THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Als ich aufs Revier
zurückkam, lag ein Brief auf meinem Schreibtisch. Vielleicht von
Landen? Fehlanzeige. Auf dem Umschlag klebte keine Marke, und er
war vormittags gekommen. Niemand wußte, wer ihn abgegeben hatte.
Sofort nachdem ich es gelesen hatte, rief ich Victor und legte das
Blatt Papier auf meinen Schreibtisch, damit ich es möglichst nicht
anzufassen brauchte. Victor setzte seine Brille auf und las den Brief
laut vor.
Liebe Thursday,
als ich hörte, daß Du Dich hast versetzen lassen, glaubte ich
zunächst an eine göttliche Fügung. Vielleicht können wir unsere
Differenzen jetzt beilegen. Mr. Quaverley war nur der Anfang. Als
nächstes muß Martin Chuzzlewit persönlich dran glauben, es sei
denn, ich bekomme 10 Millionen Pfund in gebrauchten Scheinen,
einen Gainsborough, vorzugsweise den Knaben in Blau, und eine
Inszenierung von Macbeth am Old Vic (Spielzeit: acht Wochen) für
meinen Freund Thomas Hobbes. Außerdem möchte ich, daß Ihr
eine Autobahnraststätte nach der Mutter eines meiner Mitarbeiter
auf den Namen »Leigh Delamare« tauft. Signalisiert Euer
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Einverständnis durch eine Kleinanzeige in der Mittwochsausgabe
des Swindon Globe, in der Ihr Angorakaninchen zum Verkauf
anbietet. Dann erhaltet Ihr weitere Instruktionen.
Victor sank auf einen Stuhl. »Die Unterschrift stammt von Acheron
selbst! Stellen Sie sich vor: Martin Chuzzlewit ohne Chuzzlewit!« rief
er. »Das Buch wäre nach einem halben Kapitel zu Ende. Können Sie
sich einen Roman vorstellen, in dem die Charaktere tatenlos
herumsitzen und auf das Eintreffen der Hauptfigur warten. Das wäre
wie Hamlet ohne den Prinzen!«
»Und was machen wir jetzt?« fragte Bowden.
»Wenn Sie nicht gerade einen Gainsborough und zehn Millionen in
kleinen Scheinen übrig haben, gehen wir damit zu Braxton.«
Als wir hereinkamen, war Jack Schitt schon im Büro des Commanders
und machte auch keine Anstalten hinauszugehen, als wir Hicks
mitteilten, daß es wichtig sei.
»Was gibt’s denn?« fragte der Commander mit einem Blick zu
Schitt, der auf dem Teppich Einlochen übte.
»Hades lebt«, erklärte ich ihm und sah zu Jack Schitt, der eine
Augenbraue hochzog.
»Um Himmels willen!« stieß Schitt mit gespieltem Entsetzen
hervor. »Ja, ist es denn die Möglichkeit?«
Wir ignorierten ihn.
»Lesen Sie das«, sagte Victor und gab Hicks den Brief in einer
Klarsichthülle. Der Commander überflog ihn und reichte ihn dann an
Schitt weiter.
»Geben Sie die Annonce auf, Officer Next«, sagte Hicks von oben
herab. »Sie haben Acheron anscheinend so beeindruckt, daß er Ihnen
vertraut. Ich werde mit meinen Vorgesetzten über seine Forderungen
sprechen, und Sie geben mir Bescheid, wenn er sich wieder meldet.«
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Er stand auf, um anzudeuten, daß das Gespräch damit für ihn
beendet sei, doch ich blieb sitzen. »Was geht hier vor, Sir?«
»Streng geheim, Next. Es wäre uns lieb, wenn Sie die Übergabe für
uns übernehmen könnten, aber alles Weitere werden Sie wohl oder
übel anderen überlassen müssen. Mr. Schitt verfügt über eine gut
ausgebildete Spezialeinheit, die sich um die Ergreifung von Acheron
kümmern wird. Guten Tag.«
Ich stand noch immer nicht auf. »Sie werden mir schon noch ein
wenig mehr verraten müssen, Sir. Es geht schließlich unter anderem
um meinen Onkel, und wenn ich mitspielen soll, möchte ich wissen,
was vorgeht.«
Die Augen des Commanders verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Ich fürchte …«
»Was soll’s«, fuhr Schitt dazwischen. »Sagen Sie’s ihr doch,
Braxton.« Er hob den Schläger und peilte den Ball an.
Hicks warf Schitt einen wütenden Blick zu. »Das überlasse ich
lieber Ihnen«, sagte er. »Schließlich sind Sie der Boss.«
Schitt lochte achselzuckend ein. Der Golfball traf sein Ziel, und
Schitt lächelte. »In den vergangenen hundert Jahren sind die Grenzen
zwischen Fiktion und Wirklichkeit aus unbekannten Gründen
zunehmend durchlässiger geworden. Wir wissen …« – an dieser Stelle
warf er Victor einen spöttischen Blick zu – »… daß unser Mr.
Analogy hier dieses Phänomen seit einiger Zeit heimlich erforscht,
und wir wissen von Mr. Glubb und anderen, die in Büchern
verschwunden sind. Da keine dieser Figuren je wieder auftauchte,
nahmen wir an, daß es kein Zurück gibt. Christopher Sly hat uns da
eines Besseren belehrt.«
»Dann haben Sie ihn?« fragte Victor, dem es offenbar peinlich war,
daß Schitt und Hicks von seinen Überlegungen wußten.
»Nein; er ist wieder in seinem Stück, in Der Widerspenstigen
Zähmung. Und zwar mehr oder weniger auf eigenen Wunsch, nur war
er dabei leider so betrunken, daß er nicht in der Folio-Ausgabe
gelandet ist, sondern in einer ziemlich fragwürdigen Fassung aus den
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Bad Quartes. Obwohl er streng bewacht wurde, war er eines Tages
wie vom Erdboden verschluckt.«
Er machte eine Kunstpause und polierte den Golfschläger mit einem
großen, rotgepunkteten Taschentuch.
»Die Abteilung Spezialwaffen der Goliath Corporation arbeitet seit
geraumer Zeit an einer Maschine, die uns Zugang zu literarischen
Werken verschaffen soll. Doch trotz dreißig Jahren intensiver
Forschung, von dem immensen Kapitalaufwand zu schweigen, ist uns
nichts weiter gelungen, als aus den Bänden eins bis acht der Großen
Käse-Enzyklopädie einen minderwertigen Cheddar zu synthetisieren.
Wir wußten, daß Hades daran interessiert war, außerdem kursierten
Gerüchte über heimliche Experimente hier in England. Als das
Chuzzlewit-Manuskript verschwand und wir dahinterkamen, daß der
Diebstahl auf Acherons Konto ging, wußte ich, daß wir auf dem
richtigen Weg sind. Die Entführung Ihres Onkels war ein Indiz dafür,
daß er die Maschine perfektioniert hatte, die Extraktion Quaverleys
der endgültige Beweis. Wir werden Hades kriegen, auch wenn wir in
erster Linie hinter der Maschine her sind.«
»Sie scheinen zu vergessen«, sagte ich langsam, »daß Ihnen die
Maschine nicht gehört. Wie ich meinen Onkel kenne, wird er seine
Erfindung eher zerstören, als sie dem Militär zu überlassen.«
»Wir sind bestens über Mycroft informiert, Miss Next. Er wird
einsehen müssen, daß jemand, der außerstande ist, das eigentliche
Potential seiner Maschine zu erkennen, einen solchen Quantensprung
im wissenschaftlichen Denken auf keinen Fall für sich behalten darf.
Seine Erfindung gehört dem Staat.«
»Das ist ein Irrtum«, beharrte ich, stand auf und wandte mich zum
Gehen. »Ein fataler Irrtum. Mycroft wird jede Maschine, die seiner
Ansicht nach verheerendes militärisches Potential besitzt, sofort
zerstören. Wenn sich alle Wissenschaftler doch nur endlich
entschließen würden, sich über die Auswirkungen ihrer Entdeckungen
Gedanken zu machen! Dann wären wir alle auf diesem Planeten sehr
viel sicherer.«
Schitt klatschte höhnischen Beifall. »Schöne Rede, Miss Next. Aber
mich verschonen Sie bitte mit Ihren Moralpredigten. Wenn Sie weiter
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Ihren Kühlschrank, Ihre Gefriertruhe, Ihr Auto, ein schönes Haus,
asphaltierte Straßen und ein funktionierendes Gesundheitssystem
haben wollen, dann bedanken Sie sich bei der Rüstungsindustrie, bei
der Kriegswirtschaft und bei Goliath. Der Krimkrieg ist gut, Thursday
– gut für England und vor allem gut für die Wirtschaft. Sie mögen die
Rüstungsindustrie vielleicht nicht, aber ohne sie wären wir ein
zehntklassiges Land, das größte Mühe hätte, einen Lebensstandard
aufrechtzuerhalten, der auch nur annähernd dem unserer europäischen
Nachbarn entspricht.«
»Wenigstens hätten wir dann ein reines Gewissen.«
»Naiv, Next, sehr naiv.«
Schitt widmete sich aufs neue dem Golfspiel, und jetzt übernahm
der Commander wieder die Führung. »Officer Next«, sagte er. »Wir
haben der Goliath Corporation in dieser Angelegenheit unsere
größtmögliche Unterstützung zugesagt. Sie müssen uns helfen, Hades
zu fassen. Sie kennen ihn doch aus Ihrer Studienzeit, und dieser Brief
ist ausdrücklich an Sie gerichtet. Wir werden auf seine Forderungen
eingehen und eine Übergabe vereinbaren. Anschließend werden wir
ihn verfolgen und festnehmen. Ein Kinderspiel. Goliath kriegt das
ProsaPortal, wir kriegen das Manuskript, Ihr Onkel und Ihre Tante
sind frei, und SpecOps kriegt Hades. Jeder bekommt etwas, und alle
sind zufrieden. Vorerst jedoch lassen wir uns nicht verrückt machen
und warten auf weitere Anweisungen zwecks Übergabe des
Lösegeldes.«
»Ich weiß genausogut wie Sie, daß man Erpressern niemals
nachgibt, Sir. So leicht läßt sich Hades nicht hinters Licht führen.«
»Keine Sorge«, entgegnete Hicks. »Wir geben ihm das Geld und
schnappen ihn uns, bevor er entwischen kann. Ich setze größtes
Vertrauen in Schitts Leute.«
»Mit Verlaub, Sir, aber Acheron ist weitaus raffinierter und
skrupelloser, als Sie denken. Wir sollten das allein erledigen. Schitts
Profikiller, die wild durch die Gegend ballern, wären dabei nur im
Wege.«
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»Abgelehnt, Next. Entweder Sie tun, was ich sage, oder Sie tun gar
nichts. Das war’s.«
Komischerweise blieb ich vollkommen ruhig. Es war alles wie immer
– Goliath ließ sich nie auf Kompromisse ein. Und weil alles wie
immer war, gab es auch keinen Grund, sich aufzuregen. Wir mußten
uns mit dem begnügen, was wir hatten.
Als wir wieder im Büro waren, wählte ich noch einmal Landens
Nummer. Diesmal kam eine Frau an den Apparat; ich fragte nach ihm.
»Er schläft«, sagte sie knapp.
»Könnten Sie ihn vielleicht wecken?« fragte ich. »Es ist ziemlich
wichtig.«
»Nein, kann ich nicht. Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Thursday Next.«
Die Frau gab ein boshaftes Kichern von sich, das mir gar nicht
gefiel.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Thursday«, sagte sie
höhnisch.
»Wer sind denn Sie?«
»Daisy Mutlar, Schätzchen, Landys Verlobte.«
Ich lehnte mich langsam zurück und schloß die Augen. Das konnte
unmöglich wahr sein. Kein Wunder, daß Landen so sehr daran
gelegen war, daß ich ihm verzieh.
»Na, Schätzchen, Sie haben’s sich doch nicht etwa anders
überlegt?« fragte Daisy spöttisch. »Landen ist ein wunderbarer Mann.
Er hat fast zehn Jahre auf Sie gewartet, aber jetzt ist er leiderleider in
mich verliebt. Wenn Sie Glück haben, schicken wir Ihnen vielleicht
ein Stück Torte, und wenn Sie uns ein Geschenk schicken wollen, die
Hochzeitsliste liegt bei Camp Hopson aus.«
Ich hatte einen dicken Kloß im Hals.
»Wann ist denn der große Tag?«
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»Für Sie oder für mich?« Daisy lachte. »Für Sie … wer weiß? Was
mich angeht, werden mein Landy-Schatz und ich Samstag in vierzehn
Tagen zu Mr. und Mrs. Parke-Laine erklärt.«
»Lassen Sie mich mit ihm sprechen«, verlangte ich mit erhobener
Stimme.
» Vielleicht sage ich ihm, daß Sie angerufen haben, wenn er wach
wird.«
»Ist es Ihnen lieber, wenn ich vorbeikomme und Ihnen die Tür
eintrete?« fragte ich, noch lauter werdend. Bowden sah mit
hochgezogenen Augenbrauen zu mir herüber.
»Jetzt paß mal auf, du blöde Kuh«, sagte Daisy mit gedämpfter
Stimme, damit es Landen nicht hörte, »du hättest Landen heiraten
können, und du hast es vermasselt. Schluß, Aus, Ende. Warum suchst
du dir nicht irgendeinen verkommenen LitAg oder so jemand – ihr
Typen von SpecOps seid doch sowieso alle pervers.«
»Hör zu, du …«
»Nein«, schnauzte Daisy. » Du hörst mir zu. Ich warne dich. Wenn
du dich meinem Glück in den Weg stellst, dann dreh ich dir den Hals
um!«
Plötzlich war die Leitung tot. Wortlos legte ich den Hörer auf und
nahm meine Jacke von der Stuhllehne.
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Bowden.
»Auf den Schießstand«, sagte ich, »und das kann dauern.«
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22.
Däumchen drehen
Jedesmal wenn ein Felix starb, rief das bei Acheron
schmerzliche Erinnerungen an den Verlust des ersten
Felix hervor. Es war ein harter Schlag gewesen – nicht
nur weil er einen getreuen Freund und Komplizen
eingebüßt hatte, sondern weil ihn die befremdlichen
Gefühle, die dabei auftraten, an seine halb menschliche
Herkunft erinnerten, und das war ihm zutiefst zuwider.
Wie Hades war auch Felix durch und durch verdorben
und unmoralisch gewesen. Zu seinem Leidwesen
verfügte Felix aber nicht über Hades’ dämonische
Fähigkeiten und erlitt an jenem schicksalhaften Tag des
Jahres 1975, als er und Hades die Goliath-Bank in
Hartlepool ausrauben wollten, einen tödlichen
Bauchschuß. Felix fügte sich mit stoischer Gelassenheit
in sein Los und ermahnte seinen Freund, er solle ja »am
Ball bleiben«, bevor ihn Hades von seinen Qualen
erlöste. Zum Andenken entfernte Hades das Gesicht
seines Freundes und verließ damit den Tatort. Seither
genoß jeder Diener, den er der Bevölkerung entnahm, die
zweifelhafte Ehre, nicht nur den Namen seines einzigen
Freundes, sondern auch dessen Antlitz zu tragen.
MILLON DE FLOSS
- Die vielen Leben des Felix Tabularasa
Bowden setzte die Annonce in den Swindon Globe. Zwei Tage
später trafen wir uns in Victors Büro zu einer Lagebesprechung.
»Bei uns sind zweiundsiebzig Anrufe eingegangen«, verkündete
Victor. »Leider alles Anfragen wegen der Kaninchen.«
»Der Preis ist aber auch wirklich ziemlich niedrig«, frotzelte ich.
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»Ich bin eben nicht allzu bewandert, was Kaninchen angeht«, sagte
Bowden beleidigt. »Ich fand den Preis völlig angemessen.«
»Streitet euch nicht.« Victor legte eine Akte auf den Tisch. »Die
Polizei hat den Kerl, den ihr in Sturmey Archers Werkstatt erschossen
habt, doch noch identifizieren können. Er hatte keine Fingerabdrücke,
und was sein Gesicht betrifft, lagen Sie mit Ihrer Vermutung
goldrichtig, Thursday – es war nicht sein eigenes.«
»Und wer war er?«
Victor klappte die Akte auf. »Ein Buchhalter aus Newbury namens
Adrian Smarts. Er ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Keine
Vorstrafen, nicht mal ein Strafmandat wegen zu schnellen Fahrens.
Netter Kerl. Familienvater, Kirchgänger und engagiertes
Gemeindemitglied.«
»Hades hat ihm seinen Willen gestohlen«, murmelte ich. »Die
reinsten Seelen lassen sich am leichtesten mißbrauchen. Als wir ihn
erschossen haben, war von Smarts nicht mehr viel übrig. Was ist mit
dem Gesicht?«
»Daran arbeiten wir noch. Die Identifizierung könnte sich als
weitaus schwieriger erweisen. Laut kriminaltechnischer Untersuchung
war Smarts nicht der einzige, der dieses Gesicht getragen hat.«
Ich schrak zusammen.
»Und er muß noch lange nicht der letzte gewesen sein.«
Victor erriet meine Gedanken, griff zum Telefon und wählte Hicks’
Nummer. Binnen zwanzig Minuten hatte ein SO-14-Kommando das
Bestattungsunternehmen umstellt, wo Smarts’ Leichnam seiner
Familie übergeben worden war. Doch die Kollegen kamen zu spät.
Das Gesicht, das Smarts zwei Jahre lang getragen hatte, war schon
verschwunden, und die Überwachungskameras hatten, wie zu
erwarten war, nichts aufgezeichnet.
Die Nachricht von Landens bevorstehender Hochzeit hatte mich
ziemlich getroffen. Später fand ich heraus, daß er Daisy Mutlar ein
gutes Jahr zuvor bei einer Signierstunde kennengelernt hatte. Sie war
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allem Anschein nach sexy und hübsch, aber mit Sicherheit etwas
übergewichtig. Und ein großes Licht war sie wohl auch nicht,
zumindest redete ich mir das ein. Landen hatte sich immer schon eine
Familie gewünscht, und die hatte er natürlich auch verdient.
Um meine Enttäuschung zu überwinden, reagierte ich neuerdings
sogar positiv auf Bowdens schüchterne Versuche, mich zum Essen
einzuladen. Doch außer einem gewissen Interesse an der Frage, wer
denn nun wirklich hinter Shakespeares Stücken steckte, hatten wir
nicht viel gemeinsam. Auch jetzt saß er wieder an seinem Schreibtisch
und starrte auf ein Stück Papier mit einer umstrittenen Unterschrift.
Das Papier war echt, die Tinte auch. Der Namenszug aber nicht.
Vielleicht mußte ich ihn ein bißchen ermutigen?
»Äh«, sagte ich, »warum erzählen Sie mir nicht ein bißchen von
Edward De Vere, dem Earl of Oxford?«
Bowden stierte eine Weile nachdenklich vor sich hin.
»Der Earl of Oxford war Schriftsteller, soviel steht fest. Meres, ein
Kritiker und Zeitgenosse De Veres, erwähnt ihn in seiner Palladis
Tamia von 1598.«
»Könnte er die Stücke geschrieben haben?« fragte ich.
»Er könnte durchaus«, antwortete Bowden. »Das Dumme ist nur,
daß Meres auch zahlreiche Shakespeare-Stücke aufzählt und
ausdrücklich Shakespeare zuschreibt. Womit Oxford, wie Derby oder
Bacon, in die Kategorie der Strohmann-Theorie fällt, derzufolge Will
als Fassade für andere herhalten mußte.«
»Ist das denn so abwegig?«
»Vermutlich nicht. Die Weiße Königin glaubte schon vor dem
Frühstück jede Menge unmögliche Dinge, und das hat ihr auch nicht
geschadet. Die Strohmann-Theorie klingt durchaus plausibel, aber es
spricht noch einiges mehr dafür, daß Oxford hinter Shakespeare
steckt.«
Wir schwiegen. Manche Leute nahmen die Frage nach der
Urheberschaft der Stücke äußerst ernst, und viele kluge Köpfe hatten
sich ein Leben lang damit beschäftigt.
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»Die Theorie besagt, daß Oxford und eine Gruppe von Höflingen
am Hofe Königin Elizabeths einzig zu dem Zweck in Diensten
standen, staatstragende Stücke zu verfassen. Und da scheint
tatsächlich etwas dran zu sein.«
Er schlug ein Buch auf und las eine unterstrichene Stelle. »Ein
Collegium höfischer Poeten, lauter Adels-und Edelleute, welche
ausdermaßen trefflich zu schreiben vermögen, wie es sich wohl
erzeigte, würde ihr Treiben offenbart und kundgetan, dem zuvorsteht
ein Edelmann, der Earl of Oxford.«
Er klappte das Buch wieder zu.
»Puttenham 1598. Oxford erhielt eine jährliche Zuwendung in Höhe
von tausend Pfund, auch wenn sich heute leider nicht mehr
nachvollziehen läßt, ob dieses Geld nun für die eigentliche Abfassung
der Stücke oder vielleicht doch für ein ganz anderes Projekt bestimmt
war. Es gibt keinen gesicherten Beleg dafür, daß er die Stücke
tatsächlich geschrieben hat. Zwar sind ein paar an Shakespeare
erinnernde Gedichtzeilen überliefert, aber ein schlüssiger Beweis ist
das natürlich nicht; gleiches gilt im übrigen für den
speerschwingenden Löwen auf dem Oxforder Wappen.«
»Und er ist 1604 gestorben«, sagte ich.
»Das kommt erschwerend hinzu. Die Strohmann-Theorien hauen
einfach nicht hin. Wenn Sie mich fragen, war Shakespeare mit
Sicherheit alles andere als ein Adliger, der unbedingt anonym bleiben
wollte. Wenn die Stücke wirklich nicht von ihm stammen, würde ich
einen anderen elisabethanischen Bürgerlichen ins Visier nehmen,
einen Mann von bemerkenswertem Verstand, der nicht nur Kühnheit,
sondern auch Charisma besaß.«
»Kit Marlowe?« fragte ich.
»Sie haben es erfaßt.«
An dieser Stelle knallte Victor den Hörer seines Telefons auf die
Gabel und rief uns zu sich ans andere Ende des Büros.
»Das war Schitt; Hades hat sich gemeldet. Wir sollen in einer halben
Stunde in Hicks’ Büro sein.«
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23.
Die Übergabe
Ich hatte noch nie einen Koffer mit 10 Millionen Pfund in
der Hand gehabt. Und das hatte ich auch damals nicht.
Denn in seiner ungeheuren Arroganz war Jack Schitt
davon ausgegangen, daß er Hades würde festnehmen
können, ehe der überhaupt dazu kam, einen Blick auf das
Geld zu werfen. Was für ein Trottel! Die Farbe des
Gainsborough war noch nicht trocken, und die English
Shakespeare Company spielte nicht mit. Die einzige
erfüllte Forderung Acherons war die Umbenennung der
Autobahnraststätte. Kingston St. Michael hieß ab sofort
Leigh Delamare.
THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Braxton Hicks setzte uns den Plan in groben Zügen auseinander –
noch eine Stunde bis zur Übergabe. Auf diese Weise wollte Jack
Schitt von vornherein verhindern, daß wir eigene Pläne verfolgten.
