ZWEITES KAPITEL
Ich richtete Vera das Bett im Dachgeschoss, zog ihr die Sandalen von den Füßen und beruhigte sie mit dem intelligenten Satz: »Nun schlaf dich aus, und wenn du einen Kater hast, gibt es zur Belohnung Aspirin.«
Sie war jetzt in einem Stadium, in dem sie sich nicht zwischen Heulen und Lachen entscheiden konnte. Sie fabrizierte eine groteske Mischung aus beidem. Mit Erstaunen nahm sie wahr, dass sie ihre Sandalen nicht mehr anhatte, und zog daraus den Schluss, dass es angeraten sei, sich gänzlich auszuziehen. Ich mühte mich nicht damit ab, ihr das auszureden.
Bei dem Versuch, aus der selbstverständlich viel zu engen Jeans herauszukommen, fiel sie zweimal steif wie ein Zinnsoldat um und lachte sich krank über die Tatsache, dass sich ihr Körper steuerlos dem Williams-Christ-Rausch und der Schwerkraft hingab. Sie trug ein winziges rotes Bikiniunterteil, das selbstverständlich mitsamt der Jeans ins Bett fiel. Als sie entdeckte, dass sie hüllenlos war, kicherte sie im Falsett: »Endlich frei!« Ihren Humor besaß sie also noch.
Sie legte sich sogar freiwillig hin, wenngleich sie Schwierigkeiten hatte, mit dem Kopf das Kissen zu treffen. Sie gurgelte und hauchte: »O Gott, das wackelt alles so!« Aber ehe sie wieder aufstehen konnte, schlief sie ein und ich deckte sie zu.
Ich legte eine CD von Christian Willisohn auf und schwelgte in meinem Arbeitszimmer in Blues und Boogie. Mich beschäftigte die Frage: Wer steckte hinter der hohen heiseren Stimme? Logisch war: Er musste als Erster von Natalies Tod erfahren haben. War es der Mörder selbst? Aus irgendeinem Grund gefiel mir die Vorstellung nicht. Aber weiter: Wahrscheinlich war, dass er sie gesehen hatte. Und zwar an Ort und Stelle auf der wilden Müllkippe. Wenn das so war, stammte er dann aus Mannebach oder Bereborn oder Retterath? War er jemand, der Natalie beim Spaziergang gefunden hatte? Wohl kaum, denn dann hätte er der Polizei gesagt, er werde am Fundort warten. Er musste ein Mensch sein, der auf die eine oder andere Weise verstrickt war. Aber in was verstrickt? Er schien erstaunlich viel zu wissen. Das deutete darauf hin, dass er hier in der Gegend zu Hause war. Selbstverständlich konnte er ein ernst zu nehmender Informant sein, aber sein Stil, die Anrufe bei mir, waren eher ein Zeichen, dass er sich wichtig machen wollte. Wie alt mochte er sein? Dreißig, vierzig? Schlecht zu entscheiden. Tatsache war, dass diesem Mann eine Schlüsselrolle zukam. Die Ermittler sollten von seinen Anrufen bei mir wissen.
Ich rief die Kriminalwache in Wittlich an und verlangte jemanden von der Mordkommission: »Am liebsten Kischkewitz.«
»Der ist noch draußen.«
»Dann rufe ich ihn über Handy an.«
»Kollege?«
»Und wie«, log ich.
Tatsächlich erreichte ich ihn und er war schlecht gelaunt. Er war ein alter Freund und Kumpel von Rodenstock und gegen mich hatte er auch nichts einzuwenden, soviel ich wusste. Doch wer kann schon in den Chef einer Mordkommission hineinsehen?
»Ja, Kischkewitz hier.«
»Baumeister. Bevor du zu schimpfen anfängst, hör erst einmal zu. In dem Spiel spielt eine Stimme mit...«
»Ja, ja, ich weiß schon. Hoch und heiser.«
»Richtig. Der Mann muss etwas wissen. Vielleicht war er der Erste am Tatort. Er sagte ungefähr Folgendes:...« Ich erklärte es ihm.
»Danke«, seufzte Kischkewitz. »Meine Güte, ich habe hier eine Pressemeute auf dem Hals, gegen die ich keine Chance habe. Die lassen mir einfach keine Ruhe.«
»Beantworte mir noch eine Frage: Was ist mit den Fässern?«
»Zwei sind unterwegs ins Labor. Mach es gut, Baumeister.«
Es war jetzt fast ein Uhr, der Mond eine schmale Sichel und es war empfindlich kühl geworden. Unten am Briefkasten an der Straße trafen sich die Katzen der Nachbarschaft und fauchten zum Gotterbarmen, wahrscheinlich waren meine beiden dabei und versuchten, eine Hauptrolle zu spielen. Das versuchten sie immer.
Kurz vor drei rollte Emmas Volvo auf meinen Hof. Ich freute mich.
»Hi, Großer«, sagte sie leise, als sie in der Haustür stand. Sie war schmal geworden, viel zu schmal.
»Ich finde dein Haus zum Sterben weitaus besser als unsere Wohnung an der Mosel.«
»Du wirst nicht sterben«, sagte ich und musste schlucken. »Kommt nicht infrage. Tretet ein. Ihr kriegt das Gästezimmer, wie immer. Oben unterm Dach schläft Vera ihren Rausch aus. Sie hat sich furchtbar betrunken. Wollt ihr etwas zu trinken? Tee? Kaffee?«
»Hast du Sekt da?« Emma lächelte mit blutleeren Lippen. »Sekt wäre gut. Und kann ich deinen Bademantel haben, ich habe meinen vergessen?«
»Sicher.«
»Ich trage mal die Koffer hoch«, sagte Rodenstock gepresst. »Entschuldige, dass wir so spät kommen, aber Emma wollte noch nach Hause, um ein paar Sachen einzupacken.«
»Die Hauptsache ist, ihr seid hier. Ich gehe Sekt suchen.«
Ich fand zwei Flaschen, die von irgendeiner Festivität übrig geblieben waren. Ich hatte Schwierigkeiten, mein Wohnzimmer zu betreten – Emma und Rodenstock hockten in ihren Sesseln und sahen so aus, als hätten sie nicht das Geringste miteinander zu tun. Völlig verkrampft und mit einer Welt beschäftigt, von der sie niemandem berichten wollten.
»Ihr seid sicher müde.«
»Nein«, entgegnete Emma. »Eher im Gegenteil. Ich bin putzmunter. Rodenstock war der Meinung, es sei nicht gut, dich zu behelligen.«
Rodenstock sagte nichts, saß da mit steinernem Gesicht, hatte so etwas wie den abwesenden Fernblick.
»Ich finde es gut, dass ihr hier seid«, sagte ich und öffnete die Sektflasche.
»Hast du wieder was mit dieser Vera?« Emma grinste.
»Nein. Mir geht es im Moment ohne Frau ganz gut. Natürlich springe ich ein, falls eine deiner Verwandten auftaucht und versorgt sein will.«
Rodenstock gluckste, sagte aber kein Wort.
»Ich hätte da zwei oder drei Anwärterinnen«, lächelte sie. »Erzähl mir von diesen jugendlichen Toten.«
Ich blickte zu Rodenstock, ich erwartete, er würde protestieren. Aber er schaute mich nur erwartungsvoll an.
