NEUNTES KAPITEL

Wir wurden wach, als Emma und Rodenstock eintrudelten und offensichtlich fidel und guter Dinge waren. Sie lachten lauthals über irgendetwas.

»Nichts ist schlimmer als gut gelaunte Leute«, knurrte Vera neben mir.

»Es ist fast drei Uhr nachmittags«, bemerkte ich. »Die werden denken, wir feiern eine Orgie.«

»Dann lass sie doch. Dann sind sie wenigstens neidisch.«

Ich besiegte den Schweinehund in mir und wälzte mich vom Lotterbett. Ich taumelte über den Flur ins Badezimmer und Rodenstock mutmaßte in seiner eklig arroganten Art: »Na, sieh mal einer an, der Baumeister bei der Völkerwanderung.« Dann etwas versöhnlicher: »Soll ich vielleicht einen Kaffee machen?«

Emma schrie aus dem Wohnzimmer im höchsten Diskant: »Hier ist der Fernseher zertrümmert worden!«

»Bronski hat ihn auf dem Gewissen, Vera hat ihn abgeschossen.«

»Wen? Etwa Bronski?«

»Nein, den Fernseher«, muffelte ich. »Du könntest tatsächlich mit einem Kaffee einen Orden gewinnen.«

»Kann mir jemand sagen, was hier passiert ist?«, flötete Emma.

Ich machte die Badezimmertür hinter mir zu und nach einigen Versuchen mit kaltem Wasser erkannte ich mich im Spiegel wieder und begann sofort heroisch, mich zu rasieren. An der Kinnpartie schnitt ich mich ungefähr sechsmal und sah aus wie jemand, der gegen einen Schneepflug gelaufen ist. Ich mochte mich nicht, der Tag ließ sich nicht gut an.

Vera kam hereingeschossen und aus mir unerfindlichen Gründen auch Cisco. Vera setzte sich auf den Lokus, erledigte ihre Pinkelei und fragte scheinheilig: »Bist du ausgeschlafen?«

»Nein«, sagte ich.

»Du warst so süß heute Nacht.«

»Was war ich?«

»Schon gut, schon gut.« Sie breitete segnend die Arme aus, bevor sie das Bad im Geschwindschritt wieder verließ.

»Du gehst auch raus!«, befahl ich meinem Hund.

Er wedelte mit dem Schwanz.

»Ich möchte wenigstens morgens im Bad mit mir allein sein. Ohne Hund und ohne ein weibliches Wesen. Das alles ist eine ungeheure Zumutung.«

»Du musst wissen«, sagte Rodenstock in der Tür, »dass sie heute in aller Frühe noch mal Hans Becker kassiert haben. Da soll es einen Widerspruch in seinen Aussagen geben. Vielleicht haben wir ihn jetzt!«

»Das mit Becker wissen wir. Als Natalie am Abend ihres Todes mit Bronski telefonierte, war sie auf dem Weg zu Hans Becker. Und Becker hat das der Kommission verschwiegen. Uns übrigens auch.«

»Wieso Bronski? Ich verstehe das alles nicht.«

»Gleich wirst du es verstehen. Läuft der Kaffee?«

»Der läuft.«

Wenig später versammelten wir uns im Wohnzimmer und ich ließ Vera den Vortritt, die aufgeräumt und widerlich gut gelaunt berichtete, was wir getrieben hatten – von der Frau des Polizisten Egon Förster bis hin zum königlichen Kaufmann Hans Becker. Von der Affäre mit Bronski, der mühelos in mein Haus gelangt und wieder im Dunkel der Nacht verschwunden war, als habe es ihn nie gegeben.

»Höchst interessante Vorkommnisse«, murmelte Emma. »Aber sie alle bringen uns nicht einen Millimeter weiter. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Lasst mich erzählen, wie es uns bei der Familie des Herrn Dr. Lothar Grimm in Koblenz ergangen ist. Natürlich wollte die Ehefrau nicht mit uns reden. Sie hatte offensichtlich Angst vor ihrem Mann. Aber wir sagten ihr, der würde nichts von dem Gespräch erfahren, sie solle ihrem Herzen einmal einen Stoß geben. Wir mieteten uns in einem Hotel ein, eine Suite musste es sein, wir wollten protzen, angeben und uns im Luxus der Welt suhlen. Sie brachte dann tatsächlich ihre Kinder irgendwo unter und erschien. Ich sage es gleich und ungern: Mit dem Mord an Natalie hat der Kerl wahrscheinlich nicht viel zu tun, denn er ist ein im Grunde ängstlicher Schleimer, der seine Lebensberechtigung aus der Tatsache zieht, dass er besser bescheißt als seine Konkurrenten. Die Frau behauptet, er habe sie nur geheiratet und ihr zwei Kinder gemacht, um einen ordentlichen gutbürgerlichen Schutzschild vor sich aufbauen zu können. Und sie könne sich an keinen einzigen wirklich guten Aufenthalt mit ihm in ihrem Ehebett erinnern. Ja, aber er hat einen sexuellen Tick. Er kann sich nur mit Frauen abgeben, die er irgendwie beherrscht, alle anderen meidet er, entwickelt sogar Ängste. Er sucht die Unterwerfung der Frau, daher passt das Foto mit Natalie zu ihm. Und er sagte seiner Frau, er werde sich nie scheiden lassen, denn ein solches Verhalten empfinde er als empörend und gesellschaftlich zersetzend. Im Grunde ist der Mann so gut wie nie zu Hause, arbeitet geradezu orgiastisch und lässt sich in kurzen Abständen von einem Puff mit Frischfleisch beliefern, wie er das nennt. Er kriegt Besuch von Nutten.«

»Wie lange kann die Ehefrau das denn noch durchhalten?«, fragte Vera.

»Ich denke, das geht nicht mehr lange gut«, meinte Emma. »Und ich hoffe sehr, sie bearbeitet ihn gründlich mit einem Hackebeilchen und wird freigesprochen.«

»Was hältst du von Bronski?«, fragte mich Rodenstock.