Dies war in jeder Hinsicht eine Goliath-Operation – Victor, Bowden
und ich sollten der Sache lediglich die nötige Glaubwürdigkeit
verleihen, nur für den Fall, daß uns Hades beobachtete. Die Übergabe
sollte bei einer alten Eisenbahnbrücke stattfinden. Die einzigen
Zufahrtswege waren zwei Straßen sowie die stillgelegte Bahnstrecke,
die sich jedoch nur mit einem Geländewagen befahren ließ. GoliathLeute sollten beide Straßen und die Trasse kontrollieren. Sie hatten
den Befehl, Hades zwar herein-, aber nicht wieder hinauszulassen.
Eigentlich ganz einfach – zumindestens theoretisch.
Die Fahrt zu der stillgelegten Bahnstrecke verlief ohne
Zwischenfälle, obwohl der gefälschte Gainsborough in dem kleinen
Porsche mehr Platz wegnahm, als ich gedacht hätte. Schitts Leute
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waren gut getarnt; auf dem Weg zu der einsam in der Landschaft
liegenden Brücke begegneten Bowden und ich keiner Menschenseele.
Obwohl die Brücke schon seit langem außer Betrieb war, befand sie
sich in ziemlich gutem Zustand. Ich parkte den Wagen etwa zwanzig
Meter entfernt und ging das letzte Stück des Weges zu Fuß. Es war ein
schöner Tag, und kaum ein Laut war zu hören. Ich kletterte die
Böschung hinauf, sah jedoch nichts von Belang, nur das breite
Schotterbett, leicht aufgewühlt, wo man die Schwellen herausgerissen
hatte. Zwischen den Steinen wucherte Unkraut, und neben dem Gleis
stand ein altes Stellwerk, wo ich die obere Hälfte eines Periskops zu
erkennen glaubte, durch das mich jemand zu beobachten schien. Ich
nahm an, es handele sich um einen von Schitts Leuten, und warf einen
Blick auf meine Armbanduhr. Es war soweit.
Das gedämpfte Piepen eines Funkgeräts ließ mich aufhorchen. Ich
legte den Kopf schief und versuchte es zu orten.
»Ich höre ein Funkgerät piepen«, sprach ich in mein Walkie-talkie.
»Keins von unseren«, kam Schitts Antwort aus der Einsatzzentrale
in einem verlassenen Farmhaus eine Viertelmeile entfernt.
Das Funkgerät steckte in einer Plastiktüte und hing halb versteckt in
den Zweigen einer kleinen Birke am Rande des Bahndamms. Es war
Hades, und die Verbindung war schlecht – es klang, als säße er in
einem Auto.
»Thursday?«
»Hier.«
»Allein?«
»Ja.«
»Wie geht’s dir? Es tut mir leid, aber mir blieb leider nichts anderes
übrig. Du weißt ja, wie verzweifelt wir Psychopathen manchmal
sind.«
»Wie geht es meinem Onkel?«
»Bestens, meine Liebe. Er fühlt sich pudelwohl; ein wahrer
Geistesriese, aber leiderleider etwas zerstreut. Mit seinem Verstand
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und meiner Energie könnte ich die Welt regieren, statt mich mit
banalen Kleinigkeiten wie Erpressung abgeben zu müssen.«
»Es zwingt Sie niemand«, sagte ich. Hades ignorierte meinen
Einwurf und fuhr fort:
»Spiel nicht die Heldin, Thursday. Wie du dir sicherlich denken
kannst, befindet sich das Chuzzlewit- Manuskript in meinem Besitz,
und ich schrecke nicht davor zurück, es zu zerstören.«
»Wo sind Sie?«
»Na, na, Thursday, was meinst du, mit wem du es zu tun hast? Über
die Freilassung deines Onkels unterhalten wir uns, sobald ich mein
Geld habe. Auf der Brüstung in der Mitte der Brücke findest du einen
Karabinerhaken an einem Stück Draht. Stell das Geld und den
Gainsborough auf die Brüstung und mach beides daran fest. Wenn du
soweit bist, komme ich die Sachen holen. Bis zum nächsten Mal, Miss
Thursday Next!«
Ich gab der Einsatzzentrale durch, was er gesagt hatte. Sie befahlen
mir, die Anweisungen genau zu befolgen.
Also stellte ich die Tasche mit dem Geld und den Gainsborough auf
die Brüstung und machte beides an dem Karabinerhaken fest. Dann
ging ich zum Wagen zurück, setzte mich auf die Motorhaube und ließ
Hades’ Beute nicht aus den Augen. Sowohl die Tasche als auch das
Gemälde waren von unten ausgezeichnet zu sehen. Erst vergingen
zehn Minuten, dann eine halbe Stunde. Ich fragte Victor; er riet mir,
mich nicht von der Stelle zu rühren.
Die Sonne wurde heißer, und die Fliegen summten fröhlich um die
Hecken. Ich roch den schwachen Duft von frischgemähtem Heu und
hörte in der Ferne das leise Brummen des Verkehrs. Es sah so aus, als
wolle Acheron uns auf die Probe stellen, was bei so heiklen Aktionen
wie Lösegeldübergaben durchaus nicht ungewöhnlich war. Bei der
Entführung des Staatsdichters Nr. 1 vor fünf Jahren hatte das Lösegeld
erst beim neunten Versuch übergeben werden können. Schließlich war
der SD1 unversehrt wieder aufgetaucht; wie sich herausstellte, hatte er
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die ganze Sache selbst inszeniert, um den schleppenden Absatz seiner
Autobiographie anzukurbeln.
Ich begann mich zu langweilen und kletterte, Schitts Befehl
mißachtend, erneut auf die Brücke. Ich untersuchte den
Karabinerhaken und entdeckte ein dünnes, hochfestes Drahtseil. Als
ich vorsichtig daran zog, stellte ich fest, daß es an einem elastischen
Bungeeseil befestigt war, das wie eine Schlange im trockenen Gras
lag. Gespannt verfolgte ich das Bungee bis zu einem weiteren dünnen
Drahtseil, das mit Isolierband etwa drei Meter über meinem Kopf
zwischen zwei Telegrafenmasten gespannt war.
Ich runzelte die Stirn, als ich das tiefe Grollen eines Motors hörte,
und fuhr unwillkürlich herum. Obwohl ich nichts sehen konnte, kam
das Motorengeräusch eindeutig auf mich zu, und zwar ziemlich
schnell. Ich blickte das Schotterbett der alten Bahntrasse entlang, wo
ich einen Geländewagen vermutete, aber es war nichts zu sehen. Der
nahende Motorenlärm wurde immer lauter, bis plötzlich hinter einer
Hecke ein Leichtflugzeug auftauchte, das sich offenbar im Tiefflug
genähert hatte, um nicht entdeckt zu werden.
»Ein Flugzeug!« schrie ich in mein Walkie-talkie. »Die haben ein
Flugzeug!«
Da fielen auch schon die ersten Schüsse. Es war unmöglich
auszumachen, wer das Feuer eröffnete oder woher es kam, doch im
Nu zerfetzte das trockene, ungezielte Knattern von Handfeuerwaffen
und Gewehren die ländliche Stille. Ich ging instinktiv in Deckung;
mehrere Kugeln trafen die Brüstung, und roter Ziegelstaub regnete auf
mich herab. Ich zog meine Automatik und entsicherte sie, als das
Flugzeug über die Brücke flog. Es war ein Aufklärungshochdecker
derselben Bauart, die auf der Krim feindliche Artilleriestellungen
ausspähten; die Seitentür war ausgehängt, und in der Öffnung, mit
einem Fuß auf der Flügelstrebe, saß Acheron. Er hatte ein leichtes
Maschinengewehr im Anschlag und ballerte damit munter auf alles,
was sich bewegte. Er durchlöcherte das verfallene Stellwerk, und der
Goliath-Mann erwiderte das Feuer ebenso heftig; die Kugeln rissen
erste Löcher in die Bespannung der Maschine. Hinter ihr schwang ein
Haken im Flugwind. Als sie über mich hinwegflog, verfing sich der
Haken in dem zwischen den Masten gespannten Drahtseil und riß
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Geldtasche und Gainsborough mit sich, wobei das Bungee
offensichtlich den Ruck mildern sollte.
Ich sprang auf und feuerte auf die davonfliegende Maschine, doch
die drehte steil ab und verschwand hinter dem Bahndamm; Geldtasche
und Gainsborough baumelten gefährlich am Seilende. Da wir sie –
und damit vielleicht die letzte Chance, Hades zu ergreifen – auf
keinen Fall verlieren durften, stürzte ich mich die Böschung hinunter,
rannte zum Wagen und setzte, eine Wolke aus Staub und
Kieselsteinen aufschleudernd, zurück. Mit einer Hand klammerte sich
Bowden fest, mit der anderen griff er nach dem Sicherheitsgurt.
Aber das Flugzeug war mit uns noch nicht fertig. Um mehr Fahrt zu
bekommen, ging die kleine Maschine in einen flachen Sinkflug und
beschrieb dann eine fast senkrechte Linkskurve. Die Spitze des
Backbordflügels streifte fast die Krone einer hohen Buche, als der
Pilot wendete. Ein mit Goliath-Leuten besetzter Studebaker, der die
Verfolgung aufgenommen hatte, mußte eine Vollbremsung hinlegen,
als der Flieger direkt auf sie zugerast kam; der Pilot drückte das linke
Ruder herunter, damit Acheron sein Ziel besser ins Visier nehmen
konnte. Nicht lange, und der schwarze Wagen landete, von Kugeln
durchsiebt, im Graben. Ich stieg auf die Bremse, als sich ein zweiter
Studebaker vor mich setzte. Auch er wurde von Acheron mit Blei
gespickt und krachte in eine flache Mauer kurz vor der Brücke. Das
Flugzeug flog weiter, über mich hinweg, und der Gainsborough hing
jetzt so tief, daß er gegen meine Motorhaube knallte; kaum einer von
Schitts Männern erwiderte das Feuer.
Ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste dem
Flugzeug hinterher. Die Straße war schnurgerade, und Hades’
Maschine hatte mit leichtem Gegenwind zu kämpfen; mit ein bißchen
Glück konnten wir sie vielleicht sogar einholen. Aber am Ende der
Geraden gabelte sich die Straße, und in der Mitte führte ein Gatter
aufs Feld. Die Maschine flog geradeaus. Bowden warf mir einen
nervösen Blick zu.
»Und jetzt?« brüllte er.
Als Antwort auf seine Frage zog ich meine Automatik, zielte damit
auf das Gatter und drückte ab. Die ersten beiden Schüsse gingen
- 239 -
daneben, doch die nächsten drei trafen ihr Ziel; die Scharniere
zersplitterten, das Gatter brach aus den Angeln, und ich holperte aufs
Feld, wo eine Herde verwirrter Kühe graste. Das Flugzeug brummte
weiterhin vor uns her, und wenn wir es auch nicht direkt einholten, so
hielten wir doch einigermaßen mit.
»Wir verfolgen das Flugzeug der Verdächtigen in, äh, östlicher
Richtung, glaube ich«, brüllte Bowden ins Sprechfunkgerät.
An ein Flugzeug hatte niemand von uns gedacht. Zwar befand sich
ein Polizeiluftschiff ganz in der Nähe, doch wäre es wohl zu langsam
gewesen, um Hades den Weg abzuschneiden.
Wir fuhren in eine flache Senke hinunter, im Slalom um diverse
Färsen, und hielten weiter auf das Ende des Feldes zu, wo ein Farmer
mit Land Rover eben das Gatter schließen wollte. Als er den
schlammbespritzten Sportwagen auf sich zurollen sah, machte er ein
verblüfftes Gesicht, öffnete das Gatter aber trotzdem. Ich schlug das
Lenkrad ein, bog scharf rechts ab und schlidderte breitseits die Straße
entlang, mit einem Hinterrad im Graben, bis ich den Wagen wieder in
die Gewalt bekam und mächtig auf die Tube drückte, jetzt im rechten
Winkel zu unserem Zielobjekt. Die nächste Abzweigung zur linken
führte auf einen Bauernhof; ich riß das Steuer herum, und wir suchten,
erschrockene Hühner in alle Himmelsrichtungen scheuchend, nach
einem Weg hinaus aufs Feld. Das Flugzeug war zwar noch zu sehen,
aber durch Umwege wie diesen gerieten wir immer weiter ins
Hintertreffen.
»Hollycroft Farm!« brüllte Bowden in sein Funkgerät, um alle, die
es interessierte, auf dem laufenden zu halten. Ich karriolte über den
Hof, durchbrach einen Stacheldrahtzaun, der fünf lange, tiefe Kratzer
im Lack des Porsche hinterließ, und verwüstete die Obstplantage.
Immer schneller jagten wir über die Wiese, rumpelten schwer über
steinharte Furchen aus dem vorigen Winter. Zwar setzte der Wagen
zweimal auf, aber so kamen wir wenigstens voran. Als wir direkt
unter dem Flugzeug waren, drehte es urplötzlich links ab. Ich tat es
ihm nach und gelangte auf einen Holzfällerpfad, der in ein Wäldchen
führte. Durch das über uns dahinschnellende Laub war die Maschine
kaum zu sehen.
- 240 -
»Thursday …!« Bowdens Stimme ging im Stampfen des Motors
nahezu unter.
»Was?«
»Straße!«
»Straße?«
»Straße!«
Der Übergang kam derart unvermittelt, daß der Wagen buchstäblich
abhob. Wir flogen durch die Luft, legten eine leicht mißglückte
Landung hin und schlitterten seitlich in einen Brombeerstrauch. Der
Motor war abgesoffen; ich ließ ihn wieder an und jagte in die
Richtung davon, in die das Flugzeug entkommen war. Ich
beschleunigte, und wir ließen das Wäldchen hinter uns; das Flugzeug
hatte nur ein paar hundert Meter Vorsprung. Wieder trat ich aufs
Gaspedal, und der Wagen machte Tempo. Wir bogen rechts ab auf ein
weiteres Feld und näherten uns dem Flugzeug, das noch immer gegen
den Wind ankämpfte.
»Thursday!«
»Was ist denn nun schon wieder?«
»Da vorne ist ein Fluß!«
Er hatte recht. Kaum eine halbe Meile weiter schnitt uns das breite
Bett des Severn den Weg ab. Acheron floh nach Wales und in die
Marches, und wir konnten nichts dagegen unternehmen.
»Übernehmen Sie das Steuer!« schrie ich, als wir das Flugzeug
eingeholt hatten. Bowden starrte nervös auf das nahende Flußufer.
Wir rasten mit fast siebzig Meilen in der Stunde über das flache
Grasland; bald würde es kein Zurück mehr geben. Ich brachte die
Waffe beidhändig in Anschlag und feuerte von unten in das Flugzeug.
Es begann heftig zu schwanken und zu schlingern. Im ersten
Augenblick glaubte ich, den Piloten getroffen zu haben, doch dann
änderte die Maschine den Kurs; sie war lediglich ein wenig gesunken,
um besser beschleunigen zu können.
Fluchend trat ich auf die Bremse und riß das Lenkrad herum. Der
Wagen schlidderte über die Wiese, krachte seitlich durch einen Zaun,
- 241 -
rutschte die Uferböschung hinab und blieb schließlich stehen, mit
einem Vorderrad im Wasser. Ich sprang auf und feuerte vergeblich auf
die davonfliegende Maschine, bis mein Magazin halb leer war, in der
vagen Hoffnung, daß Acheron umkehren und im Tiefflug über uns
hinwegdonnern würde, doch das blieb ein frommer Wunsch. Das
Flugzeug verschwand mit Hades, einem gefälschten Gainsborough
und zehn Millionen Pfund Falschgeld nach Wales.
Wir stiegen aus und betrachteten den ramponierten Wagen.
»Totalschaden«, murmelte Bowden, nachdem er über Funk einen
letzten Lagebericht durchgegeben hatte. »Es dauert bestimmt nicht
lange, bis Hades merkt, daß das Geld, das wir ihm angedreht haben,
nicht von erster Qualität ist.«
Ich starrte dem Flugzeug nach; es war nur noch ein kleiner Punkt am
Horizont.
»Meinen Sie, er fliegt in die Republik?« fragte Bowden.
»Sieht so aus«, sagte ich und fragte mich, wie wir ihn jemals kriegen
sollten, wenn er in Wales Zuflucht suchte. Zwar gab es ein
Auslieferungsabkommen, aber die anglo-walisischen Beziehungen
waren alles andere als gut, und das Politbüro hatte die unselige
Neigung, Feinde Englands als Freunde zu betrachten.
»Was jetzt?« wollte Bowden wissen.
»Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich zögernd, »aber wenn Sie
Martin Chuzzlewit noch nicht gelesen haben, sollten Sie das, glaube
ich, so schnell wie möglich nachholen. Ich habe das dunkle Gefühl,
wenn Acheron dahinterkommt, daß er beschissen worden ist, muß
Martin dran glauben.«
Hades’ Maschine verschwand in der Ferne. Bis auf das leise
Plätschern des Flusses war alles still. Ich legte mich ins Gras, schloß
die Augen und versuchte, mich ein paar Minuten zu entspannen, bevor
wir von neuem in den Mahlstrom von Goliath, Hades, Chuzzlewit et
cetera geschleudert wurden. Es war ein friedlicher Moment – die Ruhe
vor dem Sturm. Dabei war ich in Gedanken ganz woanders. Ich dachte
- 242 -
immer noch an Daisy Mutlar. Die Nachricht von ihrer bevorstehenden
Hochzeit kam erwartet und unerwartet zugleich; Landen hätte mir
durchaus davon erzählen können, andererseits war er dazu nach
zehnjähriger Trennung natürlich keineswegs verpflichtet. Ich fragte
mich, wie es wohl wäre, Kinder zu haben, und dann, ob ich die
Antwort darauf je erfahren würde.
Bowden legte sich neben mich. Er zog einen Schuh aus und
schüttelte ein paar Kieselsteine heraus.
»Der Posten in Ohio, von dem ich Ihnen erzählt habe – wissen Sie
noch?«
»Ja?«
»Die Versetzung ist heute morgen genehmigt worden.«
»Phantastisch! Wann fangen Sie an?«
Bowden senkte den Blick.
»Ich habe noch nicht zugesagt.«
»Warum nicht?«
»Waren Sie … ähm … schon mal in Ohio?« fragte er so
unverfänglich wie möglich.
»Nein, aber schon ein paarmal in New York.«
»Es soll sehr schön sein dort.«
»Amerika ist überhaupt sehr schön.«
»Sie bieten mir das doppelte von Victors Gehalt.«
»Na prima.«
»Und sie haben gesagt, ich könnte jemanden mitbringen.«
»Und an wen dachten Sie da so?«
»An Sie.«
Ich sah ihn an, und seine gespannte, hoffnungsvolle Miene sagte mir
alles.
»Das ist ein äußerst großzügiges Angebot, Bowden.«
- 243 -
»Dann denken Sie darüber nach?«
Ich zuckte die Achseln.
»Im Augenblick kann ich an nichts anderes denken als an Hades.
Nachdem ich schon den ganzen Tag mit ihm verbringe, hatte ich
eigentlich gehofft, wenigstens nachts von ihm verschont zu bleiben,
aber selbst dann läßt er mich nicht in Ruhe, sondern starrt mich im
Traum lüstern an.«
Dazu wußte Bowden nichts rechtes zu sagen, vermutlich weil er
Hades nie begegnet war. Und so lagen wir eine Stunde schweigend da
und betrachteten das träge dahinfließende Wasser, bis der
Abschleppwagen kam.
Ich streckte mich in der riesigen Eisenwanne meiner Mutter aus und
trank einen Schluck von dem großen Gin-Tonic, den ich mit ins Bad
geschmuggelt hatte. Die Werkstatt hätte den Porsche am liebsten
verschrottet, doch ich bat den Mechaniker, den Wagen unter allen
Umständen wieder flottzumachen, da er mir unschätzbare Dienste
geleistet habe. Ich lag in dem warmen, nach Kiefernöl duftenden
Wasser und wollte gerade eindösen, als es an die Tür klopfte. Es war
Landen.
»Heilige Scheiße, Landen! Kann eine Frau denn nicht mal in Ruhe
baden?«
»Tut mir leid, Thurs.«
»Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?«
»Deine Mutter hat mich reingelassen.«
»Was du nicht sagst. Was willst du?«
»Kann ich reinkommen?«
»Nein.«
»Du hast mit Daisy gesprochen.«
»Allerdings. Du willst diese blöde Kuh doch nicht allen Ernstes
heiraten?«
- 244 -
»Ich kann verstehen, daß du wütend bist, Thursday. Du solltest es
nicht auf diese Art und Weise erfahren. Ich wollte es dir selber sagen,
aber als wir uns das letzte Mal gesehen haben, bist du ja einfach
weggelaufen.«
Eine Zeitlang herrschte betretenes Schweigen. Ich starrte die
Armaturen an.
»Ich muß auch sehen, wo ich bleibe«, sagte Landen schließlich. »Ich
werde im Juni einundvierzig, und ich hätte gern eine Familie.«
»Und Daisy ist die richtige dafür?«
»Ja; sie ist eine tolle Frau, Thursday. Natürlich kein Vergleich mit
dir, trotzdem ist sie eine tolle Frau, sehr …«
»Zuverlässig?«
»Eher solide. Nicht unbedingt aufregend, aber verläßlich.«
»Liebst du sie?«
»Selbstverständlich.«
»Und was willst du dann noch von mir?«
Landen zögerte.
»Ich wollte mich nur vergewissern, daß ich die richtige
Entscheidung treffe.«
»Hast du mir nicht gerade erzählt, daß du sie liebst?«
»Ja.«
»Und daß sie dir die Kinder schenken wird, die du dir so sehnlich
wünschst?«
»Ja.«
»Dann solltest du sie auch heiraten.«
Landen zögerte kurz.
»Du hast also nichts dagegen?«
»Seit wann brauchst du meine Erlaubnis?«
- 245 -
»Darum geht es nicht. Ich wollte dich nur fragen, ob du dir auch
einen anderen Ausgang dieser Geschichte vorstellen könntest?«
Ich legte mir einen Waschlappen aufs Gesicht und stöhnte leise. Das
hatte mir gerade noch gefehlt.
»Nein. Landen, du mußt sie heiraten. Erstens hast du es ihr
versprochen, und zweitens …« Ich dachte rasch nach. »… gehe ich
nach Ohio.«
»Ohio?«
»Als LitAg. Ein Kollege hat mir den Posten angeboten.«
»Wer?«
»Er heißt Cable. Ein netter Kerl.«
Landen ließ es gut sein, stöhnte, bedankte sich und versprach, mir
eine Einladung zu schicken. Dann machte er sich aus dem Staub –
aber als ich zehn Minuten später herunterkam, hatte meine Mutter
noch immer diesen wehmütigen »Ach-wär-er-doch-meinSchwiegersohn«-Blick.
- 246 -
24.
