Pjotr fuhr fort: »Vierzehn Tage nach dem Tod des CDU-Müller fuhr der andere Müller nach Ost-Berlin und traf sich dort mit einem Vertreter des Moskauer Innenministeriums. Er kommentierte einen geheimen Sicherheitsbericht westdeutscher Atomkraftwerke. Da wussten wir: Lewandowski hat den falschen Mann getötet!« Er griff in seine Jackentasche. »Mögen Sie Sonnenblumenkerne? Bei uns zu Hause sagt man, das sei gut für die Zähne und für das Eheleben.« Er lächelte strahlend.

»Warum haben Sie Lewandowski eigentlich nicht erschossen?«, fragte ich.

»Weil er uns nur lebend nützlich war, lebend und in Moskau.«

»Und mit seinem Geständnis ein neuer Milliardenkredit?«, fragte die Baronin scharf.

»Das glaube ich nicht«, sagte er ernst. »Das haben wir gar nicht nötig. Auch wenn Ihre Wirtschaftsbosse das öffentlich nicht gerade breittreten, wir sind hervorragende Schuldner, ein Bombengeschäft für Ihre Banken. Als der CDU-Müller tot war, geriet Lewandowski in eine fast vollständige Isolierung. Er war kaum noch in dem Haus am Godesberger Müllenkamp. Und dann hatte er ja noch einen zweiten Fehler gemacht.«

»Die öffentliche Verleihung des Bundesverdienstkreuzes?«

»Ja. Das war kurz vorher gewesen, aber nun war der Minister natürlich kompromittiert, auch wenn er selbst von der ganzen Sache nichts wusste. Aber irgendein hoher Beamter wusste davon.«

»Nun sagen Sie schon, wer ihn umbrachte«, sagte die Baronin ungeduldig.

»Reimer und Strahl natürlich«, antwortete er.

»Aber warum auf dem Parkplatz des Langen Eugen, und mit einem Stein auf den Schädel?«, fragte ich.

»Das war sozusagen ein diplomatisches Signal an uns«, erklärte er. »Selbstverständlich haben die Auftraggeber geahnt, dass wir auf Lewandowskis Spuren waren. Aber sie wussten nicht, wie weit wir gekommen sind. Also opferten sie Lewandowski, ließen ihn erschlagen und sagten uns damit:

Hört auf nachzuforschen, es ist vorbei, er ist tot! Lewandowski war seit Tagen auf der Flucht vor seinen eigenen Genossen, und als er…«

»Er versuchte als letzten Ausweg, zu seinem Freund Harald Forst in die Thomasstraße 38 b zu kommen«, sagte ich.

Pjotr blickte mich scharf an und bekam ganz schmale Augen. »Wie heißt der Mann? Forst? Wie haben Sie den aufgetrieben?«

»Es war relativ einfach«, sagte ich. »Ich habe ein Tonband für Sie.«

»Reimer und Strahl sollten also die Nachfolger werden?«, fragte die Baronin.

»So war es geplant, aber alles ging schief, weil Sie und wir schon zu viel wussten. Der Waffenkoffer ist ein letztes Überbleibsel, von dem sie überzeugt sind, dass es aus der Welt geschafft werden muss.«

»Dann geben wir ihnen einfach den Koffer, und die Sache ist vorbei. Ich will da raus«, sagte die Baronin entschlossen.

Er lachte völlig humorlos. »Sie sind vielleicht gut. Selbst wenn Sie ein buntes Schleifchen um den Koffer wickeln und ihn den beiden als Preis überreichen: Das wird nicht ausreichend sein. O nein - der Koffer, die Baronin und der Baumeister, das ist der Preis.«

Es war sehr still, und man hörte im Steinbruch die Krähen. Dann folgte der gellende Rufe eines Turmfalken. Links von uns brach Rotwild durch die Dickung.

»Ist das ganz sicher?«, fragte ich.

Er nickte. »Wenn Sie logisch überlegen, gibt es zwei Menschen, die einfach zu viel über die Henkergruppe wissen. Die Baronin und Siggi Baumeister.«

»Dann hauen wir ab«, sagte die Baronin heftig. »Ich bin doch nicht verrückt. Ich lasse mich doch nicht von diesen Fanatikern erschlagen! Oder willst du ein Held sein, Baumeister? Ich nicht.«

Wir bogen um das alte Mahlhaus, in dem sie früher den Basalt zu Schotter zerkleinert hatten, und kamen auf die unterste Sohle des Steinbruchs.

»Es ist sehr schön hier«, sagte Pjotr versonnen.

»Rote Sandsteinauffaltung, Vulkanasche, Granit, Basalt«, erklärte ich. »Hier steht Wasser, das wegen des felsigen Untergrundes nicht ablaufen kann. Nach und nach sind Schilfgräser gekommen und Binsen. Es gibt hier Königslibellen, Glockenunken, Hornissen, Kammmolche, Fadenmolche, Bergmolche. Vor Jahrmillionen ist hier ein warmes Meer mit Korallen gewesen. Ungeheuer viel Fossilien und Gott sei Dank nur wenig Menschen, die davon wissen. Da oben in der Steilwand leben Turmfalken. Ein Paradies. In schweren Zeiten gehe ich hierher und bedenke meine Unwichtigkeit. Das sind die Dinge, die zählen, nicht dieser hysterische Geheimdienstquatsch.«

»In diesem Beruf müssen Sie mit allem rechnen«, sagte er. »Als Geheimdienstmann leben Sie eben gefährlich.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich verständnislos.

