9. Kapitel

Hört Ihr mich, Herrin?« Viriotali sprach leise, damit seine Stimme die abgewetzten Planen des Wagens nicht verließ. »Seid Ihr wach?«

»Ja, leider.« Sumelis’ Antwort war zwar nicht mehr als ein Hauch, sie stimmte den Krüppel gleichwohl froh. Er meinte, ein Echo ihres feinen Humors darin zu hören, und warf ohne weiteres Zögern den Becher mit dem Kräutertrank, den er Sumelis zu bringen sich angeboten hatte, durch einen Riss in der Wagenplane nach draußen. Von niemandem beachtet, versickerte die Flüssigkeit im trockenen Untergrund neben den Rädern.

Das hätte ich schon mit dem ersten Gebräu tun sollen!, dachte Viriotali triumphierend.

Sumelis setzte sich auf und rieb sich die Augen. Sie sah zwar nicht besser aus, immer noch erschöpft und verheult, doch immerhin war sie ansprechbar. Einen ganzen Tag hatte Viriotali warten, zwischen den Wägen der Priesterinnen lauern müssen, bis Sumelis einen Moment lang alleine war und er zudem davon ausgehen konnte, dass die Wirkung des letzten Tranks nachgelassen hatte.

»Ich bin hier, um Euch zu retten!«, platzte es aus Viriotali heraus. »Ich bringe Euch fort von hier. Dann kann Euch niemand mehr etwas antun!«

Überrascht hörte Sumelis auf, ihre Augen zu reiben. »Was?«, fragte sie verwirrt.

»Rascil will Euch zugrunde richten! Ich habe sie reden hören – von einem stärkeren Trank und dass sie Euren Willen brechen wolle. Ihr seid ein Spielzeug für sie! Und Boiorix hat mich gestern nach Euch gefragt. Es klang, als hätte er irgendetwas mit Euch vor. Nein, ich kann Euch nicht sagen, was. Ich weiß es nicht.«

Der Krüppel krabbelte zum vorderen Ende des Wagens und spähte hinter der Plane hervor. Um ihn herum setzten sich die Gespanne der Priesterinnen eines nach dem anderen in Bewegung. Von Rascil oder einer der älteren weißgekleideten Frauen war nichts zu sehen. Vor sich hin murmelnd, eilte Viriotali wieder zurück an Sumelis’ Seite.

»Schnell! Wir müssen uns beeilen.« Er warf eine Decke über ihren Körper. »Versteckt Euch darunter!«

»Wie wollt Ihr mich von hier fortbringen?«

»Kümmert Euch nicht darum! Vertraut mir!« Von Sumelis’ Zögern verunsichert, brach der Krüppel ab. Tief Atem holend, fuhr er fort: »Ich weiß, ich habe Euch Schreckliches angetan und, und … Verzeiht mir, Herrin! Jetzt, mit dem Krieg gegen die Römer, also …« Sein Gestammel erstarb. Stattdessen hob Viriotali eine Hand und strich Sumelis sanft eine Haarsträhne aus der Stirn. »Könnt Ihr mir nicht vertrauen?«

Sumelis schluckte. Ausweichend drehte sie den Kopf weg. »Ja. Ich meine: doch. Nur, ich habe auch Nando vertraut, als er mich von hier fortbrachte. Und er, er hatte sicherlich eher einen Grund, mich fortzubringen, als Ihr. Mit seinem Versprechen mir gegenüber.« Abermals schluckte sie hart. »Mit den Gefühlen, die er für mich hatte. Oder von denen ich glaubte, er hätte sie.«

Viriotalis Hand schwebte reglos über Sumelis’ Stirn in der Luft. Er fühlte sich, als hätte sich plötzlich das Holz des Wagens unter ihm aufgetan und ihn in einen tiefen Schacht stürzen lassen. Genauso hohl klang auch seine Stimme, da er sich vergewisserte: »Nando hat Euch fortgebracht? Wann?«

»Wann? Ich weiß nicht, wann. Als Boiorix fast gestorben wäre. Nando hat mich fortgebracht, nach Norden, bis wir schon fast in Sicherheit waren. Er wollte – er dachte daran, mit mir zu kommen. In jener Nacht haben wir … Süße Göttin, ich war so sicher!« Tränen liefen über Sumelis’ Wangen, während sie sprach, erstickten ihre Worte. Dagegen fand sich der Krüppel unvermittelt bar jeden Mitleids, bar überhaupt jeden Gefühls, welches soeben noch stark durch seine Adern gerauscht war.

»Ihr und Nando«, zwang er sich zu fragen, »Ihr seid ein Liebespaar?«

»Waren.« Sumelis presste die Lippen aufeinander. Bitter fügte sie hinzu: »Ein großes Wort für – für nichts am Ende.«

»Nando hat Euch verraten? Er hat Euch zurückgebracht?«

Sie nickte wortlos. Erst als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, gab sie zu: »Ich weiß nicht, weshalb ich Euch das erzähle. Ich will nur, dass Ihr versteht, weshalb Ihr mich in diesem Zustand seht. Es tut mir leid.«

»Ihr wollt gar nicht fort?«

Stille. Viriotali konnte kaum glauben, dass er diese Frage überhaupt stellte. Schließlich, nach einer Handvoll zitternder Herzschläge, drehte Sumelis abermals den Kopf, diesmal, um den Helvetier erneut anzusehen.

»Doch!«, sagte sie fest. »Ich möchte fort. Es gibt keinen Grund mehr für mich, hier zu bleiben. Schafft mich hier weg, Viriotali, wenn Ihr könnt. Bitte!«

Einen Moment lang war der Krüppel versucht, rundheraus abzulehnen. Sumelis anzuschreien, er hätte den Plan geändert, verworfen. Er fühlte sich verraten, obwohl er wusste, wie unsinnig dieses Gefühl war. Immerhin hatte sogar er bemerkt, wie sie Nando immer angeschaut hatte. Auf eine Art, wie sie ihn, Viriotali, niemals anschauen würde. Keine Frau. Niemals.

Narr, Narr, Narr!, toste es durch seinen Kopf. Wie viel Dummheit konnte in diesem erbärmlichen Körper denn noch stecken? Er war eine lächerliche Gestalt. Jämmerlich! Ein verdammter Krüppel – außen wie innen.

Ein Teil seiner Anklagen musste sich in seiner Miene spiegeln, denn Sumelis drückte seine Hand. »Bitte«, flüsterte sie. »Ihr seid der Einzige, der jetzt noch auf meiner Seite steht.«

Sie sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Er war tatsächlich der Einzige, der ihr jetzt noch helfen würde. Auch wenn er in allem anderen immer der Letzte sein würde. Und Viriotali wusste, wenn er Sumelis jetzt im Stiche ließe, wäre er für ewig nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Seele ein Krüppel.

»Also gut.« Seine Hand sank herab und griff resolut nach der rauhen Decke. »Verhaltet Euch still!«, befahl er, dann zog er die Decke über Sumelis’ Scheitel, bis kein einziges Haar mehr darunter hervorschaute.