»Es ist eine komische Geschichte, die wahrscheinlich zunächst von einem Phänomen beherrscht werden wird, das hier in der Provinz stets eine große Rolle spielt: dem Gerücht. Möglicherweise ist es auch eine ganz dreckige Geschichte oder es ist einfach eine Liebesgeschichte, die zu Ende ging.«
Ich erzählte ihnen, was passiert war. »Nun kommen die Gerüchte: dass der Vater von Sven etwas mit Natalie hatte, dass Natalies Mutter mit ihrer Tochter hausieren ging – ziemlich massive Vorwürfe. Dass in Hardbecks Jagdhaus wüste Dinge passiert sind.«
»Maßgeblich wird sein, in welcher Reihenfolge sie starben«, überlegte Rodenstock. »Hat Kischkewitz den Fall? Gut, wenn es so ist. Er wird eine Reihe von Punkten abarbeiten und wir werden die Ergebnisse erfahren – falls wir überhaupt Interesse daran haben.«
»Das habe ich«, stellte Emma fest. Sie zündete sich einen ihrer ekelhaft stinkenden holländischen Zigarillos an. »Es muss doch eine Menge Leute geben, die über das Verhältnis der beiden gut Bescheid wussten, oder? Liebesgeschichten unter Jugendlichen in der Provinz sind doch so etwas wie öffentliches Wissen. Gibt es nicht irgendeinen Lehrer, der uns was erzählen könnte?«
»Natürlich. Der Mann heißt Detlev Fiedler und soll auf seinem Gebiet hervorragend sein. Der wird dauernd in allen möglichen Jugendfragen von den einheimischen Zeitungen zitiert.«
»Den sollten wir einladen«, sagte sie kühl. »Gleich morgen, was meint ihr?«
»Du willst doch nicht im Ernst einsteigen«, stöhnte Rodenstock etwas außer Fassung.
»Doch, mein Lieber. Genau das will ich. Zu allem anderen komme ich noch früh genug!«
Eine Weile war es unangenehm still.
Emma sah Rodenstock an. »Es ist vielleicht eine Möglichkeit, sich abzulenken, nicht wahr? Und du brauchst Ablenkung, wenn ich das bei Licht betrachte – wie ihr Deutschen immer sagt.« Ihr rechter Mundwinkel zuckte ziemlich heftig und sie sagte: »Oh, da kommt es wieder.« Sie griff in ihre kleine Ledertasche und zog eine Pillendose hervor.
»Du hast Schmerzen«, stellte Rodenstock fest. »Du solltest dich hinlegen. Immerhin ist es mitten in der Nacht.«
»Eigentlich wollte ich nicht mehr schlafen«, sagte sie und schluckte eine dieser Pillen. »Die ollen Lateiner sagten immer: ›Carpe diem‹, nutze den Tag. Ich habe das Gefühl, noch nie gewusst zu haben, wie wertvoll die Zeit ist, die ich habe ... noch habe. Ja, du hast Recht, ein wenig hinlegen wäre jetzt gut. Zumindest, bis dieses Zeug wirkt.«
Ich blieb noch eine Weile im Wohnzimmer hocken und dachte mit Fassungslosigkeit über Emmas möglichen Tod nach, malte mir aus, was dann mit Rodenstock geschehen würde. Es war nicht zu begreifen und erfüllte mich mit Trauer und Wut.
Ich schlief schlecht, um neun Uhr stand ich wieder auf und fühlte mich zerschlagen. In der Küche rumorte Vera herum und mühte sich redlich, einen Kaffee zu bereiten.
Hohl sagte sie: »Ich bin eine trübe Tasse, du solltest mich verprügeln. Habe ich das richtig mitgekriegt? Sind Rodenstock und Emma in der Nacht eingelaufen?«
»Das ist richtig.«
»Vielleicht kann ich mit Emma reden.«
»Tu das. Aber sei vorsichtig. Sie kommt frisch aus dem Krankenhaus. Die vermutete Diagnose heißt Krebs.«
Vera wurde blass. »Nein«, murmelte sie nur und setzte sich auf einen Stuhl. Dann fügte sie hinzu: »Emma ist eine der stärksten Frauen, die ich kenne. Wie kann so etwas sein?« Sie wollte keine Antwort, sie starrte hilflos vor sich hin.
Ich hockte mich an den Tisch und trank einen Kaffee. Meine Gedanken suchten Ablenkung. Wen sollte ich zuerst besuchen? Svens Eltern oder Natalies Mutter? Ich entschied mich für Natalies Mutter.
Ich überlegte, dass es keinerlei Sinn machte, Rodenstock mitzunehmen. Er war so auf seine Frau fixiert, dass er wahrscheinlich beleidigt sein würde, wenn ich ihm den Vorschlag unterbreitete. Vera um Begleitung zu bitten erschien mir auch nicht ratsam. Sie war zu sehr in sich selbst und in ihre Krise versunken. So kurios es auch klingen mag: Die Einzige, die wahrscheinlich begeistert mitfahren würde, war ausgerechnet Emma. Aber von der hoffte ich, dass sie noch schlief.
»Ich bin mal eben etwas besorgen«, erklärte ich.
Vera schlürfte Kaffee und nickte nur.
Das schmale Band der uralten Landstraße zwischen Brück und Bongard ist rund dreitausend Meter landschaftliche Schönheit vom Feinsten. Wiesen, in denen Bäche gluckern, tiefe Fichtenwälder, weite Ausblicke. Auf der Höhe oberhalb von Bongard erkennt man die Dreiteilung dieses Dorfes: in der Mitte der alte Kern rund um die Kirche mit ihrem seltsam abgestuften Turm. Rechts und links davon kleine Neubaugebiete, die an den Hängen kleben.