»Reimer und Strahl können sich das Ganze nur auf eine Weise erklären: Sie gehören zum Geheimdienst, zum russischen natürlich.«

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, fragte ich.

»Durchaus nicht. Wie sollten Sie sonst etwa Grüße von Lawruschka bestellen können?«

»Wer ist denn überhaupt dieser Lawruschka?«

»Ein Genösse, der die Henkergruppe jahrelang vom Schreibtisch aus verfolgt hat. Er hat sogar einmal verbreiten lassen, er werde sie persönlich zur Strecke bringen.«

»Was haben Sie nun vor?«, fragte die Baronin.

»Nun, wir werden ihnen den Waffenkoffer geben und sie bitten, ein wenig aus der Schule zu plaudern.«

»Machen Sie das ohne uns«, bat ich.

»Geht nicht«, sagte er. »Das wissen Sie.«

»Wir sind also das Dessert?«, murmelte die Baronin.

»Sie sind auf dem Tablett«, bestätigte er.

»Ich habe Angst«, sagte sie mit weißem Gesicht.

»Ich kenne das Gefühl«, antwortete er. Er beobachtete, wie ein Eichelhäher keckern durch eine Kiefer brach und dann wie ein bunter Ball davonjagte. »Lassen Sie uns zurückkehren und alles vorbereiten«, sagte er.

»Und wo soll das Ganze stattfinden?«, fragte ich.

»Na, heute Nacht in diesem Steinbruch«, sagte er heiter. »Das ist doch ein wunderschöner Platz.«

 

17. Kapitel

 

Wir stapften schweigend durch den Schnee heimwärts. Von Westen zogen Wolken hoch, die Sonne wurde milchig; es würde bald wärmer und mehr Schnee geben. Pjotr ging ein paar Schritte vor uns und summte vor sich hin.

»Wir haben ja gar keine Wahl«, sagte die Baronin. »Treffen in einem Steinbruch«, meinte sie voller Verachtung. »Nachts! Das ist wirklich idiotisch, das ist lächerlicher Männerkram.«

»Wir können es nicht ändern. He, Pjotr! Ich habe es mir überlegt. Sie kriegen den Koffer. Aber Sie müssen uns die ganze Geschichte erzählen.«

Er blieb stehen. »Einverstanden. Es ist gut, dass Sie vernünftig geworden sind.«

Im Haus holte ich den Waffenkoffer vom Dachboden und gab ihn Pjotr. Dann hörte er sich die Aufnahme meines Gespräches mit Harald Forst an und machte sich dabei Notizen. Endlich sah er mich an und meinte ernst: »Alle Achtung, das haben Sie gut hingekriegt. Ich werde jetzt mit Forst telefonieren und ihn bitten, Reimer und Strahl heute Nacht in den Steinbruch zu schicken.«

»Das wird er nie tun«, meinte ich.

»O doch«, sagte er. »Das wird er sogar gern tun. Denn so wird er die Menschen los, die seinem Überleben am meisten im Wege stehen.« Er lächelte bösartig und griff nach dem Telefon. Wir ließen ihn beim Telefonieren allein. Als er aus dem Zimmer kam, sah er aus wie ein Kater, der gerade zwei Mäuse verspeist hat.

»Er ist am Ziel, er hat Reimer und Strahl«, sagte die Baronin. »Ich fahre nach Köln und besorge Nachtfilme und die Spezialoptik. Ich werde das alles fotografieren.«

»Frag Pjotr erst, ob das geht.«

Er nickte gönnerhaft, und sie machte sich auf den Weg.

Dann sah ich Pjotr zu, wie er geradezu ehrfürchtig die Waffen aus dem Koffer nahm. »Spezialanfertigung vom Büchsenmacher, nicht von der Stange, nirgendwo zu kaufen«, meinte er zu dem Gewehr, das er mit wenigen Handgriffen zusammengesetzt hatte.

»Hat die Gruppe eigentlich oft geschossen?«, fragte ich.

»In mindestens vier Fällen.« Dann ging er wieder telefonieren. Später faltete er eine Wanderkarte auseinander und vertiefte sich darin.

Ich tippte auf die Karte. »Es gibt nur einen Punkt, von dem aus die Baronin fotografieren kann. Hier in der Steilwand des Steinbruchs steht eine Basaltnadel, ganz am Rand. Wie wird die Szene sein? Hell? Dunkel?«

»Ziemlich hell«, sagte er. »Wir werden zwei Scheinwerfer haben. Akteure sind Sie, Lawruschka, der Koffer und ich. Es gibt zwei normale Wege, um in den Bruch zu kommen; beide werden Reimer und Strahl nicht benutzen. Sie dürften vom Osten her den Steilhang hinunterkommen, wahrscheinlich getrennt und in kurzem Abstand. Von hier aus gesehen Reimer links, die Strahl rechts.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Ich kenne sie seit Jahren, und ich weiß, wie sie sich bewegen. Und Reimer ist Rechtshänder, die Strahl Linkshänderin.«