Es war nicht schwer, die wenig später erscheinende Novizin davon zu überzeugen, dass Sumelis auf einen anderen Wagen gebracht worden sei, zumal dieser hier leer und zu den Versorgungswägen geschafft werden solle. Ja, er würde ihn selber lenken. Wo Sumelis denn sei? Dort, der Wagen, der sich gerade einreihte, mit den zwei kleineren Ochsen, dort könne sie sie finden. Und er hätte leider beim Umladen den Becher verschüttet, ob das Mädchen losrennen und einen neuen Trank beschaffen könne? Sie könnte den Becher Sumelis dann hinterhertragen, bei dem langsamen Tempo wäre es bestimmt kein Problem, den Wagen einzuholen.

Die Novizin eilte davon. Der Krüppel gestattete sich ein zufriedenes Durchatmen, ehe er sich auf dem Wagenbock niederließ und die Zügel aufnahm. Einen Moment später setzten sich die Räder quietschend in Bewegung. Viriotali lenkte den Wagen aus der Spur der anderen heraus nach Norden. Winkend grüßte er umherrennende Kinder, schrie Entschuldigungen, wenn Fußgänger oder Reiter ihm ausweichen mussten, und erreichte bald schon die Versorgungswägen mit dem Getreide. Dort wartete Viriotalis Diener mit einem kleineren Pferdegespann versteckt zwischen zwei Karren, die bis oben hin mit Gerste beladen waren. Bei all der Hektik, die hier herrschte, achtete niemand darauf, wie Sumelis aus dem Wagen schlüpfte und auf den kleineren kletterte, wo Viriotali sogleich erneut eine Decke über sie warf. Kurz darauf ratterte der kleine Wagen erheblich schneller als der erste los, querte den nordöstlichsten Rand des Lagers, wo die ärmsten Fußkämpfer mit ihren Sippen ihre notdürftigen Behausungen abbauten und ihre armseligen Habseligkeiten auf Handkarren und Zuggestellen verstauten. Niemand gönnte dem Krüppel und seinem Diener auf dem knarrenden Wagen mit der unauffälligen alten Mähre davor auch nur einen zweiten Blick. Unterdessen gesellten sich zwei weitere Reiter zu ihnen – zwei der wenigen verbliebenen Tiguriner, die den Kimbernzug bis in die Ebene begleitet hatten und Viriotali und Sumelis auf ihrer Flucht beschützen würden. Der Krüppel begann zu pfeifen.

Als sie sich einreihten in eine kurze Schlange, die darauf wartete, einen Bachlauf auf einer schwankenden Balkenbrücke zu überqueren, holten Rascils Schergen sie ein.

 

»Glaubt mir, Krüppel, ich war selten so gespannt auf eine Erklärung wie jetzt.«

Es war der spöttische Unterton, aufgrund dessen der Krüppel den Kopf noch ein wenig tiefer zwischen die Schultern zog. Wenn Boiorix spottete, floss meistens kurz darauf Blut, und Viriotali wünschte sich beinahe, es würde ihm dieselbe Gnade gewährt werden, die Sumelis wohl gerade wieder genoss: den Saft des Mohns. Schmerzen vergessen. Dämmern. Träumen. Viriotali hatte immer gerne geträumt. Im Traum war er stets groß und stark gewesen. Ein Held. Ein Retter, der niemals versagte.

»Nun?«, hakte Boiorix geduldig nach.

Lediglich Boiorix’ vorgebliche Geduld versprach noch mehr Gefahr als sein Spott. Der Krüppel fällte seine Entscheidung.

»Ich wollte Sumelis fortbringen, damit sie mir vertraut«, behauptete er und zwang sich dabei, dem König in die hellen Augen zu blicken, obwohl ihm allein bei dem Blickkontakt der kalte Schweiß ausbrach. »Ich dachte, sie würde mir ihr Geheimnis verraten, Seelen zu sehen.«

»Schwachsinn!« Die Stimme des Königs wurde nicht einmal lauter. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken gegen seinen hochgewachsenen Hengst. Das Tier, in voller Pracht gezäumt und mit in die Mähne geflochtenen länglichen Knochenamuletten, drehte den Hals und bleckte die Zähne. Fast erweckte es den Eindruck, als würde es sich auf menschliches Futter freuen. »Belügt mich nicht, Zwerg! Sonst nehmt Ihr Euch die letzte Chance, mir einen Grund zu geben, Euch nicht sofort zu töten.«

»Nein, Herr! Ich, ich wollte wirklich ihr Geheimnis erkunden, das müsst Ihr mir glauben! Es gibt einiges, was Ihr nicht wisst, mein König!«

»Was Ihr mir vorenthalten habt?«

Der Krüppel zögerte.

»Spuckt es aus! Vielleicht verschone ich Euch dann!«

Scham beherrschte Viriotalis Gedanken, wenn auch nicht seine Zunge: Ich verkaufe meine Seele für das Leben in diesem armseligen Körper. Wieso kann ich nicht den Mut aufbringen und ehrenvoll sterben?

»Nando hat mit Sumelis gelegen.«

Die hastig hervorgestoßenen Worte erfüllten jedoch nicht ihren erwünschten Zweck. Boiorix blieb unberührt.

»Und? Soll er, was kümmert mich das? Offenbar hat es ihn nicht sonderlich beeindruckt, meint Ihr nicht auch? Nando hat immerhin nicht versucht, sie heimlich fortzubringen – im Gegensatz zu Euch, Geisel!«

Der Krüppel öffnete den Mund, hustete und schloss ihn wieder. »Es gibt da noch etwas, was Ihr nicht wisst«, krächzte er endlich. »Anfangs dachte ich, es sei nicht wichtig, aber ich habe mich mit Sumelis unterhalten. Sie schien …«

»Fasst Euch kurz, denn falls es Euch entgangen sein sollte: Es gibt da einen Krieg, der meine Aufmerksamkeit erwartet!«

»Sumelis ist Carans Enkelin. Erinnert Ihr Euch an Caran? Den Herrn von Alte-Stadt, Fürst der Vindeliker? Jedenfalls, Caran hatte eine Tochter: Talia. Talia ist Sumelis’ Mutter. Ich habe gehört, sie wäre –«

Boiorix’ Schlag hob den Krüppel hoch und wirbelte ihn wie einen Sack Mehl durch die Luft. Viriotali schlug hart auf dem Boden auf. In seiner Brust knackte es, Funken irrlichterten vor seinen Augen. Der Aufprall presste ihm den Atem aus den Lungen, und einen Moment lang dachte er, er würde jetzt, in diesem Augenblick, sterben. Einfach so. Unbemerkt, bedeutungslos.

»Wieso habt Ihr mir das nicht schon früher erzählt, Ihr Narr?« Einen Moment lang war das Gesicht des Königs verzerrt, dann glättete es sich unvermittelt wieder. Vielmehr runzelte er ganz leicht die Stirn. Langsam, beinahe verwundert, sank seine Faust herab.

Ächzend zog sich Viriotali in eine sitzende Position. Er krabbelte rückwärts, fort aus Boiorix’ Reichweite, dabei schien ihn der Kimbernkönig vorübergehend vergessen zu haben. Mit der Zungenspitze fuhr der Krüppel über einen lockeren Zahn in seinem Mund, spuckte rosigen Speichel aus. Indessen ging Boiorix’ Blick einfach durch ihn hindurch, untypisch in sich gekehrt. Seine Lippen bewegten sich mit den rasenden Gedanken. Der Krüppel befühlte seinen schwellenden Kiefer und wimmerte vor Angst.