Aus einem Feldweg rollte ein alter Bauer auf einem uralten McCormick heran. Ich stieg aus meinem Wagen und fragte: »Wie komme ich denn zu Frau Colin?«
Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ach je, Polizei, was? Da waren schon eine Menge Kollegen von Ihnen. Du fährst links ins Dorf rein, Richtung Nohn. Dann geht es rechter Hand in die Bodendorfer Straße. Die musst du hoch. Wenn das Dorf zu Ende ist, musst du noch ein paar hundert Meter fahren. Dann kommt ein Wirtschaftsweg. An der Abzweigung steht eine kleine Kapelle, oben drauf ein Eisenkreuz. Den Weg rein, dann ist da nach zweihundert Metern rechts das alte Forsthaus. Junge, das war ja eine Scheißnachricht, war das. Ich sage ja, die Zeiten werden immer verrückter. Die Leute auch, und besonders die Jugend. Die Jugend ist auf dem falschen Weg.«
Ich fragte: »Stammen die Colins eigentlich aus Bongard?«
Er schüttelte den Kopf. »Nee. Die sind erst vor zehn Jahren hierher gezogen. Damals war ja der Mann noch dabei. Der war später weg.«
»Wieso weg?«
»Na ja«, der Bauer grinste verhalten, »ist irgendwie abhanden gekommen. Weiß man ja nicht, was dahinter steckt. Es heißt, sie sei ein Besen. Aber man weiß ja nicht, ob das wahr ist, man kann ja nicht in die Leute reingucken. So ist sie ganz in Ordnung. Nur ihre Stimme ist schrecklich schrill, wir nennen sie alle nur ›die Sirene‹. Geht mich ja alles nix an. Stimmt das, dass dieser junge Hardbeck sie erschossen hat, also die Tochter, meine ich?«
»Wer sagt denn das?«
»Die Leute«, antwortete der Alte. »Aber die erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Es wird ja auch gesagt, dass Natalie den Sven unbedingt heiraten wollte. Aber dieser Hardbeck, der Vater, der wollte das nicht. Und da ist es, na ja, da ist es zu dem Drama gekommen. Das war kein Unfall, sagen die Leute, das war Selbstmord.«
»Wie heißt denn Natalies Mutter mit Vornamen?«
»Die? Das ist die Tina. Beim Feuerwehrfest war Natalie immer die Wildeste. Eigentlich schade, dass die Kleine tot ist. War eine richtig schöne Frau und als solche ja auch schon in der Zeitung. Wer macht so was? Da frage ich mich doch, was das für Zeiten sind. Stimmt es, dass sie erschossen wurde?«
»Nicht nur«, sagte ich, weil ich seinen Redefluss anheizen wollte. »Auch ihr Genick war gebrochen.«
Das fasste er nicht, sagte vage »So, so« und begab sich wieder auf vertrautes Gelände. »Die Kleine soll ja schwanger gewesen sein. Pauls Gitta hat erzählt, sie habe sie noch vor ein paar Tagen beim Frauenarzt in Adenau gesehen. Muss dann ja was dran sein. Weshalb war sie sonst beim Frauenarzt? Aber es gibt ja auch Leute, die meinen, das alles wäre nur passiert, weil der alte Hardbeck sich den Müll-Vertrag unter den Nagel reißen wollte und die Kleine zu viel wusste. Über Gelder, über schwarze Gelder. Sollen ja viele Millionen sein. Da sollen auch Fässer rumgelegen haben, aber da weiß ich nichts von. Unsereiner erfährt ja auch nicht alles. Und Möbel, richtig teure Ledermöbel, eigentlich nix zum Wegschmeißen, oder?«
Ich nickte nur und murmelte: »Ja, ja, ein widerliches Verbrechen.«
Erst jetzt stellte der Bauer den ratternden Diesel ab und setzte sich etwas bequemer in den alten Eisenstuhl. »Was das für Zeiten sind! Nackt soll sie gewesen sein! Und dann die Kleider daneben, ordentlich gefaltet. Was soll das?, frage ich. Wenn wir so mit den Toten umgehen ... Das ist eine Sünde und eine Schande. Und dann noch ein Feldblumenstrauß neben dem Kopf. Da wird der Herrgott nicht tatenlos zusehen, da wird Unglück kommen. Stimmt es, dass der Mörder einen Zettel hingelegt hat? Mit den Worten ›Verzeih mir‹?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete ich vorsichtig. »Wie geht es denn in diesem alten Forsthaus so zu? Viele Freunde, viele Bekannte?«
»Familie hat Tina hier ja keine. Aber es ist immer viel los da oben. Soweit ich das mitgekriegt habe, sind da oft ziemlich viele Autos von überall her. Richtig teure Autos. Aber unsereiner hat ja für so was keine Zeit.«
»Wovon lebt sie eigentlich, diese Tina?«
»Man sagt, sie kriegt was von Vater Staat dabei, Sozialhilfe. Miete ist ja nicht teuer. Keiner wollte damals das alte Forsthaus. Schönheitstänze sollen die beiden Frauen manchmal gemacht haben.«
»Schönheitstänze? «
»Na ja«, er nahm sich die Leder kappe vom Schädel und kratzte sich das graue kurze Haar. »Ich verstehe ja nichts davon. Schönheitstänze sollen das gewesen sein. Mit wenig an, nur Schleier und so was.«
»Kennen Sie denn jemanden, der dabei war?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Leute erzählen so viel. Manche reden sogar davon, das sei so was wie ein ... ein Puff.«
»Na so was!«, trompetete ich entrüstet. »Und Tina ist die Puffmutter?«
»Ich muss weiter. Dann fangt den Mörder mal schön. Wäre ja besser, wir hätten noch die Todesstrafe. Nackt auf einer Müllkippe! Und dann noch vergewaltigt, als sie schon tot war. Lausige Zeiten sind das wirklich! Adieu.«
Er ließ den Trecker wieder an, der eine schwarzgraue Wolke in den Himmel blies. Dann hob der Bauer grüßend die Hand und tuckerte die abschüssige Straße hinunter ins Dorf.
Ich rollte die Bodendorfer Straße hoch. Als ich die Abzweigung erreichte, an der die Kapelle stand, hielt ich an und stieg aus. Neben dem kleinen Bethaus war eine weiß lackierte Bank, um die herum das Gras sorgfältig gemäht worden war. In dem Bethaus brannten viele kleine Grableuchten. Hinter einem Gitter erkannte ich eine kleine Statuette der Heiligen Jungfrau und links daneben ein einfaches Holzkreuz mit der Inschrift Maria hat geholfen.
Ich blieb eine Weile auf der Bank sitzen. Ich hatte das Gefühl, mich in Ruhe auf das Gespräch mit Natalies Mutter vorbereiten zu müssen. Ein Elsternpaar jagte kreuz und quer über das graue Band der Straße, am Himmel zog schon wieder eine dunkle Regenfront unter die Schäfchenwolken.
Was sollte ich sagen? So was wie: »Entschuldigen Sie die Störung, aber können Sie mir ein paar Auskünfte ...«, oder: »Tut mir Leid, aber ich jage den Mörder Ihrer Tochter ...«, oder: »Ich weiß, der Zeitpunkt ist schlecht gewählt, aber die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen ...«
Als ich geschellt hatte und Natalies Mutter die Tür öffnete, begann ich: »Mein Name ist Siggi Baumeister. Ich will Ihnen mein Beileid aussprechen und Sie etwas fragen.«
Sie war eine kleine, schmale, magere Frau mit einem schönen Gesicht. Das Gesicht war ohne Zweifel hart, wenngleich der volle Mund die Härte ein wenig abminderte. Die Zeit hatte Zeichen gesetzt, viele Falten, die allerdings gut überschminkt waren. Sie gehörte zu den Frauen, die in jeder Lebenslage äußerst gepflegt wirken. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid, keinerlei Schmuck, das kurze, grau durchsetzte Haar war leicht toupiert. Ihr Teint war tiefblass und unter den Augen bemerkte ich dunkelblaue Ringe.
Sie nickte, murmelte: »Ja. Kommen Sie herein.« Und dann: »Sie haben sie gesehen, nicht wahr?«
»Ja, habe ich. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mit mir sprechen.«
»Ich bin allein«, erklärte sie knapp. »Ich bin froh, dass jemand kommt. Ich habe sie nicht sehen dürfen, sie haben sie jetzt weggebracht. Nach Trier, glaube ich. Die Polizeiärzte ... Das ist alles so schrecklich, ich fasse es nicht.« Sie öffnete eine mit Butzenglasscheiben gefüllte Tür, die in ein sehr großes, saalartiges Wohnzimmer führte. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kognak, einen Whisky, vielleicht ein Bier oder einen Saft?«
Der Bauer hatte mich richtig informiert, ihre Stimme war schrill und es war leicht, sich auszumalen, dass sie gellend sein würde, wenn diese Frau sich aufregte.
»Einen Saft, bitte. Das wäre nett.«
»Nehmen Sie doch Platz.« Sie verschwand.
