zugestimmt hatte, so dies Gottes Wille sei, hörte sie eine Stimme –
eine neue Stimme, Rochesters Stimme –, die aus der Ferne nach ihr
rief. Wo kam sie her, diese Stimme? Diese Frage stellten sich weltweit
an die achtzig Millionen Leser, während sie die neue Geschichte, die
sich vor ihren Augen schrieb, gebannt verfolgten.
»Was soll das heißen?« fragte Victor.
- 364 -
»Ich weiß nicht«, antwortete Plink. »Das ist zwar Charlotte Brontë
pur, stand vorher aber definitiv nicht im Manuskript!«
»Thursday«, murmelte Victor. »Das muß sie sein. Mycroft, halten
Sie sich bereit!«
Begeistert lasen sie, wie Jane sich gegen Indien und St. John Rivers
entschied und beschloß, nach Thornfield Hall zurückzukehren.
Mit Mühe und Not schaffte ich es nach Ferndean und zu Rochester
zurück, bevor Jane dort eintraf. Ich überbrachte ihm die Neuigkeit im
Speisezimmer; wie ich sie im Haus der Rivers gefunden, mich unter
ihr Fenster geschlichen und mit verstellter Stimme: »Jane! Jane!
Jane!« gerufen hatte, wie Rochester es manchmal tat. Es war keine
besonders gute Imitation, doch sie erfüllte ihren Zweck. Jane bebte
geradezu vor Erregung und packte auf der Stelle ihre Sachen.
Rochester schien alles andere als begeistert. »Ich weiß nicht, ob ich
Ihnen danken oder Sie verfluchen soll, Miss Next. Der Gedanke, daß
sie mich so sieht, ein Blinder mit nur einem gesunden Arm! Und
Thornfield in Trümmern! Sie wird mich hassen, ich weiß es
bestimmt!«
»Sie irren, Mr. Rochester. Und wenn Sie Jane auch nur halb so gut
kennen, wie ich glaube, würden Sie nie und nimmer auf so eine Idee
kommen!«
Es klopfte an der Tür. Es war Mary. Sie meldete, daß Rochester
Besuch habe, der seinen Namen jedoch nicht nennen wolle.
»Herr im Himmel!« rief Rochester. »Sie ist es! Sagen Sie, Miss
Next! Ob sie mich wohl lieben könnte? So, wie ich bin?«
Ich beugte mich zu ihm hinunter und küßte ihn auf die Stirn. »Aber
natürlich. So wie jede andere auch. Mary, lassen Sie sie nicht herein;
wie ich Jane kenne, wird sie sich trotzdem nicht abweisen lassen.
Leben Sie wohl, Mr. Rochester. Ich weiß beim besten Willen nicht,
wie ich Ihnen danken soll, aber ich kann Ihnen versichern, ich werde
Sie und Jane niemals vergessen.«
- 365 -
Rochester wandte den Kopf, ganz so, als wolle er am Geräusch
herausbekommen, wo ich mich befand. Er streckte den Arm aus und
drückte meine Hand. Seine Haut war weich und warm. Ich dachte
unwillkürlich an Landen.
»Adieu, Miss Next! Sie haben ein großes Herz; werfen Sie es nicht
achtlos fort. Es gibt jemanden, der Sie liebt und den Sie lieben.
Wählen Sie das Glück!«
Als Jane hereinkam, stahl ich mich rasch ins Nebenzimmer und
verriegelte lautlos die Tür, während Rochester den Arglosen mimte
und vorgab, Jane nicht zu erkennen.
»Geben Sie mir das Wasser, Mary«, sagte er. Ein Rascheln ertönte,
dann hörte ich Pilot durchs Zimmer tappen.
»Was geht hier vor?« erkundigte sich Rochester in seinem üblichen
schroffen Ton. Ich unterdrückte ein Kichern.
»Platz, Pilot!« befahl Jane. Der Hund gab Ruhe, und einen
Augenblick lang war es still.
»Mary, Sie sind es doch, nicht wahr?« fragte Rochester.
»Mary ist in der Küche«, erwiderte Jane.
Ich zog Mycrofts zerfleddertes Heft und das leicht angesengte
Gedicht aus meiner Tasche. Ich hatte zwar noch ein Hühnchen mit
Jack Schitt zu rupfen, aber das konnte warten. Ich sank erschöpft in
einen Sessel, als ein Ausruf Rochesters durch die Tür drang.
» Wer ist da? Was soll das? Wer spricht da?«
Ich spitzte die Ohren.
»Pilot kennt mich«, gab Jane fröhlich zurück, »und John und Mary
wissen, daß ich hier bin. Ich bin gerade erst gekommen!«
»Grundgütiger!« stieß Rochester hervor. »Was für eine
Sinnestäuschung ist das? Welch süßer Wahn hält mich umfangen?«
»Danke, Edward«, flüsterte ich, als sich das Portal in einer
Zimmerecke öffnete. Ich warf einen letzten Blick auf die Welt, in die
ich nie zurückkehren würde, und trat hindurch.
- 366 -
Ein greller Blitz, sekundenlanges Rauschen, Ferndean Manor war
verschwunden, und an seiner Stelle erblickte ich den vertrauten,
schäbigen Salon des Hotels Penderyn. Bowden, Mycroft und Victor
stürmten freudig auf mich zu. Ich gab Mycroft das Gedicht und die
Gebrauchsanweisung; der machte sich sofort daran, das Tor zu den
»Narzissen« zu öffnen.
»Hades?« fragte Victor.
»Tot.«
»Sicher?«
» Hundertprozentig. «
Das Portal öffnete sich erneut, Mycroft eilte hindurch und kehrte
kurz darauf mit Polly an der Hand zurück; sie hatte einen Strauß
Narzissen im Arm und schien sich in Ausflüchten zu ergehen.
»Wir haben uns doch nur unterhalten, mein geliebter Crofty! Du
glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mich für einen toten Dichter
interessiere, oder?«
»Jetzt bin ich dran«, sagte Jack Schitt aufgeregt und schwenkte Das
Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld. Er legte es zu den
Bücherwürmern und machte Mycroft ein Zeichen, das Portal zu
öffnen. Sobald die Würmer ihre Arbeit beendet hatten, tat Mycroft wie
geheißen. Grinsend streckte Schitt den Arm durch die schimmernde,
weiße Öffnung und tastete nach einem der Plasmagewehre, die im
Buch so eindrucksvoll geschildert wurden.
Aber Bowden hatte andere Pläne. Er gab ihm einen leichten Stups,
und Jack Schitt verschwand schreiend in der Öffnung. Bowden nickte
Mycroft zu, und der zog den Stecker. Die Maschine verstummte, und
die Verbindung zum Buch brach ab. Jack Schitt hatte sich den
falschen Moment ausgesucht. Vor lauter Begeisterung für das Gewehr
hatte er vergessen, seine Gorillas zu rufen. Als die beiden GoliathLeute eintraten, waren Bowden und Mycroft schon dabei, das
ProsaPortal zu zerstören, nachdem sie die Bücherwürmer vorsichtig
- 367 -
umgefüllt und dem Vertreter der Brontë-Gesellschaft das – jetzt leicht
veränderte – Originalmanuskript von Jane Eyre überreicht hatten.
»Wo ist Colonel Schitt?« fragte der erste der beiden Männer.