»Was ist mit Waffen?«

»Wir beide gehen unbewaffnet, sie werden bis an die Zähne bewaffnet sein.«

»Und wenn Streit entsteht? Dann sind wir ihnen hoffnungslos ausgeliefert.«

Er sah mich amüsiert an. »Es ist wie Schach, Herr Baumeister. Man muss sich genau überlegen, was der Gegner wahrscheinlich tun wird, ehe man überlegt, was man selbst tut.«

Mir fiel etwas anderes ein. »Dieser Beck hat behauptet, die Nachricht über Lewandowskis Ermordung sei nicht über Polizeileitung gekommen, sondern direkt von Guttmann. Daraus schloss Beck messerscharf, Guttmann müsse der Mörder sein.«

»Das ist idiotisch. Wir waren hinter Lewandowski her. Wir hatten ihn verloren und fanden ihn wieder, als er durch Bonn strich. Ich selbst habe Guttmann informiert.«

Ich ging hinauf und beobachtete Krümel, die ihre Jungen säuberte und abschleckte. Gegen neun kam die Baronin zurück, hatte alles besorgt und war ziemlich aufgeregt. Pjotr saß ganz ruhig vor dem Kamin und las in einer alten Faust-Ausgabe.

»Wann geht’s denn los?«, wollte die Baronin wissen.

»Sehen Sie zu, dass Sie um Mitternacht bereit sind«, meinte Pjotr nur und widmete sich wieder ganz seiner Lektüre.

Später aßen wir ohne großen Appetit etwas. Die Baronin und ich waren schweigsam und nervös. Wir versuchten es mit Fernsehen, aber das Programm war so schlecht, dass wir wieder abschalteten. Dann spielte ich zusammen mit der Baronin gegen Pjotr Schach, und wir verloren jedes Mal so schnell, dass wir auch das bald aufgaben. Als wir schon beinahe nicht mehr daran glaubten, wurde es endlich Mitternacht. Pjotr sagte aus seinem Sessel: »So, jetzt können Sie die Baronin auf ihren Hochsitz bringen. Wir beide werden erst später gebraucht«, und schloss völlig entspannt die Augen.

»Und wenn Reimer und Strahl uns jetzt erwischen?«, fragte die Baronin entgeistert.

Pjotr schüttelte lächelnd den Kopf.

»Die haben das Gelände längst erkundet. Sie hocken jetzt irgendwo in ihrem Auto und machen autogenes Training. Das machen sie immer.«

Wir nahmen den direkten Weg. Zweihundert Meter hinter dem Dorf begann der Wald; der Weg war breit und zunächst gut sichtbar. Etwas weiter war er kaum noch auszumachen und vollkommen zugewuchert. Wir gingen stetig und schweigsam und sahen nicht einmal zur Seite. Es hätte auch keinen Sinn gemacht, wie Indianer auf dem Kriegspfad zu schleichen; die anderen Indianer waren besser. Nach zehn Minuten erreichten wir einen uralten, verrosteten Stahldraht, der sich in Kniehöhe über den Weg spannte.

»Die alte Absperrung vom Steinbruch. Pass auf, stolper nicht«, sagte ich zur Baronin. »Dreißig Meter weiter fällt der Bruch senkrecht ab, achtzig Meter tief. Da ist auch die Basaltnadel, auf der du hocken wirst wie auf einem Thron. Oder bist du schwindelig?«

»Nein, ich habe nur Schiss.«

»Ich auch, langsam jetzt. Die Nadel ist etwas mehr links, an der Krüppeleiche vorbei. Vorsicht, stehen bleiben. Siehst du? Da unten werden wir sein. Pjotr glaubt, dass Reimer und Strahl aus dem Steilhang gegenüber kommen werden.«

Der Steinbruch lag im silbrigen Mondlicht unter uns wie eine kitschige Filmkulisse.

»Und wo soll ich mich genau postieren?«

»Du musst über den Spalt zur Nadel rüber. Aufpassen! So ist es gut. Schieb den Schnee weg und leg dich hin. Wie gefällt dir das?« Ich war mit ihr hinübergestiegen. Mein Herz klopfte ganz schön.

»Für jemand mit Mut ist das ideal«, sagte sie ziemlich kleinlaut.

»Jetzt das Seil«, sagte ich. Ich legte ihr die starke Nylonschnur wie einen doppelt gekreuzten Hosenträger um und verknotete sie um ihre Taille. Die Gegenseite schlang ich um einen soliden Eichenstamm jenseits des Spaltes.

»Ich werde jetzt gehen. Bist du okay?«

»Und was mache ich, wenn ich vor Angst ohnmächtig werde?«

»Ohnmächtig bleiben. Du bist übrigens die tapferste Baronin, die ich je kannte.«

Sie warf mir eine Kusshand zu. Dann kauerte sie sich hin und begann die Kameratasche auszupacken.

Ich nahm den gleichen Weg zurück. Auf einmal konnte ich wieder gut verstehen, warum ein Kind pfeift, wenn es Angst in der Dunkelheit hat.

Pjotr saß am Schreibtisch und machte sich Notizen. »Ihre Freundin hat sehr viel Mut. Irgendetwas Auffallendes?«

»Nichts. Wann gehen wir?«

»Wir fahren. Um zwei.«

»Sie haben das alles schon sehr lange geplant, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.« Er lächelte unverbindlich.