»Niemand weiß davon?«, forschte Boiorix schließlich gedehnt nach. »Ihr habt es niemandem sonst erzählt? Rascil, Nando?«

»Nein! Wenn ich es Euch doch sage! Das heißt, Nando, natürlich, vor dem Winter. Er musste es ja wissen, um Sumelis zu finden. Er musste wissen, dass er nach Carans Tochter oder Enkelin suchte – den mächtigsten Zauberinnen der Vindeliker.«

»Ich verstehe.«

»Ich weiß, ich hätte es Euch früher sagen sollen, Herr. Carans Enkelin. Wie viel wertvoller sie das für Euch macht!«

»Nun, zugegeben, die Vindeliker liegen schon weit hinter uns. Und mit Rom vor uns, wer würde sich da noch für Alte-Stadt interessieren? Oder für Caran?« Boiorix klang noch immer gedankenverloren. Sein versöhnlicher Tonfall stimmte den Krüppel misstrauisch.

»Dann findet Ihr das nicht wichtig?«

»Wichtig? Nein, nicht wirklich. Nur … interessant.«

Ein Schweigen machte sich breit, das nur gestört wurde von den emsigen Aktivitäten der Pferde und Krieger um sie herum und dem leisen Streichen, mit dem Boiorix über seinen Bart fuhr.

»Darf ich gehen, Herr?«, fragte der Krüppel vorsichtig.

Die kalten Augen richteten sich wieder auf ihn. »Gehen? O ja. Wartet!« Boiorix pfiff einen Krieger herbei und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Mann verschwand. Es dauerte nicht lange, bis er mit einem zerzausten Pony zurückkehrte, ein altes Tier, so hässlich, dass es einen bei seinem Anblick beinahe schauderte. Boiorix gab einen weiteren Befehl, der Krieger bückte sich und hob den verblüfften Krüppel ohne langes Federlesen auf den Rücken des Ponys.

Viriotali schrie auf. »Was soll das, Herr?«

»Ich töte Euch nicht. Ich weiß etwas Besseres.« Boiorix bleckte die Zähne. »So wie Ihr jetzt seid, verlasst Ihr dieses Lager! Sofort. Ihr werdet mir nicht mehr unter die Augen kommen, mit niemandem hier mehr sprechen! Die Zeit, in der Ihr von Nutzen wart, ist vorbei.«

»Ich soll das Lager verlassen?«

»Ja.«

»Jetzt gleich? Ohne –«

»Jetzt gleich. Allein. Haut ab zu Eurem eigenen Volk, wenn Ihr es vermögt!«

»Über die Berge? Aber wie soll ich das machen?«

»Ein Mann schafft diese Reise allein. Seht es als eine Möglichkeit, Euch als solcher zu beweisen, Zwerg!«

»Ich habe nicht einmal Waffen! Keinen Umhang, kein Geld, nichts bei mir!«

»Das ist Euer Problem.«

»Gebt mir ein paar Männer als Begleitschutz, Boiorix!«, flehte Viriotali. »Wollt Ihr, dass ich sterbe?«

Boiorix hob vielsagend die Augenbrauen. Fassungslos starrte der Krüppel ihn an, dann an seinem eigenen, in leichte Tuche gekleideten schmerzenden Körper hinab, an dessen Gürtel einzig eine mittlerweile leere Messerscheide steckte. Alles andere war auf dem Wagen gewesen, mit dem er Sumelis aus dem Lager hatte bringen wollen, oder war ihm von Boiorix’ Leibgarde abgenommen worden.

»Die Männer, die Euch heute hätten begleiten sollen, sind tot, Krüppel. Wollt Ihr Euren Diener vielleicht noch einmal sehen?« Boiorix deutete lässig über seine Schulter bis zu einer Eiche, deren Wipfel sich einsam über Menschen, Tiere und Wagen erhob. »Es war gar nicht so leicht, einen passenden Ast in diesem Lager für ihn zu finden. Bis Rascil sich darum gekümmert hat. Ein geweihter Baum. Ein Opfer für unseren bevorstehenden Kampf. Passend, findet Ihr nicht?«

Der Krüppel schlug, gegen aufsteigenden Brechreiz ankämpfend, einen Ärmel vor den Mund. Der Krieger, der ihn aufs Pferd gesetzt hatte, bemerkte es und spuckte verächtlich aus, bevor er vorsichtshalber einen Schritt zurücktrat.

»Die Tiguriner stehen noch immer am Fuß der Berge, wo sie auf die Kunde unseres Siegs warten«, fuhr Boiorix fort. »Natürlich haben sie verräterisches Blut in den Adern – eine helvetische Krankheit offenbar –, was Euch selbstverständlich nicht zu kümmern braucht. Es sei denn, sie meinen, keine Loyalität Euch gegenüber empfinden zu müssen. Falls Ihr es überhaupt bis dorthin schafft, Krüppel.«

Boiorix beugte sich zu ihm. »Damit wir uns verstehen: Solltet Ihr heute Abend den letzten räudigen Hund dieses Zugs nicht hinter Euch gelassen haben, lasse ich Euch töten.«

»Boiorix, seht mich an!«, schrie Viriotali auf. »Habt Erbarmen!«

»Das habe ich doch. Oder weshalb sonst, meint Ihr, zeige ich mich so nachsichtig? Jeden echten Mann hätte ich eigenhändig getötet!« Boiorix gab dem Krieger einen Wink. »Schaff ihn mir aus den Augen! Und sieh zu, dass er das Lager nur mit dem verlässt, was er am Leib trägt!«

Boiorix wartete, bis ein sehr blasser Krüppel, der wie betrunken auf dem Rücken des Ponys hin und her schwankte, mit dem Krieger verschwunden war. Dann machte er kehrt und eilte zwischen den Männern seiner Leibgarde hindurch, die auf ihn wartenden Boten und Kriegsführer völlig ignorierend.

Die Gespanne der Priesterinnen standen nicht allzu weit entfernt, in gebührendem Abstand zu der Eiche, an deren kräftigsten Ast die nach Urin stinkende Leiche von Viriotalis Diener baumelte. Rascil war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich weidete sie sich gerade am Anblick des Krüppels, wie er mittellos auf seinem mageren Gaul aus dem Lager gescheucht wurde.

Auf einen Wink des Königs hin verschwand die Priesterin, die neben Sumelis’ ausgestrecktem Körper auf einem der Wagen wachte. Boiorix wartete, bis er mit dem Mädchen allein war, dann bückte er sich, um in Sumelis’ schlafendem Gesicht zu forschen.

Sumelis’ Züge waren gerötet, der Mund offen und schlaff. Ein Speichelrest hatte sich im Mundwinkel gesammelt. Während Boiorix sie musterte, zuckte es kurz auf ihrer Stirn, gefolgt von einem keuchenden Atemzug. Das Mädchen hatte schon besser ausgesehen, stellte Boiorix fest und nahm sich vor, Rascil noch einmal daran zu erinnern, dass er für Sumelis schon bald Verwendung haben würde. Aber das war nicht der Grund, der ihn hatte hierhereilen lassen.