Victor zuckte die Achseln. »Er mußte kurzfristig weg. Es ging um
die Plasmagewehre.«
Die Goliath-Leute hätten vermutlich weitere Fragen gestellt, wäre
der walisische Außenminister nicht gerade in diesem Moment im
Hotel eingetroffen, um uns mitzuteilen, daß man uns nun, da der Fall
erledigt sei, aus der Republik zu eskortieren gedenke. Die GoliathAgenten protestierten, wurden jedoch bald von mehreren Soldaten der
Walisisch-Republikanischen Armee hinauskomplimentiert, die sich
von den Drohungen der beiden nicht im mindesten beeindrucken
ließen.
Wir wurden in der Präsidentenlimousine von Merthyr nach
Abertawe kutschiert. Der Vertreter der Brontë-Gesellschaft verlor
während der gesamten Fahrt kein Wort – ich spürte, daß er mit dem
neuen Schluß nicht recht zufrieden war. Als wir in die Stadt kamen,
machte ich mich aus dem Staub, rannte zu meinem Wagen und fuhr –
Rochesters Rat beherzigend – auf schnellstem Weg nach Swindon.
Um fünfzehn Uhr sollten Landen und Daisy sich das Jawort geben,
und dabei wollte ich sie nicht allein lassen.
- 368 -
35.
Unser Buch geht zu Ende
Ich hatte Jane Eyre erheblich entstellt; meine »Jane!
Jane! Jane!«-Rufe an ihrem Fenster hatten das Buch für
immer verändert. Das war ein schwerer Verstoß gegen
meine Ausbildung als LitAg und alle Grundsätze, die zu
wahren ich geschworen hatte. Für mich war es nichts
weiter als ein Akt der Wiedergutmachung; schließlich
trug ich die Schuld daran, daß Thornfield abgebrannt und
Rochester verletzt worden war. Ich hatte aus Mitleid,
nicht aus Pflichtgefühl gehandelt, und das ist manchmal
auch ganz gut so.
THURSDAY NEXT
- private Tagebücher
Um fünf nach drei hielt ich mit quietschenden Reifen vor der Kirche
Unserer Heiligen Jungfrau von den Hummern, zum Erstaunen des
Fotografen und des Fahrers eines großen Hispano-Suiza, der für das
glückliche Paar bereitstand. Ich atmete tief durch, sammelte meine
Gedanken und lief mit weichen Knien die Treppe hinauf. Die Orgel
toste, und als ich vor der Tür stand, verließ mich beinahe der Mut.
Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Glaubte ich allen Ernstes,
daß ich nach zehnjähriger Abwesenheit wie aus dem Nichts
auftauchen konnte und der Mann, den ich einst geliebt hatte, alles
stehen und liegen lassen und mich heiraten würde?
»Und ob«, sagte eine Frau zu ihrer Begleitung, als ich an ihnen
vorbeiging, »Landen und Daisy sind verliebt bis über beide Ohren!«
Ich schlich im Schneckentempo weiter, in der heimlichen Hoffnung,
daß ich vielleicht zu spät gekommen wäre und mir die Last der
Entscheidung auf diese Weise abgenommen worden sei. Die Kirche
war bis auf den letzten Platz besetzt, und ich schlüpfte unbemerkt
hinein und versteckte mich im Schatten des Taufsteins. Vorn standen
- 369 -
Landen und Daisy, umringt von einer kleinen Schar Brautjungfern und
Helfern. Viele Gäste trugen Uniform, Landens alte Kameraden aus
dem Krimkrieg. Eine Frau, die ich für Daisys Mutter hielt, schniefte in
ihr Taschentuch, und ihr Vater sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Landens Mutter saß allein auf der anderen Seite.
»Ich ersuche und ermahne euch«, sprach der Pfarrer, »vorzutreten
und die Stimme zu erheben, so einem von euch ein Ehehindernis
bekannt ist, oder aber für immer zu schweigen.«
Er hielt inne, und mehrere Gäste rutschten unruhig hin und her. Mr.
Mutlar, dessen fehlendes Kinn ein wulstiger Specknacken mehr als
wettmachte, schien sich nicht allzu wohl zu fühlen und blickte nervös
um sich. Der Pfarrer wandte sich an Landen und wollte eben
fortfahren, als von hinten eine Stimme laut und deutlich sagte:
»Die Trauung darf nicht fortgesetzt werden: Ich erkläre hiermit, daß
ein Ehehindernis besteht!«
Hundertfünfzig Köpfe drehten sich nach dem Sprecher um. Einer
von Landens Freunden lachte, er hielt das Ganze für einen Scherz.
Daisys Vater wollte sich das nicht bieten lassen. Mit Landen hatte
seine Tochter einen guten Fang gemacht, und ein geschmackloser
Witz durfte die Trauung nicht stören.
»Fahren Sie fort!« befahl er mit Donnerstimme.
Der Pfarrer blickte vom Sprecher zu Daisy und Landen und von dort
weiter zu Mr. Mutlar.
»Ich kann erst fortfahren, wenn feststeht, ob der Einspruch
berechtigt ist oder nicht«, sagte er mit gequältem Gesicht; so etwas
hatte er noch nie erlebt.
Mr. Mutlars Gesicht hatte eine äußerst ungesunde tiefrote Färbung
angenommen, und wäre er in seiner Nähe gewesen, hätte er den
Sprecher wahrscheinlich verprügelt.
»Was soll dieser Unfug?« brüllte er statt dessen, worauf ein Raunen
durch die Bänke ging.
»Unfug, Sir?« erwiderte der Sprecher mit klarer Stimme. »Bigamie
läßt sich wohl schwerlich als Unfug bezeichnen.«
- 370 -
Ich starrte Landen an, den diese Wende der Ereignisse sichtlich
verwirrte. War er etwa schon verheiratet? Ich konnte es nicht fassen.
Ich wandte mich nach dem Sprecher um, und mir stockte das Herz. Es
war Mr. Briggs, der Anwalt, den ich zuletzt in der Kirche in
Thornfield gesehen hatte! Plötzlich hörte ich etwas rascheln, und als
ich mich umdrehte, stand Mrs. Nakijima neben mir und hob lächelnd
einen Finger an die Lippen. Ich runzelte die Stirn, und der Pfarrer
sprach weiter.
»Welcher Art ist denn das Hindernis? Vielleicht läßt es sich ja
beseitigen oder erklären oder irgendwie aus der Welt schaffen?«
»Schwerlich«, lautete die Antwort. »Ich habe es unüberwindlich
genannt, und ich pflege meine Worte mit Bedacht zu wählen. Es
besteht schlechtweg in einer früheren Ehe.«
Landen und Daisy sahen sich fragend an.
» Verdammt noch mal, wer sind Sie? « fragte Mr. Mutlar. Er schien
vor Wut beinahe platzen zu wollen.
»Mein Name ist Briggs, ich bin Anwalt in der Dash Street zu
London.«
»Tja, Mr. Briggs, vielleicht hätten Sie die Güte, uns über Mr. ParkeLaines frühere Ehe und die Machenschaften dieses feinen Herrn ins
Bild zu setzen?«
Briggs blickte von Mr. Mutlar zu dem Paar vor dem Altar.
»Meine Informationen betreffen nicht Mr. Parke-Laine; ich spreche
von Miss Mutlar, oder, mit Ehenamen, Mrs. Daisy Posh!«
Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Gemeinde. Landen
starrte Daisy an; die warf ihren Blumenkranz zu Boden. Eine der
Brautjungfern fing an zu weinen, und Mr. Mutlar stürmte nach vorn
und ergriff Daisys Arm.