Glück für Martin Chuzzlewit
Seit über vierzig Jahren befasse ich mich bei meiner
Arbeit hauptsächlich mit der Elastizität von Körpern. In
der Regel denkt man dabei natürlich an Gummi oder
ähnliche Substanzen, dabei läßt sich fast jedes nur
erdenkliche Material biegen und strecken. Und ich
schließe Raum, Zeit, Distanz und Wirklichkeit dabei
ausdrücklich ein …
PROFESSOR MYCROFT NEXT
»Crofty …!«
»Polly …!«
Sie trafen sich am Seeufer, bei den Narzissen, die sich sanft im
Wind wiegten. Die Sonne schien hell und sprenkelte die Wiese mit
zarten Schattentupfern. Der frische Duft des Frühlings lag in der Luft
und brachte ein Gefühl des Friedens mit sich, das die Sinne dämpfte
und die Seele beruhigte. Ein Stück weiter saß ein alter Mann im
schwarzen Umhang auf einem Fels und warf gleichgültig Kieselsteine
in das kristallklare Wasser. Ein geradezu vollkommenes Bild, wäre
Felix8 nicht gewesen, der, das Gesicht noch kaum verheilt, inmitten
der Narzissen stand und ein wachsames Auge auf seine
Schutzbefohlenen hatte. Um Mycroft für seine Sache zu begeistern,
hatte Acheron ihm erlaubt, in Wordsworths Daffodils einzusteigen
und seine Frau zu besuchen.
»Geht es dir gut, meine Liebe?«
Polly deutete verstohlen auf die Gestalt im Umhang.
»Mir geht es bestens, und es ginge mir noch besser, wenn sich Mr.
W. nicht für einen Herzensbrecher halten würde. Er denkt wohl, er
wäre das Geschenk Gottes an die Frauen der Welt. Er hat mich schon
- 247 -
dreimal eingeladen, ihn in ein paar unveröffentlichte Werke zu
begleiten. Die eine oder andere blumige Phrase, und er denkt, ich
schmelze dahin.«
»So ein Schuft!« rief Mycroft und stand auf. »Am liebsten würde
ich ihm eins auf die Nase geben!«
Polly legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, und er setzte sich
neben sie. Dennoch: Bei dem Gedanken, daß ihr über siebzigjähriger
Gemahl und Wordsworth sich um sie prügeln könnten, überlief Polly
ein Schauder der Erregung – damit würde sie beim nächsten Treffen
des Hausfrauenbundes bestimmt Eindruck machen.
»Also, wirklich …!« sagte Mycroft. »Diese Dichter sind doch üble
Schürzenjäger.« Er hielt inne. »Du hast hoffentlich nein gesagt?«
»Aber natürlich.«
Sie schenkte Mycroft ihr bezauberndstes Lächeln, doch er war schon
wieder ganz woanders.
»Bleib in den Daffodils, sonst weiß ich nicht, wo ich dich suchen
soll.«
Er nahm ihre Hand, und sie blickten gemeinsam hinaus auf den See.
Der erstreckte sich uferlos, so weit das Auge reichte, und die
Kieselsteine, die Wordsworth träge ins Wasser schnippte, sprangen
kurz darauf wieder an Land. Sonst war alles wie in Wirklichkeit.
»Ich habe etwas ziemlich Dummes getan«, gestand Mycroft
plötzlich, senkte den Blick und strich mit der flachen Hand über das
Gras.
»Wie dumm?« fragte Polly eingedenk der prekären Situation.
»Ich habe das Chuzzlewit-Manuskript verbrannt.«
» Was hast du gemacht? Sag das noch mal!«
»Ich habe gesagt …«
»Das habe ich gehört. So ein Originalmanuskript ist doch von
unschätzbarem Wert. Wie konntest du so etwas tun?«
Mycroft seufzte. Er hatte keineswegs leichtfertig gehandelt.
- 248 -
»Ohne das Originalmanuskript«, erklärte er, »läßt sich der Roman
nicht so leicht zerstören. Ich habe dir doch erzählt, daß dieser
Wahnsinnige Mr. Quaverley aus dem Buch geholt und ermordet hat.
Dabei hätte er es bestimmt nicht belassen. Wer wäre wohl als nächstes
an der Reihe gewesen? Mrs. Gamp? Mr. Pecksniff? Martin
Chuzzlewit selbst? Ich habe der Welt vermutlich einen Gefallen
getan.«
»Und die Verbrennung des Manuskripts macht dem ein Ende?«
»Natürlich; ohne Originalmanuskript keine Massenzerstörung.« Sie
drückte seine Hand, als ein Schatten auf die beiden fiel.
»Die Zeit ist um«, sagte Felix8.
Mit meinen Vorhersagen zu Acherons Machenschaften hatte ich
zugleich richtig und falsch gelegen. Wie Mycroft mir später erzählte,
war Hades außer sich vor Wut, als er feststellte, daß niemand ihn ernst
genommen hatte, aber Mycrofts Vernichtung des Chuzzlewit Manuskripts fand er geradezu witzig. Obwohl er es nicht gewohnt
war, hinters Licht geführt zu werden, schien er die ungewohnte
Erfahrung fast zu genießen. Statt ihm die Glieder einzeln auszureißen,
wie Mycroft befürchtet hatte, schüttelte Acheron ihm die Hand.
»Gratuliere, Mr. Next«, sagte er lächelnd, »zu Ihrer ebenso tapferen
wie einfallsreichen Tat. Tapfer, einfallsreich, aber leider völlig
zwecklos. Meine Wahl ist nämlich keineswegs zufällig auf Chuzzlewit
gefallen.«
»Ach nein?« entgegnete Mycroft scharf.
»Nein. Ich mußte das Buch in der Schule lesen und habe das
Scheißding aus tiefstem Herzen gehaßt. Diese endlosen,
moralinsauren Suaden über Selbstsucht und Egoismus. Ich finde
Chuzzlewit nur unwesentlich spannender als Unser gemeinsamer
Freund. Selbst wenn die Übergabe glattgegangen wäre, hätte ich ihn
umgebracht, und zwar mit dem allergrößten Vergnügen.«
Er hielt inne, lächelte Mycroft an und fuhr dann fort: »Dank Ihres
mutigen Eingreifens kann Martin Chuzzlewit seine Abenteuer
- 249 -
fortsetzen. Mrs. Todgers’ Pension wird nicht niederbrennen, und sie
können ihr langweiliges Leben ungestört fortsetzen.«
»Das freut mich«, sagte Mycroft.
»Sparen Sie sich Ihre Gefühle, Mr. Next, ich bin noch nicht fertig.
Ihretwegen werde ich mich nach einer gangbaren Alternative umsehen
müssen. Nach einem Buch, das im Unterschied zum Chuzzlewit echte
literarische Qualitäten aufweist.«
»Doch nicht etwa Große Erwartungen? «
Acheron blickte ihn mitleidig an. »Dickens ist abgehakt, Mr. Next.
Wie gern hätte ich mich in Hamlet eingeschlichen und diesen
depressiven Dänenprinzen erwürgt, oder gleich in Romeo und Julia,
um diesen kleinen Scheißer aus Verona endlich verschwinden zu
lassen.« Er seufzte, bevor er weitersprach. »Aber leider ist ja keins
von Shakespeares Originalmanuskripten erhalten.« Er dachte einen
Augenblick nach. »Aber die Bennetts könnten eventuell auf das eine
oder andere Familienmitglied verzichten …«
» Stolz und Vorurteil?« brüllte Mycroft. »Sie herzloses Ungeheuer!«
»Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit, Mycroft.
Ohne Darcy und Elizabeth wäre Stolz und Vorurteil doch ziemlich
fad, oder? Aber Austen ist vielleicht nicht ganz das richtige. Wie
wär’s mit Trollope? Eine geschickt plazierte Nagelbombe in
Barchester wäre bestimmt lustig. Der Verlust von Mr. Crawley würde
ohne Zweifel hohe Wellen schlagen. Wie Sie sehen, mein lieber
Mycroft, könnte sich die Rettung Mr. Chuzzlewits im nachhinein als
äußerst töricht erweisen.«
Lächelnd wandte er sich an Felix8: »Mein Freund, warum ziehen
Sie nicht einige Erkundigungen zu Umfang und Verbleib der
Manuskripte ein?«
Felix8 blieb kühl: »Ich bin nicht Ihr Sekretär, Sir. Ich finde, Mister
Hobbes wäre für diese Aufgabe wesentlich besser geeignet.«
Acheron runzelte die Stirn. Von allen Felixen hatte nur Felix3 es je
gewagt, einen direkten Befehl zu verweigern. Bald darauf hatte er den
Armen aufgrund einer überaus enttäuschenden Leistung anläßlich
- 250 -
eines mißlungenen Überfalls exekutieren müssen. Aber das war
Acherons eigene Schuld; um Felix3 etwas mehr Persönlichkeit zu
geben, hatte er ihm einen Hauch von Moral gelassen. Seither waren
ihm sämtliche Felixe nur mehr treue Diener; wenn er intellektueller
Stimulanz bedurfte, hielt er sich an Hobbes und Dr. Müller.
»Hobbes!« schrie Hades aus vollem Hals. Der arbeitslose
Schauspieler kam mit einem großen Holzlöffel in der Hand aus der
Küche gelaufen.
»Ja, Herr?«
Acheron wiederholte seinen Befehl, und Hobbes zog sich mit einer
tiefen Verbeugung zurück.
»Felix8!«
»Sir?«
»Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, schließen Sie Mycroft in
seinem Zimmer ein. Ich denke, wir werden eine Weile auf ihn
verzichten können. Geben Sie ihm zwei Tage kein Wasser und fünf
Tage nichts zu essen. Das sollte als Strafe für die Vernichtung des
Manuskripts genügen.«
Felix8 nickte und entfernte Mycroft aus dem Salon des Hotels. Er
zerrte ihn quer durch die Halle und die breite Marmortreppe hinauf.
Außer ihnen befand sich niemand in dem modrigen alten Gebäude; die
große Eingangstür war fest verschlossen.
Am Fenster blieb Mycroft stehen und sah hinaus. Er war schon
einmal in der walisischen Hauptstadt gewesen, um auf Einladung der
Republik einen Vortrag über die Kohlehydrierung zu halten. Auch
damals hatte er in diesem Hotel gewohnt. Er hatte der Crème de la
crème aus Politik und Wissenschaft die Hand geschüttelt; und sogar
Brawd Uljanow, der über achtzigjährige Führer der Volksrepublik
Wales, hatte ihm eine der seltenen Audienzen gewährt. Das mußte
jetzt fast dreißig Jahre her sein, aber die tiefliegende Stadt hatte sich
kaum verändert. Damals wie heute dominierte Schwerindustrie die
karge Landschaft, und der Gestank von Eisenhütten schwängerte die
Luft. In den letzten Jahren waren viele Bergwerke geschlossen
worden, aber die Fördertürme standen noch; ehern wachten sie als
- 251 -
dunkle Silhouetten über die flachen, schiefergedeckten Häuser. Hoch
über der Stadt, auf Morlais Hill, blickte die gigantische
Kalksteinstatue von John Frost auf die Republik hinab, die er
gegründet hatte; Gerüchten zufolge gab es Bestrebungen, die
Hauptstadt aus dem industrialisierten Süden zu verlegen, doch dazu
war Merthyr als spirituelles Zentrum zu bedeutend.
Sie gingen weiter und gelangten schließlich zu Mycrofts Zelle, einer
spärlich möblierten, fensterlosen Kammer. Als die Tür hinter ihm ins
Schloß fiel und er allein war, kehrten Mycrofts Gedanken zu dem
zurück, was ihm am meisten Sorgen machte: Polly. Zwar hatte er
immer schon gewußt, daß sie bisweilen zum Flirten neigte, dem aber
keine besondere Bedeutung beigemessen; Mr. Wordsworths
anhaltendes Interesse an seiner Frau jedoch erfüllte ihn mit einer
gehörigen Portion Eifersucht.
- 252 -
25.
Zeit zum Nachdenken
Ich hatte ja keine Ahnung, daß Martin Chuzzlewit so
populär war. Niemand von uns rechnete mit dem
Aufschrei der Entrüstung und dem ungeheuren
Medienecho, das Mr. Quaverleys Ermordung hervorrief.
Seine Autopsie war eine Sensation; zu seiner Beerdigung
kamen 150.000 Dickens-Fans aus aller Welt. Braxton
Hicks versuchte die LitAg-Beteiligung geheimzuhalten,
doch die Katze war im Handumdrehen aus dem Sack.
BOWDEN CALBE
im Gespräch mit der Owl
Commander Hicks knallte die Zeitung vor uns auf den Schreibtisch.
Er lief noch ein paar Schritte hektisch auf und ab, bevor er sich
schwerfällig in seinen Sessel fallen ließ.
»Ich will wissen, wer die Presse informiert hat«, verkündete er. Jack
Schitt stand gegen den Fensterrahmen gelehnt, beobachtete uns und
rauchte eine kleine, dafür aber besonders übelriechende türkische
Zigarette. Die Schlagzeile war eindeutig:
CHUZZLEWIT-MORD: SPECOPS SCHULD?
Der Artikel zitierte eine »namentlich nicht genannte Quelle« aus
Swindoner SpecOps-Kreisen, der zufolge eine verpatzte
Lösegeldzahlung Quaverleys Tod verursacht hatte. Zwar ging es in
dem Bericht wie Kraut und Rüben durcheinander, doch die
grundlegenden Fakten stimmten.
Die ganze Geschichte war Hicks derart an die Nieren gegangen, daß
er sein geliebtes Budget um eine beträchtliche Summe überzogen
hatte, um Hades’ Aufenthaltsort zu ermitteln. Das ausgebrannte
Wrack des Erkundungsflugzeugs, das Bowden und ich verfolgt hatten,
war auf einem Feld auf der englischen Seite von Hay-on-Wye
- 253 -
gefunden worden, zusammen mit dem falschen Gainsborough und der
mit Blüten gefüllten Geldtasche. Acheron hatte sich nicht für dumm
verkaufen lassen. Wir alle waren davon überzeugt, daß Hades sich in
Wales aufhielt, doch selbst politische Intervention auf höchster Ebene
blieb erfolglos – obgleich der walisische Innenminister feierlich
versichert hatte, daß man sich keinesfalls dazu herablassen werde,
einem so berüchtigten Verbrecher Unterschlupf zu gewähren. Da wir
auf der walisischen Seite der Grenze nichts zu melden hatten,
konzentrierten wir unsere Suche auf die Marches – vergebens.
»Wir waren es nicht«, sagte Victor. »Schließlich bringen uns
Presseberichte keine Vor-, sondern nur Nachteile.« Er blickte zu Jack
Schitt; der zuckte die Achseln.
»Gucken Sie mich nicht so an«, sagte Schitt kühl, »ich bin nur als
Beobachter im Auftrag von Goliath hier.«
Hicks erhob sich und lief nervös auf und ab. Bowden, Victor und ich
sahen ihm schweigend dabei zu. Hicks tat uns leid; er war kein übler
Kerl, nur ein Schwächling. Die Chuzzlewit-Entführung war eine
mißliche Angelegenheit, und wenn Hicks nicht schleunigst etwas
unternahm, konnte ihn das seinen Job kosten.
»Hat jemand eine Idee?«
Wir sahen ihn an. Wir hatten zwar ein paar Ideen, wollten aber auf
keinen Fall in Schitts Gegenwart darüber sprechen. Seit wir wußten,
daß er uns an jenem Abend in Archers Werkstatt ohne weiteres hätte
abknallen lassen, war Goliath für uns erledigt.
»Ist Mrs. Delamare gefunden worden?«
»Ja, und es geht ihr gut«, antwortete ich. »Sie hat sich übrigens sehr
darüber gefreut, daß wir eine Autobahnraststätte nach ihr benannt
haben. Sie hat ihren Sohn seit fünf Jahren nicht gesehen, wird aber
überwacht, nur für den Fall, daß er sich bei ihr meldet.«
»Gut«, murmelte Braxton. »Was noch?«
Victor ergriff das Wort.
»Unseres Wissens hat Hades Felix7 schon ersetzt. Ein junger Mann
aus Reading namens Danny Chance wird vermißt; sein Gesicht wurde
- 254 -
in einem Papierkorb im dritten Stock seines Wohnhauses gefunden.
Wir haben die Fotos der Leiche von Felix7 an alle Einsatzkräfte
weitergeleitet; sie müßten eigentlich auch auf den neuen Felix
passen.«
»Sind Sie sicher, daß Archer nichts weiter gesagt hat als ›Felix7‹,
bevor Sie ihn erschossen haben?«
»Hundertprozentig«, log Bowden, ohne rot zu werden.
Mißmutig kehrten wir in unser Büro zurück. Wenn Hicks tatsächlich
seinen Hut nehmen mußte, konnte das zu gefährlichen Verwerfungen
innerhalb der Abteilung führen, außerdem durfte ich Mycroft und
Polly nicht vergessen. Victor hängte seine Jacke auf und fragte
Finisterre, ob sich etwas verändert habe. Finisterre blickte von einer
abgegriffenen Chuzzlewit-Ausgabe auf. Seit Acherons Flucht lasen
Bailey, Herr Beicht und er den Roman im Vierundzwanzig-StundenSchichtdienst. Bislang hatte sich verblüffenderweise gar nichts
verändert. Die Forty-Brüder verfolgten die einzige Information, die
wir SO-5 und Goliath voraushatten. Kurz vor seinem Ableben hatte
Sturmey Archer einen gewissen Dr. Müller erwähnt, und danach
wurden die Datenbanken von Polizei und SpecOps jetzt durchkämmt
– unter größter Geheimhaltung und Diskretion allerdings, was die
Suche so zeitraubend machte.
»Gibt’s was Neues, Jeff?« fragte Victor und krempelte sich die
Hemdsärmel auf.
Jeff hustete. »In England sind keine Dr. Müllers registriert, weder
med. noch phil. …«
»Dann ist es also ein falscher Name.«
»… die noch am Leben wären.« Jeff lächelte. »Aber 1972 saß ein
gewisser Dr. Müller im Gefängnis in Parkhurst.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Zur selben Zeit, als Delamare wegen Betrugs in den Knast ging.«
»Das wird ja immer besser.«
»Und Delamare teilte sich die Zelle mit einem gewissen Felix
Tabularasa.«
- 255 -
»Da bekommt die Sache doch gleich ein ganz anderes Gesicht«,
murmelte Bowden.
»Wohl wahr. Gegen Dr. Müller wurde bereits wegen des Handels
mit Spendernieren ermittelt. Er beging ’74 kurz vor der Verhandlung
Selbstmord. Er schwamm aufs Meer hinaus, nicht ohne vorher einen
Abschiedsbrief zu hinterlassen. Seine Leiche wurde nie gefunden.«
Victor rieb sich triumphierend die Hände.
»Klingt nach vorgetäuschtem Exitus. Nur wie, bitte schön, sollen
wir einen Toten jagen?«
Jeff hielt ein Fax in die Höhe. »Ich mußte bei der Ärztekammer
klafterweise Süßholz raspeln; die geben normalerweise keine
Personalakten heraus, egal ob der Betreffende lebendig ist oder tot,
aber hier ist sie.«
Victor riß ihm das Fax aus der Hand und las die entscheidenden
Absätze laut vor.
»Theodore Müller. Studierte zunächst Physik, bevor er auf Medizin
umsattelte. ’74 wurde ihm wegen grob standeswidrigen Verhaltens die
Approbation entzogen. Er spielte in Cambridge den Hamlet, und das
nicht einmal schlecht, war ein hervorragender Tenor, Angehöriger des
Ehrwürdigen Wombat-Ordens, begeisterter Eisenbahn-Späher und
Gründungsmitglied der Erdkreuzer.«
»Hmm«, machte ich. »Wahrscheinlich frönt er seinen alten Hobbys
heute noch und benutzt bloß einen falschen Namen.«
»Was schlagen Sie vor?« fragte Victor. »Sollen wir auf die nächste
Lokomotivenschau warten? Wenn mich nicht alles täuscht, verteidigt
die Mallard nächsten Monat ihren Geschwindigkeitsrekord.«
»Zu spät.«
»Die Wombats geben die Namen ihrer Mitglieder nie preis«,
bemerkte Bowden.
Victor nickte. »Das war’s dann wohl.«
»Nicht unbedingt«, sagte ich langsam.
»Was schlagen Sie vor?«
- 256 -
»Ich dachte, es könnte jemand das nächste Erdkreuzertreffen zu
infiltrieren versuchen.«
»Die Erdkreuzer?« sagte Victor. »Da läuft nichts, Thursday.
Komische Heilige, die auf entlegenen Hügeln heimlich sonderbare
Rituale praktizieren? Haben Sie eine Ahnung, was man über sich
ergehen lassen muß, um in diesen exklusiven Verein aufgenommen zu
werden?«
Ich lächelte und warf meinem Chef einen prüfenden Blick zu. »Die
Mitglieder sind hauptsächlich namhafte und angesehene Akademiker
reiferen Alters.«
Victor sah von mir zu Bowden. »Dieser Blick gefällt mir nicht, Frau
Kollegin«, sagte er pointiert.
Aber Bowden hatte schon hektisch in der aktuellen Ausgabe des
Almanachs der Astronomen zu blättern begonnen. »Na, wer sagt’s
denn? Hier steht, sie treffen sich übermorgen um 14 Uhr auf dem
Liddington Hill. Uns bleiben also fünfundfünfzig Stunden
Vorbereitungszeit.«
»Auf keinen Fall«, protestierte Victor empört. »Und wenn Sie sich
auf den Kopf stellen, ich werde mich auf keinen Fall, ich wiederhole,
auf gar keinen Fall als Erdkreuzer ausgeben. Ich weigere mich, den
verdeckten Ermittler zu machen.«
- 257 -
26.
Die Erdkreuzer
Ein Asteroid kann klein sein wie eine Männerfaust oder
groß wie ein Berg. Asteroiden sind der Schutt des
Sonnensystems, die Trümmer, die zurückbleiben, wenn
die galaktischen Sprengmeister ihre Arbeit verrichtet
haben. Die meisten Asteroiden findet man zwischen Mars
und Jupiter. Obwohl ihre Zahl in die Millionen geht,
bringen sie es zusammengenommen doch nur auf einen
Bruchteil der Masse der Erde. Hin und wieder schneidet
ein Asteroid die Umlaufbahn unseres Planeten und wird
damit zum Erdkreuzer. Für die Erdkreuzer-Gesellschaft
kommt die Ankunft eines Asteroiden auf einem Planeten
der Rückkehr eines verirrten Ausreißers, eines verlorenen
Sohnes gleich. Sie ist ein höchst bedeutendes Ereignis.
MR. S. A. ORBITER
- Die Erdkreuzer
Von Liddington Hill blickt man auf Wroughton, den einstigen RAF-und zeitweiligen Luftwaffen- Stützpunkt. Der flache Hügel ist zudem
Teil einer von mehreren aus der Eisenzeit stammenden
Befestigungsanlagen rings um die Marlborough und Lambourn
Downs.