Der Kimbernkönig erinnerte sich nicht mehr genau, wie Talia, Carans angebliche Tochter, ausgesehen hatte, nur ihre ungewöhnlich goldfarbenen Augen schwebten vage durch sein Gedächtnis. Man hatte ihm Talia einst als Braut angeboten, welche Frechheit! Boiorix hatte gewusst, dass sie eine Haushälterin auf Carans Hof gewesen war, eine Hure, die mit Atharic gelegen hatte, und so hatte er sie wutentbrannt zu ihrem Vater zurückgeschickt und nie mehr gesehen. Möglich, dass Sumelis ihr ähnlich sah. Aber das kümmerte ihn nicht. Talia war unwichtig. Wichtig war nur …

Alte Feindschaften.

Boiorix erinnerte sich nur zu gut an Atharics Gesichtszüge. Götter, wie oft hatte er sich gewünscht, er hätte diesen selbstgerechten Bastard getötet! Bis Nando zu ihnen gestoßen war und die Abscheu des Sohnes in Boiorix’ persönlichen Triumph verwandelt hatte.

Atharic.

Boiorix spuckte angewidert aus, dann konzentrierte er sich wieder auf die junge Frau. Nein, von Atharic, diesem Feigling, sah er nichts in Sumelis’ Antlitz. Da war keine Ähnlichkeit, ganz im Gegensatz zu Nando, der in seinen Zügen noch ein Echo des Mannes trug, den sie beide verabscheuten. Man musste nur wissen, wonach man suchte, dann konnte man es sehen. O ja, es hatte Boiorix oft Freude bereitet, den Sohn seines ehemaligen Schwagers nach seinen Vorstellungen zu formen, zu beobachten, wie sich Nandos Gesichtszüge langsam wandelten, bis mehr von Boiorix in ihm war denn von Atharic, seinem leiblichen Vater. Bei Sumelis hingegen erinnerte ihn nichts an Atharic. Das wäre wohl auch ein zu großer Zufall gewesen, überlegte er, ein schallender Witz der Götter, wenn sie gemeint hätten, ihm auch noch ein zweites Kind Atharics in die Hände spielen zu müssen. Vielleicht, ja, jetzt wo er sich konzentrierte, mochte er gar Caran in Sumelis’ Zügen erkennen, selbst wenn seine Erinnerung an den Herrn von Alte-Stadt durch die Jahre getrübt war. Aber an Atharic erinnerte sie ihn gewiss nicht.

Und dennoch: Das Alter stimmte. Sumelis konnte durchaus in dem Sommer gezeugt worden sein, in dem Atharic in Alte-Stadt geweilt hatte, als Carans Söldner und Talias Liebhaber.

»Du!« Boiorix stieß Sumelis mit der Fußspitze an. »Wer ist dein Vater?«

Sumelis’ Augenlider flatterten. Sie drehte sich zur Seite und zog die Knie schützend an die Brust. Boiorix trat abermals zu. »Wer ist dein Vater? Wer hat dich gezeugt?«

Diesmal schien er zu ihr durchzudringen. Sumelis bewegte die Lippen, verhangene Augen öffneten sich und sanken sofort wieder zu.

»Wer hat dich gezeugt, verdammt noch mal?«

»Dago.«

So leise und benebelt, dass er es kaum verstand. Aber eindeutig.

Geistesabwesend starrte Boiorix auf die schlafende junge Frau herab. Nach einiger Zeit sprang er vom Wagen und ging zurück zu seinem Pferd. Die Boten, die geduldig auf ihn gewartet hatten, eilten herbei, doch er hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Stattdessen winkte er nach einem seiner vertrauenswürdigsten Leibwächter.

»Geh zu Nando!«, befahl er ihm. »Halt dich an seiner Seite auf und beobachte ihn! Falls er Sumelis aufsucht, will ich das wissen.«

Es schadete nicht, sicherzugehen.

 

Bislang hatte der Krüppel mehr Glück gehabt, als er zu hoffen gewagt hatte: Die alte Mähre, die er ritt, hatte ihn langsam, aber stetig vom Lager der Kimbern aus nach Osten getragen, sogar die kühlen Wasser des Ticinus’ hatte sie ohne Zögern durchquert. Auf dem Weg war Viriotali noch auf ein paar kimbrische Jugendliche getroffen, die die Straße nach Mediolanum hin unsicher machten, aber sie hatten ihn lediglich verhöhnt, nichts weiter. Vielleicht weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, zwei junge Mädchen zwischen sich herzustoßen, der Kleidung nach Einheimische. Selbst in deren verquollenen Augen meinte der Krüppel noch Verachtung zu sehen.

Er hatte in einem Wäldchen auf einem Bett aus Zweigen und Blättern genächtigt, hungrig zwar, aber doch sicher. Am nächsten Morgen hatte er einen Einheimischen auf einem Karren getroffen. Der alte Bauer war anfangs misstrauisch gewesen und hatte schon von weitem mit seiner stumpfen Axt gedroht, beim Anblick von Viriotalis zwergenhafter, alles andere als furchteinflößender Gestalt hatte er sein Werkzeug jedoch bald sinken lassen. Mit Händen und Füßen hatte der Krüppel dem Mann zu verstehen gegeben, er sei von den Kimbern geflohen, und obgleich er nicht annahm, dass der Alte ihn tatsächlich verstand, gab dieser ihm eine Birne und lud ihn gestikulierend ein, ihn nach Mediolanum zu begleiten.

Mediolanum war der Hauptort der Insubrer, jenes keltischen Stammes, der vor ungefähr hundert Jahren von den Römern besiegt worden war und danach einen Vertrag mit Rom geschlossen hatte. Die Stadt lag günstig in der Ebene zwischen den Seen am Rande der Berge, dem Padus im Süden und mehreren Flüssen, die einen regen Schiffsverkehr ermöglichten. Der Krüppel erinnerte sich daran, dass er einmal an Verhandlungen zwischen Boiorix und den Herrschern der Stadt teilgenommen hatte – Männer, deren ganzes Auftreten hundertmal mehr an das eines römischen Senators erinnerte als an das einfache Gebaren der ländlichen Bevölkerung, die die römischen Sitten nicht übernahm und an ihren eigenen weitgehend keltischen Traditionen festhielt. Gewaltige Wagenladungen an Getreide waren danach aus den Toren der Stadt und aus dem Umland zu den Kimbern geflossen in der Hoffnung, die Abgaben würden die Kimbern vom Plündern abhalten. Offenbar waren die Insubrer nun jedoch der Meinung, dass die Kimbern nicht nach Mediolanum zurückkehren würden. Jedenfalls begegneten ihnen, je näher sie der Stadt kamen, immer wieder Leute, sogar Kinder, die von einzelnstehenden Höfen oder kleinen Siedlungen zur Straße kamen, wenn auch noch vorsichtig und misstrauisch nach den langen Monaten der ständigen Bedrohung durch die Kimbern. Die Kimbern mochten nur zwei Tagesritte entfernt lagern, aber das hoffnungsvolle Aufatmen, das mit der Ankunft der römischen Truppen diesseits des Padus’ durch das Land gezogen war, war selbst für Viriotali spürbar. Und genau wie die Menschen hier die Zähne zusammenbissen, bereit, die Erinnerungen an die Kimbern hinter sich zu lassen, tat es der Krüppel ihnen gleich und schwor, er würde es schaffen. Boiorix mochte der Meinung sein, ein halber Mann wie er könne unmöglich alleine die Berge überqueren, aber Viriotali würde es ihm zeigen. Was zählten schon seine Angst und Ungenügsamkeit? So die Götter wollten, würde Viriotali es zu seinem Volk schaffen. Und von dort würde er einen Boten nach Alte-Stadt zu Caran schicken mit der Nachricht, wohin seine Enkelin verschleppt worden war.