»Miss Mutlar heiratete Mr. Murray Posh am 20. Oktober 1981!« rief
Mr. Briggs mit lauter Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Die
Trauung fand in Southwark statt! Die Ehe wurde nie geschieden!«
Das war zuviel. Es erhob sich lauter Protest, und die Familie Mutlar
eilte hastig davon. Der Pfarrer richtete ein unerhörtes Gebet an
- 371 -
niemand bestimmten, während Landen schwerfällig auf die Bank
sank, welche die Familie Mutlar gerade geräumt hatte. Von hinten
schrie jemand: »Geldgeile Schlampe!«, und die Familie Mutlar rannte
die Treppe hinunter, um den Beschimpfungen zu entkommen, die man
in einer Kirche so noch nie vernommen hatte. Einer der Trauzeugen
benutzte das Durcheinander dazu, um eine Brautjungfer zu küssen; die
quittierte seine Bemühungen mit einer schallenden Ohrfeige.
Ich lehnte mich gegen den kalten Stein der Kirchenmauer und
wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Obwohl ich wußte, daß es
eigentlich nicht richtig war, lachte ich. Briggs zwängte sich durch die
aufgebrachte Menschenmenge und lüftete höflich den Hut.
»Guten Tag, Miss Next.«
»Eine wunderschönen guten Tag, Mr. Briggs! Wie, um alles in der
Welt, kommen Sie hierher?«
»Die Rochesters haben mich geschickt.«
»Aber ich habe das Buch doch erst vor drei Stunden verlassen!«
Mrs. Nakijima fuhr dazwischen. »Sie haben es kaum zwölf Seiten
vor Schluß verlassen. In dieser Zeit sind in Thornfield über zehn Jahre
vergangen; Zeit genug, um alles genau zu planen!«
»Thornfield?«
»Ja, sie haben es wieder aufgebaut. Seit mein Mann im Ruhestand
ist, bewirtschaften wir das Haus. Weder er noch ich werden im Roman
erwähnt, und Mrs. Rochester ist sehr daran gelegen, daß dem auch so
bleibt; ein weitaus angenehmeres Leben als in Osaka, und noch dazu
viel einträglicher als die Touristikbranche.«
Mir fehlten die Worte.
»Mrs. Jane Rochester hat Mrs. Nakijima gebeten, mich
hierherzubringen, um Sie zu unterstützen«, bemerkte Mr. Briggs. »Sie
und Mr. Rochester wollten Ihnen helfen, wie Sie ihnen geholfen
haben. Sie wünschen Ihnen Glück und Gesundheit für die Zukunft und
danken Ihnen für Ihre zeitige Intervention.«
Ich lächelte. »Wie geht es den beiden?«
- 372 -
»Ausgezeichnet, Miss«, antwortete Briggs vergnügt. »Ihr
Erstgeborener ist jetzt fünf; ein braver, rundum gesunder Junge, das
getreue Ebenbild seines Vaters. Vergangenen Frühling hat Jane eine
wunderschöne Tochter zur Welt gebracht. Sie haben sie Heien
Thursday Rochester getauft.«
Ich sah zu Landen, der am Eingang stand und seiner Tante Ethel zu
erklären versuchte, was hier vor sich ging.
»Ich muß mit ihm sprechen.«
Ich war wieder allein. Mrs. Nakijima und der Anwalt waren nach
Thornfield entschwunden, um Jane und Edward den erfolgreichen
Vollzug ihrer Mission zu melden.
Als ich näher kam, setzte sich Landen auf die Kirchentreppe, zog die
Nelke aus seinem Knopfloch und schnupperte nachdenklich daran.
»Hallo, Landen.«
Landen blickte auf und blinzelte. »Ach«, sagte er. »Thursday. Ich
hätte es mir denken können.«
»Darf ich mich zu dir setzen?«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Ich hockte mich neben ihn auf die warmen Kalksteinstufen.
»Steckst du hinter der ganzen Sache?«
»Nein, ausnahmsweise einmal nicht«, antwortete ich. »Ich muß
gestehen, daß ich hierhergekommen bin, um die Hochzeit zu
verhindern, aber dann hat mich der Mut verlassen.«
Er sah mich an. »Warum?«
»Warum? Na ja, weil … weil ich dachte, daß ich eine bessere Mrs.
Parke-Laine abgebe als Daisy. Nehme ich an.«
»Das weiß ich«, rief Landen, »und ich bin ganz deiner Meinung. Ich
wollte wissen, warum dich der Mut verlassen hat. Schließlich jagst du
Verbrechergenies, leistest hochriskante SpecOps-Arbeit, verstößt
munter gegen so ziemlich jede Regel, um unter schwerem
Artilleriesperrfeuer stehende Kameraden zu retten, und dann …«
- 373 -
»Verstehe. Weiß auch nicht. Vielleicht ist es leichter, diese
Entscheidungen auf Leben und Tod zu fällen, wenn es nur Schwarz
und Weiß gibt. Jedenfalls komme ich damit problemlos klar.
Emotionen dagegen, tja … die sind eine Grauzone, und mit
Zwischentönen habe ich so meine Schwierigkeiten.«
»In dieser Grauzone lebe ich jetzt seit zehn Jahren, Thursday.«
»Ich weiß, und das tut mir leid. Es ist mir schwergefallen, meine
Gefühle für dich mit deinem vermeintlichen Verrat an Anton zu
vereinbaren. Das war wie ein emotionales Tauziehen, und ich war das
kleine Tüchlein in der Mitte, zwischen den beiden Parteien, und
konnte mich nicht rühren.«
»Ich habe ihn auch geliebt, Thursday. Er war so etwas wie ein
Bruder für mich. Aber irgendwann mußte ich das Seil loslassen.«
»Ich habe auf der Krim etwas verloren«, murmelte ich, »aber ich
glaube, ich habe es wiedergefunden. Meinst du, wir haben die Zeit, es
noch einmal zu versuchen?«
»In letzter Minute, was?« sagte er grinsend.
»Nein«, erwiderte ich, »eher drei Sekunden vor zwölf!«
Er küßte mich zärtlich auf den Mund. Es war eine warme, vertraute
Empfindung, wie wenn man nach einem langen Spaziergang durch
den Regen nach Hause kommt und im Kamin ein Feuer prasselt. Mir
kamen die Tränen, und ich schluchzte leise in seinen Kragen, während
er mich in den Armen hielt.
»Verzeihung«, sagte der Pfarrer, der auf einen geeigneten Moment
gewartet hatte. »Ich störe nur ungern, aber um halb vier habe ich die
nächste Trauung.«
Entschuldigungen murmelnd standen wir auf. Die Hochzeitsgäste
warteten noch immer auf eine endgültige Entscheidung. Fast alle
wußten von Landen und mir, und nur wenige, wenn überhaupt, hielten
Daisy für die bessere Partie.
»Willst du?« flüsterte mir Landen ins Ohr.
»Will ich was?« fragte ich und unterdrückte ein Kichern.
- 374 -
» Dummkopf! Willst du mich heiraten?«
»Hmm«, sagte ich, und mein Herz machte einen Lärm wie die
Kanonen auf der Krim. »Darüber muß ich nachdenken …«
Landen runzelte fragend die Stirn.