»Er ist zweifellos ein Wilder. Es gehört ja schon eine gehörige Portion Naivität dazu, gleich zwei Revolver am Körper zu tragen und mit einer Hand voll Kumpels in der Eifel zu erscheinen, um einen Mörder zu jagen. Der Mann ist gefährlich, weil er sich so wenig drum schert, was andere tun und denken. Kritisch dürfte es werden, wenn es ihm gelingen sollte, den Mörder zu identifizieren. Dann brauchen wir Räumpanzer mit Schnellfeuerkanonen. Ich habe außerdem das Gefühl, dass er uns nicht alles gesagt hat, dass er noch viel an Hintergrund hat, den wir nicht kennen.«

»Was machen wir falsch?«, fragte Vera. »Wir müssen irgendwas falsch machen.«

»Wir werden es herausfinden«, stellte Emma spöttisch fest. »Spätestens dann, wenn Kischkewitz sagt: ›Hier ist der Mörder!‹«

»Ich gehe eine Weile in den Wald«, sagte ich. »Und damit keiner von euch auf blöde Ideen kommt: Ich möchte allein sein. Ich muss mir frischen Wind um die Nase wehen lassen.«

»Aber es regnet«, sagte Vera.

»Das ist genau das Richtige.«

Natürlich ging ich nicht in den Wald. Ich fuhr nach Daun und ging direkt in die Polizeiwache. Ich bat, den Chef sprechen zu dürfen, sagte, ich sei ein Journalist und es ginge um den Fall Natalie Colin. Aber ich hätte den Mörder nicht in der Aktentasche dabei.

Der Uniformierte jenseits der dicken Glasscheibe grinste mich breit an und telefonierte dann. Er nickte, legte auf und verkündete durch die Sprechanlage: »Sie können zum Chef. Erster Stock.«

Der Mann war klein, schlank und hatte das Gesicht des Opas, dem man bedenkenlos die eigene Brieftasche anvertraut. Er war nichts als freundliche Neugier. »Schade, dass Sie den Täter nicht in der Tasche haben«, begrüßte er mich.

»Der rasiert sich noch«, entgegnete ich. »Ich bin hier, um Spuren zu tilgen.«

»Zu tilgen?«

»Richtig, zu tilgen. Es gibt in diesem Fall eine Unmenge von Erkenntnissen und ich will die Spreu vom Weizen trennen. Würden Sie sich als einen guten Vorgesetzten bezeichnen?«

»Das hat mich noch niemand gefragt«, erwiderte er nach kurzem Nachdenken. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun ja, meine Kollegen Roland Grün und Stephan Sartoris haben für den Trierischen Volksfreund eine Reportage geschrieben und dabei entdeckt, dass die beiden Polizeibeamten Egon Förster und Klaus Benesch verschwunden sind. Diese beiden Beamten haben in der Nacht zuerst Sven Hardbecks Eltern den Tod ihres Sohnes beibringen müssen und wurden dann zum Fundort von Natalies Leiche geschickt, um ihn abzusichern. Knapp achtundvierzig Stunden später sind die beiden Polizeibeamten weg, nachdem veröffentlicht worden ist, dass die beiden Beamten privaten Umgang mit Natalie hatten. Können Sie mir sagen, wo die beiden sind?«

»Nein«, sagte er knapp. Er lächelte nicht mehr.

»Heißt das, Sie wollen es nicht sagen?«

»Richtig.«

»Dann sind Sie ein guter Chef«, stellte ich fest und versuchte neutral zu klingen.

Eine Weile herrschte Schweigen, nur das Ticken einer Uhr an der Wand war zu hören.

»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte er.

»Ich war bei der Frau von Egon Förster. Sie beschrieb den Aufbruch ihres Mannes als totale Hetze, schwuppdiwupp, weg war er! Sie sagte aber auch, sie habe mit Ihnen gesprochen. Die Frau war überhaupt nicht aufgeregt oder nervös, sie wirkte ziemlich selbstsicher und machte sich um ihren Mann nicht die geringsten Sorgen. Da dachte ich mir: Der muss einen guten Chef haben. Sie haben die beiden aus dem Verkehr gezogen, oder?«

»Wie werden Sie damit umgehen?«

»Eines Tages werde ich daraus eine Geschichte machen. Aber nicht jetzt. Wo sind die beiden?«

»Im Kosovo«, murmelte er. »Internationale Polizeitruppe im Kosovo. Ich hatte keine Wahl, es musste schnell gehen.«

»Sie haben sehr unter der Öffentlichkeit gelitten, nicht wahr? Können Sie die Dinge aus Ihrer Sicht schildern?«

»Und Sie geben es nicht weiter?«

»Bestimmt nicht«, sicherte ich ihm zu.

»Tja, das Ansehen von Polizeibeamten steht nicht gerade hoch im Kurs«, begann er nachdenklich. »Man macht uns ständig klar, dass wir im Grunde versagen. Steigende Brutalität in der Gesellschaft, die starke Bereitschaft zur Gewalt. Wir sind die Buhmänner der Nation. Hier in der Provinz ist es besonders schlimm, weil meine Beamten in einer extremen Schere leben. Auf der einen Seite sind sie die Bullen, die sich überall einmischen, auf der anderen Seite selbst Mitbürger – aber eben mit der Einschränkung, dass sie ein bisschen mehr sind als Mitbürger, sozusagen Polizei-Mitbürger. Im Falle des Unfalltodes von Sven Hardbeck und der Tötung von Natalie Colin waren beide Male dieselben Beamten tätig. Der Landkreis rauschte ungebremst in das Interesse der Medien. Dann kam die Reportage im Trierischen Volksfreund, in der von dem Kontakt der Toten zu den Polizisten berichtet wurde. Jeder, der Provinz kennt, weiß, dass so eine Bekanntschaft unvermeidlich ist. Mir war allerdings sofort klar, dass das Stunk geben wird, das meine beiden Beamten voll in die Scheiße laufen würden, um das einmal deutlich auszudrücken. Es ist vollkommen wurscht, ob die irgendetwas mit dem Tod der Natalie Colin zu tun haben oder nicht: Wenn in einer Zeitung oder in einem Magazin ein Foto veröffentlicht wird, das meinen Beamten Egon Förster in fröhlichem Tanz mit der toten Natalie Colin zeigt, ist der Beamte verbrannt. Ich kann ihn zwar versetzen, ruiniere ihn damit aber. Er hat hier Familie und Haus, hier ist seine Heimat. Ich glaube nicht, dass Förster oder Benesch etwas mit dem Mord zu schaffen haben, aber das ist gar nicht von Belang. Die Medien stellen Zusammenhänge her, die es eigentlich nicht gibt. Die Beamten stehen im öffentlichen Fokus, müssen sich rechtfertigen, sie geraten unter Druck. Das macht sie kaputt!«