Obwohl es bis dahin wohl schon zu spät sein würde.

Von Scham überwältigt, krümmte sich der Krüppel, der mittlerweile hinten auf dem Karren des Bauern zwischen Bündeln aus frisch geschnittenen Ruten saß, zusammen. Das Stechen in seinen Rippen nahm er beinahe dankbar als verdiente Strafe für sein feiges Versagen hin.

Er hatte Sumelis verraten.

»Aber was hätte ich denn sonst tun können, was hätte ich denn sonst tun können?«, flüsterte er immer wieder vor sich hin, bis endlich, umgeben von Weiden, Feldern, kleinen Gehöften mit Wein- und Obstgärten, Mediolanum am Horizont auftauchte.

Der Bauer fuhr nicht bis zur Stadt, sondern bog vorher nach Norden ab. Daher verabschiedete sich der Krüppel unter großen Dankesbekundungen, kletterte umständlich zurück auf seine Mähre und ritt, mit nichts am Leib außer seinen Kleidern, weiter auf Mediolanum zu.

Am Stadttor wiesen ihn die Wachen harsch ab.

 

Talia und Atharic hatten in Comum Pferde gewechselt und einen Führer angeheuert: einen römischen Veteranen, der eine Comenserin geheiratet hatte und in Comum im Dienste eines reichen Stadtfürsten stand. Während er sie nach Süden begleitete, hatte der ehemalige Soldat für die beiden Fremden aus dem Norden ein detailliertes Bild der nördlichen Padus-Ebene gezeichnet, vor allem aber hatte er ihnen erzählt, was sie über den Zug der Kimbern und die römischen Truppen wissen mussten. Er hatte ihnen von Gaius Marius berichtet, von dessen militärischen Erfolgen, von Catulus, dem zweiten Feldherrn, der im letzten Jahr die Pässe nicht gegen die Kimbern hatte halten können, von den Reihen aus über fünfzigtausend römischen Soldaten, die den Kimbern gegenüberstanden. Talia und Atharic nahmen mit Bestürzung zur Kenntnis, dass es nun wirklich jeden Tag zur entscheidenden Schlacht kommen würde, eine Nachricht, die vor allem Atharic sehr beunruhigte.

»Wir dürfen keinen einzigen Tag mehr verlieren«, sagte er zu Talia. »Wenn die Römer die Kimbern besiegen, wäre das noch schlimmer als eine Niederlage. Die Römer werden nicht zimperlich sein. Wer weiß, was sie mit den Frauen machen werden, die sie gefangen nehmen, oder was im Kampf passiert? Es geht für beide Seiten um alles. Die Schlacht von Noreia wird dagegen lächerlich erscheinen!«

Obwohl Atharic leise gesprochen hatte, hatte ihr Führer seine Worte gehört.

»Ihr habt bei Noreia gekämpft?«, hakte er nach. »Ich auch. Ich war bei den verbündeten Truppen. Reiterei. Kurz nach Noreia war meine Zeit um. Ich bekam sogar das römische Bürgerrecht verliehen.«

Atharic erwiderte nichts darauf.

Der Ältere strich sich über den struppigen Bart. »Ihr seid kein Vindeliker wie Eure Frau, nicht wahr?«

Es entstand eine kurze Pause, in die Talia hastig einfiel: »Habt Ihr nicht erzählt, Euer Vater sei Taurisker gewesen?«, versuchte sie wenig elegant, das Thema zu entschärfen. »Wie seid Ihr dann zu den römischen Truppen gekommen? Und weshalb versteht Ihr eigentlich unsere Sprache so gut?«

Der Veteran ließ sich nicht ablenken. Seine Augen hielten Atharic fest. »Ihr habt bei Noreia auf der Seite der Kimbern gegen uns gekämpft.«

»Ja.« Atharics Haltung veränderte sich keinen Deut, blieb genauso entspannt wie zuvor. Talia dagegen war auf dem Sprung, sich notfalls zwischen die beiden Männer zu werfen und ihnen den Inhalt ihres Wasserschlauchs ins Gesicht zu spritzen.

Der Veteran zupfte noch immer an seinem Bart. Schließlich räusperte er sich und spuckte aus. »Na ja«, brummte er, »was soll’s? Wenn man lange genug bei den römischen Legionen gekämpft hat, hat man sowieso gegen alles und jeden gekämpft. Ha! Ich habe sogar Männer an meiner Seite gehabt, gegen die ich noch ein paar Jahre früher das Schwert geschwungen habe!« Kameradschaftlich klopfte er Atharic auf die Schulter. »Ihr habt uns damals bei Noreia ganz schön das Fürchten gelehrt!«

Talias angespannter Griff um die Zügel ließ nach. Männer!, dachte sie die Augen verdrehend, bevor sie sich wieder hinter die beiden ehemaligen Feinde zurückfallen ließ.

Atharic dagegen sagte: »Ich persönlich habe keine guten Erinnerungen an diesen Tag.«

»So?« Abermals spuckte ihr Führer aus. »Nun, selbst auf Seiten von Gewinnern gibt es Verlierer. Habt wohl noch eine alte Abrechnung zu begleichen, was?«

»So etwas in der Art.«

»Na dann viel Glück!« Der Mann zeigte nach vorne. »Da liegt die Stadt. Aber da Ihr, wie wir ja gerade herausgefunden haben, ein Kimber seid, sollten wir den Plan wohl besser ändern.«

»Ich bin kein Kimber. Ich gehöre zu einem Stamm, der schon lange nichts mehr mit den Kimbern zu tun hat.«

»Wen interessiert’s? Für die Leute hier seid Ihr ein Kimber, wenn sie es herausfinden. Daher würde ich vorschlagen, Ihr nächtigt nicht in der Stadt, sondern außerhalb. Seht Ihr den Hof dort vorne? Da wohnen Leute, die keine großen Fragen stellen. Wartet hier! Ich reite voraus und kläre, ob Ihr dort schlafen könnt!«

Talia und Atharic taten wie geheißen. Während der Mann davontrabte, ließen sie die Zügel fahren, damit ihre Pferde am spärlichen Gras des Straßengrabens rupfen konnten.

»Er hat recht«, bemerkte Talia. »Wir müssen aufpassen, dass dich niemand hier für einen Kimbern hält, Atharic. Selbst wenn du vindelikisch sprichst, klingt immer noch das Nordische durch. Von jetzt an sollten wir dich mit einem keltischen Namen vorstellen. Das ist sicherer.«

Atharic nickte zustimmend. Unterdessen näherte sich ihnen ein einzelner Reisender mit schleppendem Schritt. Der Größe des Reiters nach handelte es sich um ein Kind, dennoch brachte Atharic sein Pferd dicht an das seiner Frau heran, damit seine Worte nicht erneut belauscht werden konnten.