Für Eifler Verhältnisse war der Raum ungewöhnlich ausgestattet. Zu Luxus haben die Eifler ein sehr gespanntes Verhältnis, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass sie Jahrhunderte in Armut und Not gelebt hatten, und wissen, dass Luxus ein sehr fragwürdiges Geschenk ist, nichts Notwendiges, um zu überleben.
Der Wohnraum von Tina Colin war luxuriös. Es gab verschwenderisch gestaltete Ledermöbel in teurem rotbraunen, englischen Design, kostbare Vitrinenschränke, echte Teppiche, darunter einen Seiden-Isfahan, wie ich ihn noch nie größer gesehen hatte. Die Gardinen waren aus reich gerafftem Tüll, wahre Wolken. Der Vorhangstoff sah aus wie Brokat, war wahrscheinlich auch Brokat, und hing an schweren handgeschmiedeten Ringen. Der Raum hatte geschätzt satte einhundert Quadratmeter Grundfläche.
Irritiert dachte ich: Sie bezieht Hilfe von Vater Staat. Was ist das hier?
Ich setzte mich nicht, sondern ging in eine Ecke, in der viele in Silberrahmen gehaltene Fotografien die Wände zierten. Ausnahmslos Fotografien von Natalie in jedem Lebensalter.
»Da bleiben einem nur diese blöden Bilder«, sagte Tina Colin hinter meinem Rücken und stellte ein Tablett auf einen niedrigen Couchtisch. Sie goss uns ein. »Ich würde Sie bitten ... Sie haben sie gesehen. Da, in dem Wald, bei ... ich weiß den Ort nicht mehr.«
»Mannebach.«
»Richtig, Mannebach. Natalie ist nie in Mannebach gewesen, sie hat den Ort nie erwähnt. Das wüsste ich. Wie ... wie ...«
»Sie hat friedlich ausgesehen, Frau Colin. Sehr friedlich. Sie hatte kein Entsetzen in ihrem Gesicht. Sie war unbekleidet, nun gut. Aber sie schien ... unversehrt. Er ist ihr nicht zu nahe getreten.« Mein Gott, was redest du da für einen Blödsinn, Baumeister? »Sagen Sie, war sie mit Sven Hardbeck befreundet?«
»Aber ja. Schon lange. Sie waren ... sie waren ein so entzückendes Paar. Sogar sein Vater sagte mal zu mir, er sei stolz darauf, so eine wunderschöne Schwiegertochter zu bekommen.« Ihr Gesicht wirkte jetzt sehr hart und ihre Stimme klang plötzlich gekünstelt. »Man tut alles für die Brut. Und dann das!«
»Darf ich eine Pfeife rauchen?«
»Wie bitte? O ja, selbstverständlich. Ich mag Männer, die Pfeife rauchen. Ich rauche nur Zigaretten. Wenn sie ... wenn sie nackt dort gelegen hat, war sie irgendwie ... irgendwie schmutzig, voll Dreck?«
»Nein, nein«, antwortete ich schnell. »Sie war sauber ... und schön. Sagen Sie, sie hat doch ein Schmuckstück im Bauchnabel getragen. Was, bitte, war das genau?«
»Das war ein Brillant, ein Zweikaräter. Sven hatte ihr den geschenkt. Was ist damit?«
»Nun, möglicherweise hat der Täter den gestohlen. Würden Sie mir erzählen, was Ihre Tochter für Kleidung trug?«
»Sicher. Ganz normale Jeans, weiß. Dann Turnschuhe von Nike, sie trug nur Nike, die waren blau. Ohne Söckchen. Ein Top, ein weißes Top. Von der Unterwäsche weiß ich nichts, aber ich denke einen normalen Slip und einen BH. Wie ist das mit Sven gewesen, ich meine ...«
»Er ist von der Straße abgekommen, so etwas passiert. Die Autos sind zu schnell und nicht mehr beherrschbar. Wann hat Ihre Tochter denn vorgestern das Haus verlassen?«
»So gegen elf Uhr, glaube ich.«
»Hat sie gesagt, was sie vorhatte? Oder ist sie im Laufe des Tages zurückgekehrt und dann erneut weggegangen?«
Wieder das harte Gesicht, wieder diese gekünstelte Sprache: »Sie ging nie, ohne mir zu sagen, wohin. Und wenn sie unterwegs war und irgendwo Halt machte, rief sie mich an. Ich sollte immer wissen, wo sie war. Wir ... wir hatten ein sehr enges Verhältnis. Sie wollte bei Sven vorbeischauen. Und dann wollten sie nach Trier oder Wittlich, Schuhe kaufen. Nein, zurückgekehrt ist sie nicht. Gegen elf Uhr morgens habe ich sie zum letzten Mal gesehen.«
»Hat sie noch mal angerufen?«
»Nein, aber ich nahm an, sie wäre mit Sven zusammen. Sie waren immer zusammen.«
Ich starrte auf einen gusseisernen Zeitschriftenständer. Es waren ausschließlich Modejournale und Lifestyle-Magazine darin, eine Ansammlung von Hochglanz. »Sind Sie denn nicht unruhig geworden?«
Plötzlich fiel mir auf, was ich in diesem Raum vermisste. Es gab kein einziges Buch.
»Das haben mich die Kriminalbeamten auch gefragt. Nein, war ich nicht. Wenn sie zu Sven fuhr, konnte es sein, dass sie mit ihm hierher kam oder aber bei Sven in dessen Elternhaus schlief. Ich wollte nun wirklich nicht die böse Mutter spielen, die alles kontrolliert. Ich stamme aus einem viel zu guten Stall, um mir so etwas einfallen zu lassen.«
›Brut‹ und ›guter Stall‹ hatte sie gesagt. »Hofften Sie, dass die beiden heirateten?«
»Ja«, nickte sie. »Als Mutter von Natalie hätte ich mir nichts Besseres für sie vorstellen können.« Sie lächelte, als bäte sie um Vergebung. »Mütter sind so, Herr Baumeister, alle Mütter dieser Welt. Und es war ja mehr als Hoffnung, es war ja schon Wissen, es war eine beschlossene Sache.«
»Aber Sven wollte doch nach Südamerika, in einem Hilfsprojekt mitarbeiten. Wollte Natalie ihn begleiten?«
»Wir haben darüber nachgedacht, also Vater Hardbeck und ich. Wir sind aber dann zu der Überzeugung gekommen, dass das für ein so zartes Mädchen einfach zu viel sein würde. Nein, sie sollte nicht mit Sven gehen. Sie wollte eigentlich nach Kuba, um dort im Tourismus zu arbeiten. Tourismus war ihre Leidenschaft.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann war Natalie also vorgestern bei Sven und verbrachte den Tag mit ihm, vielleicht auch einen Teil der Nacht.«
»Ja, das habe ich geglaubt. Aber so war das nicht. Sie war gar nicht bei Sven. Walter Hardbeck hat hier angerufen.« Sie zog ein großes rotes Taschentuch unter einem Kissen hervor und schnauzte sich vornehm die Nase.