»Wie sind Sie denn auf den Kosovo gekommen?« Er lächelte. »Ich habe eine Nachricht vom Innenministerium in Mainz bekommen, wonach Bayern und Rheinland-Pfalz je drei Polizeibeamte in den Kosovo abstellen können. Und da ich den Mann im Innenministerium gut kenne, habe ich ihm gesagt: ›Ich habe zwei für dich!‹ Damit war das gelaufen. Wenn wir den Mörder haben, kann ich die beiden zurückpfeifen. Alles in allem war das die richtige Entscheidung. Jetzt nämlich hat sich herausgestellt, dass Benesch und Förster in einem Nebenjob für Walter Hardbeck gearbeitet haben. Sie haben dessen Garten kultiviert, sie sind nämlich im Nebenberuf auf Gartenbau spezialisiert. Wenn mich ein Reporter fragt, ob ich davon gewusst habe, antworte ich mit Ja. Der Reporter wird trotzdem selbstverständlich andeuten, dass ich davon nichts gewusst habe und nur meine Leute decken will. Die Wahrheit ist, dass beide eine Genehmigung für diesen Nebenjob hatten. Ich selbst habe den Antrag unterschrieben. Das bedeutet, dass die Medien mich fertig machen werden, ohne dass ich gegen eine Verordnung oder gar gegen ein Gesetz verstoßen habe.«

»Sie sind Polizist und Sie kennen Land und Leute. Sie müssen doch einen Verdacht haben?«

»Nein. Leider nein. Das ist eine total verkorkste Geschichte. Wenn ich richtig informiert bin, können wir uns unter mindestens sechs Leuten einen Täter ausgucken. Diese Natalie war ein Satansbraten, Motive wie Sand am Meer. Sogar ihre Mutter hat eines, wenn man genau hinsieht.«

»Was ist mit dem Polen Ladislaw Bronski? Ist der hier schon einmal aufgefallen?«

»Nein, die zwölf Fässer waren die erste Meldung gegen ihn bei uns.«

Ich bedankte mich bei dem Mann und verschwand wieder. Er war einer jener aufrechten Eifler, von denen behauptet wird, sie sterben aus, aber möglicherweise hatte er für Nachwuchs gesorgt.

Ich ließ den Wagen am Behördenzentrum stehen und ging zu Fuß nach Daun hinein. Ich wollte meiner Gier nach einer Currywurst mit Fritten nachgeben. Von Zeit zu Zeit braucht meine Seele das einfach. So steuerte ich das Bistro am Busbahnhof an und schwankte, ob ich nicht lieber Schaschlik nehmen sollte. Dann entschied ich: erst die Wurst, dann das Schaschlik. Oder doch andersherum?

Während ich diese für mein Dasein gravierende Frage wälzte, bemerkte ich sie. Ich verband nicht sofort einen Namen mit ihr, aber das Haar und und die etwas demutsvoll geneigte Nackenlinie erinnerten mich an ein Bild im Wohnzimmer des Detlev Fiedler. Sie hockte geistesabwesend an einem kleinen Tisch und rührte ohne Unterlass in einer Tasse Kaffee herum. Dann sah sie hoch und erkannte mich. Augenblicklich wurde sie nervös, fuchtelte sinnlos mit den Händen auf dem Tisch herum.

»Guten Tag«, sagte ich.

»Ja, guten Tag«, grüßte sie zurück und lächelte verkrampft. Ich erinnerte mich, dass wir als Jugendliche solche Frauen als ›verhuscht‹ bezeichnet hatten.

»Ich glaube, ich muss mich entschuldigen«, stammelte sie. »Nehmen Sie doch Platz. Soll ich Ihnen einen Kaffee besorgen? Nein. Ah, das machen Sie selbst. Na ja, ich war neulich arg angeschlagen. Wissen Sie, seit Natalie tot ist, bin ich mit meinem Mann nicht mehr allein. Dauernd sitzen Journalisten da und wollen wissen, wie Natalie und Sven waren. Dann kommen Fernsehleute und bauen ihr ganzes Zeugs auf, machen ihre Aufnahmen und verschwinden wieder, nur damit die nächsten gleich nachrücken können. Das ist einfach furchtbar! Ich bete immer: Haut doch endlich ab!« Sie wedelte mit den Händen.

»Das kann ich gut verstehen. Aber ich denke, das Schlimmste ist ja nun überstanden.«

»Das hoffe ich auch.«

Der Mann hinter der Theke stellte meinen Kaffee auf die Anrichte und ich holte ihn mir.

»Wie haben Sie eigentlich Natalie erlebt?«

»Unverschämt souverän!«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Ihre Arroganz war gnadenlos. Inzwischen wissen wir ja alle, was ihre Mutter da in Bongard getrieben hat, und wir wissen ja auch, was Natalie ... also, wie sie lebte. Ich habe mich immer gefragt: Was ist denn am Leben einer kleinen Nutte so aufregend, dass die sich was drauf einbildet?«

»Haben Sie denn schon vor Natalies Tod gewusst, dass sie sich prostituierte?«

»Jeder, der das wollte, konnte das sehen. Aber Männer sind ja so dämlich. Die sehen das nicht. Sie fanden Natalie einfach süß und berauschend. Wissen Sie was?« Sie beugte sich zu mir herüber: »Die waren nichts als geil! Das waren sie, jawohl!« Sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Wenn ich noch an Florian denke! Mein Gott, der war ja fast reif für die Klapsmühle damals!«

»Wer ist Florian?«, fragte ich. »Ein Schüler?«

»Nein, nein. Florian Lampert, ein junger Kollege meines Mannes. Der hat mal für vierzehn Tage die Klasse übernommen, als mein Mann zu einer Weiterbildung musste. Das ist so zwei Jahre her. Damals kam er eines Abends zu mir und sagte: ›Die Frau macht mich an. Und sie macht mich fertig! ‹ Sie können mir glauben, der war wirklich fertig. Zwei Tage später passierte Folgendes: Florian hat Pausenaufsicht und kommt mit Natalie ins Gespräch. Und sie sagt, sie hätte nichts dagegen, sich mal mit ihm zu treffen.