»Ja! Ja, ja! Ich will, ich will, ich will!«
»Endlich!« seufzte Landen. »Was muß ich nicht alles auf mich
nehmen, um die Frau meines Herzens zu kriegen!«
Wir küßten uns noch einmal, diesmal etwas länger; so lange, bis der
Pfarrer schließlich auf seine Uhr sah und Landen auf die Schulter
tippte.
»Danke für die Generalprobe«, sagte Landen und schüttelte dem
Pfarrer die Hand. »In vier Wochen sehen wir uns wieder!«
Der Pfarrer zuckte die Achseln. Dies war die wohl absurdeste
Hochzeit seiner Laufbahn.
»Freunde«, verkündete Landen den verbliebenen Gästen, »ich
möchte meine Verlobung mit dieser wunderschönen SpecOps-Agentin
namens Thursday Next bekanntgeben. Wie ihr wißt, hatten wir die
eine oder andere Meinungsverschiedenheit, aber das ist jetzt fast
vergessen. In meinem Garten steht ein Festzelt, es gibt jede Menge zu
essen und zu trinken, und wenn mich nicht alles täuscht, spielt ab
sechs Uhr Holroyd Wilson. Da es eine Schande wäre, das alles zu
vergeuden, schlage ich der Einfachheit halber vor, daß wir den Anlaß
ändern! Wir feiern jetzt unsere Verlobung!«
Die Gäste stimmten begeistert zu und verteilten sich auf die
verfügbaren Transportmittel. Landen und ich nahmen meinen Wagen
und machten einen kleinen Umweg. Wir hatten uns viel zu erzählen,
und die Party … nun ja, die kam auch eine Weile ohne uns aus.
Die Fete dauerte bis vier Uhr morgens. Ich trank zuviel und fuhr mit
dem Taxi ins Hotel zurück. Landen bekniete mich, doch über Nacht
zu bleiben, aber ich erklärte ihm etwas kokett, da müsse er bis nach
der Hochzeit warten. Ich erinnere mich nur noch, daß ich in mein
Hotelzimmer zurückkam, alles andere ist vergessen; ich lag in tiefem
- 375 -
Koma, bis um neun Uhr am nächsten Morgens das Telefon schrillte.
Ich war halb angezogen, Pickwick schaute Frühstücksfernsehen, und
mein Kopf tat so weh, als ob er jeden Moment platzen wollte.
Es war Victor. Er klang nicht besonders gut gelaunt, aber
Höflichkeit war eine seiner Stärken. Er erkundigte sich nach meinem
unwerten Befinden.
»Es ging mir schon mal besser. Wie läuft’s im Büro?«
»Mäßig«, antwortete Victor mit einer gewissen Zurückhaltung in
der Stimme. »Die Goliath Corporation will sich mit Ihnen über Jack
Schitt unterhalten, und die Brontë-Gesellschaft ist stocksauer, weil Sie
das Buch, ich zitiere, ›versaut‹ haben. War es denn unbedingt nötig,
Thornfield niederzubrennen?«
»Das war Hades …«
»Und Rochester? Blind und mit verstümmelter Hand? Ich nehme an,
das war auch Hades?«
»Ähm, ja.«
»Da haben Sie wahrhaftig einen ziemlich kapitalen Bock
geschossen, Thursday. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
vorbeikommen und mit den Brontë-Leuten sprechen könnten. Der
gesamte Vorstand ist hier bei mir, und die Herrschaften wollen Ihnen
weiß Gott keinen Orden anheften.«
Es klopfte an der Tür. Ich versprach Victor, so schnell wie möglich
dort zu sein, und stand schwankend auf.
»Ja, bitte?« rief ich.
»Zimmerservice!« antwortete eine Stimme vor der Tür. »Ein Mr.
Parke-Laine hat Kaffee für Sie bestellt!«
»Moment!« sagte ich und versuchte Pickwick ins Bad zu scheuchen;
Haustiere waren im Hotel strengstens verboten. Anders als sonst
wirkte er leicht aggressiv; hätte er Flügel gehabt, hätte er vermutlich
wütend damit geschlagen.
- 376 -
»Mach … jetzt … bitte … keine … Schwierigkeiten!« ächzte ich,
schob das widerborstige Federvieh ins Badezimmer und verriegelte
die Tür.
Ich zog mir einen Bademantel über und öffnete die Tür. Schwerer
Fehler. Draußen stand zwar ein Kellner, doch der war nicht allein.
Kaum hatte ich die Tür ganz aufgemacht, zwängten sich noch zwei
weitere Männer in schwarzen Anzügen ins Zimmer, schleuderten
mich gegen die Wand und hielten mir eine Kanone an den Kopf.
»Wenn Sie Kaffee mit mir trinken wollen, brauchen Sie noch zwei
Tassen«, preßte ich durch die Lippen.
»Sehr witzig«, meinte der falsche Kellner.
»Goliath?«
»Sie haben’s erfaßt.«
Er spannte den Hahn des Revolvers.
»Und jetzt zur Sache, Schätzchen. Schitt ist ein wichtiger Mann, und
wir wollen wissen, wo er ist. Die nationale Sicherheit und der
Krimkrieg hängen davon ab, dagegen ist das Leben einer mickrigen
Agentin einen Dreck wert.«
»Ich bringe Sie zu ihm«, stieß ich mühsam hervor und schnappte
gierig nach Luft. »Es ist ein paar Meilen außerhalb der Stadt.«
Der Goliath-Agent lockerte seinen Griff und befahl mir, mich
anzuziehen. Ein paar Minuten später verließen wir das Hotel. Ich hatte
noch immer einen dicken Kopf, und ein dumpfer Schmerz pochte in
meinen Schläfen, aber wenigstens konnte ich inzwischen wieder
halbwegs klar denken. Vor dem Eingang standen eine Handvoll Leute,
und es befriedigte mich sehr, als ich die Familie Mutlar erkannte, die
sich offenbar auf dem Rückweg nach London befand. Daisy redete auf
ihren Vater ein, und Mrs. Mutlar schüttelte entnervt den Kopf.
»Geldgeile Schlampe!« rief ich.
Schlagartig verstummten Daisy und ihr Vater und sahen mich mit
großen Augen an, während die Goliath-Leute mich an ihnen
vorbeizulotsen versuchten.
- 377 -
»Was haben Sie gesagt?!«
»Haben Sie was an den Ohren? Ich weiß nicht, wer die größere
Nutte ist, Ihre Frau oder Ihre Tochter.«
Das verfehlte seine Wirkung nicht. Mr. Mutlar lief tiefrot an und
schlug mit der Faust nach mir. Ich duckte mich, und der Hieb traf
einen der Goliath-Leute. Ich rannte in Richtung Parkplatz. Eine Kugel
pfiff über meine Schulter; ich wich aus, trat auf die Fahrbahn und
wäre beinahe von einer großen schwarzen, militärisch anmutenden
Ford-Limousine überfahren worden, die mit quietschenden Reifen
zum Stehen kam.
»Steigen Sie ein!« rief der Fahrer. Ich ließ mich nicht zweimal
bitten. Ich sprang hinein, und der Ford raste davon, während zwei
Einschußlöcher in der Heckscheibe erschienen. Der Wagen jagte mit
qualmenden Reifen um die Ecke und war bald außer Schußweite.