»Indiskrete Frage, Frau Colin. Ist es möglich, dass Natalie schwanger war?«
»Sie war nicht schwanger«, intonierte sie gekünstelt. »Oft ist behauptet worden, sie sei einfach zu schön, um treu zu sein. Aber sie war treu. Sie glaubte an die Liebe, an die Kraft der Liebe. Wenn sie schwanger gewesen wäre, hätte ich das gewusst. Sie vertraute mir alles an, wirklich alles. O Gott, ich brauche einen Kognak.« Sie stand auf und ging an ein Regal, das die halbe Wand einnahm. Es stand voller Flaschen und Kristallkaraffen. Sie goss sich etwas in einen übergroßen Kognakschwenker und trank einen Schluck, ehe sie an den Tisch zurückkehrte und sich wieder setzte.
»Sie haben ein wunderschönes Haus, Frau Colin. Erstaunlich, was man alles aus einem alten Gemäuer machen kann.«
»Ich hatte es schwer«, stellte sie fest. »Ich kam mit meiner Familie hierher und stand plötzlich allein da. Der Mann, mit dem ich verheiratet war, taugte nichts. Er trank, er trank zuletzt nur noch ...«
»Der hieß Colin?«
»Richtig, Richard Colin. Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält, wahrscheinlich ist er wieder dorthin zurückgegangen, woher wir kamen. Bad Breisig am Rhein, ich weiß nicht, ob Sie das kennen. Kleines, spießiges Nest, ich habe immer gedacht, ich ersticke da.«
Noch ehe ich meinen Einwand bedenken konnte, brachte ich ihn vor. »Aber das ist doch unlogisch. Hier in Bongard ist es viel spießiger. Wieso Bongard?«
»Hier ist es nicht spießig«, erklärte die erstaunliche Frau. Sie wirkte nun kühl, die Stirn zeigte strenge, tiefe Falten. »Das Haus liegt außerhalb und es herrscht in der Eifel die Regel, sich nicht in die Sachen des Nachbarn einzumischen. Und hier habe ich keine Nachbarn. Wenn also jemand behauptet, hier wäre alles klein und eng und spießig, dann stimmt das nicht. Ich komme mit den Leuten im Dorf sehr gut aus, kein Problem, überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, ich arbeite sogar in der katholischen Landfrauenbewegung mit.« Sie zündete sich die zweite Zigarette an. »Sicher, anfangs gab es Gerede. Mein Mann saß dauernd in der Kneipe, und wenn die geschlossen hatte, saß er hier vor dem Haus auf der Bank. Die Jugendlichen kamen hier vorbei, weil sie wussten: Da können wir was abstauben! Dann verlor er wegen der ewigen Sauferei den Job. Ich habe ihn so gebeten, sich zu ändern, doch endlich einmal was aufzubauen. ›Wenn du es nicht für dich tust, dann tu es für deine Tochter! ‹, habe ich gesagt. Was heißt gesagt, ich habe gefleht!« Sie erzählte mir in diesem Punkt ihre Wahrheit, denn sie wirkte sehr wütend und natürlich. In ihrer Erregung zerbrach sie die Zigarette zwischen den Fingern. Der brennende Teil der Zigarette fiel auf den Isfahan.
Ich bückte mich schnell und griff nach der Glut.
»Du lieber Himmel«, tat ich verblüfft, »was kostet denn dieser Fußabtreter hier?«
Sie lachte ostentativ, daran war nichts gespielt. »Das fragen alle. Ich habe ihn günstig gekriegt. Für achtzigtausend. Das war ein richtiges Schnäppchen.«
Rodenstock, sag mir gefälligst, ob ich jetzt angreifen soll? Oder soll ich weiterhin den Mummelgreis geben und auf das warten, was an Krumen von ihrem Tisch fällt? Rodenstock antwortete natürlich nicht.
»Darf ich noch einmal indiskret werden? Die Leute erzählen, Sie sind eine allein stehende Frau mit wenig Geld. Der Staat würde etwas dazugeben, damit Sie über den Monat kommen. Doch die Einrichtung dieses Raumes hat wahrscheinlich eine halbe Million Mark gekostet. Woher kommt all das Geld?«
Sie antwortete sofort und ohne lange zu überlegen. »Die Teile hier sind alles in allem rund siebenhunderttausend Mark wert. Der kleine Picasso dahinten zwischen den Fenstern ist echt. Rosa Periode.« Sie dehnte sich etwas. »Ja, die Leute reden viel und wissen natürlich nicht, worüber. Sie sind auch neidisch. Ich nenne dieses Haus ein Konferenzhaus und ich habe Jahre gebraucht, um es aufzubauen. Wenn Männer, die hier in der Gegend eine Jagd haben oder gern in die Eifel fahren, miteinander über Geschäfte und Projekte reden wollen, dann tun sie das in diesem Haus. Und sie zahlen dafür und sie zahlen nicht schlecht. Ich biete den Männern mit diesem Haus so etwas wie ein geschäftliches Zuhause an. Das hätten Sie sowieso rausgekriegt, also erzähle ich es Ihnen. Der große Parkplatz vor dem Haus muss Sie doch gewundert haben, oder? Da stehen abends normalerweise Autos von BMW, Mercedes, Jaguar, Porsche.«
»Und wer bedient diese Männer?«
»Ich. Ich und Natalie. Da kommt mir keine Fremde ins Haus. So geht hier nichts raus. Absolut nichts.«
»Deswegen sagen neidische Männer, das hier sei ein Puff.«
»Ja, das Gerücht mit dem Puff habe ich auch schon gehört. Tausendmal, wahrscheinlich. Es ist natürlich kein Puff. Wenn das hier ein Puff wäre, würden die Bullen einfallen und das Haus schließen.« Sie sprach trotz ihrer Worte wie eine Puffmutter, sehr energisch und sehr resolut. »Ich kann mir keine Fehler erlauben.«
»Wie lange geht denn das schon?«
»Sechs Jahre, schätze ich. Ja, als es losging, war Natalie dreizehn.« Sie seufzte. »Es war ein harter Weg, ein verdammt harter Weg. Und ich bin ihn allein gegangen, niemand hat mir geholfen.«
»Walter Hardbeck, also Svens Vater, hat hier auch Geschäfte besprochen? Das fasse ich nicht.«
»Sicher hat er hier Geschäfte gemacht, und nicht zu knapp. Wenn er für mehr als eine Million abgeschlossen hatte, gab er eine Party und zahlte alles.«
»Hardbeck gilt als hart, als unbeugsam, als total verschwiegen. Er wird doch hier in diesem Raum keine großen Deals gemacht haben. Das glaube ich einfach nicht!«
»Das müssen Sie auch gar nicht glauben, ich muss Ihnen doch nichts beweisen! Sie sind doch kein Staatsanwalt, oder?«
»Entschuldigung, Sie haben Recht. Aber das alles klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.« Setz deinen Gesprächspartnern den Floh ins Ohr, dass du das, was sie erzählen, für Angeberei hältst, für reine Aufschneiderei. Du wirst sehen, sie lassen sich verleiten!
Sie ließ sich verleiten: »Versprechen Sie mir, niemandem etwas weiterzuerzählen?«
»Ich gebe nichts preis, und ehe ich über diesen Fall schreibe, werden Wochen vergehen.« Ich hoffte, ich klang glaubwürdig.
Sie nickte langsam. »Das wird von Ihnen gesagt. Also, Sie wissen von dem neuen Müll-Deal? Der ist gerade über die Bühne gegangen. Müllentsorgung von Trier und dem Vulkaneifel-Kreis. Dazu gehören irre viele Gemeinden und Städte. Ein Generalunternehmer baut ein Werk für den Restmüll, die Aufbereitung und Verbrennung und so weiter. Laufzeit des Vertrages fünfzehn Jahre, Umfang des Vertrages: eine Milliarde Mark. Das Ding ist zum Teil hier in diesem Raum verhackstückt worden. Und ich habe dabei die Getränke serviert. Das heißt, ich und Natalie.«
Das war starker Tobak.