Doch nicht die Altertümer hatten die Erdkreuzer angelockt. Sie
folgten vielmehr den wunderlichen Weissagungen ihres Gewerbes und
trafen sich scheinbar willkürlich mal hier, mal dort, in nahezu
sämtlichen Ländern dieser Welt. Dabei gingen sie immer nach
derselben Methode vor: Wenn sie sich auf einen Treffpunkt geeinigt
hatten, schlossen sie mit den Eigentümern einen lukrativen Vertrag
über dessen uneingeschränkte Nutzung und zogen etwa vier Wochen
vorher dort ein, wobei entweder die örtlichen Sicherheitsbehörden
- 258 -
oder aber jüngere Mitglieder der Gruppe dafür sorgten, daß sich kein
Außenstehender einschleichen konnte.
Vermutlich gelang es den militanten Astronomen auf diese Weise,
ihr Treiben streng geheimzuhalten. Eine annähernd perfekte Tarnung
für Dr. Müller, der die Gesellschaft Anfang der fünfziger Jahre
zusammen mit Samuel Orbiter, einem seinerzeit recht populären
Fernseh-Astronomen, ins Leben gerufen hatte.
Victor stellte den Wagen ab und ging unbekümmert auf die beiden
Gorillas zu, die neben einem Land Rover Posten schoben. Victor sah
nach links und rechts. Alle dreihundert Meter stand eine Gruppe
bewaffneter Wachleute mit Hunden und Walkie-talkies und hielt nach
Eindringlingen Ausschau. Da war kein Durchkommen. Wenn man
unbemerkt irgendwo hineingelangen wollte, ging man am besten
durch die Tür und tat so, als wäre man dort zu Hause.
»Tag«, sagte Victor und versuchte, einfach an den Gorillas
vorbeizumarschieren. Aber das mißlang gründlich. Einer der beiden
stellte sich ihm in den Weg und legte ihm seine Pranke auf die
Schulter.
»Guten Tag, Sir. Schönes Wetter heute. Darf ich Ihren Ausweis
sehen?«
»Natürlich«, antwortete Victor, kramte in seiner Tasche und
präsentierte den Ausweis, den er hinter ein halbblindes
Plastiksichtfenster seines Portemonnaies gequetscht hatte. Wenn ihn
die Gorillas herauszogen und feststellten, daß es sich um eine
Fotokopie handelte, war alles aus.
»Ich habe Sie hier noch nie gesehen, Sir«, sagte der andere
Aufpasser argwöhnisch.
»Nein«, sagte Victor ruhig, »wenn Sie sich meine Karte anschauen,
werden Sie feststellen, daß ich zum Spiralarm Berwick-upon-Tweed
gehöre.«
Der erste Gorilla reichte Victors Portemonnaie seinem Kollegen.
»Das wäre nicht der erste Infiltrant, nicht wahr, Mr. Europa?«
Der zweite Gorilla gab Victor das Portemonnaie grunzend zurück.
- 259 -
»Name?« fragte der erste und hielt ein Klemmbrett hoch.
»Ich stehe wahrscheinlich nicht auf der Liste«, sagte Victor
langsam. »Ich bin gewissermaßen ein Nachzügler. Ich habe Dr. Müller
deswegen gestern angerufen.«
»Ich kenne keinen Dr. Müller«, sagte der erste, sog Luft durch die
Zähne und sah Victor aus schmalen Augenschlitzen an, »aber wenn
Sie tatsächlich Erdkreuzer sind, können Sie mir doch bestimmt sagen,
welcher Planet die höchste Dichte hat?«
Victor blickte von einem zum anderen und lachte. Die Gorillas
lachten mit.
»Selbstverständlich.«
Er versuchte, einen Schritt weiterzugehen, und das Lächeln wich
von den Gesichtern der Gorillas. Einer von ihnen streckte seine
mächtige Pratze aus und hielt Victor zurück.
»Und?«
»Das ist grotesk«, sagte Victor empört. »Ich bin seit dreißig Jahren
Erdkreuzer und habe so etwas noch nie erlebt.«
»Wir haben was gegen Eindringlinge«, wiederholte der erste Mann.
»Die bringen uns nur in Verruf. Soll ich Ihnen verraten, was wir mit
Schwindlern anstellen? Also. Noch mal. Welcher Planet hat die
höchste Dichte?«
Die beiden Männer starrten Victor bedrohlich an.
»Die Erde. Und die niedrigste hat Pluto. Zufrieden?«
Doch so leicht ließen sich die beiden Wachleute nicht überzeugen.
»Das ist doch Kinderkram, Mister. Wie lange dauert ein
Wochenende auf Saturn?«
Bowden und ich saßen zwei Meilen entfernt in Bowdens Wagen,
rechneten hektisch und gaben Victor die Antwort über Funk auf den
Ohrhörer. Unser Wagen war bis obenhin mit astronomischer
Fachliteratur vollgestopft; wir konnten nur hoffen, daß die beiden
keine allzu ausgefallenen Fragen stellten.
- 260 -
»Zwanzig Stunden«, flüsterte Bowden ins Mikrofon.
»Etwa zwanzig Stunden«, sagte Victor zu den Wachmännern.
»Umlaufgeschwindigkeit des Merkur?«
»Im Aphelium oder im Perihelium?«
»Jetzt werden Sie mal nicht frech, junger Mann. Der Durchschnitt
genügt.«
»Moment. Ich muß die beiden addieren und – ach, du liebe Zeit, ist
das etwa ein Buchfink?«
Die beiden Männer drehten sich nicht um.
»Und?«
»Ähm, hundertsechstausend Meilen pro Stunde.«
»Die Uranusmonde?«
»Die Uranusmonde?« echote Victor, um Zeit zu schinden. »Wußten
Sie, daß das Uran nur deshalb nach dem Uranus heißt, weil es im
selben Jahrzehnt entdeckt wurde?«
»Die Monde, Sir.«
»Natürlich. Oberon, Titania, Umb-«
»Halt! Ein echter Erdkreuzer hätte mit dem innersten angefangen!«
»Cordelia, Ophelia, Bianca, Cressida, Desdemona, Juliet, Portia,
Rosalind, Belinda, Puck, Miranda, Ariel, Umbriel, Titania und
Oberon.«
Die beiden Männer sahen Victor an, nickten und traten dann zurück,
um ihn vorbeizulassen; mit einem Mal waren sie äußerst höflich, ja
beinahe zuvorkommend.
»Danke, Sir. Sie müssen entschuldigen, aber wie Sie sicher wissen,
haben wir viele Gegner, die uns liebend gern ins Handwerk pfuschen
würden. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis für unsere
Vorsichtsmaßnahmen.«
»Natürlich! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Sorgfalt, Gentlemen. Guten
Tag.«
- 261 -
Aber als Victor vorbei wollte, hielten sie ihn erneut zurück. »Haben
Sie nicht etwas vergessen, Sir?«
Victor drehte sich um. Ich hatte von Anfang an befürchtet, daß es so
etwas wie eine Parole gab, und wenn sie die jetzt hören wollten, waren
wir geliefert. Victor beschloß, den beiden die Initiative zu überlassen.
»Haben Sie ihn vielleicht im Wagen vergessen?« fragte der erste
Mann schließlich. »Hier, nehmen Sie solange meinen.«
Der Wachmann griff in sein Jackett und holte nicht etwa eine Waffe,
wie Victor gefürchtet hatte, sondern einen gewaltigen
Baseballhandschuh daraus hervor. Er überreichte ihn Victor mit einem
herzlichen Lächeln. »Ich werde es heute vermutlich sowieso nicht auf
den Berg schaffen.«
Victor schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ein Gedächtnis wie
ein Sieb. Ich muß ihn zu Hause liegengelassen haben. Stellen Sie sich
vor, da fahre ich zu einem Erdkreuzertreffen und vergesse meinen
Baseballhandschuh!«
Die beiden Wachtposten lachten artig mit; dann sagte der erste:
»Viel Vergnügen, Sir. Der Einschlag findet um 14 Uhr 32 statt.
Vielleicht haben Sie Glück!«
Er dankte den beiden und sprang in den wartenden Land Rover,
bevor sie es sich anders überlegten. Mißtrauisch betrachtete er den
Handschuh. Was, um Himmels willen, ging dort oben vor?
Der Land Rover setzte ihn am Osteingang der Hügelfestung ab, wo
etwa fünfzig stahlbehelmte Männer und Frauen durcheinanderliefen.
In der Festungsmitte stand ein großes Zelt mit zahllosen Antennen und
einer gigantischen Satellitenschüssel auf dem Dach. Ein Stück den
Hügel hinauf drehte sich langsam eine Radarantenne. Er hatte ein
riesiges Teleskop oder so etwas erwartet, doch nichts dergleichen war
zu sehen.
»Name?«
Victor fuhr herum; vor ihm stand ein kleiner Mann und starrte ihn
an. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand, einen Stahlhelm auf dem
- 262 -
Kopf und schien seine begrenzte Autorität über die Maßen zu
genießen.
Victor versuchte es mit einem Bluff. »Das da bin ich«, sagte er und
zeigte auf einen Namen am Ende der Liste.
»Dann sind Sie also Mr. Bitte Wenden?«
»Darüber«, entgegnete Victor eilig.
»Mrs. Trotswell?«
»Hmm, äh, nein. Ceres. Augustus Ceres.«
Der kleine Mann sah in seiner Liste nach und ging die Namen der
Reihe nach mit seinem stählernen Kugelschreiber durch.
»Hier gibt es niemanden dieses Namens«, sagte er langsam und
beäugte Victor mißtrauisch.
»Ich bin aus Berwick-upon-Tweed«, erklärte Victor. »Nachzügler.
Hat Ihnen denn niemand Bescheid gesagt? Dr. Müller meinte, ich
könne jederzeit vorbeikommen.«
Der kleine Mann erschrak. »Müller? Wir haben hier niemanden
dieses Namens. Sie meinen vermutlich Dr. Cassiopeia.« Er zwinkerte
ihm grinsend zu. »So weit, so gut«, setzte er hinzu, sah erst auf seine
Liste und blickte sich dann in der Festung um, »die Außenposten sind
schwach besetzt. Sie können B3 übernehmen. Haben Sie einen
Handschuh? Gut. Wie steht’s mit einem Helm? Macht nichts. Hier,
nehmen Sie meinen; ich hole mir einen neuen aus dem Lager.
Einschlag um 14 Uhr 32. Schönen Tag noch.«
Victor nahm den Helm und ging in die Richtung, in die der kleine
Mann gezeigt hatte.
»Haben Sie gehört, Thursday?« zischte er. »Dr. Cassiopeia.«
»Ja«, antwortete ich. »Mal sehen, ob wir was über ihn rausfinden
können.«
Bowden sprach schon mit Finisterre, der im Büro auf eine
ebensolche Anfrage gewartet hatte.
- 263 -
Victor stopfte seine Bruyèrepfeife und ging gemächlich in Richtung
Posten B3, als ihn ein Mann in dicker Winterjacke fast über den
Haufen rannte. Er kannte Dr. Müllers Gesicht von dem
Verbrecherfoto. Victor lüftete den Hut, entschuldigte sich und ging
weiter.
»Warten Sie!« rief Müller. Victor drehte sich um. Müller starrte ihn
mit hochgezogener Augenbraue an.
»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal woanders gesehen?«
»Nein, es war immer schon da, wo es ist«, versuchte Victor die
Situation mit einem Scherz zu überspielen. Müller starrte ihn mit
ausdrucksloser Miene an, während Victor weiter seine Pfeife stopfte.
»Ich weiß genau, daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe«,
fuhr Müller fort, doch Victor konnte so leicht nichts erschüttern.
»Das glaube ich kaum«, widersprach er und streckte die Hand aus.
»Ceres«, setzte er hinzu. »Vom Spiralarm Berwick-upon-Tweed.«
»Ach, Berwick-upon-Tweed?« sagte Müller. »Dann kennen Sie
doch bestimmt auch meinen guten Freund und Kollegen Professor
Barnes?«
»Nie von ihm gehört«, gestand Victor; Müller wollte ihn vermutlich
auf die Probe stellen. Müller sah lächelnd auf seine Armbanduhr.
»Einschlag in sieben Minuten, Mr. Ceres. Sie sollten langsam Posten
beziehen.«
Victor steckte seine Pfeife an und ging in die Richtung, die man ihm
gewiesen hatte. In der Erde steckte ein Pflock mit der Aufschrift B3;
er stellte sich daneben und kam sich reichlich albern vor. Die anderen
Erdkreuzer hatten ihre Helme aufgesetzt und suchten den westlichen
Himmel ab. Victor blickte sich um und erregte die Aufmerksamkeit
einer attraktiven Frau seines Alters, die ein paar Schritte weiter an B2
Aufstellung genommen hatte.
»Hallo!« sagte er fröhlich und tippte sich an den Helm.
Die Frau klimperte verschämt mit den Wimpern.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
- 264 -
»Tipptopp!« erwiderte Victor elegant und setzte rasch hinzu: »Nun
ja, nicht ganz. Das ist mein erstes Mal.«
Die Frau winkte lächelnd mit ihrem Handschuh.
»Es ist kinderleicht. Halten Sie die Augen offen, und fangen Sie nur
mit ausgestrecktem Arm. Mal prasseln sie regelrecht vom Himmel,
mal gucken wir buchstäblich in den Mond, aber wenn Sie einen
erwischen, legen Sie ihn sofort ins Gras. Wenn sie die Erdatmosphäre
passiert haben, sind sie zumeist recht heiß.«
Victor starrte sie fassungslos an. »Soll das heißen, wir fangen
Meteore mit bloßen Händen?«
Das Lachen der Frau klang glockenhell. »Nein, nein, Sie
Dummchen! Dazu haben wir doch die Handschuhe! Außerdem sind es
Meteoriten. Meteore verbrennen in der Atmosphäre. Seit ’64 war ich
bei siebzehn mutmaßlichen Einschlägen dabei. Einmal, ’71 in Terra
del Fuego, hätte ich beinahe einen erwischt. Aber damals«, setzte sie
betrübt hinzu, »hat ja auch mein lieber George noch gelebt …«
Sie sah ihn an und lächelte. Victor erwiderte das Lächeln. Sie fuhr
fort: »Wenn wir heute Zeugen eines Einschlags werden, ist das der
erste korrekt vorhergesagte Einschlag in Europa. Stellen Sie sich vor,
Sie fangen einen Meteoriten! Sie sind der Schutt, der bei der
Schöpfung des Universums vor viereinhalb Milliarden Jahren
entstand! Das ist wie die Heimkehr eines verlorenen Sohnes!«
»Sehr … poetisch«, befand Victor stockend, während ich ihm über
Funk ins Ohr flüsterte.
»In unserer Kartei gibt es keinen Dr. Cassiopeia«, sagte ich. »Lassen
Sie ihn um Himmels willen nicht aus den Augen!«
»Ist gut«, antwortete Victor und hielt Ausschau nach Dr. Müller.
»Wie bitte?« fragte die Frau auf B2, die ihn und nicht etwa den
Himmel angestarrt hatte.
»Ist gut«, erwiderte Victor hastig, »wenn ich, äh, einen fange, lasse
ich ihn sofort fallen.«
Ein Lautsprecher plärrte: »Zwei Minuten bis zum Einschlag.« Ein
Raunen ging durch die Menge.
- 265 -
»Viel Glück!« sagte die Frau, zwinkerte ihm einladend zu und
starrte in den wolkenlosen Himmel.
Plötzlich sagte eine Stimme dicht hinter Victor: »Jetzt weiß ich,
woher ich Sie kenne.«
Victor drehte sich um und starrte in das ausgesprochen
unangenehme Gesicht Dr. Müllers. Ein Stück hinter ihm stand ein
stämmiger Wachmann mit der Hand in der Innentasche seines
Jacketts.
»Sie sind SpecOps-Agent. Ein LitAg. Victor Analogy, nicht wahr?«
»Nein, mein Name ist Dr. Augustus Ceres, Berwick-upon-Tweed.«
Nervös lachend setzte Victor hinzu: »Victor Analogy! Was ist denn
das für ein Name?«
Müller winkte seinem Leibwächter, der mit gezogener Automatik
auf Victor losging. Er sah aus, als könne er es kaum erwarten, sie zu
benutzen.
»Tut mir leid, mein Freund«, sagte Müller freundlich, »aber das
genügt mir nicht. Wenn Sie wirklich Analogy sind, haben Sie hier
nichts zu suchen. Sollten Sie sich jedoch tatsächlich als Dr. Ceres aus
Berwick-upon-Tweed entpuppen, bitte ich vielmals um
Entschuldigung.«
»Moment mal …«, begann Victor, doch Müller ließ ihn gar nicht
erst zu Wort kommen.
»Ich gebe Ihrer Familie dann Bescheid, wo sie die Leiche findet«,
sagte er großmütig.
Victor blickte sich hilfesuchend um, doch alle anderen Erdkreuzer
starrten bloß in den Himmel.
»Leg ihn um.«
Lächelnd krümmte der Leibwächter den Finger am Abzug. In
diesem Augenblick hörte Victor ein Heulen am Himmel, und ein
verirrtet Meteorit krachte auf den Helm des Wachmannes. Der
Leibwächter kippte um wie ein Kartoffelsack, die Pistole ging los, und
das Projektil durchschlug Victors Baseballhandschuh. Plötzlich
schwirrte die Luft von rotglühenden Meteoriten, die jaulend zur Erde
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regneten. Der heftige Schauer stürzte die versammelten Erdkreuzer
gänzlich in Verwirrung; sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie in
Deckung gehen oder versuchen sollten, die Meteoriten zu fangen.
Müller kramte in seiner Jackentasche nach seiner Pistole, als
plötzlich ganz in der Nähe jemand »Achtung!« rief. Beide wirbelten
herum, doch nicht Müller, sondern Victor fing den kleinen Meteoriten.
Er hatte in etwa die Größe eines Kricketballs und glühte leuchtend rot.
Victor warf ihn Müller zu, der instinktiv die Hand danach ausstreckte.
Leider trug er keinen Baseballhandschuh. Erst hörte man ein Zischen,
dann ein Jaulen und schließlich einen Schmerzensschrei, als Victor
ihm mit einer Gewandtheit, die man einem Fünfundsiebzigjährigen
niemals zugetraut hätte, einen Kinnhaken versetzte. Müller fiel um
wie ein Kegel, und Victor hechtete nach der am Boden liegenden
Waffe. Er hielt sie Müller ins Genick, zog ihn hoch und stieß ihn vor
sich her zum Ausgang der Hügelfestung. Der Meteoritenschauer ließ
nach, und ich mahnte ihn über Funk zur Vorsicht.
»Sie sind Analogy, stimmt’s?« fragte Müller.
»Stimmt. SpecOps-27. Und Sie sind vorläufig festgenommen.«
Victor, Bowden und ich saßen mit Müller in Verhörraum 3, als Hicks
und Schitt erfuhren, wen wir da geschnappt hatten. Victor hatte Müller
gerade erst nach seinem Namen gefragt, als die Tür aufflog. Es war
Schitt, flankiert von zwei SO-9-Agenten, die keinen besonders
humorvollen Eindruck machten.
»Mein Gefangener, Analogy.«
»Mein Gefangener, Mr. Schitt«, hielt Victor nachdrücklich dagegen.
»Meine Festnahme, mein Zuständigkeitsbereich; ich vernehme Dr.
Müller im Fall Chuzzlewit.«
Jack Schitt wandte sich zu Commander Hicks um, der hinter ihm
stand.
»So leid es mir tut, Victor, aber die Swindoner Sektionen SO-9 und
SO-27 fallen ab sofort unter die Zuständigkeit der Goliath Corporation
und ihres örtlichen Repräsentanten. Wer dem amtierenden SpecOps
- 267 -
Kommandanten Schitt relevante Informationen und/oder Unterlagen
vorenthält, kann wegen Behinderung einer laufenden Ermittlung
strafrechtlich belangt werden. Ist Ihnen klar, was das heißt?«
»Das heißt, daß Schitt tun und lassen kann, was er will«, erwiderte
Victor.
Ȇbergeben Sie Ihren Gefangenen, Victor. Die Goliath Corporation
hat Vorrang.«
Victor starrte ihn wütend an und bahnte sich einen Weg zur Tür
hinaus.
»Ich möchte bleiben«, bat ich.
»Nichts zu machen«, befand Schitt. »Der SO-27-Sicherheitsstatus
reicht in diesem Fall nicht aus.«
»Wie gut«, gab ich zurück, »daß ich meine SO-5-Marke noch
habe.«
Jack Schitt fluchte, sagte jedoch weiter nichts. Bowden wurde
hinausgeschickt, und die beiden SO-9-Agenten postierten sich links
und rechts der Tür; Schitt und Hicks setzten sich an den Tisch, wo
Müller scheinbar desinteressiert eine Zigarette rauchte. Ich lehnte
mich gegen die Wand und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
»Keine Angst, der holt mich hier raus«, sagte Müller langsam und
verzog den Mund zu einem seltenen Lächeln.
»Das glaube ich kaum«, meinte Schitt. »Die Swindoner SpecOpsZentrale ist im Augenblick von mehr SO-9-Agenten und SEK-Leuten
umstellt, als Sie in einem Monat zählen können. Nicht mal ein Irrer
wie Hades würde versuchen, hier reinzukommen.«
Das Lächeln wich von Müllers Lippen.
»SO-9 ist die beste Antiterroreinheit der Welt«, fuhr Schitt fort.
»Keine Angst, wir kriegen ihn. Die Frage ist nur, wann. Und wenn Sie
uns helfen, stehen Sie vor Gericht vielleicht gar nicht so schlecht da.«
Doch davon ließ sich Müller nicht beirren.
»Und weil Ihre SO-9-Agenten die besten der Welt sind, hat mich ein
fünfundsiebzigjähriger LitAg festgenommen?«
- 268 -
Darauf wußte Jack Schitt keine Antwort. Müller wandte sich an
mich.
»Und wenn Ihre SO-9 tatsächlich so eine heiße Nummer ist, warum
ist es dann ausgerechnet der jungen Dame hier gelungen, Hades in die
Enge zu treiben?«
»Ich hatte Glück«, antwortete ich und setzte hinzu: »Wieso hat
Acheron Martin Chuzzlewit nicht umgebracht? Leere Drohungen sind
doch sonst nicht sein Stil.«
»Wohl wahr«, bestätigte Müller. »Wohl wahr.«
»Beantworten Sie die Frage, Müller«, fuhr Schitt ihn an. »Ich kann
sehr ungemütlich werden.«
Müller lächelte ihn an. »Nicht halb so ungemütlich wie Acheron. Im
Who’s Who des Verbrechens gibt er als Hobbys Folter und Floristik
an.«
»Wollen Sie im Knast versauern?« fragte Hicks, um auch etwas zum
Gespräch beizutragen. »Entweder Sie machen sich schon mal auf
fünfmal lebenslänglich gefaßt. Oder Sie marschieren in ein paar
Minuten als freier Mann hier raus. Was ist Ihnen lieber?«
»Sie können machen, was Sie wollen, Officers. Von mir erfahren
Sie kein Sterbenswörtchen. Hades holt mich raus, egal wie.«
Müller verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Eine Zeitlang
herrschte Schweigen. Schließlich beugte Schitt sich vor und stellte den
Casettenrecorder ab. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche
und hängte es über die Videokamera in der Ecke des Verhörraums.
Hicks und ich wechselten nervöse Blicke. Müller schaute zu, wirkte
jedoch nicht sonderlich beunruhigt.