»Talia, wir sollten überlegen, ob ich dich morgen nicht lieber hier zurücklasse. Ich muss so schnell wie möglich zu den Kimbern, mich unter sie mischen und versuchen herauszufinden, was mit Sumelis ist. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!«

»Wird dich keiner erkennen?«

»Nach zehn Jahren? – Möglich, aber nur wenige. Und denen werde ich hoffentlich in einer so großen Menschenmasse nicht gleich über den Weg rennen!«

»Es gibt komischere Zufälle.«

»Das Risiko ist klein. Außerdem, was wäre die Alternative? Wir können ja nicht –«

»Talia.«

Der Name war so leise, so ungläubig ausgestoßen worden, dass sowohl Talia wie auch Atharic einen Moment lang meinten, sie hätten es sich eingebildet. Ungläubig drehten sie die Köpfe und starrten den Fremden an, der sich an ein schäbiges Pferd klammerte, die braunen Augen weit genug aufgerissen, um einen Geist darin verschwinden zu lassen.

»Talia. Ihr seid Talia, nicht wahr?«, wiederholte der Mann fassungslos in reinstem, akzentfreiem Helvetisch. »Ich, ich erkenne Euch wieder!«

Atharic griff nach seinem Schwert. Talia legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Wer seid Ihr?«, verlangte sie zu wissen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie sah sich um, ob weitere Männer in der Nähe waren. »Was wollt Ihr?«

Zu Ihrem Entsetzen sprang – nein, eher fiel – der Fremde vom Pferd, und jetzt erst gewahrten sie die kurzen krummen Beine, den verkrüppelten Arm und den zum Körper unverhältnismäßig großen Kopf. Der Mann stolperte nach vorne. Er griff nach Talias Fuchs, der wiehernd vor dem taumelnden Gnom zurückscheute, und stürzte schwer auf die Knie. Atharic hob seine Waffe. Flehend wie ein Kind streckte der Krüppel Talia seine Handflächen entgegen.

»Herrin, ich weiß, wo Eure Tochter ist!«

Atharic nahm der Magd das geschnitzte Tablett mit Essen aus den Händen und wollte sich schon umdrehen und zurück zum Stall eilen, wo er, Talia und der Krüppel untergekommen waren, als ihr Führer aus Comum durch die Tür des Haupthauses trat und ihn zurückhielt.

»Ich komme gerade aus Mediolanum«, berichtete er. »Dort macht eine interessante Nachricht die Runde. Wollt Ihr sie hören?«

»Ich habe es eilig«, wiegelte Atharic ab, den es drängte, die Geschichte des Krüppels zu erfahren. »Können wir morgen früh reden?«

»Ich schlafe heute Nacht bei einem Freund in der Stadt, morgen reite ich sofort nach Comum zurück. Es ist jetzt klar, dass es noch in den nächsten Tagen zur Schlacht kommen wird, da bin ich lieber so weit weg wie möglich.«

Zögernd stellte Atharic das Tablett ab. Ein Hund huschte herbei und versuchte, sich ein Stück Wurst zu schnappen. Atharic verscheuchte ihn mit einem Tritt.

»Was habt Ihr gehört?«

»Die Kimbern haben Unterhändler zu den Römern geschickt. Sie behaupteten, sie wollten gar keinen Krieg. Sie haben Siedlungsland für sich verlangt, für sich und ihre ›Brüder‹, wie sie sagten.« Der Veteran kicherte. »Gaius Marius soll gefragt haben, wer denn ihre Brüder seien. Die Kimbern erwiderten: die Teutonen. Daraufhin gab es wohl viel Gelächter, und Marius spottete: ›Macht Euch keine Sorgen um Eure Brüder. Sie haben Land – es ist von uns geschenkt –, und sie werden es für alle Zeiten haben!‹« Diesmal lachte der Veteran frei heraus. »Stellt Euch die Flüche der Kimbern vor! Sie brüllten, das würden sie Marius heimzahlen, sie selbst sofort und die Teutonen, sobald sie erst hier seien. Diese Dummköpfe! Sie wussten nicht einmal, dass die Teutonen vernichtet worden waren.«

Atharic bezweifelte dies, behielt seine Gedanken jedoch für sich. »Und dann?«, wollte er wissen. »Was geschah dann?«

»Marius sagte, die Teutonen seien ja schon da, und es wäre unhöflich, sie nicht zu begrüßen. Auf seinen Wink hin wurden die Könige der Teutonen der Kimbernabordnung vorgeführt. In Ketten. Was für ein Lärmen und Wehklagen sich dann erhob! Die Kimbern ritten so schnell von dannen, um ihren Herrschern die schlechte Nachricht zu überbringen, dass Marius’ Gelächter noch gar nicht verklungen war, da hatten sie ihr Lager bereits erreicht.«

Atharic bückte sich nach seinem Tablett. »Danke für die Nachricht.« Das Essen auf einer Hand balancierend, griff er in seine Hosentasche und holte eine kleine Goldmünze hervor. Zufrieden nahm der Veteran sie entgegen.

»Was haltet Ihr von der Geschichte, Nordmann?«

»Ich meine, dass Ihr recht habt. Es wird jetzt jeden Tag losgehen.«

»Ihr werdet in einen Hexenkessel hineinreiten, Ihr und Eure Frau.«

»Das wissen wir.«

»Nun denn«, der Mann reichte Atharic die Hand, »falls Ihr überlebt, seid Ihr mir auf dem Rückweg jedenfalls willkommen!« Ein wildes Grinsen verwandelte seine Züge in eine Faltenlandschaft. »Dann erzähle ich Euch, wie viele Kimbernköpfe ich damals bei Noreia abgeschlagen habe!«

Atharic verzog den Mund. »Vielleicht bringe ich Euch noch ein paar mit.«

Im Stall, der bis auf zwei Kühe und eine Handvoll Ferkel leer war, warteten Talia und der Krüppel bereits ungeduldig auf Atharic und das Essen. Der Krüppel machte sich ausgehungert über die Mahlzeit her, während Atharic in knappen Worten die Neuigkeit ihres Führers weitergab.

»Sie haben Sumelis betäubt!«, schoss es aus Talia heraus, sobald er geendet hatte. Das vermeintliche Klagen der Kimbern über die gefangenen teutonischen Könige interessierte sie nicht. Stattdessen deutete sie auf den Krüppel, der sich eine weitere Handvoll Bohnen in den Mund schob. »Viriotali sagt, sie würden ihr ein Zaubergebräu zu trinken geben. Sie kann laufen und sprechen, aber ansonsten gehe es ihr nicht gut. Er meint, es sei auch nicht so sehr ihr Körper, der leidet, sondern ihre Seele.«

»Der Schrei, den du in Comum gehört hast?«

»Ja, das macht Sinn. Aber was ich gespürt habe, war echter Kummer, das war nicht irgendein Trank, der Sumelis verwirrt. Es war …« Talia stockte ratlos. Ihre Augen richteten sich erneut auf den Krüppel. Wie so viele Menschen vor ihm konnte auch Viriotali den Blick dieser leuchtend bernsteinfarbenen Augen nicht lange halten und sah unbehaglich zur Seite.