›Ja, wo denn?‹, fragt der Idiot ganz begeistert. ›Im Eissalon in Bad Bertrich, da kennt uns keiner‹, antwortet sie. Also fährt Florian abends nach Bad Bertrich. Natalie kommt nicht. Stattdessen erscheinen die vier Musketiere und bestellen schöne Grüße von Natalie. Sie habe es sich anders überlegt. Kennen Sie die vier Musketiere?«

»Ja, Ihr Mann hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Was ist nun mit Florian?«

»Der musste die Schule wechseln, er ist jetzt in Wittlich. Ich sage Ihnen, Natalie ist wirklich ein Teufelsbraten gewesen.« Svenja Fiedler wurde deutlich ruhiger, bewegte sich nicht mehr so fahrig.

»Wenn ich so Revue passieren lasse, wer am Gymnasium möglicherweise alles in diese Natalie verliebt gewesen sein kann, kommen ja ganze Kompanien zusammen«, überlegte ich.

»O ja!«, stimmte sie begeistert zu, als habe ich eine Sensation entdeckt. »Das macht dieses Engelsgesicht, wissen Sie. Gott sei Dank war Florian klug genug, ihr wenigstens keine Liebesbriefe zu schreiben. Das haben andere getan, immer wieder. Und diese Verlogenheiten dabei, diese Verlogenheiten!«

»Von welchen Verlogenheiten sprechen Sie?«, fragte ich und tat so, als sei ich nicht sonderlich daran interessiert.

»Na, diese Verlogenheiten in dem Lehrerkollegium. Da wird immer so getan, als handle es sich bei dem männlichen Personal um gusseiserne Seelen, die nie etwas aus der Ruhe bringen kann. Dabei erwischt es jeden mal, denke ich. Und bei den Lehrerinnen kommt das ja auch vor, dass sie sich in einen siebzehnjährigen Schönling verknallen und ihm heimlich Briefe schreiben.«

»Hat Natalie solche Briefe bekommen?«

»Aber ja. Wussten Sie das nicht? Sie hat sie manchmal sogar vor der Klasse vorgelesen. Jedenfalls hat mein Mann das erzählt.«

»Was waren das für Leute, die ihr schrieben?«

»Leute ohne Namen, immer anonym. Schmutzige Anspielungen, manche deutlich. Mein Mann sagte: ›Das sind Schüler, aber auch Lehrer. ‹ Also ich war richtig froh, als Natalie vor Wochen zu meinem Mann kam, um ihn zu fragen, was er denn von dem Hollywood-Plan hält. Aber er hat abgeraten. Sie kennen ihn ja, immer so ironisch. Ist ja auch witzig: aus dem Landkreis Daun direkt nach Hollywood, als ob die drauf warten. Bei wichtigen Dingen fragte Natalie immer meinen Mann. Wahrscheinlich hat ihn ihr Tod auch deshalb so mitgenommen. Kann ich mir vorstellen.«

»Sagen Sie, dieser Florian Lampert, wohnt der auch in Wittlich?«

»Aber ja. Irgendwo im Zentrum, die Adresse steht im Telefonbuch. Der ist über ein halbes Jahr in Therapie gewesen wegen der Geschichte. Aber jetzt hat er es geschafft und ist verlobt mit einer Kollegin, einer ganz reizenden jungen Frau.«

»Sie sind doch eine kluge Frau«, meinte ich, »was glauben Sie, aus welcher Ecke der Mörder kommt?«

»Nach dem Lärm zu urteilen, den die Medien machen, muss der Mord ja mit diesen reichen Kaufleuten aus dem Forsthaus in Bongard zusammenhängen. Die Berichterstattung wird ja wohl auf der Höhe sein. Die brave Natalie-Maus hat diese Leute schlicht erpresst und sich gleichzeitig gegen ein großes Honorar in deren Bett gelegt. Motive über Motive. Ich habe gestern gelesen, dass sogar die Möglichkeit besteht, dass sie ermordet wurde, weil sie wusste, wer diese Giftfässer in die Eifel transportieren ließ.«

»Aber Sie können auch nicht ausschließen, dass auch in der Schule Motive zu finden sind, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Aber wenn da was wäre, hätte mein Mann schon längst Wind davon bekommen. Das, was mich nachdenklich macht, ist die Sache mit dem Brillanten im Bauchnabel. Der ist ihr doch förmlich rausgerissen worden. Wenn ich bloß daran denke, wird mir schon schlecht. Der Täter muss doch irgendeine Beziehung zu diesem Stein gehabt haben, oder?«

»Ja, das muss er.«

»Sehen Sie, Sie meinen das auch. Wenn der Mörder sich den Stein zurückgeholt hat, weil er maßlos enttäuscht von ihr war, kann der Mörder nur Sven Hardbeck heißen. Es kann aber auch jemand gewesen sein, der wusste, von wem dieser Stein war, und der gleichzeitig keine Chance bei ihr hatte. Oder?«

»Sie könnten Recht haben«, sagte ich. »Leider muss ich nun weiter. Auf Wiedersehen und grüßen Sie Ihren Mann!«

Es gibt Menschen, die mir Unbehagen bereiten. Die Frau des Detlev Fiedler war so ein Mensch. Ich hatte das Gefühl, sie tanzte auf dünnem Eis, war nicht wahrhaftig, schwamm peinlich verkrampft auf der Oberfläche des Lebens und leugnete die Tiefe unter ihr, hatte panische Angst vor dem Knäuel an Gefühlen, das in ihr war. Sie gehörte zu denen, die ständig beten: Du musst nur positiv denken und schon flutscht das Leben!

Florian Lampert? Wie weit musste ich in die Vergangenheit zurückgehen, um Zusammenhänge zu begreifen? Sollte ich Zeit darauf verwenden, einen weiteren frühen Zeugen aufzusuchen, nur um festzustellen, dass es erneut eine Sackgasse war? Was konnte Florian Lampert erzählen? Was würde er erzählen?

Ich rief im Hotel Panorama an und ließ mich mit Tina Colin verbinden. Ich motzte sie an: »Warum hast du mir die Geschichte zwischen Natalie und dem Polen Bronski verschwiegen?«

»Es gibt keine Geschichte zwischen meiner Natalie und Bronski«, antwortete sie tonlos. »Na klar, die beiden waren sich sympathisch, aber mehr war nicht.«

»Das ist nicht wahr«, sagte ich scharf. »Du lügst. Sie haben miteinander geschlafen. Sie mochten sich sehr.«

Sie schwieg einen Moment. »Das war nur eine wilde romantische Gefühlsduselei. Bronski hat nicht unser Niveau. Er ist ein Prolo und bleibt ein Prolo. Meine Natalie war ein anderes Kaliber.«

»Wann hörst du endlich auf, dich zu bescheißen? Das ist ja unerträglich!« Ich war wütend und hilflos. »Ich kann inzwischen nicht einmal mehr glauben, dass Natalie am Tag ihres Todes dein Haus um elf Uhr verlassen hat. Zwischen achtzehn und neunzehn Uhr hat Bronski sie angerufen. Da war sie auf dem Weg nach Maria Laach und sagte, sie wolle mit Hans Becker reden. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du keine Ahnung hast, wo sie in den rund sieben Stunden dazwischen war. Also, wo war sie?«

»Ich weiß das nicht genau.«

»Ich komme zu dir«, sagte ich drohend.