»Danke«, murmelte ich. »Eine Sekunde später, und ich hätte mir die
Radieschen von unten beguckt. Können Sie mich vor der SpecOpsZentrale absetzen?«
Der Chauffeur schwieg; zwischen ihm und mir befand sich eine
Trennscheibe aus dickem Glas, und mit einem Mal beschlich mich das
ungute Gefühl, womöglich vom Regen in die Traufe geraten zu sein.
»Sie können mich irgendwo absetzen«, sagte ich. Er gab keine
Antwort. Ich zog an den Türgriffen, aber die Türen waren verriegelt.
Ich hämmerte gegen das Glas, doch er ignorierte mich; wir fuhren am
SpecOps-Gebäude vorbei in Richtung Altstadt. Und das ziemlich
schnell. Zweimal überfuhr er eine rote Ampel, und einmal nahm er
einem Bus die Vorfahrt; ich knallte gegen die Tür, als er so rasant um
eine Ecke bog, daß er beinahe mit einem Bierwagen kollidiert wäre.
»He, halten Sie an!« schrie ich und schlug erneut gegen die
Trennscheibe. Worauf der Fahrer noch mehr Gas gab und in der
nächsten Kurve einen anderen Wagen schnitt.
Ich zerrte an den Türgriffen und wollte eben mit den Absätzen
gegen das Fenster treten, als der Wagen urplötzlich eine
Vollbremsung machte; ich rutschte vom Sitz und klatschte wie ein
nasser Sack auf den Boden. Der Chauffeur stieg aus, öffnete mir die
- 378 -
Tür und sagte: »Bitte sehr, junges Fräulein, Sie wollen Colonel Phelps
doch wohl nicht warten lassen?«
»Colonel Phelps?« stammelte ich. Der Fahrer lächelte und grüßte
zackig, als der Groschen endlich fiel. Phelps hatte versprochen, mir
einen Wagen zu schicken, damit ich an der Diskussionsrunde
teilnehmen konnte, und er hatte Wort gehalten.
Ich sah hinaus. Wir standen vor dem Swindoner Rathaus, und eine
riesige Menschenmenge starrte mich an.
»Hallo, Thursday!« sagte eine vertraute Stimme.
»Lydia?« fragte ich, überrascht vom jähen Wechsel der Ereignisse.
Tatsächlich. Und sie war beileibe nicht die einzige Reporterin vor
Ort; sechs oder sieben Kameras waren auf mich gerichtet, während ich
mich aus meiner überaus mißlichen und noch dazu höchst uneleganten
Lage zu befreien und auszusteigen versuchte.
»Ich bin Lydia Startright vom Toad News Network«, sagte Lydia
mit ihrer besten Reporterstimme, »und neben mir steht Thursday
Next, die SpecOps-Agentin, die Jane Eyre gerettet hat. Zunächst
einmal, Miss Next, möchte ich Ihnen zu Ihrer erfolgreichen
Rekonstruktion des Romans gratulieren!«
»Was soll das heißen?« antwortete ich. »Ich habe alles vermasselt!
Ich habe Thornfield abgefackelt und den armen Mr. Rochester halb
verstümmelt!«
Miss Startright lachte. »Jüngsten Umfragen zufolge finden
neunundneunzig von hundert Befragten den neuen Schluß wesentlich
besser als den alten! Jane und Rochester heiraten! Ist das nicht
wunderbar?«
»Aber die Brontë-Gesellschaft …?«
»… hat das Buch ja nicht für sich gepachtet«, sagte ein Mann im
Leinenanzug, an dessen Revers eine große blaue Charlotte-BrontëRosette prangte.
»Die Gesellschaft ist ein Haufen aufgeblasener Wichtigtuer.
Gestatten, Walter Branwell, Vorsitzender der Kampfgruppe ›Brontë
fürs Volk‹.«
- 379 -
Er streckte mir die Hand hin und grinste energisch; einige Zuschauer
klatschten Beifall. Ein regelrechtes Blitzlichtgewitter brach los, als
mir ein kleines Mädchen einen Strauß Blumen überreichte und ein
anderer Journalist mich fragte, was für ein Mensch Rochester sei. Der
Chauffeur nahm mich am Arm und führte mich ins Rathaus.
»Colonel Phelps erwartet Sie, Miss Next«, raunte er mir freundlich
zu. Die Menge bildete ein Spalier, und ich kam in eine riesige,
berstend volle Halle. Verwundert blinzelnd blickte ich mich um. Ein
aufgeregtes Murmeln ging durch den Saal, und ich hörte mehrere
Gäste meinen Namen flüstern. Im alten Orchestergraben befand sich
eine improvisierte Presseloge, besetzt mit einer Phalanx von
Reportern aller großen Sender. Die Veranstaltung in Swindon war in
den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt; was hier
gesprochen wurde, war von kaum zu überschätzender Bedeutung. Ich
bahnte mir einen Weg zur Bühne, wo sich die beiden feindlichen
Lager an zwei Tischen gegenübersaßen. Über Colonel Phelps hing
eine große englische Flagge; sein Tisch war mit Wimpeln und Blumen
geschmückt und bog sich unter der Last von Notizblöcken und
Flugblättern. Unterstützt wurde er von mehreren, zumeist
uniformierten Angehörigen der Streitkräfte, die auf der Halbinsel
Dienst getan hatten. Einer der Soldaten hatte sogar ein Plasmagewehr
bei sich.
Am anderen Ende der Bühne stand der »Anti«-Tisch. Auch hier
saßen zahlreiche Veteranen, freilich nicht in Uniform. Ich erkannte
das Studentenpärchen, das mich am Flugplatz in Empfang genommen
hatte, und meinen Bruder Joffy, der mich lächelnd mit einem
stummen: »Na, du Pflaume?« begrüßte. Es wurde still im Saal; die
Zuschauer hatten von meiner Teilnahme gehört und auf mein
Eintreffen gewartet.
Die Kameras folgen mir, als ich mich der Bühnentreppe näherte und
langsam hinaufstieg. Phelps stand auf, um mich willkommen zu
heißen, doch ich ließ ihn links liegen, ging weiter zum »Anti«-Tisch
und nahm auf dem Stuhl Platz, den einer der Studenten für mich
geräumt hatte. Phelps war entsetzt; er wurde puterrot, beherrschte sich
jedoch, als er bemerkte, daß die Fernsehkameras auf ihn gerichtet
waren.
- 380 -
Lydia Startright war mir auf die Bühne gefolgt. Sie sollte die
Veranstaltung moderieren; sie und Colonel Phelps hatten darauf
bestanden, auf mich zu warten. Startright war froh darüber; Phelps
nicht.
»Verehrte Damen und Herren«, hob Lydia an, »der
Verhandlungstisch in Budapest ist verwaist, und die neue englische
Offensive wirft ihren Schatten voraus. Während eine Million Soldaten
einander auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, wollen wir uns die
Frage stellen: Wie steht es um die Krim?«
Phelps stand auf und wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor.
»Ich weiß, es ist ein alter Kalauer«, begann ich, »aber der Krimkrieg
ist Krim-inell.« Ich machte eine Pause. »Davon bin ich überzeugt, und
für diese Überzeugung kämpfe ich. Selbst Colonel Phelps dort drüben
wird mir zustimmen, wenn ich sage, daß es höchste Zeit ist, die Krim
endgültig zu befrieden.«
Colonel Phelps nickte.