»Gibt es in Moskau auch einen Henker?«

»Wir haben die Todesstrafe nicht abgeschafft. Ob wir allerdings jemanden wie Lewandowski hatten, weiß ich nicht. Höchstwahrscheinlich. Jetzt vermutlich nicht mehr.«

»Wann kommt dieser Lawruschka?«

»Er wird zum Steinbruch kommen. Er ist ein scheuer Mann.«

»Wollen Sie sich noch etwas auf die Couch legen?«

»Ich bleibe bei dem Sessel.« Er schaffte es tatsächlich, in kürzester Frist einzuschlafen. Ich verstand nicht, wie er so entspannt sein konnte.

Gegen ein Uhr kam Wind auf; der Himmel war jetzt dicht bezogen. Sobald der Wind nachließ, würde es schneien. Ich spielte mit Krümel und den Jungen, horchte in die Nacht und dachte an die Baronin.

Ich weckte Pjotr kurz vor zwei, und er war auf der Stelle hellwach.

»Ich möchte, dass wir aus Richtung Kerpen anfahren.«

Wir machten uns nicht die geringste Mühe, unauffällig zu sein. Ich fuhr von der Bundesstraße in den Ackerweg, der hinauf zum Steinbruch führt, und parkte den Wagen am Einlass auf die unterste Sohle.

Pjotr hatte zwei kleine, viereckige Scheinwerfer mitgenommen. Wir stellten sie etwa sechs Meter voneinander entfernt auf. In der Mitte lag ein großer Basaltbrocken, auf den wir den Waffenkoffer legten. Dann schlossen wir die Strahler an und probierten sie aus. Sie gaben ein angenehmes Licht, nicht zu grell, aber sehr stark.

»Sehr gut. Wir hocken hier wie auf dem Präsentierteller. Lassen Sie die Scheinwerfer noch einen Moment brennen.«

»Warum denn? Die Batterien halten nicht…«

»Damit die Frau Baronin das Licht messen kann«, sagte er.

»Machen Sie solche Treffs oft?«, fragte ich verblüfft.

»Um Gottes willen, nein. Ich komme mir bei derartigen Ritualen lächerlich vor, obwohl solch eine Art, sich zu treffen, Zeugen ausschließt. Eigentlich kann niemand mogeln.« Er lächelte. »Da schreit ein Käuzchen.« Dann schaltete er die Scheinwerfer aus.

»Kein Käuzchen, eine Schleiereule. Wir haben hier zwei Pärchen.«

Jetzt herrschte wieder Stille, bis auf die vielen natürlichen Geräusche ringsum, die immer lauter wurden. Die Wände des Steinbruchs schienen näher zu rücken.

»Wenn mich meine Nase nicht trügt, fängt es gleich an zu schneien.«

»Wird es viel Schnee geben?«

»Ich glaube nicht, der Wind steht nicht so. Können die Verstärkung mitbringen?«

»Niemals.«

Über uns war ein deutliches Scharren zu hören, Rotwild wahrscheinlich. Eine Wildtaube gurrte im Schlaf. Um drei Uhr schaltete Pjotr die Scheinwerfer ein.

»Wo bleibt Lawruschka?«

»Wahrscheinlich ist er längst da.« Jetzt war es eindeutig. »Links am Hang ist wer«, flüsterte ich.

Er zeigte keine Reaktion, wandte auch nicht den Kopf. Er sagte nur gelassen: »Na also.«

Irgendwie hatte Reimer es geschafft, durch die dicht stehenden Stangenbuchen zu kommen, die zwanzig Meter über uns am Steilhang endeten. Er stand da, kaum sichtbar vor dem Dunkel des Waldes.

»Das ist unglaublich«, flüsterte ich. »Da kommt nicht mal ein Fuchs durch, ohne Krach zu machen.«

Reimer sagte mit neutraler Stimme: »Guten Morgen!«

Erst jetzt wandte Pjotr den Kopf und erwiderte höflich: »Guten Morgen! Kommen Sie, kommen Sie!«

»Wie viele Leute haben Sie hinter den Steinbrocken?«

»Keinen«, sagte Pjotr amüsiert. »Aber das wissen Sie doch längst.«

»Richtig«, sagte Reimer. Dann sprang er breitbeinig den Rest des Hangs herunter, der so steil war, dass sich dort nicht einmal Schneeflecken gebildet hatten. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug und schwarze Boxerschuhe. Ehe er ins Licht trat, fuhr er sich mit beiden Händen durch die hellblonde Tolle. Er war sehr wachsam, aber vollkommen ruhig.

»Sind das meine Waffen in dem Koffer?«

»Ja«, sagte Piotr. »Bis auf die eine Smith and Wesson. Die ist verloren.« Reimer runzelte die Stirn. »Und wo ist Lawruschka?«

»Muss gleich kommen. Aber Sie dürfen die Waffen schon einmal untersuchen.«

»Nicht nötig«, sagte er lässig. Dann fragte er: »Und wo ist Baumeisters Freundin?«

»Zu Hause, erkältet«, sagte Pjotr.

Einen Augenblick lang hatte ich die wahnsinnige Angst, Reimer könnte längst wissen, wo die Baronin steckte. »Oh«, sagte er bedauernd.