»Die ganzen Müll-Größen waren hier? Walter Hardbeck und Konsorten?«
»Richtig. Walter Hardbeck von hier, Herbert Giessen aus Bad Münstereifel und auch Hans Becker aus Maria Laach. Die haben hier die Millionen auf dem Tisch rumgeschoben wie unsereiner die Bierfilze.« Tina Colin strahlte mich an, sie war stolz, sie hatte sich in eine Marktlücke manövriert, sie hatte diese Lücke erfunden. Und ganz ohne Zweifel, dachte ich, ist das eine bravouröse Leistung.
»Das ist ja irre«, lobte ich. »Das heißt ja, dass Sie und Natalie mit geradezu gefährlichem Wissen herumgelaufen sind.«
»Das kann man so sagen. Auch die Folgegeschäfte in Sachen Müll sind hier besprochen worden. Aber wir sagen natürlich immer, dass wir nichts von den Gesprächen mitkriegen und dass wir sowieso kein Wort von dem erzählen, was in diesen Mauern vor sich geht. Mein Ehrenkodex ist in der Beziehung aus Gusseisen: Kein Wort raus!« Dann schien ihr die veränderte Situation bewusst zu werden und sie schloss kläglich: »Das alles war einmal. Glauben Sie wirklich, sie hat nicht gelitten?«
»Bestimmt nicht.«
Ich wollte aus diesem Haus heraus, ich konnte diese Atmosphäre aus Selbstgefälligkeit und Mutter-Tochter-Träumen nicht mehr ertragen. Trotzdem fragte ich: »Halten Sie es für möglich, dass Sven Natalie umgebracht hat?«
Sie wurde blass. »Nein«, sagte sie tapfer. »Das ist undenkbar. Jeder, aber nicht Sven.«
»Gab es denn sonst noch Männer, die verrückt nach Natalie waren?«
Tina Colin presste die Lippen aufeinander, so dass sie nur noch Striche waren. »Wenn jemand so schön und so klug ist wie Natalie, ist das nicht vermeidbar. Ja, so was gab es. Aber da ist kein Irrer drunter, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Sind Ihnen denn alle heftigen Verehrer bekannt...?«
Sie erschrak, aber den Bruchteil einer Sekunde später war ihr Gesicht wieder nichts sagend.
Ich fuhr fort: »Ich danke Ihnen. Ich muss jetzt gehen.« Doch ich hängte, ganz im Stil Columbos, noch eine Frage an: »Sagen Sie mal, wer ist eigentlich der Graf von Monte Christo?«
Das traf sie. Sie begann mit den Händen zu fuchteln, ihr Mund verzog sich breit, sie senkte schnell den Kopf. »Och, der«, meinte sie lahm und leise. »Das ist so ein Unternehmersohn, nicht wichtig. Er raucht Zigarren, die heißen Monte Christo. Manchmal ist er mit den jungen Leuten zusammen, aber eine Rolle spielt er nicht. Der Vater, nein, der Onkel ist äußerst wohlhabend. Auch so ein Müll-Mensch.
Der Graf ist einfach ein Lebemann.« Das sprach sie aus wie ein Schimpfwort.
Irgendwann in den nächsten Stunden würde sie begreifen, was sie mir alles erzählt hatte, und sie würde auch begreifen, dass es zu spät war für eine Korrektur. Dabei hatte sie längst begonnen, ihre Legenden zu formulieren, und sie würde nicht damit aufhören, bis jedes Detail in ihr verändertes Weltbild passte.
Wir standen vor der Garderobe in dem engen Flur. Hinter ihrem Kopf hingen sechs alte englische Stiche von Reitern und Pferden an der mit beigem Chintz bezogenen Wand – wahrscheinlich waren die Bilder ein Schnäppchen für zweiundsiebzigtausend Mark gewesen. Ich dachte an die Behörden in unserem Staat und daran, ob die wussten, was hier in den Räumen stand und an den Wänden herumhing.
»Darf ich Sie auch noch etwas fragen?«, murmelte sie. »Ich hab ja keine Ahnung im Umgang mit Presse. Aber ich bin angerufen worden. Da kommt gleich ein Mann von einer Illustrierten. Aus Hamburg. Die bieten mir was für meine und Natalies Lebensgeschichte. Können Sie mir da behilflich sein, was soll ich fordern?«
»Nein, da kann ich Ihnen nicht helfen.« Ich war erschrocken. »Ich kann Sie nur warnen.« Dann begriff ich plötzlich ihre Lage. »Sie brauchen Geld, nicht wahr?«
»Na ja, der Betrieb hier wird erst mal aufhören.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe ein bisschen was zurückgelegt, aber da würde ich nicht gern drangehen. Wieso soll ich das nicht machen?«
»Weil Redaktionen niemals das schreiben, was Sie selbst schreiben würden. Sie müssen das allein entscheiden, ob Sie Ihre Geschichte verkaufen. Das kann Ihnen niemand abnehmen. Aber seien Sie wachsam wie ein Luchs.«
»Bin ich«, versprach sie inbrünstig.
Sie öffnete die Haustür und rief erstickt: »Oh!« In der nächsten Sekunde richtete sie ihr Haar.
Draußen standen, sorgfältig nebeneinander aufgebaut, drei Fernsehteams – vom SWR, RTL und VOX, drei Truppen, die so gekleidet waren, als seien sie hergekommen, um zu grillen. Aber vielleicht wollten sie das später ja wirklich. Der Einfachheit halber streckten sie ihre Mikrofone vor wie Spezialausweise und begannen gleichzeitig zu brüllen.
»Frau Colin, wie fühlen Sie sich?«
»Frau Colin, war es Ihr zukünftiger Schwiegersohn?«
»Frau Colin, dieses Drama um Ihre Tochter wirft die Frage nach der Todesstrafe auf.«
Ich flüsterte ihr zu: »Big brother is watching you. Sagen Sie zwei Dinge: Dass Sie keine Auskunft geben können und dass Sie in Ihrer Trauer allein gelassen werden wollen.«
Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr vom Hof.
Von Nohn her hatte sich die Wolkenwand inzwischen geschlossen, es würde gleich regnen, donnern und blitzen. Das passte mir gut, mir war selbst so. Ich fuhr nach Bodenbach und von dort nach Borler, Spielzeugdörfer von großer Schönheit in einer fast unverdorbenen Landschaft, in der ich alle hundert Meter aussteigen möchte, um einfach nur herumzuschauen.
Regen, Donner und Blitz erwischten mich hinter Borler, ehe ich auf die Verbindungsstraße Nohn-Kelberg kam. Ich hielt an und grinste einem Bauern zu, der auf einem Uralt-Lanz ohne Verdeck in scheinbar mieser Stimmung durch die Fluten ratterte.
Als er mein Grinsen sah, wollte er wütend werden, besann sich aber, stoppte ebenfalls, kletterte von seinem Gefährt, kam zu meinem Auto und setzte sich quatschnass auf den Nebensitz. Er blinzelte mich von der Seite an und meinte: »Das ist aber nett von dir.«
»Ich habe heute meinen sozialen Tag«, erwiderte ich.