»Im Unterschied zum Colonel bin ich allerdings der Meinung, daß
Rußland einen berechtigteren Anspruch auf das Territorium hat.«
Eine kontroverse Bemerkung; Phelps’ Anhänger waren empört, und
es dauerte zehn Minuten, bis die Ordnung wiederhergestellt war.
Schließlich gelang es Startright, die Gemüter zu beruhigen, so daß ich
endlich fortfahren konnte.
»Vor knapp zwei Monaten bot sich die günstige Gelegenheit, diesen
Wahnsinn ein für allemal zu beenden. England und Rußland saßen in
Budapest am Verhandlungstisch, und der vollständige Rückzug aller
englischen Truppen schien nur noch eine Frage der Zeit.«
Im Saal herrschte Totenstille. Phelps hatte sich zurückgelehnt und
ließ mich keine Sekunde aus den Augen.
»Doch dann kam das Plasmagewehr. Codename: Stonk.«
Ich blickte einen Moment zu Boden.
»Besagtes Stonk war der Schlüssel zu einer neuen Offensive und
einem möglichen Wiederaufflackern des Krieges, in dem es seit acht
Jahren – Gott sei Dank – nur zu vereinzelten Gefechten gekommen ist.
- 381 -
Es gibt da allerdings ein Problem. Die Offensive ist auf Sand gebaut;
allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz ist das Plasmagewehr
nur ein Bluff – Stonk funktioniert nicht! «
Ein Raunen ging durch den Saal. Phelps starrte mich mürrisch an,
eine Augenbraue zuckte. Er flüsterte dem Brigadier, der neben ihm
saß, etwas zu.
»Die englischen Truppen warten auf eine neue Waffe, die nicht
kommen wird. Die Goliath Corporation hat die englische Regierung
zum Narren gehalten; trotz Investitionen in Milliardenhöhe taugt das
Plasmagewehr soviel wie ein Besenstiel.«
Ich setzte mich. Niemandem, weder dem Publikum vor Ort noch den
Zuschauern der Fernsehübertragung, entging die Tragweite meiner
Worte; der englische Kriegsminister hatte den Telefonhörer schon in
der Hand. Er wollte mit den Russen sprechen, bevor die auf dumme
Gedanken kamen – und womöglich zum Angriff übergingen.
Colonel Phelps war aufgestanden.
»Kühne Behauptungen, die von geradezu bestürzender Unkenntnis
zeugen«, proklamierte er gönnerhaft. »Wir alle haben gesehen, welch
enorme Wirkungen Stonk zu erzielen vermag, und die Schlagkraft
dieses Wunderwerks der Waffentechnik steht hier auch nicht zur
Debatte.«
»Dann liefern Sie uns den Beweis«, entgegnete ich. »Wie ich sehe,
haben Sie ein Plasmagewehr hier im Saal. Kommen Sie mit in den
Park, und führen Sie es uns vor. Ich stelle mich freiwillig als
Zielscheibe zur Verfügung.«
Phelps machte eine Pause, und in dieser Pause verlor er das Duell –
und den Krieg. Er sah zu dem Soldaten mit dem Gewehr; der blickte
ängstlich zurück.
Zwei Minuten später verließen Phelps und seine Leute unter den
Buhrufen des Publikums die Bühne. Er hatte gehofft, seinen gründlich
einstudierten einstündigen Vortrag über das Andenken der Gefallenen
und die Bedeutung der Kameradschaft halten zu können; statt dessen
hielt er nie wieder eine Rede in der Öffentlichkeit.
- 382 -
Vier Stunden später wurde zum ersten Mal seit 131 Jahren ein
offizieller Waffenstillstand erklärt. Nach weiteren vier Wochen saßen
die Politiker am Runden Tisch in Budapest. Und vier Monate später
hatten sämtliche englischen Soldaten die Halbinsel verlassen. Die
Goliath Corporation wurde für ihren Betrug zur Rechenschaft
gezogen. Die Konzernleitung gab – wenig überzeugend – vor, von
nichts gewußt zu haben, und schob alles auf Jack Schitt. Ich hatte
eigentlich auf eine härtere Strafe gehofft, aber wenigstens war ich
Goliath auf diese Weise erst einmal los.
- 383 -
36.
Im Hafen der Ehe
Landen und ich heirateten am selben Tag, als auf der
Krim der Frieden ausgerufen wurde. Um das Honorar für
die Glöckner zu sparen, erklärte mir Landen. Als der
Pfarrer sein »Der möge seine Stimme nun erheben oder
aber für immer schweigen« sprach, schaute ich mich
nervös um, doch niemand meldete sich. Ich traf mich mit
den Leuten von der Brontë-Gesellschaft, und sie
freundeten sich rasch mit dem neuen Ende an, besonders
als sie merkten, daß sie als einzige dagegen waren.
Obwohl ich bedauerte, daß Rochester so schwere
Verletzungen erlitten und obendrein auch noch sein Haus
verloren hatte, freute es mich, daß er und Jane nach über
hundert Jahren der Bitterkeit und Frustration endlich den
wahren Frieden und das Glück genießen konnten, das sie
so redlich verdienten.
THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Der Empfang erwies sich als größer, als wir angenommen hatten,
und gegen zehn tummelte sich die Hälfte der Gäste schon draußen in
Landens Garten. Da Boswell ziemlich angetrunken war, verfrachtete
ich ihn in ein Taxi und schickte ihn ins Finis. Paige Turner hatte sich
dem Saxophonisten an den Hals geworfen – seit mindestens einer
Stunde hatte die beiden niemand mehr gesehen. In einem stillen
Moment drückte ich Landens Hand und fragte: »Hättest du eigentlich
Daisy wirklich geheiratet, wenn Briggs nicht eingegriffen hätte?«
»Ich habe die Antworten auf deine Fragen, Schätzchen!«
»Dad?«
Er trug die Paradeuniform eines Colonels der ChronoGarde.
- 384 -
»Ich habe über deine Worte nachgedacht und ein paar
Erkundigungen eingezogen.«
»Tut mir leid, Dad, aber ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Weißt du nicht mehr, wir haben doch vor zwei Minuten erst
miteinander gesprochen?«
»Nein.«
»Verflixt!« rief er. »Dann bin ich offenbar zu früh. Verfluchte
Chronographen!«
Er tippte auf das Zifferblatt und verschwand ohne ein weiteres Wort.
»Dein Vater?« fragte Landen. »Hattest du nicht gesagt, er sei auf der
Flucht?«
»Das war er, ist er und wird er vermutlich auch immer bleiben. Du
weißt schon.«
»Schätzchen!« rief mein Vater. »Na, erstaunt? Mit mir hast du wohl
nicht gerechnet?«
»Das kann man so nicht sagen.«
»Ich wünsche euch beiden alles Gute!«
Ich blickte mich um; die Party war nach wie vor in vollem Gange.
Die Zeit stand nicht still. Es konnte nicht lange dauern, bis die
ChronoGarde auftauchte, um ihn zu verhaften.
Mein Vater erriet, was ich dachte. »Zum Teufel mit SO-12,
Thursday!« sagte er und nahm einem Kellner im Vorbeigehen ein
Glas vom Tablett. »Ich wollte meinen Schwiegersohn kennenlernen.«
Er wandte sich zu Landen um, ergriff seine Hand und musterte ihn
eingehend von Kopf bis Fuß.
»Wie geht es dir, mein Junge? Hast du dich sterilisieren lassen?«
»Äh, nein«, antwortete Landen leicht verlegen.