Ich unterbrach die Verbindung und machte mich auf den Weg den Berg hinauf in den stillen Teil der Stadt. Es tat gut, zu Fuß zu gehen, hier und da ein bekanntes Gesicht zu grüßen und stehen zu bleiben, wenn ein Vorgarten besonders hübsch gelungen war. Ich stopfte mir eine Pfeife und registrierte erstaunt, dass ich stundenlang nicht geraucht hatte.

Tina wohnte im ersten Stock gleich schräg gegenüber dem Lift. Sie trug Schwarz, hatte keinen Schmuck angelegt, die Fingernägel waren farblos lackiert, ihr Gesicht wirkte ledern, ihr Mund wie ein Strich. Unter den Augen dunkelblaue Schatten. Sie machte einen kranken Eindruck, einen herzkranken Eindruck.

»Wie steht die Sache denn?«, fragte sie in dem etwas kindlichen Bemühen, die Szene zu entkrampfen.

»Ich bin nicht informiert. Kannst du bitte zusammenfassen, was du wirklich von dem Tag weißt? Und warum hast du erzählt, Natalie wolle sich mit Sven treffen, um Schuhe zu kaufen? Sie haben sich zu diesem Zeitpunkt doch gar nicht mehr gesehen, ihre Liebesgeschichte war längst kaputt.«

»Ich hatte keinen Einfluss mehr«, sagte sie. »Schon lange nicht mehr. Sie hat das Haus wirklich gegen elf Uhr verlassen und ist mit dem Auto weggefahren. Und ich weiß wirklich nicht, wohin sie gefahren ist.«

»Aber du ahnst etwas, oder?«, fragte ich schnell.

»Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Ich glaube jetzt, dass sie zu Adrian Schminck gefahren ist, um Geld einzutreiben. Und sie wollte mit ihm reden, was er von dem Hollywood-Plan hält. Sie wollte, dass er ... na ja, dass er seine schützende Hand weiter über sie hält. Aber ich weiß eben nicht, ob das stimmt. Wir können sie ja nicht mehr fragen.« Sie setzte sich auf das Bett, ließ sich auf den Rücken fallen und weinte.

Ich überlegte. Dann rief ich Rodenstock an.

»Wo bist du denn?«, fragte er säuerlich.

»Ich sammle mal wieder lose Fäden ein«, erklärte ich. »Kannst du dich noch erinnern, welches Alibi Adrian Schminck für den Mordtag hatte?«

»Ja. Er war tagsüber im Büro, gegen Abend in einer Kneipe in Mayen, dann zu Hause.«

»Möglicherweise ist das alles falsch«, sagte ich. »Ich fahre jetzt zu ihm nach Boos. Oder ist er inzwischen in die Südsee geflogen, wie anständige Erben das so tun?«

»Meines Wissens darf er nicht weg«, sagte Rodenstock knapp. »Ich komme auch dorthin.«

Ich ließ Tina Colin auf dem Bett liegen und ging.

Es hatte wieder zu regnen begonnen und die Leute fragten sich, wann es denn endlich Sommer werden würde. Und sie liebäugelten mit der Idee, einen Last-Minute-Flug zu buchen, um so dem Eifelelend zu entfleuchen.

Natalie, was immer mit dir geschehen ist, ich werde es herausfinden. Nutzen wird es dir nicht mehr. Möglicherweise hockst du auf Wolke sieben und lachst dich kaputt über unsere menschlichen Bemühungen. Möglicherweise hockst du beim Teufel vor dem Rost, flachst mit ihm herum und machst dich lustig über diese blöden Menschlein, die deinen Tod untersuchen wollen und damit nicht zurande kommen.

Der Kreisverkehr in Kradenbach hinter Rengen war immer noch nicht fertig, es gab einen kurzen Stau. Vor mir stand ein lohgelber Truck, dessen Fahrer bei weit offenen Fenstern Queen dröhnen ließ: We are ihe Champions. Queen macht sich bei Regen immer gut, besonders wenn es in der Ferne blitzt und leiser Donner rollt.

Es ging zügig weiter. In Boos hatte ich nicht viel zu fragen, da in der letzten steilen Rechtskurve neben der Kneipe ein Schild stand, das die Richtung wies: SCHMINCK. Ich nahm die schmale Straße nach links, ließ die Häuser hinter mir und hatte den Schminck'schen Bau vor mir, der etwas arrogant über dem Dorf schwebte, als habe er für die menschlichen Niederungen nur Verachtung übrig.

Die Baukörper waren allesamt eingeschossig und wie Bauklötze aneinander gestellt. Rodenstock, Emma und Vera waren bereits angekommen und ich fragte mich, ob es taktisch richtig war, gleich zu viert zu erscheinen. Sie stiegen aus und kamen zu mir herüber.

»Er ist da«, sagte Rodenstock. »Und erwartet uns. Müssen wir noch etwas wissen, bevor wir reingehen?«

Ich informierte sie, weshalb ich mit Schminck reden wollte, dann schellten wir.

Schminck trug ein rot kariertes Holzfällerhemd zu blauen Jeans und hellbraune Wildlederslipper ohne Strümpfe. Er war ein großer Kerl, an die zwei Meter, und sah freundlich auf uns herab. Er wirkte gepflegt und der erste Eindruck war der eines herzlichen Menschen und nicht der eines halb garen Erben, was immer ich mir darunter vorgestellt hatte. Mit breitem Lächeln sagte er: »Herzlich willkommen!«, trat einen Schritt zur Seite und ließ uns vorbeigehen. Dann schloss er die Tür und murmelte: »Wir gehen ins Wohnzimmer, da ist es gemütlich.«

Das Wohnzimmer lag nach hinten hinaus, wir sahen auf einen Waldrand, der nur fünfzig Meter entfernt war, dazwischen befand sich eine Streuobstwiese. Im Kamin brannte ein Feuer und verbreitete Behaglichkeit. Der Raum war nicht sonderlich aufwendig ausgestattet, nur spärlich möbliert und wirkte hoffnungslos spießbürgerlich wegen einer schier verwirrenden Fülle von Grünpflanzen.