»Rauchen Sie?«, fragte Pjotr und hielt ihm die Schachtel Gauloises hin. Dann zog er sie wieder zurück. »Nein, Sie rauchen nicht. Das ist ungesund.«

»Richtig«, sagte Reimer.

Im Plauderton fragte Pjotr: »Wo ist Ihre Gefährtin?«

»Links von Ihnen«, meinte Reimer lakonisch.

Da stand sie, und niemand wusste, wie lange sie dort schon gestanden hatte. Sie hielt eine Waffe in der rechten Hand, zielte auf niemandem im Besonderen und wirkte dennoch bedrohlicher als eine Kobra. Wir hatten sie nicht gehört.

»Madame!«, sagte Pjotr lächelnd und verneigte sich leicht.

»Hier unten ist keiner, auf der zweiten Stufe auch nicht. Scheint sauber«, stellte sie fest. Sie hatte eine neutrale kühle Stimme. Als sie endlich die Waffe wegsteckte und herankam, konnte ich erkennen, dass sie nicht einmal schlecht aussah, aber irgendwie völlig farblos. Das Auffälligste an ihr waren ihre Bewegungen; lautlos, elegant und voll verhaltener Kraft.

»Kommen wir zum Geschäft«, sagte Pjotr. Er klang auf einmal viel weniger verbindlich.

»Lassen Sie hören«, sagte die Strahl misstrauisch. Sie lehnte sich gegen den Steinblock und sah kurz in den Waffenkoffer, war aber sofort wieder lässig gespannte Aufmerksamkeit - wie eine große Raubkatze.

»Sie können die Waffen haben«, stellte Pjotr fest. »Sie haben nur eine Gegenleistung zu erbringen: Sie werden uns umfassend informieren.«

»Umfassend informieren? Worüber?« Reimer fragte ohne jede Neugier.

»Über Ihre Gruppe«, sagte Pjotr.

»Aber es gibt gar keine Gruppe«, sagte die Strahl genauso emotionslos.

»Natürlich nicht«, sagte Pjotr. »Nach Lewandowskis Tod halten Sie sich erst einmal bedeckt. Aber Sie sind die Nachfolger.«

Reimer fragte so, als ginge ihn das alles wenig an. »Nachfolger von wem, für was?«

Pjotr wirkte irgendwie erheitert. »Ich dachte, Sie wissen, wie viel wir wissen. Ich dachte auch, Sie wissen, dass ich mich nicht hinters Licht führen lasse. Sie geben mir die Geschichte der Gruppe, ich gebe Ihnen Lewandowskis Vermächtnis. So einfach ist das.«

»So einfach ist das gar nicht«, ließ sich die Strahl vernehmen. »Die Waffen müssen wir nur zum Auto tragen. Zwei Minuten. Informationen bedeuten Tage, vielleicht Wochen. Und die haben wir nicht.«

»Die werden Sie sich nehmen müssen«, sagte Pjotr. Er zündete sich die nächste Zigarette an.

»Was wollen Sie eigentlich wissen?«, fragte Reimer. »Was für Hobbies wir haben?«

»Ach kommen Sie. Es geht um die ganze Geschichte, um jeden einzelnen Tag in dieser Geschichte.«

»Wir verkaufen aber keine Geschichte«, sagte die Strahl. »Wir sind keine Verräter.«

»Nein, das sind wir wirklich nicht«, stimmte Reimer zu. »Was ist, wenn wir den Koffer nehmen und gehen?«

»Das habe ich erwartet«, sagte Pjotr. »Lawruschka deutete so etwas an.«

»Lawruschka ist der Einzige, der bei euch etwas taugt«, sagte die Strahl. »Wo bleibt er denn?«

»Er kommt gleich. Also was ist? Sie werden sich doch längst dafür entschieden haben, uns Auskunft zu geben, oder?«

»Absolut nicht«, sagte Reimer kalt.

»Das hier ist unsere Schlussarbeit, und wir machen sie gut und schnell.« Pjotr schwieg.

»Also: Wir nehmen jetzt den Koffer und gehen!«, sagte die Strahl, ohne eine Miene zu verziehen. Es bestand kein Zweifel, dass sie niemals an etwas anderes gedacht hatte.

Pjotr sagte leise, aber scharf: »Wissen Sie, mir war es schon lange klar, dass Ihr Chef Sie irgendwann zum Abschuss freigeben würde - so, wie er Lewandowski freigab. Ihnen scheinbar nicht. Warum wollen Sie die Realität nicht sehen?«

»Realität ist, dass wir die Waffen schon haben«, sagte Reimer drohend. »Sie sollten sich freuen, lebend hier wegzukommen.«

»Falls Sie lebend hier wegkommen. Über unsere Arbeit sprechen wir nicht.«

»Das sollten Sie sich aber schnell noch einmal überlegen. Was meinen Sie denn, warum Ihr Chef Sie hierhingeschickt hat? Sie sind am Ende, und jeder außer Ihnen weiß es. Sie werden sich nirgendwo auf der Welt verkriechen können, Ihre Arbeitgeber werden sich nicht mehr an Sie erinnern, und an jedem Kiosk der Welt wird man Ihre miese Geschichte kaufen können.«

»Das würde mich wundern«, meinte die Strahl überheblich. »Ihre Leute wären die Letzten, die so an die Öffentlichkeit gingen.«

»Baumeister und die kranke Dame sind leider nicht meine Leute. Daher müssen Sie schon mit einer erheblichen Öffentlichkeit rechnen. Aber Sie haben ja die Chance, mit mir zu sprechen. Sehr lange, vielleicht Monate. Die Waffen können Sie übrigens gleich haben, die sind nicht so wichtig. Ich schenke sie Ihnen.«

Er hockte nicht mehr auf seinem Stein, er war beiläufig aufgestanden und sah sie freundlich an.