»Du warst sicher bei Tina«, fuhr er nahtlos fort. »Ich kenn dich doch, du schreibst doch immer solche Sachen. Das ist eine furchtbare Sache! Glaubst du, sie fangen das Schwein?«
»Bestimmt. Tina ist noch immer wie besoffen. Sie hat noch gar nicht kapiert, was passiert ist. Jetzt sind die Fernsehfritzen da. Kannst du mir was erzählen?«
Er überlegte und schüttelte schließlich den Kopf. Er zog ein Päckchen aus der Tasche seiner Arbeitsjoppe und drehte sich eine Zigarette. »Ehrlich, Jung, ich weiß nichts. Ich höre nur immer. Dauernd ist was im Radio und heute Abend wird jede Menge im Fernsehen sein. Der Sohn von dem Hardbeck soll ja in der gleichen Nacht tödlich verunglückt sein. Ist das wahr?«
»Ja. Der ist hinter Darscheid, wo es unter der Autobahn durchgeht, gegen die Betonwand gefahren. Keine Bremsspur, war wohl sofort tot.« Ich stopfte mir die Rondo von Stanwell und wir pafften vor uns hin.
»Das muss man sich mal vorstellen. Beide tot, beide in derselben Nacht. Da ist doch irgendwas nicht in Ordnung, oder?«
Der Wagen beschlug von innen und sehr bald saßen wir im Nebel.
»Ich frage mich, was so ein reicher Mann wohl durchmacht«, murmelte der Bauer. »Da stirbt der Erbe und all dein Geld nutzt dir nichts mehr. Alles im Arsch ...«
»So wird es sein«, nickte ich.
»Schreibst du drüber?«
»Nein, erst mal nicht. Es ist ja noch keine Story. Bis jetzt gibt es nur dieses tote Paar, sonst ist noch nichts sicher.«
»Da wird viel rauskommen«, sagte er nachdenklich. »Es ist komisch, dass es ausgerechnet die beiden erwischt hat. Wo doch hinten im Forsthaus immer diese Runde tagte, diese Geldfritzen. Und der Walter Hardbeck auch.«
»Weißt du was über die?«, fragte ich schnell.
»Nichts«, erwiderte er. »So was ist nichts für unsereinen. Du weißt schon, Schuster bleib bei deinen Leisten.« Er wechselte das Thema, murmelte: »Schöner Frühsommer. Wir hatten das beste Frühjahr seit vielen Jahren. Kein Bodenfrost. Alles steht gut, die zweite Mahd ist schon bald vorbei und sie war verdammt reich.«
»Hast du noch viel?«
Er schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Nä. Hat auch keinen Zweck mehr. Die kleine Zugmaschine da, zwei Schweine, zwei Rinder pro Jahr. Ein Acker Kartoffeln, zwei Acker Wiesen. Den Rest habe ich verpachtet und ich habe noch Schwein, dass ich überhaupt einen Pächter gefunden habe. Die Frau ist mir vor sechs Jahren weggestorben, sie sollte eine neue Hüfte kriegen, hat das aber nicht gepackt. Ich hatte eine gute Frau.« Er starrte auf die nebelige Windschutzscheibe. »Sie hat unheimlich viel gearbeitet, sogar mehr als ich. Und sie hat den Sohn großgezogen. Aber der ist ja nun weg. Lebt in Stuttgart, ist Computermann. Hat auch Familie, zwei Kinder. Kommt mich besuchen. Immer zu Weihnachten.« Er begann sich eine neue Zigarette zu drehen. Der Regen draußen ließ nach, das Grummeln klang entfernter, Blitze waren keine mehr zu sehen.
»Wie alt bist du?«
»Achtundsiebzig. Bis jetzt war ich immer gesund. Na klar, mal zieht es im Kreuz und die Beine wollen auch nicht mehr so. Aber ich kann mich nicht beklagen, mir geht es gut. Ich muss nun weiter, denke ich. Dein Leben lang hast du malocht.« Er lächelte etwas melancholisch. »Du solltest irgendwann mal über die Renten der deutschen Bauern schreiben. Das ist ein Thema, sage ich dir! Mach es gut.«
»Ja, gleichfalls.«
Er stieg aus und warf die Tür zu. Ich drehte die Fenster herunter, damit Frischluft hereinkam und die Scheiben wieder klar wurden. Der Bauer tuckerte davon. Ich ließ mir Zeit, knabberte an einer Vermutung herum, die Tina Colin betraf. Sie hatte behauptet, dass alles in ihrem Leben höchst ehrenwert sei, dass ihre Tochter sie liebte und sie ihre Tochter liebte. Dass alle Gerüchte, die das Wort ›Puff‹ betrafen, gänzlich falsch seien. Ich ahnte, dass etwas daran gelogen war und dass Tina Colin sich selbst gar nicht bewusst war, dass sie log.
Ich rief Matthias in seiner Praxis in Wittlich an, ein Seelenarzt würde wissen, was zu vermuten war.
Er durfte nicht gestört werden, würde aber in fünf Minuten zurückrufen. Also blieb ich in der Wieseneinsamkeit sitzen und bemerkte rechts neben dem Auto ein paar Teufelskrallen in ihrer violetten Pracht. Unten am Bach blühte gelber Hahnenfuß in Fülle, daneben hochragende Vergissmeinnicht und, verborgen im hohen Gras, tatsächlich gelbe Schwertlilien. Ein Bussard flog von hinten heran, zog über dem Wagen eine scharfe Wende, stellte sich einige Sekunden lang aufrecht in den Gegenwind, schrie hoch und gellend und stürzte dann wie ein Stein zu Boden.