Es war unvorstellbar, dass dieser Mann gerade ein Aktienpaket im Wert von zig Millionen verkauft hatte. Ich mahnte mich zur Vorsicht, ich hatte Erfahrung mit meinen Eiflern. Kann sein, dass du einem abgerissenen und unrasierten Penner gegenübersitzt, der dein ganzes Mitleid hat. Du überlegst, ob du ihm einen Zwanziger spendieren sollst. Und plötzlich zückt der das Scheckbuch.

Ich stellte uns vor und sagte: »Ich fürchte, Sie haben von diesem Fall langsam die Nase voll. Wissen Sie eigentlich noch, wie viele Interviews Sie gegeben haben?«

»Ich hab's gezählt«, grinste er. »Seit ich aus der U-Haft raus bin, waren es vierzehn.«

»Fühlten Sie sich gerecht behandelt?«

»Nicht die Spur. Ich hatte den Eindruck, dass die alle nach etwas fragten und sich die Antworten schon vorher ausgedacht hatten.« Sein Augen waren eisgrau und sein Gesicht unter dem dichten dunkelbraunen Haar fröhlich. »Aber jetzt bin ich aus dem Schneider, ich bin unschuldig und ich haue erst einmal für Monate ab in die Sonne. Ich habe meine Leute schon nach Hause geschickt.«

»Wohin soll es gehen?«, fragte Emma freundlich.

»Erst mal in die Karibik, später vielleicht in die Südsee. Es kommt drauf an, wo meine Kumpels sind.«

»Was sind denn das für Kumpels?«, fragte Vera.

»Na ja, das ist ein Haufen von berufsmäßigen Töchtern und Söhnen«, erklärte er schief. »Leute wie ich, die nie arbeiten, die sich für alles Sklaven halten und nach Möglichkeit ausschließlich warm duschen.«

»Da ist aber eine Menge Ironie«, sagte Rodenstock erfreut.

»Mit was kann ich Ihnen denn dienen? Ich war schon der verschmähte Liebhaber. Dann war ich der erfolgreiche Liebhaber. Dann war ich das arme, kleine, reiche Schwein, das endlich mal eine hübsche junge Frau im Bett haben wollte. Dann war ich der ausgebuffte Erbe, der alle übers Ohr haut und die Verwandtschaft unglücklich macht. Dann war ich der junge, unerfahrene Geldsack, der von raffgierigen Kaufleuten um Reichtum, Geld und Ehre gebracht wurde. Dann war ich ein geiler Mörder. Sie können sich was aussuchen.«

»Vermutlich stimmt keines dieser Bilder«, sagte ich.

»Richtig«, nickte er. »Jedes dieser Bilder suggeriert, dass ich statt eines Hirns einen Badeschwamm im Kopf herumtrage. Anfangs ärgert das, aber inzwischen ist es mir scheißegal.«

»Glauben Sie denn, Sie können es über sich bringen, uns Ihre Geschichte zu erzählen?«, fragte Emma.

»Es reicht, wenn wir dieselbe Version hören wie die Mordkommission«, ergänzte Rodenstock.

Er lachte. »Ich merke schon, Sie sind Profis. Tja, die Geschichte. Vergessen Sie mal alles, was Sie bisher zu wissen glauben. Es gibt nämlich keine neutrale Vorgabe. Mal heißt es, Natalie hätte mich über den Tisch gezogen, mal, die Kaufleute hätten mich über den Tisch gezogen, dann habe ich mich an meinem Onkel rächen wollen und so weiter und so fort. Nichts davon ist wirklich stimmig.«

»Wir lauschen«, sagte Emma freundlich und setzte sich aufrecht hin.

»Also, ich bin jetzt achtunddreißig. Vor kurzem starb meine Mutter und ich beerbte sie. Sie hielt dreißig Prozent der Aktien der Firma meines Onkels, also ihres Bruders. Es geht um Mülltransporte. Müll ist ein begehrtes Geschäft, wenn es gut gemacht wird, ein sehr solides, verlässliches Geschäft. Aber es ist auch stinklangweilig. Ich hatte gleich vor, nach dem Tod meiner Mutter das Aktienpaket zu verkaufen. Natürlich wollte ich es nicht an meinen Onkel verkaufen. Ich mag den nicht. Er machte mir ein Angebot, das man nur als schäbig bezeichnen kann – weniger als die Hälfte dessen, was ich jetzt von der Bongard-Gruppe bekommen habe. Die Bongard-Gruppe lud mich ein und machte mir ihre Offerte. Ich hatte zwar keine Ahnung, dass die Gruppe das Aktienpaket sofort weitergeben würde, aber das kann mir letztlich egal sein. Ich hatte vor, mein Kapital in Spielfilme zu stecken, genauer gesagt: in eine Hollywood-Produktionsfirma. Kommt man an die richtigen Leute, ist es eine gute Investition. Und so enttäuschend es sein mag: Ich hasse Nichtstun. Im Forsthaus in Bongard lernte ich natürlich auch Natalie kennen. Damit fing es an.« Er überlegte eine Weile. »Sie war immer schon als wilder Feger bekannt, und längst bevor ich sie kennen lernte, war sie ein fester Begriff für mich. Ich erlebte sie im Forsthaus und muss sagen: Sie war noch viel attraktiver, als ich es mir vorgestellt hatte, sie war umwerfend, sie war, wie wir als Jugendliche immer gesagt haben, ein Wahnsinnsschuss.«

»Können Sie bitte ins Detail gehen?« , fragte Vera.

»Im Forsthaus ging es zu wie in einem Club, jeder benahm sich vollkommen ungezwungen. Natalie und ihre Mutter bedienten. Natalie trug in der Regel Miniröcke, sehr mini. Dazu meistens ein Top, das so tief ausgeschnitten war, dass man mühelos ihre schönen Brüste bewundern konnte.