»Also, noch mal von vorn«, sagte Schitt, zog seine Automatik und
richtete sie auf Müllers Schulter. »Wo steckt Hades?«
Müller sah ihn an. »Entweder Sie erledigen mich jetzt, oder Hades
erledigt mich, wenn er dahinterkommt, daß ich gesungen habe. Tot
bin ich so oder so, und Ihre Methode ist wahrscheinlich nicht
annähernd so schmerzhaft wie Acherons. Ich habe ihn in Aktion
gesehen. Sie haben ja keine Ahnung, wozu der Mann fähig ist.«
- 269 -
»Ich schon«, sagte ich langsam.
Schitt entsicherte die Automatik. »Ich zähle bis drei.«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen …!«
»Eins.«
»Er würde mich umbringen.«
»Zwei.«
Das war mein Stichwort. »Wir könnten Sie in Schutzgewahrsam
nehmen.«
»Schutz? Vor ihm?« rief Müller. »Daß ich nicht lache!«
»Drei!«
Müller schloß die Augen und begann zu zittern. Schitt ließ die
Waffe sinken. So kamen wir nicht weiter. Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Er hat das Manuskript gar nicht mehr, nicht wahr?«
Müller öffnete ein Auge und sah mich an. Genau darauf hatte ich
gewartet.
»Mycroft hat es vernichtet, nicht?« fragte ich weiter. Ich versuchte,
wie mein Onkel zu denken – offenbar mit Erfolg.
»Stimmt das?« wollte Jack Schitt wissen. Müller schwieg.
»Dann braucht er jetzt vermutlich dringend eine Alternative«, gab
Hicks zu bedenken.
»Es gibt Tausende von Originalmanuskripten«, murmelte Schitt.
»Und die können wir unmöglich alle bewachen. Hinter welchem ist er
her?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, stotterte Müller; seine
Entschlossenheit ging langsam, aber sicher zum Teufel. »Er würde
mich umbringen.«
»Er wird Sie mit Sicherheit umbringen, wenn er erfährt, daß Sie uns
die Geschichte mit Mycroft und dem Manuskript verraten haben«,
sagte ich mit ruhiger Stimme.
- 270 -
»Aber das habe ich doch gar nicht …!«
»Woher soll er das wissen? Wir können Sie schützen, Müller, aber
wir müssen Hades fassen. Wo ist er?«
Müller blickte von einem zum anderen.
»Schutzgewahrsam?« stammelte er. »Dazu werden Sie eine kleine
Armee brauchen.«
»Das läßt sich arrangieren«, versicherte Schitt, der für seinen
sparsamen Umgang mit der Wahrheit berühmt war. »Die Goliath
Corporation ist durchaus bereit, sich in dieser Angelegenheit
großzügig zu zeigen.«
»Na schön … ich sag’s Ihnen.«
Er blickte in die Runde und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ist es nicht ziemlich heiß hier drin?« fragte er.
»Nein«, antwortete Schitt. »Wo ist Hades?«
»Also, er ist … im …«
Plötzlich verstummte er. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst, ein
heftiger Stich fuhr ihm ins Kreuz, und er schrie auf vor Schmerz.
»Raus mit der Sprache! Schnell!« rief Schitt, sprang auf und packte
den Gepeinigten am Revers.
»Pen-de-rynnnnnn …«, kreischte er. »Er ist im …!«
»Weiter!« schrie Schitt. »Es gibt wahrscheinlich tausend
Penderyns!«
»Das ist ein Quizzzzzz«, stöhnte Müller. »… aaah! «
»Ich hab die Nase voll von Ihren Spielchen!« brüllte Schitt und
schüttelte Müller. »Raus mit der Sprache, oder ich erwürge Sie mit
bloßen Händen!«
Doch Müller konnte nicht mehr klar denken und war auch für
Schitts Drohungen nur noch begrenzt empfänglich. Sich in Krämpfen
windend, fiel er zu Boden.
- 271 -
»Sanitäter!« schrie ich und kniete mich neben dem konvulsivisch
zuckenden Müller hin, um ihm zu helfen. Aber es war schon zu spät.
Ein stummer Schrei entrang sich seiner Kehle, und er stellte die
Augen auf Null. Der Geruch von versengter Kleidung stieg mir in die
Nase. Ich wich zurück, als eine grelle, orangerote Flamme aus seinem
Jackett schlug. Sie setzte seinen Körper in Brand, und wir räumten
eilig das Feld, während er in der starken Hitze bis zur Unkenntlichkeit
verkohlte; das Ganze dauerte keine vierzig Sekunden.
»Mist!« stieß Schitt hervor, als sich der Rauch verzogen hatte.
Müller war nur noch ein glühendes Häuflein Asche. Das reichte nicht
mal, um ihn zu identifizieren.
»Hades«, murmelte ich. »Eine Art eingebaute Sicherung. Sobald
Müller sich verplappert … puff, geht er in Flammen auf. Raffiniert.«
»Das hört sich an, als ob Sie ihn bewundern würden, Miss Next«,
meinte Schitt. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?«
»Ehre, wem Ehre gebührt.« Ich zuckte die Achseln. »Wie der Hai
hat Acheron sich im Lauf der Jahre zu einem fast perfekten Räuber
entwickelt. Ich habe noch nie Großwild gejagt und würde es auch
niemals tun, aber ich verstehe jetzt, was manche Leute daran so
reizvoll finden. Als erstes«, fuhr ich fort, ohne den qualmenden
Aschehaufen zu beachten, der noch vor kurzem Müller gewesen war,
»müssen wir überall dort, wo Originalmanuskripte aufbewahrt
werden, die Zahl der Wachtposten verdreifachen. Danach müssen wir
jedes noch so abgelegene Penderyn durchsuchen.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Hicks, der nur auf eine
Gelegenheit gewartet hatte, sich aus dem Staub zu machen.
Schitt und ich sahen uns an.
»Sieht aus, als stünden wir auf derselben Seite, Miss Next.«
»Leider«, gab ich zurück. »Sie wollen das ProsaPortal. Ich will
meinen Onkel wiederhaben. Und bevor einer von uns kriegt, was wir
wollen, müssen wir Acheron ausschalten. Ich fürchte, wir müssen eine
Weile zusammenarbeiten.«
- 272 -
»Eine ebenso nützliche wie glückliche Verbindung«, meinte Schitt
grinsend.
Ich stieß einen Finger in seine Krawatte. »Damit wir uns nicht
mißverstehen, Mr. Schitt. Sie mögen die Macht auf Ihrer Seite haben,
aber ich garantiere Ihnen, daß ich alles tun werde, um meine Familie
zu schützen. Verstanden?«
Schitts Blick war eiskalt.
»Versuchen Sie nicht, mir zu drohen, Miss Next. Ich kann Sie
schneller in die LitAg-Außenstelle Lerwick versetzen lassen, als Sie
›Swift‹ sagen können. Vergessen Sie das nicht. Sie sind hier, weil Sie
gut sind. Genau wie ich. Wir sind uns ähnlicher, als Sie glauben.
Schönen Tag noch, Miss Next.«
Die Schnellsuche ergab vierundachtzig walisische Ortschaften namens
Penderyn, doppelt so viele Straßen und noch einmal dieselbe Anzahl
von Pubs, Clubs und Vereinen. Kein Wunder, daß es so viele waren;
Die Penderyn war 1831 hingerichtet worden, weil er angeblich
während des Merthyr-Aufstands einen Soldaten angeschossen hatte.
Er war der erste Märtyrer des Freiheitskampfes der Waliser und so
etwas wie eine Galionsfigur des republikanischen Widerstands. Selbst
wenn Goliaths Leute in der Lage sein sollten, Agenten nach Wales
einzuschleusen, hätten die nicht gewußt, in welchem Penderyn sie mit
ihrer Suche nach Hades anfangen sollten. Das konnte dauern.
Müde machte ich mich auf den Heimweg. Ich holte meinen Wagen
aus der Werkstatt; die Mechaniker hatten es tatsächlich geschafft, die
Frontachse auszutauschen, einen neuen Motor einzubauen und die
Einschußlöcher zu stopfen: Einige Kugeln hatten Bowden und mich
nur um Haaresbreite verfehlt. Als ich vor dem Hotel Finis hielt,
brummte ein Luftschiff der Klipperklasse langsam über mich hinweg.
Eben brach die Dämmerung herein, und die Navigationsleuchten auf
beiden Seiten des Zeppelins blinkten matt am Abendhimmel. Mit
seinen zehn Propellern, die die Luft mit rhythmischem Summen in
Bewegung versetzten, bot er einen ebenso eleganten wie erhabenen
Anblick; tagsüber konnte ein Luftschiff die Sonne verdunkeln. Ich
- 273 -
betrat das Hotel. Die Milton-Konferenz war vorbei, und Liz begrüßte
mich eher wie eine Freundin als wie einen Gast.
»Guten Abend, Miss Next. Alles in Ordnung?«
»Nicht direkt.« Ich lächelte. »Trotzdem danke der Nachfrage.«
»Ihr Dodo ist heute gekommen«, verkündete Liz. »Er ist in Zwinger
fünf. So etwas spricht sich herum; die Swindoner Dodo-Liebhaber
waren schon hier. Sie meinten, es handele sich um eine äußerst seltene
Version eins oder so etwas – Sie möchten sie anrufen.«
»Er ist eine 1.2«, sagte ich geistesabwesend. Dodos interessierten
mich momentan nicht allzusehr. Ich zögerte einen Augenblick. Liz
spürte meine Unentschlossenheit.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Hat, äh, Mr. Parke-Laine angerufen?«
»Nein. Haben Sie seinen Anruf erwartet?«
»Nein – nicht direkt. Falls er sich meldet und Sie mich nicht auf
meinem Zimmer erreichen, bin ich im Cheshire Cat. Wenn Sie mich
dort auch nicht finden können, würden Sie ihn dann bitten, in einer
halben Stunde noch mal anzurufen?«
»Ich kann ihm auch gleich einen Wagen schicken lassen.«
»O Gott, ist es so offensichtlich?«
Liz nickte.
»Er heiratet.«
»Eine andere?«
»Ja.«
»Das tut mir leid.«
»Mir auch. Hat Ihnen schon mal jemand einen Heiratsantrag
gemacht?«
»Klar.«
»Und? Was haben Sie gesagt?«
- 274 -
»Ich habe gesagt: ›Frag mich noch mal, wenn du rauskommst.‹«
»Und?«
»Ich warte noch heute.«
Ich ging nach Pickwick sehen, der sich bestens eingelebt zu haben
schien. Als er mich sah, fing er aufgeregt an zu Blocken. Entgegen
sämtlichen Theorien von Experten hatten sich die Dodos als
erstaunlich intelligent und recht agil erwiesen – die weitverbreitete
Legende, es seien plumpe, tolpatschige Vögel, erwies sich als falsch.
Ich gab ihm eine Handvoll Erdnüsse und schmuggelte ihn unter dem
Mantel auf mein Zimmer. Die Zwinger waren nicht etwa schmutzig
oder dergleichen; ich wollte ihn bloß nicht allein lassen. Ich legte ihm
seinen Lieblingsteppich ins Bad, damit er einen Platz zum Schlafen
hatte, und bedeckte den Fußboden mit Zeitungspapier. Ich versprach,
ihn gleich morgen früh zu meiner Mutter zu bringen, und ließ ihn aus
dem Fenster auf den Parkplatz hinaussehen.
»Guten Abend, Miss«, sagte der Barmann im Cheshire Cat. »Was
haben der Rabe und ein Schreibtisch gemeinsam?«
»Beide fangen mit B an?«
»Sehr gut. Ein kleines Vorpal’s Special, stimmt’s?«
»Das soll wohl ein Witz sein? Gin-Tonic. Einen doppelten.«
Er lächelte und drehte sich zu den Flaschen um. »Polizei?«
»SpecOps.«
»LitAg?«
»Nja.«
Ich nahm mein Glas entgegen.
»Ich wollte auch mal LitAg werden«, sagte er wehmütig, »habe es
aber nur bis zum Kadetten gebracht.«
»Warum?«
- 275 -
»Meine Freundin war eine militante Marlowianerin. Sie baute ein
paar Will-Maschinen so um, daß sie den Tamerlan aufsagten, und als
sie geschnappt wurde, wurde ich auch mit verhaftet. Und damit hatte
es sich dann mit meiner Karriere. Nicht mal das Militär wollte mich
haben.«
»Wie heißen Sie?«
»Chris.«
»Thursday.«
Wir schüttelten uns die Hand.
»Ich kann nur für mich persönlich sprechen, Chris, aber ich war
sowohl beim Militär als auch bei den SpecOps, und Sie sollten Ihrer
Freundin auf Knien danken.«
»Mach ich«, versicherte Chris. »Jeden Tag. Wir sind inzwischen
verheiratet und haben zwei Kinder. Abends jobbe ich hier als
Barmann, und tagsüber leite ich den Swindoner Ableger der KitMarlowe-Gesellschaft. Wir haben fast viertausend Mitglieder. Nicht
übel für einen elisabethanischen Fälscher, Mörder, Spieler und
Atheisten, was?«
»Manche sagen, er könnte die Stücke verfaßt haben, die
normalerweise Shakespeare zugeschrieben werden.«
Chris war erstaunt. Und mißtrauisch.
»Ich weiß nicht, ob ich mit einer LitAg über dieses Thema sprechen
soll.«
»Gespräche sind doch nicht verboten, Chris. Wofür halten Sie uns,
für die Gedankenpolizei?«
»Nein, das ist SO-2, nicht wahr?«
»Aber zurück zu Marlowe …«
Chris senkte die Stimme. »Na schön. Wenn Sie mich fragen, könnte
Marlowe die Stücke durchaus geschrieben haben. Er war ohne Zweifel
ein begnadeter Dramatiker, wie der Faust, der Tamerlan und Edward
II. eindrucksvoll belegen. Er war als einziger seiner Altersgenossen
- 276 -
dazu in der Lage. Vergessen Sie Bacon und Oxford; Marlowe ist der
klare Favorit.«
»Aber Marlowe wurde 1593 ermordet«, wandte ich ein. »Die
meisten Stücke sind erst danach entstanden.«
Chris sah mich an und sagte in verschwörerischem Tonfall:
»Stimmt. Falls er tatsächlich bei besagter Kneipenschlägerei ums
Leben kam.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Daß sein Tod vielleicht vorgetäuscht war.«
»Warum?«
Chris holte tief Luft. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus.
»Sie dürfen nicht vergessen, daß Elisabeth eine protestantische
Königin war. Dinge wie Atheismus oder Papismus stellten die
Autorität der protestantischen Kirche und damit auch der Königin als
deren Oberhaupt in Frage.«
»Verrat«, murmelte ich. »Darauf stand die Todesstrafe.«
»Genau. Im April 1593 verhaftete der Kronrat einen gewissen
Thomas Kyd als mutmaßlichen Verfasser regierungskritischer
Pamphlete. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand man
atheistische Schriften.«
»Und?«
»Kyd lieferte Marlowe ans Messer. Er behauptete, sie stammten von
Marlowe, mit dem er sich zwei Jahre zuvor ein Zimmer geteilt hatte.
Marlowe wurde am 18. Mai 1593 festgenommen, verhört und auf
Kaution wieder freigelassen, das heißt die Beweise reichten
vermutlich nicht aus, um ihn vor Gericht zu stellen.«
»Und was ist mit seiner Freundschaft zu Walsingham?« fragte ich.
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Walsingham
bekleidete eine einflußreiche Stellung beim Geheimdienst; die beiden
kannten sich seit Jahren. Da täglich neue Beweise gegen Marlowe ans
Licht kamen, schien seine Verhaftung unausweichlich. Aber am
- 277 -
Morgen des 30. Mai kommt Marlowe bei einer Kneipenschlägerei zu
Tode, angeblich, weil er die Zeche nicht bezahlen wollte.«
»Wie praktisch.«
»Allerdings. Ich bin der festen Überzeugung, daß Walsingham den
Tod seines Freundes nur vorgetäuscht hat. Die drei Männer in der
Schenke standen allesamt in seinen Diensten. Er bestach den Coroner,
und Marlowe machte Shakespeare zu seinem Strohmann. Will, ein
verarmter Schauspieler, der Marlowe aus seiner Zeit am ShoreditchTheater kannte, brauchte dringend Geld; und so begann Shakespeares
Aufstieg mit dem Ende von Marlowes Karierre.«
»Interessante Theorie. Aber erschien Venus und Adonis nicht schon
ein paar Monate vor Marlowes Tod? Noch vor der Verhaftung Kyds?«
Chris hustete. »Guter Einwand. Dazu kann ich nur sagen, daß das
Komplott entweder von langer Hand vorbereitet war, oder jemand hat
die historischen Quellen manipuliert.«
Er schwieg einen Moment, blickte sich um und senkte die Stimme
noch weiter.
»Bitte verraten Sie den anderen Marlowianern nichts, aber noch
etwas spricht gegen einen vorgetäuschten Tod.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Marlowe kam im Verwaltungsbezirk des Coroners zu Tode.
Sechzehn Juroren sahen seinen angeblich vertauschten Leichnam, und
es ist äußerst unwahrscheinlich, daß sich der Coroner bestechen ließ.
Ich an Walsinghams Stelle hätte Marlowes Tod in der Provinz getürkt,
wo man einen Coroner wesentlich leichter kaufen konnte. Er hätte
sogar noch weiter gehen und den Leichnam verstümmeln lassen
können, um die Identifizierung unmöglich zu machen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß Walsingham Marlowe womöglich selbst ermorden ließ, um
ihn zum Schweigen zu bringen. Unter Folter hätte er vermutlich
ausgepackt, und es spricht einiges dafür, daß Marlowe wußte, wieviel
Dreck Walsingham am Stecken hatte.«
- 278 -
»Und?« fragte ich. »Wie erklären Sie es sich dann, daß wir so gut
wie nichts über Shakespeare wissen? Daß er ein kurioses Doppelleben
führte? Und daß seine literarische Arbeit in Stratford praktisch
unbekannt war?«
Chris zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Aber außer Marlowe gab es im elisabethanischen
London niemanden, der auch nur annähernd dazu in der Lage gewesen
wäre, solche Stücke zu schreiben.«
»Irgendwelche Theorien?«
»Nein. Aber die Elisabethaner waren ein komischer Haufen.
Höfische Intrigen, der Geheimdienst …«
»Und alles wandelt sich ins Gegenteil …«
»Sie sagen es. Prost.«
Wir stießen an, und Chris ging davon, um einen anderen Gast zu
bedienen. Ich spielte eine halbe Stunde Klavier und zog mich dann
zurück. Ich fragte noch einmal bei Liz nach, doch Landen hatte sich
nicht gemeldet.
- 279 -
27.
Hades findet ein neues Manuskript
Ich hatte gehofft, ein Manuskript von Austen oder
Trollope, Thackeray, Fielding oder Swift zu finden.
Vielleicht auch einen Johnson, Wells oder Conan Doyle.
Ein Defoe wäre nicht schlecht gewesen. Und nun stellen
Sie sich meine Freude vor, als ich erfuhr, daß Charlotte
Brontës Meisterwerk Jane Eyre in ihrem Elternhaus zur
Ansicht auslag. Wie sollte ich an so einer Gelegenheit
vorbeigehen?
ACHERON HADES
-Die Lust am Laster
Unsere Sicherheitsempfehlungen waren dem Brontë-Museum
übermittelt worden, und in jener Nacht taten fünf bewaffnete
Wachleute Dienst. Es waren allesamt kräftige Burschen aus
Yorkshire, die man für diese ehrenhafte Aufgabe ausgesucht hatte,
weil sie auf den literarischen Ruhm von Charlotte Brontë natürlich
besonders stolz waren. Einer beaufsichtigte das Manuskript, ein
zweiter hielt im Gebäude Wache, Nummer drei und vier gingen auf
dem Gelände Streife, und der fünfte saß in einem kleinen Raum vor
sechs TV-Bildschirmen. Er aß ein Brot mit Ei und Zwiebeln und ließ
die Fernseher nicht aus den Augen, konnte auf den Monitoren jedoch
keinerlei Unregelmäßigkeit entdecken. Allerdings hatte er keine
Ahnung, über welche besonderen Fähigkeiten Hades verfügte. Diese
Informationen waren ausschließlich Mitarbeitern der Sektionen SO-1
bis 9 zugänglich.
Es fiel Hades also nicht schwer, sich Zutritt zu verschaffen; er
schlüpfte einfach durch die Küchentür, nachdem er das Schloß mit
einem Stemmeisen aufgebrochen hatte. Der Wachmann, der im Haus
seinen Rundgang machte, hörte Acheron nicht kommen. Sein lebloser
Körper wurde später unter dem Ausgußbecken gefunden. Lautlos stieg
- 280 -
Hades die Treppe hinauf. Dabei hätte er soviel Lärm machen können,
wie er nur wollte. Er wußte, daß ihm die Wachleute mit ihren 38ern
nichts anhaben konnten, aber mir nichts, dir nichts hineinzuspazieren
und sich zu bedienen machte einfach keinen Spaß. Langsam tappte er
den Flur entlang zu dem Zimmer, in dem das ausgestellte Manuskript
lag, und spähte hinein. Das Zimmer war leer. Der Wachmann war aus
irgendeinem Grund nicht da. Hades trat vor den Schaukasten aus
Panzerglas und legte die Hand genau über das Buch. Das Glas unter
seinem Handteller begann sich zu kräuseln und wurde weich; bald war
es so biegsam, daß Hades die Finger hindurchstecken und das
Manuskript ergreifen konnte. Die destabilisierte Oberfläche dehnte
und streckte sich wie Gummi, als er das Buch herauszog, und
verwandelte sich gleich darauf in festes Glas zurück; allenfalls eine
leichte Sprenkelung ließ erahnen, daß seine Molekularstruktur
verändert worden war. Mit einem triumphierenden Lächeln auf den
Lippen las Acheron das Titelblatt:
Jane Eyre
von CURRER BELL
Okt. ’47
Eigentlich wollte Hades das Buch einstecken und mitnehmen, doch
die Geschichte hatte ihm immer schon gefallen. Und so gab er der
Versuchung nach, schlug das Manuskript auf und begann zu lesen.
Er hatte die Stelle aufgeschlagen, wo Jane im Bett liegt und
plötzlich ein leises, dämonisches Lachen von der Türe her hört. Als
sie erleichtert feststellt, daß das Gelächter nicht aus ihrem Zimmer
kommt, steht sie auf, schiebt den Türriegel zurück und ruft hinaus:
»Wer ist da?«
Statt einer Antwort hört sie jemanden glucksen und stöhnen. Dann
entfernen sich schwere Schritte, und eine Tür fällt ins Schloß. Jane
zieht sich ihr Kleid an, wirft sich ein Tuch um die Schultern, entriegelt
die Tür, öffnet sie einen Spaltbreit und späht vorsichtig hinaus. Auf
dem Boden entdeckt sie eine brennende Kerze und bemerkt überdies,
daß der Flur voller Rauch ist. Dann hört sie Rochesters halboffene
Zimmertür knarren und sieht den Flackerschein züngelnder Flammen.