Nichts in ihren Gesichtern verriet, was sie dachten, sie wirkten nur noch etwas aufmerksamer als vorher schon.

Jetzt wurde Pjotrs Stimme spöttisch: »Haben Sie sich eigentlich überlegt, was geschehen wäre, wenn Sie diesen Waffenkoffer einfach vergessen hätten? Nichts, rein gar nichts!«

Jetzt schien Reimer leicht irritiert, aber sie hatte immer noch dieses vollkommen ausdruckslose Gesicht. Ich konnte nur hoffen, dass mir meine Gedanken genauso wenig anzusehen waren. Ich hatte nämlich soeben staunend begriffen, worauf Pjotr hinarbeitete.

»Wie soll das technisch gehen?«, fragte Reimer, der sich wieder völlig in der Gewalt hatte. »Wir kriegen die Waffen und ziehen damit ab. Gut, und dann?«

»Einer von uns soll als Geisel hier blieben«, sagte die Strahl.

Pjotr meinte kalt: »Wenigstens die Dame beginnt zu denken.«

»Das ist unlogisch«, widersprach Reimer, und ich sah aus den Augenwinkeln, wie Pjotr zufrieden verfolgte, wie seine Saat aufging.

»Die wollen uns trennen«, sagte die Strahl und zeigte zum ersten Mal Wirkung. »Natürlich! Die wollen uns trennen!«

Pjotr sagte schneidend: »Wir machen kein Geschäft, ich will Sie nicht trennen, ich will keine Geisel, und was Sie mit dem Koffer machen, ist vollkommen unwichtig. Ich fordere Sie nur auf, mir in Moskau Rede und Antwort zu stehen.«

Reimer hatte auf einmal seine Waffe in der Hand. »Kein Geschäft, verstehst du? Und trennen will er uns auch nicht. Er hat uns bestellt, wir sind gekommen. Mehr wollte er nicht, mehr hat er von Anfang an nicht gewollt.«

Pjotr nickte langsam. »Sie haben es endlich begriffen, Reimer. Ich wollte Sie nur hier haben, sonst nichts. Lassen Sie uns also aufbrechen nach Moskau.«

Er glitt aus dem Lichtschein, als sei er schwerelos. Und plötzlich geschah alles auf einmal. Rechts von mir bewegte sich der Hang. Er bewegte sich an drei Stellen, auf einmal standen da drei dreckverschmierte Figuren, die man für Erdgeister hätte halten können, wenn sie nicht jeder eine Maschinenpistole im Anschlag gehalten hätten.

»Aus dem Licht, Baumeister!« rief Pjotr von irgendwoher.

»Scheiße!« Das war die Strahl.

Die drei Männer standen wie festgewachsen etwa dreißig Meter von mir entfernt und hielten ihre Waffen auf uns gerichtet. Ich war viel zu gebannt, um mich bewegen zu können, aber schon zog mich eine kräftige Hand aus dem Lichtschein.

Im gleichen Moment bewegten sich Reimer und Strahl ansatzlos und mit ungeheurer Schnelligkeit. Sie wirbelten in einer Rolle in entgegengesetzte Richtungen und hatten schon die Waffen in den Händen, bevor sie aus dem Lichtkreis verschwunden waren.

Die Männer am Hang schossen sofort. Es waren kurze, peitschende Feuerstöße, die sofort die Scheinwerfer trafen. Die Dunkelheit fiel wie eine Explosion über mich her.

Pjotr, er musste es sein, ergriff meine Schulter und stieß mich hinter einen Felsbrocken. Ich erinnere mich, dass ich erstaunt war über die mühelose Kraft, die er dabei entwickelte.

Reimer und Strahl waren jetzt irgendwo rechts von mir, und sie schossen unaufhörlich. Sie bewegten sich auseinander, nicht etwa von den Angreifern weg, sondern in einer Art Zangenbewegung auf sie zu.

Fast gleichzeitig erwischte es alle drei Männer. Pjotr neben mir atmete erschreckt ein, als sie taumelten, den Halt verloren und vornüber stürzten. Der rechts außen ließ seine Waffe fallen und schrie gellend auf, ehe er aufschlug und nicht einmal mehr die Arme schützend vor den Körper bringen konnte. Die beiden anderen glitten über den steinharten Hang, ehe sie wie verreckte Puppen liegen blieben.