Und selbstverständlich haushohe Riemchenpumps. Ich fand es verrückt, dass die Mutter Colin so tat, als sei das alles harmlos, durchaus ehrbar und katholisch. Die Frau wiederholte zwanghaft, das sei alles nur so, damit wir hart arbeitenden Männer relaxen könnten – von Geschlechtsverkehr war nie die Rede. Alles in diesem Haus war verlogen, verstehen Sie, wirklich alles. Die einzig Ehrliche war Natalie. Die sagte, was Sache war, und sie machte kein Trara darum. Ich hatte im Wesentlichen mit Hans Becker und Herbert Giessen zu tun. Beide machten mir schöne Augen und erhöhten ihr Angebot. Ich hatte Zeit, ich sagte, es gäbe noch andere Interessenten. Dann wurde mir Natalie zugeschoben, sachte, aber deutlich. Zu diesem Zeitpunkt war mir längst klar, dass ich an diese Gruppe verkaufen würde. Ihr Angebot war richtig, die Zahlungsweise akzeptabel, der Zeitplan kam mir entgegen. Und, was ich gern zugebe, ich war verknallt in Natalie.«

»Wollten Sie sie heiraten?«, fragte Emma.

Er sah sie erstaunt aus kugelrunden Augen an. »Meinen Sie das ernst?« Er war sehr erheitert, fuhr mit beiden Händen durch sein Haar und bedeckte dann sein Gesicht. »Das ist wirklich komisch. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich in England zur Schule gegangen bin und ständig um den Planeten jette. Ich kenne diese Typen wie Natalie. Die sind überall gleich. Und wenn ich sage, ich war in sie verknallt, dann war das genau so, nicht mehr und nicht weniger. Ich hätte sie nie geheiratet, ich hätte nicht einmal im Traum daran gedacht. Letztlich sind diese Frauen schmückendes Beiwerk, leider selten mehr. Und die meisten von ihnen sind egoman. Sie sorgen sich ausschließlich um sich selbst. Du kannst dir den Alltag mit ihnen verschönern, du kannst mal mit ihnen verreisen, aber du darfst niemals eine Kreditkarte rumliegen lassen oder ihnen eine Kontonummer nennen. Das hat mir meine Mutter schon früh beigebracht, da war ich erst vierzehn.«

»Boing!«, hauchte Vera. »Sehe ich das richtig, dann war das zwischen Natalie und Ihnen von Beginn an eine eindeutige Sache?«

»Total«, nickte er. »Nur die alten Knacker waren der Überzeugung, sie würden Natalie einsetzen, um mir die Aktien abzuluchsen. Und hinterher waren sie der Meinung, ihre Taktik sei genial gewesen. Auf meinen Rat hin hat Natalie bei den Herren direkt kassiert, wir zwei haben uns totgelacht.«

Eine Weile war es still, jeder versuchte das Gehörte einzuordnen.

»Und trotzdem«, murmelte ich, »bleiben ein paar Fragen offen. Sie haben der Mordkommission etwas verschwiegen. Sie haben verschwiegen, dass Natalie am frühen Mittag hier bei Ihnen war.«

»War sie nicht. Fragen Sie meine Angestellten.«

Ich lächelte ihn freundlich an. »Ich kann gut verstehen, dass Sie ausgerechnet am Tag von Natalies Tod nicht mit ihr zusammengespannt sein möchten. Und ich gehe jede Wette ein, dass Sie tatsächlich in Mayen in der Kneipe waren. Aber mittags war Natalie hier. Sie kam nicht von der Straße unten im Dorf, sondern von da oben aus dem Wald, nicht wahr? Dort hatte sie ihren Mini abgestellt, dann lief sie über die Wiese zum Haus. Ihre Angestellten im ersten Haus konnten sie nicht sehen. Sie hatten wahrscheinlich Ihren Angestellten die Anweisung gegeben, nicht zu stören, keine Telefonate durchzustellen. Wann ist Natalie wieder gegangen? Und weshalb war sie eigentlich hier? Ihre Mutter sagte mir, sie wollte Geld eintreiben. Stimmt das?«

»Das zu beweisen wird nicht möglich sein.« Schminck grinste schmal. »Gut ausgedacht. Tatsache ist, dass an der Strecke, die von Brücktal nach Kirsbach und Nitz führt, ein gut ausgebauter Weg abzweigt, der bis hierher hinters Haus reicht. Das hat was von Verschwörung, das macht was her.« Sein Stimme war voller Spott.

»Mein lieber Schminck«, meinte Rodenstock fast zärtlich, »machen Sie sich nicht so viel Mühe. An den Reifen von Natalies Mini werden jede Menge Erdreste sein, die beweisen, dass sie da vorne im Wald geparkt hat. Wir sind der Meinung, dass Sie sie nicht umgebracht haben, wir würden allerdings gerne wissen, wann sie Sie verlassen hat. Als der Pole Ladislaw Bronski Natalie angerufen hat, war sie auf dem Weg zu Hans Becker in Maria Laach. Das war zwischen achtzehn und neunzehn Uhr.«

»Es wird nichts mit den Kumpels in der Südsee, wenn Sie schweigen«, fuhr Vera fort. »Na los, junger Mann, nicht so schüchtern.«

»Sie kam um eins hier an«, gab er endlich zu. »Wir hatten vorher telefoniert. Wir wollten reden, sie kam nicht, um zu kassieren, das hatte sie schon ein paar Tage vorher getan. Es ging um ihre Hollywood-Pläne, sie wollte die Eifel endgültig verlassen, hatte die Nase gestrichen voll. Vor allem war sie es leid, ständig in fremde Betten zu hüpfen, um den Reichtum ihrer Mutter zu mehren. Sie war es auch leid, als die Dauerverlobte von Sven Hardbeck zu gelten. Vor allem aber war sie ihre Mutter leid. Sie nannte sie eine verlogene Maulhure. Wir wollten Termine abstimmen, sie wollte zwei Tage später einen Direktflug nach Los Angeles nehmen, sie hatte gebucht, alles war okay.«

»Was für Termine denn?«, fragte ich.

»Ich wollte nachkommen. Wir hatten bereits eine kleine Wohnung für sie in West-Hollywood gefunden. Ich kenne dort einen Immobilienmann. Sie sollte mein Scout sein, sich umhören, in die Szene gehen, mit Leuten sprechen und so weiter. Darin war sie einsame Klasse.«

»Wollten Sie dort als Paar auftreten?«

»O nein. Als Paar waren wir nicht so gut, aber Partner konnten wir für den Anfang gut sein.«

»Wann verließ Natalie dieses Haus?«

»Das muss nach 17 Uhr gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass ich noch zwei wichtige Telefonate erledigte, ehe ich nach Mayen in die Kneipe fuhr.«

»Und sie ist hinterher nicht mehr zurückgekehrt?«, fragte Rodenstock.