- 281 -
Im Nu ist alles andere vergessen. Jane stürzt in Rochesters brennende
Kammer und versucht den Schlafenden zu wecken mit den Worten:
»Aufwachen! Aufwachen!«
Doch Rochester rührt sich nicht, und mit wachsendem Entsetzen
stellt Jane fest, daß das Bettzeug schon angesengt ist und jeden
Moment Feuer fangen wird. Sie rennt zum Waschtisch, nimmt Becken
und Krug, die beide mit Wasser gefüllt sind, schüttet sie über
Rochester aus und läuft dann in ihr eigenes Zimmer, um Nachschub
zu holen und auch die Vorhänge noch mit Wasser zu besprengen. Mit
Mühe gelingt es ihr, den Brand zu löschen, aber als Rochester endlich
erwacht und merkt, daß er in einer Pfütze liegt, stößt er wilde
Verwünschungen aus und sagt zu Jane: »Haben wir eine
Überschwemmung?«
»Keine Überschwemmung, Herr«, antwortet sie. »Aber es hat
gebrannt. Rasch, stehen Sie auf; Sie sind ganz naß. Ich hole Ihnen eine
Kerze.«
Rochester hat noch immer nicht begriffen, was geschehen ist.
»Bei allen Elfen der Christenheit, ist das nicht Jane Eyre?« fragt er.
»Was hast du mit mir gemacht, du Hexe, du Zauberin! Wer ist bei dir?
Wolltet ihr mich ertränken?«
»Drehen Sie sich gaaanz langsam um«, sagte der Wachmann und
unterbrach Acheron rüde in seiner Lektüre.
»Es ist doch immer dasselbe!« lamentierte Hades und wandte sich
zu dem Sicherheitsbeamten um, der seine Waffe auf ihn gerichtet
hielt. » Gerade wenn’s am schönsten ist!«
»Rühren Sie sich nicht vom Fleck, und legen Sie das Manuskript
hin.«
Acheron gehorchte. Der Wachmann löste das Walkie-talkie von
seinem Gürtel und hielt es sich an den Mund.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Acheron leise.
»Ach ja?« gab der Wachmann dreist zurück. »Und wieso nicht,
wenn ich fragen darf?«
- 282 -
»Weil«, antwortete Acheron langsam und blickte dem Wachmann
tief in die Augen, »Sie dann nie erfahren werden, weshalb Ihre Frau
Sie verlassen hat.«
Der Wachmann ließ sein Walkie-talkie sinken.
»Woher kennen Sie meine Denise?«
Ich träumte unruhig. Ich war wieder auf der Krim, im Ohr das
unausgesetzte Donnern der Geschütze, das metallische Kreischen der
Granaten. Staub, Kordit und Amatol, die erstickten Schreie meiner
Kameraden, das ungezielte Krachen der Artillerie. Die Kanonen vom
Kaliber 88 waren so nah, daß die Geschosse explodierten, bevor man
sie kommen hörte. Ich saß im Transportpanzer und fuhr allen
Befehlen zum Trotz ins Kampfgetümmel zurück. Ich holperte über das
Grasland, vorbei an den Überresten früherer Gefechte. Plötzlich spürte
ich, wie etwas Großes an meinem Fahrzeug zerrte und das Dach
aufriß. Ein betörend schöner Sonnenstrahl stach in den Staub herab.
Dieselbe unsichtbare Hand ergriff den Panzer und schleuderte ihn in
die Luft. Er balancierte ein paar Meter weit auf einer Kette und sackte
dann wieder in die Waagerechte. Der Motor lief noch, die Steuerung
schien zu funktionieren; ich fuhr weiter, ohne den Schaden zu
bemerken. Erst als ich die Hand nach dem Schalter des Funkgeräts
ausstreckte, registrierte ich, daß das Dach nicht mehr da war. Eine
ernüchternde Entdeckung, aber zum Nachdenken hatte ich jetzt keine
Zeit. Vor mir lagen die qualmenden Überreste der Leichten PanzerBrigade. Die russischen 88er schwiegen; statt dessen tobte ein wildes
Gefecht mit Maschinengewehren und Handfeuerwaffen. Ich hielt bei
der erstbesten Gruppe von Verwundeten und öffnete die Heckklappe.
Sie klemmte, aber das spielte keine Rolle; mit dem Dach war auch die
Seitentür verschwunden, und ich schaffte in Windeseile
zweiundzwanzig Verwundete und Sterbende in den für acht Personen
bestimmten Transporter. Obendrein klingelte in einem fort ein
Telefon. Mein Bruder kümmerte sich ebenfalls, ohne Helm und mit
blutüberströmtem Gesicht, um die Verletzten. Er bat mich, ihn
nachzuholen. Als ich davonfuhr, spickte ein Scharfschütze die
Karosse mit Kugeln, die als jaulende Querschläger abprallten; die
russische Infanterie rückte an. Das Telefon klingelte immer noch. Ich
- 283 -
griff im Dunkeln nach dem Hörer, ließ ihn aus Versehen fallen und
tastete fluchend den Fußboden danach ab. Es war Bowden.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles bestens«, antwortete ich und versuchte, meine Stimme so
normal wie möglich klingen zu lassen. Ich sah auf meinen Wecker. Es
war drei Uhr morgens. Ich stöhnte.
»Es ist schon wieder ein Manuskript gestohlen worden. Die
Nachricht kam gerade über Funk. Dieselbe Vorgehensweise wie bei
Martin Chuzzlewit. Die Täter sind einfach reinmarschiert und haben es
mitgenommen. Zwei Wachleute sind tot. Der eine wurde mit seiner
eigenen Dienstwaffe erschossen.«
»Jane Eyre.«
»Woher zum Kuckuck wissen Sie das?«
»Von Rochester.«
»Von wem …?«
»Vergessen Sie’s. Haworth House?«
»Vor einer Stunde.«
»Ich hole Sie in zwanzig Minuten ab.«
Eine Stunde später brausten wir nach Norden Richtung Rugby. Die
Nacht war klar und kühl, und die Straßen waren so gut wie leer.
Obwohl ich das Verdeck zugeklappt hatte und die Heizung auf vollen
Touren lief, zog es im Wageninnern, weil sich immer wieder heftige
Windböen unter die Motorhaube verirrten. Mich schauderte bei dem
Gedanken, wie sich der Wagen wohl im Winter fuhr.
»Ich werde das hoffentlich nicht bereuen«, murmelte Bowden.
»Hicks wird nicht sonderlich erfreut sein, wenn er von unserem
Ausflug erfährt.«
»Wer sagt: ›Ich werde das hoffentlich nicht bereuen‹, tut das in der
Regel schon. Also, wenn ich Sie rauslassen soll, brauchen Sie es nur
zu sagen. Zum Teufel mit Hicks. Zum Teufel mit Goliath und Jack
- 284 -
Schitt. Manche Dinge sind einfach wichtiger als die Vorschriften.
Regierungen und Moden kommen und gehen, aber Jane Eyre ist für
die Ewigkeit. Ich würde buchstäblich alles dafür tun, um den Roman
zu retten.«
Bowden schwieg. Ich hatte das Gefühl, ihm machte sein Job richtig
Spaß, seit wir zusammenarbeiteten. Ich schaltete einen Gang herunter,
überholte einen Lastwagen und sprintete los.
»Woher wußten Sie, daß es um Jane Eyre ging, als ich angerufen
habe?«
Ich dachte einen Moment nach. Wem sollte ich davon erzählen,
wenn nicht Bowden? Ich zog Rochesters Taschentuch hervor. »Sehen
Sie das Monogramm?«
»EFR?«
»Es gehört Edward Fairfax Rochester.«
Bowden sah mich zweifelnd an. »Langsam, Thursday. Ich bin zwar
kein Brontë-Experte, aber so blöd bin ich nicht, daß ich nicht wüßte,
daß diese Figuren nicht echt sind.«
»Ob echt oder nicht, ich bin ihm mehrmals begegnet. Ich habe auch
seine Jacke.«
»Moment mal – das mit Quaverleys Extraktion leuchtet mir ein,
aber was wollen Sie damit andeuten? Daß Charaktere nach Lust und
Laune aus ihren Romanen heraushüpfen können?«
»Zugegeben, das klingt alles sehr merkwürdig, und ich habe auch
keine Erklärung dafür. Aber die Grenze zwischen Rochester und mir
ist irgendwie durchlässig. Und nicht nur ist er aus dem Roman
herausgekommen; sondern einmal, als kleines Mädchen, habe ich
sogar das Buch betreten. Ich kam genau in dem Moment an, als sich
die beiden das erste Mal begegnen. Wissen Sie noch?«
Bowden blickte verlegen aus dem Seitenfenster.
»Ziemlich billig für bleifrei«, sagte er, als wir an einer Tankstelle
vorbeikamen.
Ich erriet den Grund. »Sie haben Jane Eyre nie gelesen, stimmt’s?«
- 285 -
»Nein …«, stammelte er. »Aber, äh …«
Ich lachte. »Na, na, ein LitAg, der Jane Eyre nicht kennt?«
»Ja, ja, geschenkt. Dafür habe ich Sturmhöhe und Villette gelesen.
Ich wollte mir das Buch zwar vornehmen, aber wie so vieles habe ich
es schlicht vergessen.«
»Dann will ich Ihnen mal ein bißchen auf die Sprünge helfen.«
»Ich bitte darum«, brummte Bowden betreten.
Im Laufe der folgenden Stunde erzählte ich ihm die Geschichte von
Jane Eyre, beginnend mit dem jungen Waisenmädchen Jane, ihrer
Kindheit im Hause von Mrs. Reed und deren Cousinen und ihrer Zeit
in Lowood, einer schrecklichen Armenschule, die von einem
grausamen und scheinheiligen Prediger geleitet wird, über die
Typhusepidemie und den Tod ihrer Freundin Helen Burns bis zu
ihrem Aufstieg zur Musterschülerin und schließlich Lehrerin unter der
Leitung von Miss Temple.
»Jane verläßt Lowood und zieht nach Thornfield, wo sie nur noch
einen Schützling hat, nämlich Rochesters Mündel Adele.«
»Was ist, bitte, ein Mündel?« fragte Bowden.
»Nun ja«, antwortete ich. »Sagen wir, eine dezente Umschreibung
dafür, daß das Mädchen einer früheren Liaison entstammt. Heutzutage
würde Adele auf der Titelseite des Toad als ›Kind der Liebe‹
bloßgestellt.«
»Aber Rochester kommt seinen väterlichen Pflichten doch offenbar
nach?«
»Und ob. Jedenfalls gefällt es Jane in Thornfield ausgesprochen gut,
trotz der sonderbaren Atmosphäre – Jane hat den Eindruck, daß dort
etwas vor sich geht, worüber niemand spricht. Rochester kehrt von
einer längeren Reise heim und erweist sich als mürrisch und
herrschsüchtig; dennoch beeindruckt ihn Janes Seelenstärke, als sie
ihn bei einem mysteriösen Zimmerbrand vor dem Verbrennungstod
rettet. Jane verliebt sich in Rochester, muß jedoch mit ansehen, wie er
Blanche Ingram, einem richtigen Luder, den Hof macht. Jane verläßt
Thornfield, um Mrs. Reed zu pflegen, die im Sterben liegt, und bei
- 286 -
ihrer Rückkehr hält Rochester um ihre Hand an; denn in ihrer
Abwesenheit hat er erkannt, daß Janes Charaktereigenschaften Miss
Ingrams Reize bei weitem übertreffen, trotz des Klassenunterschieds.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind …«
»Immer mit der Ruhe. Die Hochzeit platzt nämlich. Das Brautpaar
steht schon in der Kirche, da kommt ein Anwalt und behauptet,
Rochester sei schon verheiratet, was sich als zutreffend herausstellt.
Die wahnsinnige Bertha Rochester bewohnt sogar ein Zimmer im
Obergeschoß von Thornfield Hall, wo sie von der schrulligen Grace
Poole gepflegt wird. Der Brand in Rochesters Zimmer geht auf ihr
Konto. Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist Jane zutiefst
schockiert. Rochester versucht sein Benehmen dadurch
wiedergutzumachen, daß er ihr immer wieder seine Liebe beteuert. Er
bittet sie, als seine Mätresse mit ihm fortzugehen, aber sie weigert
sich. Obwohl sie ihn noch immer liebt, läuft sie davon und findet ein
neues Zuhause bei den Rivers, zwei Schwestern und deren Bruder, die
sich als ihre Verwandten entpuppen.«
»Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?«
»Schhh. Janes Onkel, der auch der Onkel der Geschwister ist, hat
vor kurzem das Zeitliche gesegnet und ihr sein gesamtes Vermögen
hinterlassen. Sie beteiligt die drei an ihrem Erbe und will ein
selbständiges Leben führen. Der Bruder, St. John Rivers, beschließt,
als Missionar nach Indien zu gehen, und möchte, daß Jane mitkommt
und der Kirche dient. Jane ist zwar durchaus bereit, ihm zu dienen,
will ihn aber nicht heiraten. Sie betrachtet die Ehe als einen Bund der
Liebe und der gegenseitigen Achtung, nicht als Pflichtübung. Nach
langem Hin und Her willigt sie schließlich ein, mit ihm als seine
›rechte Hand‹ nach Indien zu gehen. Und damit endet der Roman.«
»Das ist alles?« fragte Bowden erstaunt.
»Wie meinen Sie das?«
»Also, ich finde den Schluß enttäuschend. Wir versuchen, die Kunst
so vollkommen wie irgend möglich zu machen, eben weil uns das im
wirklichen Leben nie gelingt, und Charlotte Brontë beendet ihren
Roman auf eine Art und Weise, die wahrscheinlich ihr eigenes
- 287 -
unglückliches Liebesleben reflektiert. Ich an Charlottes Stelle hätte
dafür gesorgt, daß Jane und Rochester doch noch irgendwie
zusammenfinden.«
»Fragen Sie mich nicht«, sagte ich. »Ich habe das Buch nicht
geschrieben.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Sie haben natürlich
recht«, murmelte ich dann. »Der Schluß ist beschissen. Erst läuft alles
wie am Schnürchen, und dann läßt sie den Leser im Regen stehen.
Selbst Brontë-Puristen sind sich einig, daß es wesentlich besser
gewesen wäre, wenn sie am Ende geheiratet hätten.«
»Und wie, solange Bertha noch am Leben ist?«
»Keine Ahnung; sie könnte zum Beispiel sterben. Hmm, gar nicht so
einfach.«
»Woher kennen Sie Jane Eyre eigentlich so gut?« fragte Bowden.
»Es war immer schon eins meiner Lieblingsbücher. Ich hatte ein
Exemplar davon in meiner Jackentasche, als ich in London
angeschossen wurde. Die Kugel blieb darin stecken. Kurz darauf
erschien Rochester und klemmte meine Armverletzung ab, bis die
Sanitäter kamen. Er und das Buch haben mir das Leben gerettet.«
Bowden sah auf seine Uhr. »Nach Yorkshire ist es noch ein ganzes
Stück. Wir sind frühestens um … Holla, was ist das?«
Auf der Autobahn schien sich ein Unfall ereignet zu haben. Es
standen schon mehr als zwei Dutzend Autos im Stau. Als wir auch
nach ein paar Minuten noch nicht vom Fleck gekommen waren, lenkte
ich den Wagen auf den Standstreifen und rollte langsam zur Spitze der
Kolonne. Ein Verkehrspolizist hielt uns an, warf einen skeptischen
Blick auf die Einschußlöcher in der Karosserie und sagte: »Tut mir
leid, Ma’am. Ich kann Sie hier nicht …«
Aber als ich meine alte SO-5-Marke zückte, war er wie
ausgewechselt: »Tut mir leid, Ma’am. Aber wir haben es hier mit
etwas ziemlich Ungewöhnlichem zu tun.«
Bowden und ich sahen uns an und stiegen aus. Eine Schar
Neugieriger drängte sich hinter der Polizeiabsperrung. Schweigend
verfolgten sie das Schauspiel, das sich ihnen bot. Drei Funkstreifen
- 288 -
und ein Krankenwagen waren schon vor Ort; zwei Sanitäter
behandelten einen Säugling, der in eine Decke gehüllt auf einer Trage
lag und schrie.
Die Beamten waren heilfroh, daß ich da war – der ranghöchste
Kollege war ein Sergeant, und jetzt konnten sie die Verantwortung auf
jemand anderen abwälzen. Ein so hohes Tier wie eine SO-5-Agentin
hatten die meisten von ihnen ihr Lebtag noch nicht mal gesehen.
Ich borgte mir ein Fernglas und blickte auf das vor uns liegende
Stück Autobahn. Etwa fünfhundert Meter weiter hatten die Straße und
der nächtliche Sternenhimmel eine Art Strudel gebildet, einen
Trichter, der das spärliche Licht, das in den Spiralnebel eindrang,
zerlegte und verformte. Ich seufzte. Mein Vater hatte mir von
ZeitVerzerrungen erzählt, aber ich hatte bisher noch nie eine gesehen.
Im Zentrum des Wirbels, wo sich das gebrochene Licht zu einem
wirren Muster fügte, befand sich ein pechschwarzes Loch, das weder
Farbe noch Tiefe zu besitzen schien, nur Form: ein makelloser Kreis
von der Größe einer Grapefruit. Die Polizei hatte auch den Verkehr
auf der Gegenfahrbahn gestoppt, und die blinkenden blauen Lichter
verfärbten sich rot, sobald sie durch die Ränder der schwarzen Masse
schimmerten, und die dahinterliegende Straße krümmte sich wie durch
ein Marmeladenglas betrachtet. Vor dem Strudel stand ein blauer
Datsun, und die Motorhaube wurde immer länger, je näher er der
ZeitVerzerrung kam. Dahinter stand ein Motorrad und dahinter – und
uns am nächsten – ein grüner Kombi. Solange ich sie auch anstarrte,
die Fahrzeuge rührten sich nicht von der Stelle. Der Biker, seine
Maschine und die Insassen der Autos schienen steif und unbewegt wie
Statuen.
»Mist!« stieß ich halblaut hervor und sah auf meine Armbanduhr.
»Wann hat sich der Wirbel geöffnet?«
»Vor gut einer Stunde«, sagte der Sergeant. »Ein Wagen des ExcoMat-Labors hatte einen Unfall. Er hätte sich keinen ungünstigeren
Zeitpunkt aussuchen können; meine Schicht war fast zu Ende.«
Er zeigte mit dem Daumen auf das Baby, das mit Schreien aufgehört
und sich die Finger in den Mund geschoben hatte. »Das war der
Fahrer. Vor dem Unfall war er einunddreißig. Als wir ankamen, war
- 289 -
er acht – in ein paar Minuten ist er nur noch ein feuchter Fleck auf der
Decke.«
»Haben Sie die ChronoGarde alarmiert?«
»Ja, sicher«, antwortete er resigniert. »Aber bei Tesco in Wareham
hat sich ein Zeitloch aufgetan. Die sind frühestens in vier Stunden
hier.«
Ich dachte rasch nach. »Wie viele Tote hat es bis jetzt gegeben?«
»Sir«, fuhr ein Beamter dazwischen und deutete die Straße entlang,
»schauen Sie sich das an!«
Tatenlos mußten wir zusehen, wie der blaue Datsun sich verzerrte
und verformte, bis er schließlich wie eine Papierkugel zerknüllt und in
den Schlund gezogen wurde. In Sekundenschnelle war er
verschwunden, auf ein Milliardstel seiner Größe zusammengepreßt
und ins Anderswo katapultiert.
Seufzend schob der Sergeant sich die Mütze in den Nacken. Er
konnte nichts dagegen unternehmen.
Ich wiederholte meine Frage.
»Wie viele Tote?«
»Äh, das waren ein Lastwagen, eine komplette Fahrbücherei, zwölf
Personenkraftwagen und ein Motorrad. So an die zwanzig, würde ich
sagen.«
»Das ist jede Menge Materie. Bis die ChronoGarde hier ist, könnte
die Verzerrung so groß wie ein Fußballfeld sein.«
Der Sergeant zuckte die Achseln. Niemand hatte ihm beigebracht,
wie man mit einer Zeitinstabilität verfuhr. Ich wandte mich an
Bowden.
»Kommen Sie.«
»Was?«
»Wir haben was zu erledigen.«
»Sie sind verrückt.«
- 290 -
»Schon möglich.«
»Sollen wir nicht lieber auf die Kollegen der ChronoGarde warten?«
»Bis die hier sind, ist es längst zu spät. Kommen Sie, es geht ganz
leicht. Das könnte selbst ein hirnamputierter Affe.«
»Und wo kriegen wir um diese nachtschlafende Zeit einen
hirnamputierten Affen her?«
»Sie sind ein Feigling, Bowden.«
»Stimmt. Wissen Sie, was passiert, wenn etwas schiefgeht?«
»Keine Panik. Es ist wirklich das reinste Kinderspiel. Mein Dad war
bei der ChronoGarde; er hat es mir genau erklärt. Aber dazu brauchen
wir eine Kugel. In vier Stunden könnte es vor unseren Augen zu einer
globalen Katastrophe kommen. Zu einem Zeitriß, so groß und tief, daß
aus dem Hier und Jetzt im Handumdrehen das Irgendwo und
Irgendwann werden könnte. Der Untergang der Zivilisation, Panik auf
den Straßen, das Ende unserer Welt. He, Kleiner …!«
Ich hatte einen Jungen gesehen, der mitten auf der Straße einen
Basketball springen ließ. Schweren Herzens rückte er ihn heraus, und
ich ging damit zu Bowden, der neben dem Wagen stand und nervös
von einem Bein aufs andere trat. Wir klappten das Verdeck auf, und
Bowden sank, den Basketball fest umklammernd, auf den
Beifahrersitz.
»Ein Basketball?«
»Eine Kugel ist eine Kugel ist eine Kugel«, zitierte ich einen alten
Tip meines Vaters. »Alles klar?«
»Alles klar«, bestätigte Bowden, und seine Stimme zitterte kaum
merklich.
Ich ließ den Motor an und rollte langsam zu der Stelle, wo die
Verkehrspolizisten wie vom Donner gerührt auf die Zeit Verzerrung
starrten.
»Wissen Sie auch wirklich, was Sie da tun?« fragte mich der junge
Beamte.
- 291 -
»Mehr oder weniger«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Hat jemand eine
Armbanduhr mit zweitem Zeiger?«
Der jüngste Verkehrspolizist nahm seine Uhr ab und reichte sie mir.
Ich notierte mir die tatsächliche Zeit – 5:30 Uhr –, stellte die Zeiger
auf zwölf und schnallte die Armbanduhr an den Rückspiegel.
Der Sergeant wünschte uns viel Glück, als wir davonfuhren, obwohl
er vermutlich dachte: »Lieber die als ich.«
Obgleich sich der Himmel im Osten schon rot färbte, herrschte rings
um die Autos noch tiefste Nacht. Von außen betrachtet, stand für die
gefangenen Fahrzeuge die Zeit still. Den Insassen hingegen erschien
alles ganz normal; nur wenn sie sich umdrehten, konnten sie sehen,
wie rasch die Morgendämmerung kam.