Reimer und Strahl schossen immer noch - jetzt aber in unsere Richtung. Ich hörte die Strahl erschreckend nahe fluchen: »Jetzt seid ihr dran, ihr Wichser!«

Im gleichen Augenblick standen sie im gleißenden Lichtschein. Der unerbittlich grelle weiße Strahl schien von überallher zu kommen. Sie strebten sofort im Zickzack auseinander, aber das Licht teilte sich und blieb auf ihnen wie eine tödliche Glocke. Dann fielen die Schüsse. Salven peitschten, Steine splitterten, es war das Inferno. Ich weiß nicht, ob Reimer zuerst starb oder die Strahl, ich weiß nur, es dauerte wenige Sekunden. Für mich war es eine Ewigkeit. Die Lichter schwenkten von ihnen weg und blieben wie lange, weiße Finger in der Schwärze der Nacht auf der Steilwand hängen. An vier Stahlseilen ließen sich vier Männer langsam nach unten.

»Sie wollten es so«, sagte Pjotr heftig. »Sie hatten ihre Chance, aber sie wollten es so.«

»Baronin«, schrie ich. »Baronin!«

»Ja.« Das hörte sich jämmerlich an. Sie kniete da oben, und irgendjemand richtete einen Lichtfinger auf sie.

»Es ist alles in Ordnung, Baumeister. Ich habe alles mitbekommen, wirklich alles. Das werden Fotos!« Dann sank sie zusammen und schluchzte haltlos.

»Holt sie runter. Schnell!«, rief Pjotr. Dann wandte er sich zu mir: »Ist Ihnen etwas passiert?«

»Nichts«, sagte ich.

»Aber Sie bluten, Ihre ganze Hand ist voll Blut.«

»Ach ja? Ich spüre nichts. Wird ein Splitter gewesen sein. Pjotr, Sie sind ein Schwein. Warum haben Sie das zugelassen?«

Ich lief hinüber zu den drei Männern, die reglos am Fuß des Hangs im Schnee lagen. Pjotr holte mich ein und hielt mich zurück. »Wir kümmern uns um sie. Übrigens tragen sie kugelsichere Westen.«

»Sie wussten, worauf das Ganze hinauslief, Pjotr, nicht wahr? Es war nichts als eine Hinrichtung.«

»Ich habe ein wenig mit so etwas gerechnet. Holen Sie Ihre Freundin, sie muss hier noch fotografieren.«

Ich lief los, an der alten Schottermühle vorbei, und kletterte auf dem direkten Weg hoch. Zweige peitschten mir ins Gesicht, ein paar Mal verlor ich den Halt und rutschte ein paar Meter weit hinunter. Schließlich war ich oben und fand die Baronin auf den Knien neben einem Mann im Tarnanzug, der sie festhielt. Sie übergab sich. »Es ist ja alles vorbei, alles vorbei.«

»Ach, Baumeister, das war so schrecklich, das war ja widerlicher Krieg. Aber ich habe alles fotografiert.« Sie würgte. »Danke«, sagte ich zu dem Mann.

»Selbstverständlich«, murmelte er soldatisch und verschwand.

Unter uns waren nun viele Schatten, viele Männer. Einer sagte: »Wir müssen uns beeilen, wir brauchen mehr als eine Stunde bis Bonn.« Über allem lag das laute Klappern von Metallteilen.

»Ich habe sie kaum bemerkt«, flüsterte die Baronin. »Stell dir vor, ich habe sie erst vor einer halben Stunde bemerkt. Sie waren mit der ganzen Ausrüstung nur fünfzig Meter weg. Die müssen stundenlang gelauert haben, die waren alle schon hier, als du mich gebracht hast.«

»Da kann ich mich ja freuen, dass ich mich nicht zu Tode erschreckt habe. Komm, wir müssen jetzt hinunter. Pjotr sagt, du musst noch fotografieren.«

»Sind Reimer und Strahl tot?«

»Ja.« Ich lud mir ihre Taschen auf die Schulter, und wir rutschten Seite an Seite zu Tal.

Pjotr stand neben den Leichen von Reimer und Strahl, hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und starrte die beiden unbeweglich an. »Welch eine Verschwendung«, sagte er verächtlich.

Die Baronin lief zur Seite, weil ihr erneut schlecht wurde. »Bleib da, ich mache die Fotos.«

»Beeilen Sie sich«, drängte Pjotr. »Wir müssen schnell aufräumen und weg.«

»Und die Leichen? Was machen Sie mit denen?«

»Wir stellen sie zu«, sagte er knapp.

»Wie bitte?«, fragte die Baronin und versuchte, tief durchzuatmen.

»Wir stellen sie zu«, wiederholte er. »Sie gehören Ihrer Regierung, also stellen wir sie zu.«

Während ich schnell und konzentriert fotografierte, kam ein kleiner Laster ohne Aufschrift in den Kessel gepoltert, und plötzlich waren noch mehr Männer da, die lautlos aufräumten, die Leichen in Zinksärge packten und systematisch nach Hülsen suchten. Da waren auch Ärzte, die sich endlich um die drei Männer im Hang bemühten. Zwei von ihnen kamen nach einigen Minuten wieder zu sich und starrten blass und verbissen in die Scheinwerfer. Der dritte war tot, in den Kopf getroffen.

Jemand murmelte: »Wir haben die Plastiksäcke für die Leichen vergessen. Irgendwas vergisst man immer.«

Ein anderer antwortete: »Ist egal. Macht los, laut Plan müssen wir in vier Minuten auf der Strecke sein.«

Sie schafften es. Der Lastwagen verschwand in der Nacht. Es war wieder so, als sei das alles nie geschehen. Nur Pjotr war noch da. Er stand mitten im Steinbruch und wirkte wie eine Figur, die der Bühnenbildner vergessen hat.