Mein Handy intonierte Beethoven, ich drückte die Taste und Rodenstock fragte: »Wo bist du? Gleich kommt dieser Oberstudienrat, du weißt schon.«
»Wie geht es Emma?«
»Erstaunlich gut. Sie ist ... sie ist sogar fröhlich. Wo bist du?«
»Ich komme gleich und bringe eine Menge Neuigkeiten. Ist Vera besser drauf?«
»Sie ist gar nicht mehr hier, sie ist abgehauen, um irgendjemandem das Auto wiederzubringen. Ich habe ihr gesagt, sie soll wiederkommen. In Mainz kann sie keinen Abstand gewinnen.«
»Das ist gut, bis gleich.«
Es dauerte noch zwei Minuten, ehe Matthias sich meldete. Er sagte mit leichter Heiterkeit: »Ich nehme an, es geht um diese beiden jugendlichen Toten. Man wird ja förmlich zugedröhnt von dieser Nachricht.«
»Richtig. Und ich habe eine Frage, von der ich nicht weiß, ob sie nicht dämlich ist. Die Mutter der toten Neunzehnjährigen hat für sich eine Art Marktnische erfunden. Sie stellt ihr Haus für Konferenzen zur Verfügung. Für Konferenzen von Männern, die viel Geld haben, neue Projekte ersinnen, neue Firmen gründen und so weiter und so fort. Und sie hat diese neunzehnjährige Tochter in dieses Geschäft integriert. Sie selbst und diese Tochter bedienen die Gäste. Die Frau sagt, das sei ihr Leben. Sie sagt auch, dass sie vor allem für diese Tochter lebt und alles sei vollkommen ehrenhaft. Aber sie hat einen Seiden-Isfahan im Wohnzimmer liegen, der schlappe achtzigtausend Mark gekostet hat, und die Ehrenhaftigkeit ist damit für mich höchst zweifelhaft. Ich will der Mutter gar nicht unterstellen, dass sie lügt. Doch es scheint, dass sie ihre Tochter ... Na ja, ich weiß nicht, wie man das formuliert. Sie hat für diese Tochter gelebt. Immer ...«
Matthias unterbrach mich und meinte trocken: »Das nennt man ›narzisstische Abtretung‹. Weißt du, woher diese Mutter kommt, wie sie aufgewachsen ist?«
»Nein. Aber sie betonte, sie sei aus einem ›prima Stalh. Und sie bezeichnete ihre Tochter als ›Brut‹. Deshalb bin ich misstrauisch geworden.«
»Richtig so.« Er lachte. »Du wirst wahrscheinlich herausfinden, dass das mit dem Stall nicht so weit her ist. ›Narzisstische Abtretung‹ bedeutet, dass ich jemanden stellvertretend für mich leben lasse. Wenn er es gut macht, bin ich glücklich. Bei Vätern und Söhnen gibt es das häufig. Das klassische Beispiel ist ein zwanghafter Oberregierungsrat, der sich nicht traut, Sexualität zu genießen. Er hat einen Sohn, dem er mit aller Gewalt aufs Pferd hilft. Der Sohn wird meinetwegen ein hochrangiger Militär, wird vielleicht sogar General. Dieser Sohn darf dann alles tun, was Vater sich nie zu tun traute. Darf sogar wilde Weibergeschichten haben, Sex genießen, sich richtig ausleben. Wenn der Sohn das richtig macht, ist Papi glücklich. Bei Müttern und Töchtern funktioniert das genauso. Alles, was sie sich niemals traute und niemals trauen wird, soll die Tochter aufs Heftigste tun und genießen. Könnte das so gelaufen sein?«
»Ich denke, ja. Und weiß die Tochter, dass sie stellvertretend lebt?«
»Wenn sie jung ist, weiß sie es nicht. Wenn sie älter wird und über das eigene Leben zu reflektieren beginnt, ist es möglich, dass sie etwas ahnt. Wenn sie jemanden hat, mit dem sie sich besprechen kann, einen Außenstehenden, wird sie es wissen. Ein kritischer Punkt übrigens.«
»Stell dir eine Runde höchst ehrenwerter Geschäftsleute mit viel Geld vor. Sie tagen im Haus der Mutter. Alles ist vom Feinsten, von der Einrichtung bis hin zu den angebotenen Speisen und Getränken. Alles ist abgeschirmt. Jeder der Beteiligten weiß: Hier guckt niemand durch die Fenster, hier bin ich sicher. Mutter und Tochter bedienen. Die Tochter ist hübsch und überdies wahrscheinlich sogar klug. Falsch, ich muss sagen, die Tochter ist eine bildschöne Frau mit starker erotischer Ausstrahlung. Wenn nun jemand der anwesenden seriösen Herren Lust auf dieses junge Fleisch bekommt, wie werden die Frauen darauf reagieren?«
»Die Mutter würde das möglicherweise sogar fördern. Bei der Tochter ist das nicht sicher. Dazu müsste ich mehr über sie wissen. Die Mutter wird in aller Unschuld sagen: ›Das gehört dazu.‹ Außerdem spielt dabei Dankbarkeit eine Rolle. Ich will damit sagen, dass die Mutter ständig betont: ›Das alles, mein Kind, hast du mir zu verdanken. Ich lebe für dich, ich arrangiere dein Leben. Wir leben gut, wir leben luxuriös, das alles basiert auf meinen Lebenskünsten. ‹ Dahinter steht ein bedrückender Satz, der lautet: Sei mir gefälligst dankbar!«
»Welche Rolle spielt in dieser Konstellation ein junger Mann, der die Tochter liebt?«
»Die Rolle eines armen Schweines. Ist er sensibel, wird er unentwegt durch die Hölle gehen. Er wird maßlos unter seiner Eifersucht leiden. Niemand teilt ihm Konkretes mit, niemand sagt: ›Deine Freundin schläft mit den anwesenden älteren Herren, deine Liebste ist eine Nutte!‹ Aber seine Fantasie wird ihm das sagen und ihn pausenlos quälen. Und er wird phasenweise immer wieder hassen. Du hast dann klassisch das, was sämtliche Rundfunksender zurzeit von diesem Paar behaupten: Du hast die klassische Tragödie. Darauf willst du doch hinaus, oder?«
»Das weiß ich noch nicht so genau. Ich will nur verstehen, was alles passiert sein kann. Auch der letzte Riesendeal im Bereich der Müllentsorgung scheint in der Tragödie eine Rolle zu spielen. Wenn an diesem Riesendeal etwas faul ist, dann hat es die tote junge Frau vermutlich gewusst.«
»Du hast ein Problem am Hals«, stellte Matthias trocken fest. »Eigentlich nicht ein Problem, sondern ein ganzes Bündel. Entschuldige, mein nächster Patient wartet.«
Ich startete und rollte langsam heimwärts.
Nehmen wir einmal an, nicht Sven hatte Natalie getötet. Nehmen wir an, es war jemand, der unbedingt wollte, dass sie schweigt. Weil sie etwas wusste, was diesen Jemand in Gefahr bringen kann. Was konnte sie erfahren haben? – Wie hatte Tina Colin das formuliert: ›Sie schieben die Millionen hin und her wie ich die Bierfilze. ‹ War es vielleicht einfach um Geld, um Bargeld gegangen? Nehmen wir an, jemand aus der höchst ehrbaren Runde sagte: ›Da fehlen uns aber noch rund drei Millionen. ‹ Nehmen wir einmal an, ein anderer antwortete: ›Das ist ein Klacks, die muss ich nur holen. ‹ Und ein Dritter schlug vor: ›Dann hol sieh Der zweite sagte: ›Kein Problem, aber die Kohlen sind rabenschwarze Und der Dritte stellte fest: ›Das interessiert doch niemanden, hol es!‹
So konnte es gewesen sein, wegen des Wissens um so eine Sache konnte Natalie getötet worden sein. Aber warum war dann ihre Mutter nicht getötet worden, die doch von den gleichen Dingen wusste? Stimmte das? Wusste Mutter Colin immer genau das, was auch die Tochter wusste? Nein, Natalie konnte durchaus etwas in Abwesenheit der Mutter erfahren haben, was sie dann auch nicht weitergab. Passte denn dazu die merkwürdige Art der Aufbahrung auf der wilden Müllkippe? Ja, durchaus. Es passte sogar hervorragend. Man stelle sich vor, ein älterer, seriöser Mann, der Natalie eigentlich von Herzen mochte, ist gezwungen, sie ein wenig zu töten ...
Zwischen Bongard und Brück gab ich Vollgas. Ich ärgerte mich, weil diese ganzen Konstruktionen, diese ach so großartigen Kombinationen ausschließlich auf Annahmen beruhten. Annahmen, Annahmen, Annahmen! Bis jetzt war nichts wirklich sicher, nichts geprüft. Außer einer Tatsache: Die beiden jungen Menschen waren tot, der eine war ermordet worden, der andere vielleicht einem Unfall zum Opfer gefallen, vielleicht in selbstmörderischer Absicht ... Nicht einmal die zweite Todesursache war sicher.