Die ersten fünfzig Meter ging alles glatt, doch je näher wir kamen,
desto schneller schienen der Kombi und das Motorrad zu werden, und
als wir mit dem grünen Wagen gleichzogen, zeigte der Tacho etwa
sechzig Meilen in der Stunde. Ich sah auf die Armbanduhr am
Rückspiegel; es waren genau drei Minuten verstrichen.
Bowden hatte beobachtet, was hinter uns vor sich ging. Als er und
ich auf die Zeitinstabilität zufuhren, beschleunigten sich die
Bewegungen der Polizeibeamten immer mehr, bis sie mit bloßem
Auge nicht mehr zu erkennen waren. Die Autos, welche die Fahrbahn
verstopft hatten, wendeten und rasten in halsbrecherischem Tempo
über den Standstreifen. Als Bowden sah, wie schnell hinter uns die
Sonne aufging, fragte er sich, worauf er sich da eingelassen hatte.
In dem grünen Kombi saßen ein Mann und eine Frau. Die Frau
schlief, und der Mann starrte auf das dunkle Loch, das sich vor ihnen
aufgetan hatte. Ich forderte ihn zum Anhalten auf. Er kurbelte sein
Fenster herunter, und ich wiederholte meine Worte, setzte »SpecOps!«
hinzu und winkte ihm mit meiner Marke. Er drosselte pflichtschuldig
das Tempo, und seine Bremslichter strahlten in der Dunkelheit. Seit
unserem Fahrtantritt waren drei Minuten und sechsundzwanzig
Sekunden vergangen.
Von ihrer Position aus konnte die ChronoGarde nur sehen, wie in
dem schwarzen Trichter, der durch das Ereignis entstanden war, die
- 292 -
Bremslichter des grünen Kombis aufleuchteten. Geschlagene zehn
Minuten standen die Gardisten da und sahen zu, wie der Wagen
unendlich langsam wendete und auf den Standstreifen rollte. Es war
kurz vor zehn, und eine Vorhut der ChronoGarde war direkt aus
Wareham eingetroffen. Die Agenten und ihre Ausrüstung kamen mit
einem Chinook-Hubschrauber der SO-12, und Colonel Rutter war
vorausgeflogen, um die Lage zu sondieren. Er fand es höchst
verwunderlich, daß zwei gewöhnliche Agenten sich freiwillig für
diesen gefährlichen Einsatz gemeldet hatten, zumal ihm niemand
sagen konnte, wer wir waren. Selbst eine Überprüfung meines KfzKennzeichens erbrachte nichts, da der Wagen immer noch auf die
Werkstatt angemeldet war, bei der ich ihn gekauft hatte. Er meinte,
das einzig Positive an dem ganzen verdammten Schlamassel sei, daß
der Beifahrer eine Art Kugel bei sich habe. Falls das Loch noch
größer würde und sich die Zeit weiter verlangsame, könne es selbst
mit ihrem schnellsten Fahrzeug Monate dauern, ehe sie zu uns
vordringen würden. Seufzend ließ er das Fernglas sinken. Was für ein
mieser, entsetzlicher, einsamer Job. Er war seit fast vierzig Jahren
Standard-Erdzeit bei der ChronoGarde. In verbuchter Arbeitszeit
gemessen war er 209. Physisch gesehen war er keine 28. Seine Kinder
waren älter als er, und seine Frau lebte im Pflegeheim. Seine
anfängliche Hoffnung, die bessere Bezahlung sei eine angemessene
Wiedergutmachung für diese Entbehrungen, hatte sich nicht erfüllt.
Als der grüne Kombi jäh zurückfiel, drehte Bowden sich um und sah,
daß die Sonne immer schneller aufstieg. Und jetzt erschien auch ein
Hubschrauber mit dem unverwechselbaren »CG«-Emblem am Rumpf.
Vor uns war jetzt nur noch der Motorradfahrer, der sich dem
wirbelnden schwarzen Loch langsam, aber unausweichlich zu nähern
begann. Er trug rote Lederkluft und fuhr eine teure, PS-starke
Triumph, ironischerweise die einzige Maschine, mit der er dem
Strudel hätte entkommen können, wenn er gewußt hätte, wo das
Problem lag. Es hatte uns weitere sechs Minuten gekostet, ihn
einzuholen, als mit einem Schlag ein ohrenbetäubendes Heulen
einsetzte, das selbst den Fahrtwind übertönte; so ähnlich mußte ein
Taifun klingen, wenn er über einen hinwegzog. Wir waren noch gut
dreieinhalb Meter hinter dem Motorrad und hatten Mühe, mit ihm
- 293 -
Schritt zu halten. Die Tachonadel des Porsche zeigte fast neunzig. Ich
drückte auf die Hupe, doch das ging im Getöse unter.
»Achtung!« rief ich Bowden zu, während der Wind wie wild an
unseren Haaren und Kleidern zerrte. Ich betätigte zum wiederholten
Mal die Lichthupe; endlich sah er uns. Er drehte sich um und winkte,
wohl weil er irrtümlich annahm, wir wollten ihn zu einem Rennen
drängen, schaltete einen Gang herunter und zog davon. Im Nu hatte
der Wirbel ihn erfaßt, und er schien sich erst zu dehnen, dann zu
strecken und schließlich sein Inneres nach außen zu stülpen, bevor ihn
die Instabilität verschlang; in Sekundenschnelle war er verschwunden.
Da wir unmöglich noch näher heranfahren konnten, trat ich auf die
Bremse und brüllte: »Jetzt!«
Mit qualmenden Reifen schlitterten wir über den Asphalt. Bowden
warf den Basketball, und wir sahen, wie er das Loch traf und einmal
aufsprang. Ich blickte auf die Uhr, während wir durch das Loch in den
Abgrund hineinrasten. Der Basketball versperrte endgültig den Blick
auf die Welt hinter uns, und wir stürzten ins Anderswo. Bis zu dem
Punkt, wo wir das Ereignis passiert hatten, waren zwölf Minuten und
einundvierzig Sekunden verstrichen. Draußen waren es fast sieben
Stunden.
»Das Motorrad ist verschwunden«, sagte Colonel Rutter. Sein
Stellvertreter grunzte nur. Er konnte es nicht leiden, wenn Amateure
sich als ChronoGarden versuchten. Schließlich war es ihnen gelungen,
die mystische Aura, welche die Garde umgab, über fünf Jahrzehnte
aufrechtzuerhalten, mit dem entsprechenden Salär; tollkühne Helden
störten da nur, denn sie erschütterten das eiserne Vertrauen der
Menschen in die Arbeit der CG. Und diese Arbeit war weiß Gott nicht
schwer; sie brauchte bloß sehr viel Zeit. Er selbst hatte einen
ähnlichen Riß in der Raumzeit gekittet, im Stadtpark von Weybridge,
auf halber Strecke zwischen Blumenuhr und Konzertpavillon. Die
eigentliche Reparatur hatte keine zehn Minuten gedauert; er war
schlicht hineinspaziert und hatte das Loch mit einem Tennisball
gestopft, während draußen sieben Monate vergingen – sieben Monate
mit doppeltem Gehalt plus Zulagen, die Firma dankt.
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Die ChronoGardisten stellten eine große Uhr auf, deren Zifferblatt
auf das Loch gerichtet war, damit die Agenten im Einflußbereich des
Kraftfeldes wußten, was vor sich ging. Eine ähnliche Uhr an der
Rückseite des Helikopters vermittelte den außerhalb postierten
Beamten eine ungefähre Vorstellung davon, wie langsam die Zeit im
Innern tatsächlich verrann.
Nach dem Verschwinden des Motorrades warteten sie noch eine
halbe Stunde, um zu sehen, wie es weiterging. Sie beobachteten, wie
Bowden langsam aufstand und einen Basketball warf.
»Zu spät«, murmelte Rutter, der so etwas schon hundertmal erlebt
hatte. Er erteilte seinen Männern den Einsatzbefehl, und sie ließen
eben die Rotoren des Hubschraubers an, als die Dunkelheit rings um
das Loch verschwand. Die Nacht wich zurück, und vor ihnen lag die
leere Straße. Sie sahen, wie die Insassen des grünen Kombi ausstiegen
und staunend ins jähe Tageslicht blinzelten. Hundert Meter weiter
hatte der Basketball den Riß geschlossen und hing nun schwach
vibrierend in der Luft, da der Sog des Strudels noch immer an ihm
zerrte. Binnen Sekunden war der Riß verheilt, und der Basketball
landete mit einem sanften Plopp auf der Straße, sprang noch ein
paarmal auf und rollte schließlich an den Fahrbahnrand. Der Himmel
war klar, und nichts wies darauf hin, daß sich mit der Zeit nicht alles
genauso wie immer verhielt. Nur von dem Datsun, dem
Motorradfahrer und dem quietschbunten Porsche fehlte jede Spur.
Mein Wagen schoß dahin. An die Stelle der Autobahn war eine
wildwirbelnde Masse aus Licht und Farben getreten, mit der weder
Bowden noch ich etwas anfangen konnten. Gelegentlich nahm das
Chaos erkennbare Gestalt an, und ein paarmal glaubten wir sogar, in
die stabile Zeit zurückgekehrt zu sein, wurden im nächsten
Augenblick jedoch erneut in den Strudel gerissen, wo der Taifun toste.
Beim ersten Mal befanden wir uns plötzlich auf einer Straße in den
Home Counties rings um London. Es war Winter, und direkt vor uns
bog ein hellblauer Austin Allegro aus einer Einfahrt. Ich drückte
wütend auf die Hupe, wich aus und raste vorbei. Sofort zersplitterte
das Bild und fügte sich zum schmutzigen Frachtraum eines Schiffes.
Der Wagen klemmte zwischen zwei Kisten auf dem Weg nach
- 295 -
Shanghai. Das Heulen des Strudels hatte nachgelassen, dafür hörten
wir ein neues Brüllen, das Brüllen eines Sturms auf hoher See. Das
Schiff schlingerte, und Bowden und ich sahen uns fragend an: War
unsere Reise hier zu Ende? Das Brüllen wurde immer lauter, bis der
feuchte Frachtraum implodierte und einem weißgetünchten
Krankensaal Platz machte. Der Orkan legte sich, der Motor des
Wagens tuckerte im Leerlauf vor sich hin. In dem einzigen belegten
Bett lag eine schläfrige, verwirrte Frau mit dem Arm in der Schlinge.
Ich wußte, wen ich vor mir hatte.
»Thursday …!« rief ich aufgeregt.
Die Frau im Bett runzelte die Stirn. Sie sah zu Bowden, der winkte
fröhlich zurück.
»Er ist nicht tot!« rief ich. Inzwischen wußte ich, daß es die
Wahrheit war. Das Brüllen des Sturms kam wieder näher. Nicht mehr
lange, und er würde uns mit sich fortreißen.
»Der Autounfall war ein Trick! Leute wie Acheron sind so leicht
nicht totzukriegen! Nimm den LitAg-Job in Swindon!«
Der Frau im Bett blieb gerade noch genug Zeit, mein letztes Wort zu
wiederholen, als sich die Erde auftat und wir von neuem in den
Mahlstrom stürzten. Nach einem überwältigenden Spektakel aus
buntem Lärm und lautem Licht wurde der Strudel durch den Parkplatz
einer Autobahnraststätte ersetzt. Der Sturm flaute ab und legte sich.
»War’s das?« fragte Bowden.
»Ich weiß nicht.«
Es war Nacht, und die Straßenlaternen tauchten das regennasse
Pflaster des Parkplatzes in gelbes Licht. Neben uns hielt ein Wagen,
ein großer Pontiac, in dem eine Familie saß. Die Frau schalt ihren
Mann, weil er am Steuer eingeschlafen war, und die Kinder weinten.
Sie waren anscheinend nur um Haaresbreite einem Unfall entgangen.
»Entschuldigung!« schrie ich. Der Mann kurbelte sein Fenster
herunter.
»Ja?«
»Welches Datum haben wir heute?«
- 296 -
»Welches Datum?«
»Den 18. Juli«, antwortete die Frau und warf ihm und uns einen
erbosten Blick zu.
Ich dankte ihr und drehte mich wieder zu Bowden um.
»Dann sind wir drei Wochen in der Vergangenheit?« fragte er.
»Oder neunundvierzig Wochen in der Zukunft.«
»Wenn nicht hunderteins.«
»Ich will wissen, wo wir sind.«
Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Bowden tat es mir nach, und
zusammen gingen wir zum Restaurant. Hinter dem Gebäude sah man
die Autobahn und dahinter die Fußgängerbrücke hinüber zur
Raststätte auf der anderen Seite.
Mehrere Abschleppwagen, die leere Autos hinter sich herzogen,
fuhren an uns vorbei.
»Hier stimmt doch was nicht.«
»Allerdings«, antwortete Bowden. »Nur was?«
Plötzlich flog die Restauranttür auf, und eine Frau bahnte sich einen
Weg nach draußen. Sie hatte eine Pistole in der Hand und stieß einen
Mann vor sich her, der prompt ins Straucheln geriet. Bowden zog
mich hinter einen geparkten Lieferwagen. Wir linsten vorsichtig um
die Ecke und sahen, daß die Frau ungebetenen Besuch bekommen
hatte; wie aus dem Nichts waren mehrere Männer erschienen, alle
bewaffnet.
»Ach du Scheiße …!« flüsterte ich, als mir klar wurde, was hier los
war. »Das bin ich!«
Und tatsächlich. Ich sah zwar etwas älter aus, war aber doch
zweifellos ich selbst. Das war auch Bowden nicht entgangen.
»Was haben Sie denn mit Ihren Haaren angestellt?«
»Gefallen Sie Ihnen lang besser?«
»Natürlich.«
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Einer der drei Männer befahl meinem anderen Ich, die Waffe fallen
zu lassen. Ich/sie sagte etwas, das wir nicht verstehen konnten, warf
die Waffe weg und ließ den Mann los. Einer der anderen Männer
packte ihn unsanft und riß ihn an sich.
»Was soll das alles?« fragte ich völlig verwirrt.
»Wir müssen los!« drängte Bowden.
»Und was ist mit ihr/mir?«
»Sehen Sie doch, wir müssen zurück!« Er zeigte auf unseren
Wagen. Der bebte leicht, als ob ihn ein Windstoß erfaßt hätte.
»Ich muß ihr/mir da unbedingt raushelfen!«
Doch Bowden zerrte mich zum Wagen, der jetzt heftig wackelte und
allmählich verblaßte.
»Moment!«
Ich riß mich los, zog meine Automatik und versteckte sie unter dem
erstbesten Wagen, dann rannte ich Bowden hinterdrein und sprang auf
die Rückbank des Porsche. Keine Sekunde zu früh. Ein greller Blitz,
ein Donnerschlag und endlich Stille. Ich schlug ein Auge auf und sah
Bowden an, der auf dem Fahrersitz gelandet war. Wo sich eben noch
der Autobahnrastplatz befunden hatte, verlief jetzt eine idyllische
Landstraße. Unsere Reise war zu Ende.
»Alles klar?« fragte ich.
Bowden strich sich den Dreitagebart, der ihm unerklärlicherweise
gewachsen war.
»Ich glaube, schon. Und wie geht’s Ihnen?«
»Den Umständen entsprechend.«
Ich tastete nach meinem Schulterholster. Es war leer.
»Mir platzt gleich die Blase«, sagte ich, auch wenn das nicht sehr
damenhaft war. »Ich habe das Gefühl, ich bin seit einer Woche nicht
mehr pinkeln gewesen.«
Bowden nickte mit gequältem Gesicht. »Das geht mir ähnlich. Wer
weiß, wie lange wir schon unterwegs sind.«
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Ich flitzte hinter eine Mauer. Bowden stakste über die Straße und
stellte sich vor eine Hecke.
»Was glauben Sie, wo wir sind?« rief ich hinter der Mauer hervor.
»Oder, besser, wann?«
»Wagen achtundzwanzig«, knatterte das Funkgerät, »bitte
kommen.«
»Wer weiß?« rief Bowden über die Schulter. »Aber wenn Sie das
unbedingt noch mal versuchen wollen, dann bitte mit jemand
anderem.«
Spürbar erleichtert trafen wir uns beim Wagen. Es war ein
wunderschöner Tag, trocken und recht warm. Der Duft von frischgemähtem Heu lag in der Luft, und in der Ferne hörte man einen
Traktor über ein Feld rumpeln.
»Was, bitte, sollte diese Raststättengeschichte?« fragte Bowden.
Ich zuckte die Achseln.
»Fragen Sie mich nicht. Ich kann nur hoffen, daß ich mit heiler Haut
davonkomme. Die Typen sahen nicht unbedingt so aus, als ob sie für
die Kirche sammeln würden.«
»Sie werden es noch früh genug erfahren.«
»Vermutlich. Trotzdem würde mich interessieren, wer der Mann
war, den ich zu schützen versuchte.«
»Keine Ahnung.«
Ich hockte mich auf die Kühlerhaube und setzte eine dunkle Brille
auf. Bowden ging zu einem Gatter und sah hinüber. Im Tal unter uns
drängten sich ein paar Häuser aus grauem Stein, und auf dem Feld
graste friedlich eine Herde Kühe.
Bowden zeigte auf einen Meilenstein, den er entdeckt hatte.
»Wir haben Glück.«
Dem Meilenstein zufolge waren es nur sechs Meilen bis Haworth.
Ich hörte nicht hin. Ich dachte an mich in meinem Krankenbett.
Hätte ich mich nicht gesehen, wäre ich nicht nach Swindon
- 299 -
gekommen, und wäre ich nicht nach Swindon gekommen, hätte ich
mir nicht dazu raten können. Mein Vater fand so etwas vermutlich
ganz normal, doch mich machte der Gedanke ziemlich nervös.
»Wagen achtundzwanzig«, plärrte das Funkgerät, »bitte kommen.«
Ich hörte auf zu grübeln und kontrollierte statt dessen den
Sonnenstand.
»Es müßte gegen Mittag sein.«
Bowden nickte zustimmend.
»Sind wir Wagen achtundzwanzig?« fragte er stirnrunzelnd. Ich
nahm das Mikrofon.
»Hier Wagen achtundzwanzig. Ich höre.«
»Na endlich!« sagte eine erleichterte Stimme über Funk. »Colonel
Rutter von der ChronoGarde möchte Sie sprechen.«
Bowden trat näher, damit er besser hören konnte. Wir wechselten
ratlose Blicke, weil wir nicht wußten, was jetzt kommen würde, eine
Standpauke, Glückwünsche und Belobigungen oder, und so war es
denn auch, beides.
»Officers Next und Cable. Können Sie mich hören?« drang eine
tiefe Stimme aus dem Lautsprecher.
»Jawohl, Sir.«
»Gut. Wo sind Sie?«
»Etwa sechs Meilen von Haworth entfernt.«
»Ach, ganz da oben?« Er lachte schallend. »Ausgezeichnet.« Er
räusperte sich. Es war soweit.
»Inoffiziell war das einer der tapfersten und mutigsten Einsätze, die
ich je erlebt habe. Sie haben zahlreiche Menschen vor dem Tod
bewahrt und Schlimmeres verhindert. Sie beide können sehr stolz auf
sich sein, und es wäre mir wahrhaftig eine große Ehre, zwei so
hervorragende Beamten wie Sie zu meinen Mitarbeitern zählen zu
dürfen.«
»Danke, Sir, ich …«
- 300 -
»Ich bin noch nicht fertig«, schnauzte er so laut, daß wir vor
Schreck zusammenfuhren. » Offiziell haben Sie gegen so ziemlich jede
denkbare Vorschrift verstoßen. Eigentlich müßte ich ein
Disziplinarverfahren wegen Amtsanmaßung und Überschreitung Ihrer
Befugnisse gegen Sie einleiten. Und wenn so etwas noch mal
vorkommt, tue ich das auch. Ist das klar?«
»Jawohl, Sir.«
Ich sah Bowden an. Uns interessierte nur eine Frage.
»Wie lange sind wir weggewesen?«
»Wir befinden uns im Jahr 2016«, sagte Rutter. »Sie waren,
einunddreißig Jahre weg!!«
- 301 -
28.
Haworth House
Es soll Leute geben, die den Humor der ChronoGarde
köstlich finden. Ich fand ihn schlichtweg grauenhaft. Ich
hatte gehört, daß die Gardisten neue Rekruten in
Gravitationsanzüge steckten und nur so zum Spaß eine
Woche in die Zukunft schickten. Das Spielchen wurde
erst verboten, als ein Rekrut jenseits des Konus
verschwand. Theoretisch ist er zwar immer noch da,
außerhalb unserer Zeit, kann aber weder in sie
zurückkehren noch mit uns Kontakt aufnehmen.
Berechnungen zufolge werden wir ihn in etwa
vierzehntausend Jahren einholen – und er wird bis dahin
nur um zwölf Minuten gealtert sein. Sehr witzig.
THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Wir waren auf einen makabren Scherz der ChronoGarde
hereingefallen. Rutters hatte uns gründlich veräppelt. In Wirklichkeit
war es kurz nach Mittag des nächsten Tages. Sieben Stunden waren
wir weggewesen, mehr nicht. Ernüchtert stellten wir unsere Uhren und
fuhren langsam nach Haworth hinein.
Im Haworth House war die Hölle los. Ich hatte gehofft, daß wir
ankommen würden, bevor der Medienzirkus seine Zelte aufschlug,
aber das Loch auf der M 1 hatte uns einen Strich durch die Rechnung
gemacht. Auch Lydia Startright vom Toad News Network war da und
berichtete für die Mittagssendung. Sie stand mit einem Mikrofon auf
der Treppe vor Haworth House und konzentrierte sich.
Dann gab sie ihrem Kameramann ein Zeichen, setzte ihre schönste
Betroffenheitsmiene auf und hob an.
- 302 -
»… Als heute morgen die Sonne aufging, begann die Polizei mit den
Ermittlungen in einem besonders dreisten Fall von Diebstahl und
Mord. Im Laufe des gestrigen Abends ist ein Unbekannter in das
Museum Haworth House eingedrungen und hat einen Wachmann
erschossen, der ihn daran hindern wollte, das Originalmanuskript von
Jane Eyre zu entwenden. Die Polizei ist bereits seit den frühen
Morgenstunden am Tatort, hält sich bislang jedoch bedeckt. Fest steht
nur, daß es offenbar deutliche Parallelen zum Diebstahl des Martin-
Chuzzlewit-Manuskripts gibt, der – trotz aller Bemühungen von
Polizei und SpecOps – bislang nicht aufgeklärt werden konnte. Nach
der Extraktion und anschließenden Ermordung Mr. Quaverleys muß
jedoch davon ausgegangen werden, daß Rochester und Jane von
einem ähnlichen Schicksal bedroht sind. Die Ermittler der Goliath
Corporation, die am heutigen Vormittag überraschend hier eintrafen,
waren – wie üblich – zu keinem Kommentar bereit.«
»Und … Schnitt! Das war schon sehr gut, Schätzchen«, verkündete
Lydias Producer. »Können wir das noch mal machen, ohne Goliath
beim Namen zu nennen? Das schneiden sie uns sowieso raus!«
»Mir doch egal.«
»Lyds, Baby …! Was glaubst du eigentlich, wer uns bezahlt? Ich
bin ja auch für Redefreiheit, aber bitte nicht in meiner Sendung,
hmm?«
Sie ignorierte ihn und schaute sich um, als ein Wagen vorfuhr.