»Ob er triumphiert?«, fragte mich die Baronin leise.

»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Er ist nur kaputt.«

»Er hat uns ein paar Mal gelinkt.«

»Sicher. Aber hätte er uns die Grundzüge seines Berufes beibringen sollen?«

»Bist du für ihn?«

Ich überlegte. Dann sagte ich: »Ja, ich bin für ihn.«

Wir gingen alle drei zum Wagen, und schweigend fuhren wir heim. Auf dem Hof sagte die Baronin unvermittelt: »Verdammt noch mal, so eine Welt will ich nicht.«

»Ja, du hast ja Recht.«

»Ihr Scheiß-Machos geht mir auf den Wecker.« Mit kleinen, wütenden Schritten stapfte sie zum Gartentor und verschwand hinter der Hecke.

»Und wie Recht sie hat«, murmelte Pjotr. Er schlurfte in das Arbeitszimmer, ließ sich in einen Sessel fallen und schloss die Augen. Er schien um Jahre gealtert.

»Wo ist denn Lawruschka geblieben?«

Er grinste schwach, sagte aber nichts.

»Sie sind Lawruschka, nicht wahr?«

»Ja. Als wir Lewandowski identifiziert hatten, wurde ich auf die Sache angesetzt. Ich dachte, ich sollte etwas für mein Image tun und gab mir den Namen einer Romanfigur von Gorki. Unter diesem Namen ließ ich mehrfach für sie durchsickern, ich würde sie zur Strecke bringen.«

»Wie haben Sie diese Riesenmannschaft am Steinbruch eigentlich in Stellung gebracht?«

»Ich habe ein paar sehr talentierte Genossen mitgebracht.«

»Erzählen Sie mir keinen Quatsch, Pjotr. Es waren Deutsche, ich habe sie miteinander reden hören.«

»Ja, vielleicht, aber sie standen sozusagen unter russischem Befehl.«

»Und der Lastwagen hatte früher einmal eine Nummer vom Bundesgrenzschutz. Das konnte man noch auf dem Blech für das Nummernschild erkennen. Sie haben für die Bundesrepublik gearbeitet.«

»Warum fragen Sie, wenn Sie meinen, dass Sie schon alles wissen?«

Wenig später fuhr er grußlos vom Hof. Zum Abschied hatte er nur gesagt: »Ich werde mich besaufen.«

Irgendwann kam die Baronin aus dem Garten zurück, und wir saßen vor dem Kamin und starrten in die Flammen. Dann läutete das Telefon.

Sie ging hin und sagte müde: »Ja, bitte? Ach, Sie sind es, Chef. Ja, der ist da.« Sie hielt mir den Hörer hin.

»Ich habe gehört, dass Sie eine Wahnsinnsgeschichte haben«, sagte der Chef.

»Von wem?«

»Das tut doch nichts zur Sache. Ich biete Ihnen hunderttausend. Für die Exklusivrechte.«

»Wie bitte?«

Er lachte. »Einhunderttausend.«

Ich war vollkommen verwirrt. »Das reicht, also ich denke, das wird reichen. Aber ich muss die Recherchen noch ausbauen, mir fehlen noch einige Einzelheiten. Und dann muss ich schreiben. Das dauert noch etwas.«

»Ja, ja, das macht nichts. Das drängt überhaupt nicht. Lassen Sie sich viel Zeit.«. Er hängte ein.

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Sonst spart er an jeder Ecke, und jetzt bietet er mir hunderttausend. Und er sagt, ich soll mir Zeit lassen, viel Zeit.«

»Das ist doch schön«, murmelte sie. »Das ist endlich unser Urlaub unter der Palme.«

»Aber da stimmt doch was nicht. Ruf ihn noch einmal an und finde heraus, was los ist. Ich gehe baden.«

Ich lag im warmen Wasser und versuchte, mit meiner Aufregung fertig zu werden. Krümel lag auf dem Wannenrand und sah mir zu.

Die Baronin kam dazu und hockte sich auch auf den Rand, »Das mit dem Honorar geht schon in Ordnung. Der Chef zahlt zwanzig, die Konkurrenz zahlt jeweils zwanzig, die Bundesrepublik zahlt zwanzig, und Pjotrs Leute zahlen zwanzig. Macht zusammen einhunderttausend.«

»Aber das ist… was sagst du da? Wer zahlt zwanzig?«

»Sie werden es natürlich nie drucken«, meinte sie. »Und eigentlich haben wir das auch schon lange gewusst, nicht wahr?«

»Mein Gott, sie engagieren einen Russen, um die eigene Henkergruppe hinrichten zu lassen. Sie kaufen ihre eigene Geschichte bei mir und sie drucken sie nicht und …«

»Aber sie werden sie mit Genuss lesen«, sagte sie beschwichtigend. »Beruhige dich, Baumeister. Wie sagst du immer? Was ist schon der Mensch?« Sie zögerte ein wenig. »Übrigens bin ich nicht schwanger.« Dann ging sie langsam hinaus. Unten spielte das Radio. Louis Armstrong sang What a wonderful world.

 

[erstellt mit plustek OpticBook 4600 und Atlantis Word Processor]

Requiem fuer einen Henker
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