»Was war es?«, drängte Talia ihn. »Sagt es mir!«

Und so begann der Krüppel zu erzählen, stockend zunächst, später flüssiger. Er berichtete über den Fluch der tigurinischen Hexe, über die Alpträume des Königs, sein eigenes Geschick, das ihn einst als Geisel nach Alte-Stadt gebracht hatte, wo er Talia und Sumelis das erste Mal sah. Ausführlich gab er den Grund wieder, weshalb Boiorix Sumelis hatte entführen lassen. Danach schilderte er, wie Sumelis dem König geholfen hatte, gegen die Dämonen seiner Alpträume anzutreten, und dabei fast seinen Tod verursacht hatte. Er erzählte von Rascil, die Sumelis hasste, vor allem jedoch von seinem eigenen Versuch, Sumelis zu retten. Weder Talia noch Atharic zeigten sich von Letzterem beeindruckt. Sie lauschten mit ausdruckslosen, immer härter werdenden Gesichtern, und der Krüppel bekam es mit der Angst zu tun, was mit ihm geschehen würde, sobald sie von seinem eigenen Verrat an ihrer Tochter erfuhren. Doch Atharic und Talia bemerkten sofort, als er versuchte, die Geschichte abzukürzen, und so kam nach und nach alles heraus, was geschehen war, bis auf eines.

»Sumelis’ Kummer«, fasste Talia schließlich gereizt nach. »Ich habe ihr Leid gespürt. Vor wenigen Nächten erst suchte es mich im Traum heim. Es war ein Feuersturm! Dieser Kummer, sein Ausmaß, war etwas, was sich nicht allein aus Eurer Geschichte erklären lässt, Viriotali. Was ist es?«

Der Krüppel wünschte sich, sie würde ihn nicht so anstarren. Diese Augen – zwei goldene Feuer, die sich in seine Seele brannten, kein Erbarmen kannten. Sumelis’ Augen waren immer voller Sanftheit gewesen. Dann erinnerte er sich daran, wie diese Frau vor ihm Dago mit einer einzigen Berührung ihrer Hand getötet und dessen ganzes Heer in die Flucht geschlagen hatte. Wie sehr sie danach selbst von ihrem eigenen Volk gefürchtet worden war! Eine Hexe, die mit einem Fingerzucken eine Seele aus ihrem Körper reißen konnte. Es schien unvorstellbar, dass Sumelis etwas Ähnliches tat, selbst wenn ihre Macht der ihrer Mutter vergleichbar sein mochte. Nein, Talia war ganz anders als Sumelis, obwohl der weiche Schwung ihrer Lippen, die scharf gezeichneten Wangenknochen, das wellige Haar und die helle Haut dieselben waren. Viriotali kannte Geschichten über Löwen, gewaltige Katzen mit bernsteinfarbenen Augen, die umso gefährlicher waren, wenn sie ihre Brut verteidigten. Talia, so wurde Viriotali klar, war eine solche Löwin. Und sie war zornig.

»Der Mann, der Sumelis auf Boiorix’ Geheiß hin entführt hat«, sprudelte es aus ihm heraus. »Er ist es, der Eurer Tochter diesen Kummer bereitet. Er hat Sumelis verführt! Sie, sie hat nicht gesehen, wie gefährlich er ist! Sie war blind seinem Wesen gegenüber. Dieser Mann ist Boiorix’ engster Vertrauter. Er ist wie ein Sohn für ihn!«

»Hat er Sumelis Gewalt angetan?«

Der Krüppel verschluckte sich an seiner Antwort und hustete. Fast hätte er genickt, dann riss er sich zusammen. Er mochte ein Versager sein, aber er würde nicht noch mehr Schande über sich bringen, indem er log.

»Nein«, flüsterte er tonlos, »das hat er nicht. Nicht wirklich. Sumelis liebt ihn. Sie ist … Sie hat sich ihm freiwillig hingegeben.«

Talia und Atharic wechselten einen Blick. »Das ist es!«, rief Talia. »Was hat er ihr angetan?«

»Ich weiß es nicht genau! Erst hat er sie verführt, dann hat er sie verraten. Er ist kein Mann, der ihrer Liebe würdig ist. Sumelis ist zu gut für ihn! Sie ist, ich meine, sie war wie ein Spielzeug für ihn. Er hat sie fallenlassen! Einfach so!«

»Wer ist dieser Mann? Was wisst Ihr über ihn?«

»Wie gesagt, er ist wie ein Sohn für Boiorix. Ich weiß nicht alles, ich stieß erst später zum Zug, viel später, aber es heißt, er sei der Sohn eines alten Feindes des Königs, der Sohn eines Verräters. Als Junge hat er seine Familie verlassen und ist ganz alleine den Kimbern gefolgt, bis er sie schließlich erreichte und zu Boiorix’ bestem Gefolgsmann wurde. Er, Nando, ist kalt, brutal! Sumelis kennt ihn nicht wirklich!«

»Wie heißt er?«

Viriotali fiel die plötzliche Entgeisterung in Atharics Stimme nicht auf. Er plapperte einfach weiter: »Ich habe versucht, Sumelis zu warnen, aber sie wollte nicht hören! Und dann wurden wir erwischt, als wir flohen. Von Nando war weit und breit nichts zu sehen, es kümmerte ihn nicht einmal! Boiorix, er hat mich bedroht, und dann habe ich ihm erzählt –«

»Nando«, unterbrach Atharic, der unter der gebräunten Haut leichenblass geworden war. »Habt Ihr gerade ›Nando‹ gesagt?«

»Ja, wieso?«

Atharic sprang erregt auf. Eine der Kühe, die am anderen Ende des Gebäudes untergebracht waren, hob den Kopf und muhte nervös. Talia streckte eine Hand nach Atharic aus, doch er schüttelte sie ab.

»Kennt Ihr auch den Namen seines Vaters?«, krächzte er. »Nandos Vaters?«

Viriotali runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht mehr genau. Ich habe ihn bestimmt einmal gehört. Es war der Anführer eines kleinen Stammes. ›Rabenvolk‹ nannten sie sich, wenn ich mich recht entsinne. Aber das war lange vor meiner Zeit.«

»Lautete der Name des Vaters Atharic?« Talias Stimme klang mittlerweile genauso belegt wie die ihres Mannes.

»Ja, das stimmt«, rief der Krüppel erstaunt aus. »Nandos Vater, genau! Atharic! Weshalb interessiert Euch das?«

Die beiden antworteten nicht. Sie sahen sich an, und in ihren Blicken lag alles Entsetzen, dessen ein Mensch fähig war.

»Er ist ihr Bruder!«, flüsterte Atharic fassungslos.

Talias Augen weiteten sich noch ein wenig mehr.

Und dann wurde sie noch eine Spur blasser.