Sofort hellte sich ihre Miene auf. Sie ging auf das Auto zu und winkte
ihrem Kameramann, ihr zu folgen.
Ein hagerer Polizeibeamter um die vierzig mit silbergrauem Haar
und dunklen Ringen unter den Augen blickte flehentlich gen Himmel,
als er sie kommen sah. Sein Gesicht verzog sich zu einer lächelnden
Maske. Geduldig wartete er, bis sie ihn den Zuschauern vorgestellt
hatte.
»Neben mir steht Detective Inspector Oswald Mandias von der
Kripo Yorkshire. Sagen Sie, Inspector, glauben Sie, es besteht ein
Zusammenhang zwischen diesem Verbrechen und dem Diebstahl?«
- 303 -
Er lächelte freundlich, schließlich würde er abends auf dreißig
Millionen Fernsehschirmen zu sehen sein. »Es ist noch zu früh, um
etwas Genaues zu sagen; wir werden uns aber zu gegebener Zeit an
die Presse wenden.«
»Ist das nicht ein Fall für die LitAgs? Jane Eyre ist schließlich einer
der wertvollsten Kunstschätze Yorkshires.«
Mandias sah sie an. »Im Unterschied zu anderen SpecOpsAbteilungen verlassen sich die LitAgs der Grafschaft Yorkshire auf
das Beweismaterial, das ihnen die Polizei zur Verfügung stellt. LitAgs
sind keine Polizeibeamten und haben bei einer polizeilichen
Ermittlung folglich nichts verloren.«
»Warum, glauben Sie, hat Goliath eigene Ermittler an den Tatort
geschickt?«
»Keine weiteren Fragen!« rief Mandias’ Stellvertreter, weil sich
inzwischen ein ganzer Pulk von Reportern um Lydia und Mandias
drängte. Die Goliath-Leute waren hiergewesen, mehr durfte die
Öffentlichkeit darüber nicht erfahren. Die Polizisten eilten weiter, und
Lydia machte Pause, um endlich etwas zu essen. Sie hatte schon vor
dem Frühstück mit der Liveberichterstattung begonnen. Kurz darauf
kreuzten Bowden und ich auf.
»Sieh mal einer an«, murmelte ich, als ich aus dem Wagen stieg.
»Wenn das nicht Lydia Startright ist. Morgen, Lyds!«
Lydia erstickte fast an ihrem SmileyBurger und warf ihn weg. Sie
schnappte sich ihr Mikrofon und jagte hinter mir her.
»Obwohl die LitAgs und Goliath offiziell nicht mit von der Partie
sind«, plapperte sie, während sie mit uns Schritt zu halten versuchte,
»haben die Ereignisse mit dem Eintreffen von Thursday Next von SO27 eine interessante Wendung genommen. Entgegen ihren üblichen
Gepflogenheiten haben die LitAgs ihren Schreibtisch verlassen und
nehmen den Tatort persönlich in Augenschein.«
Ich blieb stehen, um mich ein wenig zu amüsieren. Lydia
konzentrierte sich und begann mit dem Interview.
- 304 -
»Sagen Sie, Miss Next, was machen Sie hier, fernab Ihres
Zuständigkeitsbereiches?«
»Hallo, Lydia. Sie haben Mayonnaise an der Oberlippe.
SmileyBurger sind verdammt salzig, Sie sollten so etwas nicht essen.
Was den Fall angeht, kann ich nur sagen: ›Sie werden sicherlich
Verständnis dafür haben, daß wir die Einzelheiten aus
ermittlungstaktischen Gründen vorerst bla, bla, bla.‹ Zufrieden?«
Lydia unterdrückte ein Grinsen. »Meinen Sie, zwischen den beiden
Diebstählen gibt es einen Zusammenhang?«
»Mein Bruder Joffy ist ein großer Fan von Ihnen, Lyds; könnten Sie
mir nicht bei Gelegenheit ein Foto mit Widmung zukommen lassen?
Joffy mit zwei F. Ich danke Ihnen.«
»Das nächste Mal kommen Sie mir nicht so leicht davon!« rief sie
mir nach. »Bis bald!«
Wir traten vor die Polizeiabsperrung und wiesen uns aus. Der
diensthabende Constable inspizierte erst unsere Marken, dann uns. Er
schien nicht sonderlich beeindruckt. Er wandte sich an Mandias.
»Sir, diese beiden LitAgs aus Wessex wollen sich den Tatort
ansehen.«
Mandias kam quälend langsam näher. Er musterte uns von Kopf bis
Fuß und wählte seine Worte mit Bedacht. »Bei uns in Yorkshire sitzen
die LitAgs an ihrem Schreibtisch.«
»Das merkt man. Ich habe die Festnahmeprotokolle gelesen«,
erwiderte ich ungerührt.
Mandias seufzte. Vermeintliche »Eierköpfe« im Zaum zu halten,
besonders wenn diese aus einem anderen SpecOps-Bezirk stammten,
machte ihm offenbar keinen allzu großen Spaß.
»Ich habe es hier mit einem Doppelmord zu tun, und da möchte ich
den Tatort möglichst intakt belassen. Warum warten Sie nicht, bis der
Bericht vorliegt, und ermitteln dann weiter?«
»Die beiden Morde sind natürlich tragisch«, antwortete ich, »aber
hier geht es in erster Linie um Jane Eyre. Deshalb müssen wir den
Tatort untersuchen. Jane Eyre ist bedeutender als Sie oder ich. Wenn
- 305 -
Sie sich weigern, werde ich mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie
beschweren.«
Doch Mandias ließ sich durch – mehr oder minder leere –
Drohungen nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich waren wir in
Yorkshire. Er starrte mich an und sagte halblaut: »Nur zu, Mädchen,
beschwer dich, bei wem du willst. Auf solche Büromäuse wie dich
haben wir gerade gewartet.«
Ich machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, aber er wich nicht von
der Stelle. Ganz im Gegenteil: Ein weiterer Beamter ging hinter ihm
in Stellung, um ihm notfalls beispringen zu können.
Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, als Bowden sich
zu Wort meldete.
»Sir«, begann er, »wenn wir uns langsam auf ein Ziel zubewegen
könnten, wären wir möglicherweise in der Lage, uns sozusagen mit
kräftigen Krallenhieben aus der Grube zu befreien, die wir uns selbst
gegraben haben.«
Mit einem Mal war Mandias wie ausgewechselt. Er lächelte
feierlich: »Unter diesen Umständen wäre ich eventuell geneigt, Sie
rasch einen Blick hineinwerfen zu lassen – wenn Sie mir versprechen,
nichts anzurühren.«
»Auf mein Wort«, antwortete Bowden theatralisch und tätschelte
sich den Bauch. Die beiden schüttelten sich die Hand, zwinkerten
einander zu, und wir wurden ins Museum eskortiert.
»Wie, zum Teufel, haben Sie das jetzt gemacht?« fragte ich.
»Schauen Sie sich seinen Ring an«, flüsterte er.
Ich schaute. Er trug einen großen Ring mit ebenso sonderbarem wie
auffallendem Muster am Mittelfinger.
»Was ist damit?«
»Die Ehrwürdige Bruderschaft des Wombats.«
Ich grinste.
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»Also, worum geht’s?« fragte ich laut. »Ein Doppelmord und ein
fehlendes Manuskript? Und die Täter haben lediglich das Manuskript
mitgenommen, stimmt’s? Sonst nichts?«
»Stimmt«, antwortete Mandias.
»Und der Wachmann wurde mit seiner eigenen Dienstwaffe
erschossen?«
Mandias warf mir einen strengen Blick zu. »Woher wissen Sie
das?«
»Glückstreffer«, sagte ich ruhig. »Was ist mit den Videobändern?«
»Die werden noch überprüft.«
»Es ist nichts drauf, hab ich recht?«
Mandias warf mir einen mißtrauischen Blick zu. »Wissen Sie etwa,
wer dahintersteckt?«
Ich folgte ihm in das Zimmer, in dem sich einst das Manuskript
befunden hatte. Der unversehrte Glaskasten stand noch immer einsam
und verlassen in der Mitte des Raumes. Ich fuhr mit den Fingerspitzen
über eine leicht gesprenkelte, unebene Stelle an der Oberseite.
»Danke, Mandias, Sie sind ein Schatz«, sagte ich und ging wieder
hinaus. Bowden und Mandias sahen sich an und rannten beunruhigt
hinter mir her.
»Das ist alles?« fragte Mandias. »Das ist Ihre ganze Untersuchung?«
»Ich habe alles gesehen, was ich wissen wollte.«
»Können Sie mir denn nicht irgendwie weiterhelfen?« bettelte
Mandias, der seine liebe Mühe hatte, mit uns Schritt zu halten. Er sah
Bowden an. »Bruder, du kannst es mir doch verraten.«
»Wir sollten dem Detective Inspector sagen, was wir wissen,
Thursday. Das sind wir ihm schuldig.«
Ich blieb so plötzlich stehen, daß Mandias mich beinahe über den
Haufen gerannt hätte. »Sagt Ihnen der Name Hades etwas?«
Mandias wurde sichtlich blaß und sah sich nervös um.
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»Keine Sorge; er ist längst über alle Berge.«
»Es heißt, er sei in Venezuela ums Leben gekommen.«
»Es heißt, er könne durch Wände gehen«, entgegnete ich. »Es heißt
auch, er gebe Farbe an die Atmosphäre ab, wenn er sich bewegt.
Hades lebt, er ist gesund und munter, und ich muß ihn finden, bevor er
sich an dem Manuskript vergreift.«
Seit er wußte, wer hinter der ganzen Sache steckte, schien Mandias
von aller Tatkraft verlassen. »Und was soll ich jetzt tun?«
Ich zögerte einen Augenblick. »Beten Sie, daß Sie ihm nie
begegnen.«
Die Rückfahrt nach Swindon verlief ohne Zwischenfälle, und auf der
M 1 wies nichts auf die Schwierigkeiten der vergangenen Nacht hin.
Victor erwartete uns im Büro; er wirkte nervös.
»Der Commander hat mir den ganzen Vormittag damit in den Ohren
gelegen, daß die Versicherung nicht zahlt, wenn seine Leute sich
außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs betätigen«, sagte er.
»Immer dieselbe Scheiße.«
»Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe übrigens die meisten
Kollegen angewiesen, Jane Eyre zu lesen, nur für den Fall, daß etwas
passiert – aber bis jetzt ist alles ruhig.«
»Das ist nur eine Frage der Zeit.«
»Hmm.«
»Müller hat behauptet, Hades wäre in einem Ort namens Penderyn«,
sagte ich. »Gibt es da schon was Neues?«
»Nicht, daß ich wüßte. Schitt meinte, er habe das überprüft und eine
glatte Niete gezogen – es kommen über dreihundert Penderyns in
Frage. Aber das ist noch längst nicht alles. Haben Sie schon die
Morgenzeitung gelesen?«
Ich verneinte. Er zeigte mir die Seite zwei des Mole. Da stand:
- 308 -
TRUPPENAUFMARSCH AN
DER WALISISCHEN GRENZE?
Besorgt las ich weiter. Anscheinend hatte es in der Nähe von
Hereford, Chepstow und der umkämpften Grenzstadt Oswestry
Truppenbewegungen gegeben. Ein Militärsprecher hatte die Manöver
als »Übungen« abgetan, trotzdem hörte sich das gar nicht gut an. Ganz
und gar nicht gut. Ich wandte mich an Victor.
»Jack Schitt? Meinen Sie, er will das ProsaPortal so dringend haben,
daß er Wales dafür den Krieg erklären würde?«
»Wer weiß, wie weit die Macht der Goliath Corporation reicht?
Aber vielleicht hat er mit der Sache ja gar nichts zu tun. Es könnte
sich um einen bloßen Zufall handeln, trotzdem können wir es
natürlich nicht einfach ignorieren.«
»Dann müssen wir ihm zuvorkommen. Bloß wie?«
»Was hat Müller eigentlich genau gesagt?« fragte Finisterre.
Ich setzte mich. »Er hat geschrien: ›Er ist in Penderyn‹; sonst
nichts.«
»Sonst nichts?« erkundigte sich Bowden.
»Nein; als Schitt ihn fragte, welches Penderyn er meine, es gäbe
schließlich Hunderte davon, sagte Müller, es wäre ein Quiz.«
Bowden meldete sich zu Wort. »Was hat er gesagt? Quiz? «
»Ja, ›Quiz‹. Das hat er dann noch einmal wiederholt, und danach hat
er nur noch geschrien – er hatte wohl schreckliche Schmerzen. Die
Vernehmung ist natürlich aufgezeichnet worden, aber unsere
Chancen, an das Band zu kommen, sind wahrscheinlich gleich …«
»Vielleicht meinte er ja etwas anderes«, gab Bowden zu bedenken.
»Nämlich?«
»Ich spreche zwar nur ein paar Brocken Walisisch, aber gwesty heißt
Hotel.«
»Ach du grüne Neune«, rief Victor.
- 309 -
»Victor?« fragte ich, doch der durchforstete bereits den Berg von
Landkarten, die wir zusammengetragen hatten; alle Orte namens
Penderyn waren markiert. Er breitete einen großen Stadtplan von
Merthyr Tydfil über den Tisch und deutete auf einen Punkt zwischen
Justizpalast und Regierungsgebäude. Wir reckten die Hälse.
»Das Penderyn-Hotel«, sagte er grimmig. »Ich habe da meine
Flitterwochen verbracht. Einst war es dem Adelphi oder Raffles
ebenbürtig, aber seit den sechziger Jahren steht es leer. Wenn ich ein
sicheres Versteck suchen würde …«
»Da ist er!« sagte ich leicht nervös. »Da werden wir ihn finden.
Mitten in der walisischen Hauptstadt.«
»Und wie sollen wir da reinkommen?« fragte Bowden. »Wie sollen
wir unbemerkt nach Wales gelangen, in schwerbewachtes Gebiet
eindringen, uns Mycroft und das Manuskript schnappen und heil
wieder rauskommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Man muß ja schon auf ein Visum mindestens vier Wochen
warten!«
»Das schaffen wir schon«, sagte ich langsam. »Sind Sie
wahnsinnig?« rief Victor. »So etwas würde Commander Hicks
niemals zulassen!«
»Es sei denn, Sie überreden ihn.«
»Ich? Warum sollte Braxton auf mich hören?«
»Weil ihm nichts anderes übrigbleibt.«
- 310 -
29.
JaneEyre
Jane Eyre erschien 1847 unter dem Pseudonym Currer
Bell, einem betont neutralen Namen, der Charlotte
Brontës Geschlecht bewußt verbarg. Der Roman war ein
großer Erfolg; William Thackeray nannte ihn »einen
Geniestreich«. Aber es gab auch Kritiker des Buches: G.
H. Lewes riet Charlotte, sich mit dem Werk Jane Austens
zu befassen und »ihre Schwächen nach dem Vorbild
jener großen Künstlerin zu korrigieren«. Charlotte hielt
dagegen, Miss Austens Werk sei – gemessen an dem, was
sie sich vorgenommen habe – recht eigentlich gar kein
Roman, und nannte es »einen höchst kultiviert bestellten
Garten ohne freie Flächen«. Das endgültige Urteil steht
noch aus.
W.H.H.F. RENOUF
-Die Brontës
Hobbes schüttelte den Kopf, weil er sich auf den Fluren von
Thornfield Hall nur schwer zurechtfand. Es war Nacht, und in
Rochesters Haus herrschte Totenstille. Der Flur lag im Dunkeln, und
Hobbes tastete nach seiner Taschenlampe. Ein orangefarbener
Lichtstrahl durchbohrte die Finsternis, während Hobbes sich langsam
über den Korridor im oberen Stockwerk schob. Vor sich sah er eine
angelehnte Tür, durch die der matte Flackerschein einer Kerze drang.
An der Tür blieb er stehen und spähte vorsichtig in das erleuchtete
Zimmer. Er sah eine in Lumpen gekleidete Frau mit wild zerzaustem
Haar, die gerade den Inhalt einer Petroleumlampe auf die Bettdecke
goß, unter der Rochester schlief.
Plötzlich wußte Hobbes, wo er war; gleich würde Jane kommen und
den Brand löschen, er wußte nur nicht, aus welcher Tür. Er wandte
sich um und fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als er sich einer
- 311 -
hochgewachsenen Frau mit gerötetem Gesicht gegenübersah. Sie roch
stark nach Alkohol und funkelte ihn herausfordernd und mit kaum
verhohlener Verachtung an. So standen sie eine ganze Weile da;
Hobbes fragte sich, was tun, während die Frau leise schwankte, ihn
jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ. Als Hobbes schließlich in
Panik geriet und seine Waffe ziehen wollte, ergriff die Frau
blitzschnell seinen Arm und umklammerte ihn so fest, daß Hobbes
sich sehr zurückhalten mußte, um nicht laut aufzuschreien vor
Schmerz.
»Was machen Sie hier?« zischte sie, und eine Augenbraue zuckte.
»Wer, in Gottes Namen, sind Sie?« fragte Hobbes.
Ehe er sich’s versah, hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige versetzt.
»Mein Name ist Grace Poole«, sagte Grace Poole. »Ich bin zwar nur
eine Bediente, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, den
Namen des Herrn zu mißbrauchen. Sie gehören nicht hierher, das sehe
ich an Ihrer Kleidung. Was wollen Sie?«
»Ich, ähm, arbeite für Mr. Mason«, stammelte er.
»Unfug«, erwiderte sie und starrte ihn feindselig an.
»Ich will Jane Eyre«, stotterte er.
»Das will Mr. Rochester auch«, sagte sie sachlich. »Aber er küßt sie
erst auf Seite einhunderteinundachtzig.«
Hobbes warf einen Blick ins Zimmer. Die Irre tanzte gackernd und
grinsend umher, während die Flammen auf Rochesters Bett von
Sekunde zu Sekunde höher schlugen.
»Wenn sie nicht bald kommt, gibt es keine Seite
hunderteinundachtzig.«
Grace Poole fixierte ihn mit bösem Blick.
»Sie wird ihn retten, wie sie ihn schon tausendmal gerettet hat und
noch weitere tausend Mal retten wird. So war es immer, und so wird
es bleiben.«
»Ach ja?« gab Hobbes zurück. »Wenn Sie sich da mal nicht
gewaltig täuschen.«
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Doch jetzt kam plötzlich die Irre aus dem Zimmer und stürzte sich
mit ausgestreckten Krallen auf ihn. Mit einem wahnsinnigen Lachen,
das ihm das Trommelfell zu zerreißen drohte, schlug sie ihm ihre
scharfen, ungeschnittenen Fingernägel in die Wangen. Er jaulte vor
Schmerz, und Grace Poole nahm Mrs. Rochester in den
Schwitzkasten, drehte ihr den Arm auf den Rücken und zerrte sie mit
sich zum Dachboden. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und
sagte zu Hobbes: »Denken Sie daran: So war es immer, und so wird es
bleiben.«
»Und Sie wollen gar nichts unternehmen, um mich aufzuhalten?«
fragte Hobbes ungläubig.
»Ich bringe die arme Mrs. Rochester jetzt nach oben«, antwortete
sie. »So steht es geschrieben.«
Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen, wurde sein
Augenmerk wieder auf das brennende Zimmer gelenkt. »Aufwachen!
Aufwachen!« schrie eine Stimme. Und richtig: Eben kippte Jane im
Nachthemd einen Krug Wasser über Rochesters reglose Gestalt.
Hobbes wartete, bis das Feuer aus war, zog seine Waffe und trat ins
Zimmer. Die beiden blickten auf, und die »Elfen der Christenheit«
erstarben auf Rochesters Lippen.
»Wer sind Sie?« fragten sie wie aus einem Munde.
»Ach, das würde zu weit führen. Glauben Sie mir!«
Hobbes nahm Jane am Arm und schleifte sie mit sich auf den Flur.
»Edward! Mein Edward!« flehte Jane und streckte die Arme nach
Rochester aus. »Ich werde dich nicht verlassen, Geliebter!«
»Moment mal«, sagte Hobbes und hielt inne. »Aber ihr beiden seid
doch noch gar nicht verliebt!«
»Irrtum«, murmelte Rochester und zog eine Perkussionspistole unter
seinem Kopfkissen hervor. »Ich hatte bereits vermutet, daß so etwas
geschehen würde.« Er nahm Hobbes ins Visier und drückte ab. Doch
die große Bleikugel verfehlte ihr Ziel und blieb im Türrahmen
stecken. Hobbes gab einen Warnschuß ab; Hades hatte ausdrücklich
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darauf bestanden, daß die Romanfiguren unversehrt blieben.
Rochester zog eine zweite Pistole und spannte den Hahn.
»Lassen Sie sie los«, rief er, sein Unterkiefer mahlte, und sein
dunkles Haar hing in feuchten Strähnen in sein Gesicht.
Hobbes hielt Jane wie einen Schutzschild vor sich.
»Machen Sie keinen Quatsch, Rochester! Wenn alles glattgeht,
bekommen Sie Jane umgehend wieder; Sie werden nicht mal merken,
daß sie weg war!«
Hobbes zerrte Jane rückwärts über den Flur, bis zu der Stelle, wo
sich jeden Augenblick das ProsaPortal öffnen würde. Rochester folgte
ihm, die Pistole im Anschlag, und mußte schweren Herzens mit
ansehen, wie seine einzig wahre Liebe kurzerhand aus dem Roman
entfernt und an jenen anderen Ort verbracht wurde, wo Jane und er
niemals so würden leben können wie in Thornfield. Hobbes und Jane
verschwanden durch das Portal, das sich jäh hinter ihnen schloß.
Rochester ließ seine Waffe sinken und starrte düster vor sich hin.
Kurz darauf waren Hobbes und eine zutiefst verwirrte Jane durch das
ProsaPortal gestürzt und im heruntergekommenen Rauchsalon des
alten Penderyn-Hotels gelandet.
Acheron half Jane auf und legte ihr seinen Mantel um die Schultern,
damit sie nicht fror. Im Unterschied zu Thornfield Hall war es im
Hotel ziemlich zugig.
»Miss Eyre …!« begrüßte Hades sie gutgelaunt. »Mein Name ist
Hades, Acheron Hades. Es ist mir eine Ehre, Sie als meinen Gast
willkommen zu heißen; bitte nehmen Sie Platz, und machen Sie es
sich bequem.«
»Edward …?«
»Keine Bange, meine liebe Freundin. Kommen Sie, ich bringe Sie in
einen wärmeren Flügel des Hotels.«
»Werde ich meinen Edward jemals wiedersehen?«
Hades lächelte.
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»Das kommt ganz darauf an, wieviel Sie Ihren Lesern wert sind.«
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30.
Eine Welle der Betroffenheit
Ich glaube, vor Jane Eyres Entführung war sich niemand
– schon gar nicht Hades selbst – darüber im klaren, wie
beliebt sie eigentlich war. Es war, als habe man dem
englischen Volk die Symbolfigur seines literarischen
Erbes genommen. Etwas Besseres hätte uns gar nicht
passieren können.