»Dann vielleicht ein böses Foul beim Rugby?«
»Nein.«
- 385 -
»Ein wohlgezielter Huftritt ins Gemächt?«
»Nein.«
»Und wie steht es mit einem Kricketball in die Klöten?«
»Nein!«
»Gut. Dann gehen aus diesem kläglichen Fiasko ja vielleicht ein
paar Enkelkinder hervor. Es wird höchste Zeit, daß die kleine
Thursday ein paar kräftige Junge wirft, statt wie ein wildes Bergferkel
durch die Gegend zu toben …« Er hielt inne. »Was guckt ihr so
komisch?«
»Du warst doch vor kaum einer Minute erst hier.«
Er runzelte die Stirn, zog eine Augenbraue hoch und blickte
verstohlen um sich.
»Wie ich mich kenne, immer vorausgesetzt es war tatsächlich ich,
halte ich mich irgendwo ganz in der Nähe versteckt. Ja, seht ihr? Da
drüben!«
Er zeigte auf einen Winkel des Gartens, wo sich eine Gestalt im
Schatten hinter dem Gewächshaus verbarg. Er kniff die Augen
zusammen und versuchte den logischen Gang der Ereignisse zu
rekonstruieren.
»Moment. Ich habe dir vermutlich einen Gefallen getan und bin ein
wenig zu früh wieder zurückgekommen; in meinem Beruf nicht
ungewöhnlich.«
»Um was für einen Gefallen sollte ich dich denn gebeten haben?«
fragte ich, nach wie vor etwas verwirrt, aber durchaus bereit, mich auf
sein Spielchen einzulassen.
»Ich weiß nicht«, sagte mein Vater. »Eine brennende Frage, über die
zwar seit Ewigkeiten gestritten wird, die aber bislang unbeantwortet
geblieben ist.«
Ich dachte einen Augenblick nach. »Ging es eventuell um die
Autorenschaft der Shakespeare-Dramen?«
Er lächelte. »Gute Idee. Ich will sehen, was sich machen läßt.«
- 386 -
Er leerte sein Glas. »Also, noch mal alles Gute, ihr beiden; ich muß
los. Die Zeit wartet auf niemand, wie es bei uns so schön heißt.«
Er lächelte, wünschte uns viel Glück für die Zukunft und
verschwand.
»Kannst du mir vielleicht erklären, was hier los ist?« fragte Landen
gründlich verwirrt, nicht so sehr durch die Ereignisse an sich, sondern
vielmehr durch ihre sonderbare Reihenfolge.
»Ich glaube nicht.«
»Bin ich weg, Schätzchen?« fragte mein Vater, der sein Versteck
hinter dem Gewächshaus verlassen hatte.
»Ja.«
»Gut. Also, ich habe herausbekommen, was du wissen wolltest. Ich
bin ins London des Jahres 1610 gereist und habe mich ein wenig
umgehört; Shakespeare war nur ein unbedeutender Schauspieler, der
nebenbei einen kleinen Getreidehandel in Stratford unterhielt, was
ihm so peinlich war, daß er es verschwieg. Kein Wunder – wer täte
das nicht?«
Das war allerdings interessant.
»Und wer hat die Stücke nun geschrieben? Marlowe? Bacon?«
»Nein; so einfach ist das nicht. Verstehst du, kein Mensch hatte von
den Stücken je gehört, geschweige denn sie geschrieben.«
Ich begriff nicht. »Was willst du damit sagen? Daß es sie gar nicht
gibt?«
»Genau das will ich damit sagen. Sie existieren nicht. Sie wurden
nie geschrieben. Weder von ihm noch von sonst jemand.«
»Ich muß doch sehr bitten«, fuhr Landen dazwischen, der allmählich
ungeduldig wurde, »wir haben doch Richard III. erst vor sechs
Wochen gesehen.«
»Natürlich«, sagte mein Vater. »Die Zeit ist aus den Fugen, und wie.
Da mußte ich natürlich etwas unternehmen. Ich nahm ein Exemplar
der Gesammelten Werke mit ins Jahr 1592 und gab sie dem
Schauspieler Shakespeare, damit der sie nach dem vorgegebenen
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Fahrplan auf die Bühne bringen konnte. Beantwortet das deine
Frage?«
Ich war immer noch verwirrt. »Dann hat Shakespeare die Stücke
also nicht geschrieben?«
»Weder er«, bestätigte er, »noch Marlowe, Oxford, de Vere, Bacon
oder ein anderer von den üblichen Verdächtigen.«
»Aber das ist doch unmöglich!« rief Landen.
»Im Gegenteil«, widersprach mein Vater. »Da die Zeitskala des
Universums unendlich ist, sind Unmöglichkeiten ganz alltäglich.
Wenn ihr erst einmal so alt seid wie ich, werdet auch ihr feststellen,
daß praktisch alles möglich ist. Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch
ihren Tücken, daß ich zur Welt kam, sie zurechtzurücken!«
»Das stammt von dir?« fragte ich, da ich bislang angenommen hatte,
er zitiere Hamlet, und nicht umgekehrt.
Er lächelte.
»Eine läßliche Eitelkeit, die man mir sicherlich nachsehen wird,
Thursday. Außerdem: Wer soll schon davon erfahren?«
Mein Vater starrte in sein leeres Glas, sah sich vergeblich nach
einem Kellner um und sagte dann:
»Lavoisier hat mich bestimmt längst ausfindig gemacht. Er hat
geschworen, mich zu fassen, und er versteht sein Handwerk. Kein
Wunder; er war schließlich siebenhundert Jahre lang mein Partner.
Eins noch: Wie starb der Herzog von Wellington?«
Mir fiel ein, daß er mich das schon einmal gefragt hatte. »Wie
gesagt, Dad, er starb 1852 friedlich in seinem Bett.«
Lächelnd rieb mein Vater sich die Hände. » Hervorragende
Neuigkeiten! Und Nelson?«
»In Trafalgar von einem französischen Scharfschützen erschossen.«
»Wirklich? Tja, man kann nicht alles haben. Also: viel Glück, ihr
beiden. Ein Junge oder Mädchen wäre schön; eins von jeder Sorte
wäre noch besser.«
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Er beugte sich vor und senkte die Stimme.
»Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme, also hört mir gut zu. Kauft
euch weder ein blaues Auto noch ein Planschbecken, haltet euch von
Austern und Kreissägen fern, und macht im Juni 2016 um Oxford
einen großen Bogen. Kapiert?«
»Ja, aber …«
»Na, dann tschüs, die Zeit wartet auf niemand!«
Er umarmte mich, schüttelte Landen die Hand und tauchte im
Getümmel unter, bevor wir weitere Fragen stellen konnten.
»Gib dir keine Mühe«, sagte ich und legte Landen den Zeigefinger
auf die Lippen. »Es hat keinen Sinn, über diesen SpecOps-Bereich
nachzudenken.«
»Aber wenn …«
»Landen!« sagte ich. »Nein!«
Auch Bowden und Victor zählten zu den Partygästen. Bowden freute
sich für mich und hatte rasch begriffen, daß ich nicht mit nach Ohio
kommen würde, weder als seine Frau noch als seine Assistentin. Man
hatte ihm die Stelle angeboten, und er hatte sie abgelehnt, mit der
Begründung, dazu mache ihm die Arbeit bei den Swindoner LitAgs
zuviel Spaß, und er wolle es sich im Frühjahr vielleicht noch einmal
überlegen; Finisterre war an seiner Stelle gegangen. Doch im Moment
quälten ihn andere Sorgen. Er holte sich einen steifen Drink und trat
neben Victor, der sich angeregt mit einer älteren Dame unterhielt.