 

Talia fand Atharic dort, wo sie ihn immer fand, wenn ihn etwas bedrückte: bei den Pferden. Wie ein Wolf strich er am Zaun der kleinen Koppel entlang, die Schultern gegen den gemächlich ins Dunkelblaue gleitenden Himmel emporgezogen, die Hände in den Gürtel gehakt. Die Pferde witterten seine Anspannung und hatten sich mit übereinandergelegten Hälsen in der Mitte der Koppel zusammengedrängt. Für sie gab es Trost, dachte Talia, während sie ihren Mann bei seinen rastlosen Runden beobachtete. Aber Pferde kannten auch keine Lügen.

Trotz der lauen Nacht fröstelte es Talia. Sie verschränkte die Arme und rieb mit den Handflächen über ihre Ellbogen. Sie wusste, Atharic hatte sie bemerkt, obwohl er keine Anstalten machte, zu ihr zu kommen. Seine ruhelosen Schritte waren schwerfälliger als sonst, gedrückt von einer unsichtbaren Last. Talia versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann gerade empfinden musste, doch es gelang ihr nicht ganz. Ob er sich Vorwürfe machte? – Bestimmt. Vorwürfe, Enttäuschung, Sehnsucht, Angst. Was musste noch alles in ihm vorgehen? Normalerweise waren solche durcheinanderwirbelnden Gefühle Talias Spezialität, nicht Atharics. Allerdings war Talia auch niemals gezwungen gewesen, ihre Kinder aufzugeben, ohne sie weiterzuziehen, nur um Jahre später zu erfahren, dass sie der Feind waren.

Aber war Nando tatsächlich ein Feind? Talia biss die Zähne aufeinander, bis die Kiefer knackten. Davon mussten sie ausgehen, oder nicht? Nach allem, was Viriotali ihnen erzählt hatte, hatte Nando Sumelis entführt und verraten. Schlimmer noch, er hatte ihre Liebe verraten.

Am Ende seiner nächsten Runde blieb Atharic vor Talia stehen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, einen Moment später knallte seine Faust gegen einen Zaunpfosten.

»Nando!«

Atharic stieß den Namen mit so viel Schmerz hervor, dass es Talia fast das Herz zerriss. Aber sie wagte nicht, an Atharic heranzutreten und sich an ihn zu schmiegen, denn was sie ihm gleich zu sagen hatte, würde alles noch viel schlimmer machen.

»Nando!«, wiederholte Atharic fassungslos. »O Götter! Ich dachte, ich hätte ihn in Sicherheit zurückgelassen. Er sollte bei den Tauriskern leben, dort heranwachsen, im Haushalt eines reichen Mannes! Verdammt, er war noch ein Junge! Wieso ist er nicht dort geblieben? Wie konnte er seine Mutter verlassen? Seine Geschwister?«

»Vielleicht wollte er dir folgen?«

Atharic wirbelte herum. Seine Zähne blitzten in der tiefer werdenden Dunkelheit auf, als er den Mund öffnete und wieder schloss. Kurz darauf ließ er sich schwer gegen den Zaun fallen. Holz knackte, dann war es wieder still. In ihren Rücken erlosch das Licht des Herdfeuers, das bis dahin durch die offene Tür des Hauptgebäudes nach draußen gefallen war.

»Nein«, widersprach Atharic heftig, »das kann ich nicht glauben. Du denkst, Nando wäre mir gefolgt? Und weil wir, als er die Kimbern endlich erreichte, diese bereits verlassen hatten, hätte er sich stattdessen dem Zug angeschlossen?«

Talia schwieg. Am Ende beantwortete Atharic seine Fragen selbst. »Nein, das glaube ich nicht. Nando war damals ein schwieriger Junge. Er hat den Verleumdungen geglaubt, die Boiorix’ Männer über mich erzählt haben. Er hat nicht einmal gezuckt, als seine Mutter mich wegen dieses tauriskischen Fürsten verließ und wir beschlossen, die Kinder sollten bei ihr bleiben. Alle Kinder. Das Einzige, was Nando damals dazu äußerte, war, er wolle mit den Kimbern ziehen. Mit den Kimbern, wohlgemerkt, nicht mit mir! Ich verbot es ihm, daraufhin drehte er sich schweigend um und ging davon. Einfach so.« Atharic fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Als ich mich von den Kindern verabschiedete, war er nicht einmal da.«

»Du hast ihn immer vermisst, das weiß ich.«

»Ich habe alle vier Kinder vermisst.«

»Sie haben bestimmt oft an dich gedacht.«

»Ja, natürlich!« Atharic lachte hart auf. »Vor allem Nando. An den Feigling, den Verräter, wird er gedacht haben. Hast du nicht gehört, was der Krüppel gesagt hat? Er ist wie ein Sohn für Boiorix! Ausgerechnet Boiorix!«

Talia wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Stumm machte sie einen Schritt nach vorne und griff nach Atharics Hand. Er reagierte nicht auf den Druck ihrer Finger.

»Er ist dein Sohn«, beharrte Talia. »Du hast ihn erzogen, bis er – wie alt war? Zwölf? Etwas von dir wird auch in ihm stecken.«

»Offenbar hat er einen anderen Weg gewählt.«

»Wenn Sumelis ihn liebt, muss vieles von dir noch in ihm sein.«

Es war das Falscheste, was sie hatte sagen können.

»Verdammt, Talia!«, brüllte Atharic, ihr seine Hand entreißend. »Hast du nicht zugehört? Sie haben miteinander geschlafen! Bruder und Schwester! Sie wissen es offenbar nicht, aber wird das die Götter kümmern? Einen solchen Frevel können sie nicht ungestraft lassen! Nando und Sumelis sind vom selben Blut! Von meinem Blut!«

Atharic schlug ein weiteres Mal auf den Pfosten ein, bis es krachte. Die Pferde standen mittlerweile in der anderen Ecke der Koppel, unruhig schnaubende Schatten in der Nacht. Talia trat einen Schritt nach hinten und stieß dabei mit dem Rücken gegen einen überdachten Heuunterstand. Der Widerstand des Holzes hielt sie aufrecht, und sie klammerte sich daran fest, ungeachtet der Holzsplitter, die sich tief in ihren Handballen bohrten. Von Atharic konnte sie nun nur noch die Umrisse vor dem Zaun erkennen, angespannte Schultern und Fäuste.

Verzeih mir!, flehte sie still.

»Blutschande!«, wiederholte Atharic heiser. »Meine Kinder. Wodan sei gnädig, die Götter werden sie bestrafen!«

»Die Götter haben keinen Grund, eine Blutschande zu sühnen«, brachte Talia endlich heraus. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte jemand eine eiserne Schlinge um sie gelegt, eine Zange, die durch ein Geflecht aus Fleisch und Lügen hindurch bis in ihre Seele schnitt. »Nando und Sumelis sind keine Halbgeschwister, sie sind nicht vom selben Blut. Nando ist dein Kind, Atharic. Sumelis jedoch ist …« Talias Stimme kippte. »Sumelis ist deine Tochter in allem, was zählt. In allem bis auf euer beider Blut. Gezeugt hat sie …«

Atharic ragte über ihr auf: eine drohende Silhouette mit einem so ungläubig verzerrten Ausdruck, dass er Talia fast dämonenhaft erschien. Ihre Nägel krallten sich in das morsche Holz des Unterstands und brachen.

»Dago«, zwang sie die Wahrheit über ihre Lippen. »Es war Dagos Samen, der Sumelis gezeugt hat.«