»Ahoi, Cable!« murmelte Victor und stellte ihn seiner neuen
Freundin vor, ehe er Bowdens Bitte um ein kurzes Gespräch unter vier
Augen nachkam.
»Ende gut, alles gut. Scheiß auf die Brontë-Gesellschaft; ich bin auf
Thursdays Seite. Ich finde, der neue Schluß ist ein Gedicht!« Er hielt
inne und sah Bowden an. »Warum machen Sie so ein langes Gesicht?
Es ist ja länger als ein Dickens-Roman. Was ist? Geht es um Felix8?«
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»Nein, Sir; den kriegen wir über kurz oder lang. Aber ich habe
versehentlich den Schutzumschlag des Buches vertauscht, in dem Jack
Schitt verschwunden ist.«
»Sie meinen, er ist gar nicht bei seinen geliebten Plasmagewehren?«
»Nein, Sir. Ich habe mir erlaubt, dieses Buch mit dem Umschlag
von Das Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld zu versehen.«
Er reichte ihm das Buch, das im ProsaPortal gelegen hatte. Victor
betrachtete den Rücken und lachte. Es war eine Sammlung von Poes
Gedichten.
»Werfen Sie mal einen Blick auf Seite sechsundzwanzig«, sagte
Bowden. »Im ›Raben‹ gehen merkwürdige Dinge vor.«
Victor schlug den Band auf und überflog die Seite. Er las die erste
Strophe laut vor:
Mitternacht, von Gram umschattet,
Grübelnd saß ich, sann ermattet
Über Rachepläne, schwor Vergeltung der verfluchten Next - - -
Die leidige Jane Eyre, welch Wunder,
Gab meinem Seelenfeuer Zunder,
Und so sitz ich geifernd eingesperrt in diesen Text.
»Holt mich raus«, so ruf ich eifernd, »sonst puste ich euch alle
weg!«
Victor klappte das Buch wieder zu.
»Die letzte Zeile reimt sich aber nicht.«
»Was haben Sie denn erwartet?« gab Bowden zurück. »Er ist
schließlich ein Goliath-Mann, kein Dichter.«
»Aber ich habe den ›Raben‹ doch gestern erst gelesen«, setzte
Victor verwirrt hinzu. »Da war alles noch in bester Ordnung!«
»Nein, nein«, erklärte Bowden. »Jack Schitt treibt sein Unwesen nur
in diesem einen Exemplar – wer weiß, was er angerichtet hätte, wenn
wir ihn in ein Originalmanuskript geschickt hätten.«
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»Herz-l’ichen Glü’ck-wunsch!« rief Mycroft. Er kam mit Polly auf
uns zu; ihr neuer Hut stand ihr blendend.
»Wi’r Fre’uen Uns Wirk-lich Se’hr Für Euch!« ergänzte Polly.
»Hast du wieder an den Bücherwürmern gearbeitet?« erkundigte ich
mich.
»Mer’kt Man D’as?« fragte Mycroft zurück. »Wi’r Müs-sen Los!«
Und weg waren sie.
»Bücherwürmer?« wollte Landen wissen.
»Nicht, was du denkst.«
»Mademoiselle Next?«
Sie waren zu zweit. Sie trugen elegante Anzüge und zeigten mir
SpecOps-12-Marken, die ich noch nie gesehen hatte.
»Ja?«
»Préfet Lavoisier, ChronoGendarmerie. Où est votre père? «
»Den haben Sie leider verpaßt.«
Er fluchte laut.
»Colonel Next est un homme très dangereux, mademoiselle. Il est
important de lui parler concernant ses activités de trafic de temps.«
»Er ist mein Vater, Lavoisier.«
Lavoisier starrte mich an und versuchte herauszufinden, was er
sagen oder tun mußte, um mich zur Mithilfe zu bewegen. Schließlich
gab er seufzend auf.
»Si vous changez votre avis, contactez-moi par les petites annonces
du Grenouille . Je lis toujours les archives.«
»Da können Sie lange warten, Lavoisier.«
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Er sann einen Augenblick über eine Antwort nach, entschied sich
dann jedoch dagegen und verzog die Lippen statt dessen zu einem
Lächeln. Er grüßte zackig, wünschte mir in perfektem Englisch einen
angenehmen Tag und ging davon. Doch sein junger Kollege hatte mir
noch etwas zu sagen: »Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, murmelte er
unsicher. »Falls Sie je einen Sohn bekommen, der zur ChronoGarde
möchte, versuchen Sie ihn davon abzubringen.«
Er verabschiedete sich lächelnd und folgte seinem Partner, um ihm
bei der Suche nach meinem Vater zu helfen.
»Was sollte denn das?« fragte Landen.
»Keine Ahnung. Aber kam er dir nicht auch irgendwie bekannt
vor?«
»Doch.«
»Wo waren wir stehengeblieben?«
»Mrs. Parke-Laine?« erkundigte sich ein stämmiger, etwas zu kurz
geratener Mann und starrte mich aus tiefliegenden braunen Augen, an.
»SO-12?« Ich fragte mich, woher dieser finster dreinblickende
Zwerg mit den buschigen Brauen so plötzlich kommen mochte.
»Nein, Ma’am«, antwortete er, stibitzte einem Kellner im
Vorbeigehen eine Pflaume vom Tablett und schnüffelte mißtrauisch
daran, bevor er sie samt Stein verschlang. »Bartholomew Stiggins
mein Name, SO-13.«
»Und wofür sind Sie zuständig?«
»Kein Kommentar«, erwiderte er knapp, »aber wir haben eventuell
Verwendung für Ihre Fähigkeiten.«
»Was denn für …«
Aber Mr. Stiggins hörte mich schon gar nicht mehr. Statt dessen
starrte er gebannt auf einen kleinen Käfer, den er in einem Blumentopf
entdeckt hatte. Mit größter Sorgfalt und einer Geschicklichkeit, die so
gar nicht zu seinen riesigen, ungelenken Pranken passen wollte, ergriff
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er das winzige Insekt und steckte es sich in den Mund. Ich sah Landen
an; der verzog angeekelt das Gesicht.
»’tschuldigung«, sagte Stiggins, als habe man ihn beim Nasebohren
erwischt. »Wie sagt man noch? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier?«
»Im Komposthaufen gibt’s noch mehr«, sagte Landen
zuvorkommend.
In den Augen des kleinen Mannes schien sich ein Lächeln
anzudeuten; ich hatte den Eindruck, daß er mit seinen Gefühlen
hinterm Berg hielt.
»Falls Sie interessiert sind, melde ich mich wieder.«
»Tun Sie das«, sagte ich.
Er setzte grunzend seinen Hut auf, erkundigte sich nach dem Weg
zum Komposthaufen, wünschte uns einen guten Tag und verschwand.
»Ich habe noch nie einen Neandertaler im Anzug gesehen«,
bemerkte Landen.
»Mach dir wegen Mr. Stiggins keine Gedanken«, sagte ich und stieg
auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
»Ich dachte, du hast mit SpecOps abgeschlossen?«
»Nein«, erwiderte ich lächelnd. »Ich glaube, ich fange gerade erst
richtig an …!«
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