»Nein«, sagte Schminck. »Was hat denn Hans Becker gesagt, wann sie bei ihm aufgetaucht ist?«

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Emma in schöner Offenheit. »Wie kann Natalie heimlich eine Reise nach Amerika planen, ihre Sachen packen, Taschen und Koffer voll stopfen, bei ihrer mehr als neugierigen Mutter? Da stimmt doch etwas nicht.«

»Es sollte eine Zahnbürstenreise werden. Sie wollte nichts mitnehmen, außer einer Zahnbürste. Ja, und natürlich ihr Geld.«

»Ihr Geld?«, hakte Emma schnell nach.

»Ihr Geld.« Er stand auf und verließ den Raum. Als er wiederkehrte, trug er eine mittelgroße meerblaue Segeltuchtasche der billigsten Art. Er stellte sie auf den Tisch und erklärte belustigt: »Das ist Natalies Sparkasse. Es sind sechshundertzwanzigtausend Mark drin. Sie war ganz schön raffgierig und genau wie ihre Mutter stand sie auf Bares!«

»Das glaubt Kischkewitz uns nie«, stöhnte Vera. »Er wird denken, wir sind übergeschnappt.«

»Herr Schminck, konzentrieren Sie sich bitte. Hat sie erwähnt, dass sie irgendjemandem von dieser Flucht nach Amerika erzählt hat? Wer war eingeweiht?«

»Sie hat nur diesen Studienrat gefragt, was er von so einem Plan halten würde. Und der riet, sie solle das lassen, so was gehe immer schief. Aber sie hat ihm nicht gesagt, dass der Plan schon beschlossen war und sie jetzt fliegen wollte. Sonst weiß ich niemanden. Das Ticket habe ich von hier aus online gebucht, das war also absolut anonym.«

»Warum hat Natalie Bronski davon nichts erzählt?«, fragte ich verwirrt. »Er war ein Freund, ein Vertrauter. Als sie hier aufbrach, hat sie da gesagt, dass sie zu Hans Becker wollte?«

»Ja, er schuldete ihr noch Geld. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Scheiße, Mensch.« Schminck war ehrlich bekümmert.

Rodenstock stand an einem großen Blumenfenster und telefonierte, Emmas Gesicht war voller Ratlosigkeit, Vera starrte auf ihre Schuhe hinunter.

»Wollen Sie das Geld nach Wittlich zur Mordkommission bringen oder sollen wir das mitnehmen?«, fragte ich.

»Nehmen Sie es mit«, sagte er. »Was glauben Sie, wer sie ermordet hat?«

»Dieselbe Frage wollte ich Ihnen stellen. Haben Sie eine Vorstellung?«

»Nein«, murmelte er. »Ich überlege die ganze Zeit, ob sie über einen Menschen mal etwas Auffälliges erzählt hat. Aber mir fällt niemand ein.«

»Hat sie erwähnt, dass einer ihrer Mitschüler sie verfolgt hat, sie unbedingt haben wollte, oder einer ihrer Lehrer vielleicht?«

»Ja, sie hat so Dönekes erzählt, wenn sie gut drauf war. Dass ihr ein Lehrer zum Beispiel Gedichte geschickt hat und ...«

»Hieß der Florian Lampert?«, unterbrach ich.

»Das weiß ich nicht mehr. Sie hat zwar einen Namen genannt, aber ich erinnere mich nicht mehr an ihn.«

»Schminck, tun Sie uns noch einen Gefallen: Konzentrieren Sie sich auf dieses letzte Treffen hier. War irgendetwas nicht im Lot, wich irgendetwas von der Normalität ab? War sie besonders schlecht gelaunt, war sie besonders gut gelaunt? Hat sie sich auf den Amerika-Trip gefreut? Sind Sie sicher, dass sie auch Sven kein Wort gesagt hat? Als sie da oben aus dem Wald kam und hier zum Haus lief, war da was Außergewöhnliches? War sie aufgekratzt? Oder hatte sie Lampenfieber? Hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich heimlich von der Mutter abseilen würde? Irgendetwas. Das Beste ist, Sie schließen die Augen und lassen die Szene noch mal Revue passieren: Sie kommt da oben aus dem Wald und läuft über die Wiese zu Ihrem Haus ...«

Er schloss tatächlich die Augen. »Da war nichts Besonderes. Doch, halt, sie sagte zur Begrüßung: ›Ich glaube, da hat mich jemand verfolgt! ‹ Und dann lachte ich und sagte: ›Wer soll das sein?‹ Und sie antwortete: ›Das weiß ich doch nicht. ‹ Wir haben dann nicht weiter darüber gesprochen. Sonst war nichts. Sie war cool, sie freute sich auf Los Angeles.«

»Sie werden zur Mordkommission fahren und Ihre Aussage korrigieren?«

»Ja«, nickte er. »Natürlich.«

Rodenstock kam heran und machte ein verkniffenes Gesicht. »Leute, es gibt ein neues Problem. Natalie wollte von hier nach Maria Laach fahren. Aber Hans Becker war nicht in Maria Laach. Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie kommen wollte, gibt aber zu, dass er ihr noch ein paar tausend Mark schuldete. Sein Alibi ist wasserdicht. Er war im Parkhotel in Düsseldorf, hat an einer Vorstandssitzung einer Siemens-Tochterfirma teilgenommen, zusammen mit sechs anderen höchst ehrenwerten hoch bezahlten Zeitgenossen.«

»Scheiße!«, stöhnte Vera heftig.

»Pass auf, Baumeister«, sagte Rodenstock entschlossen. »Wir müssen jetzt schnell sein. Wir fahren mit Herrn Schminck und dem Geld nach Wittlich. Vielleicht hat Kischkewitz ja auch was Neues.«

»Fahrt ihr mal ohne mich«, erwiderte ich. »Ich sammle weiter lose Fäden auf. Zum Beispiel interessiert mich noch der lose Faden namens Lampert. Und ich versuche Bronski aufzutreiben.« Dann wandte ich mich erneut an Schminck: »Haben Sie je Bekanntschaft mit einer hohen, heiseren Männerstimme gamacht?«

Einen Augenblick lang war er verwirrt. »Hohe, heisere Männerstimme? Ich nicht, aber Natalie. Sie hat von einem Anrufer mit einer richtig miesen, hohen Stimme erzählt. Er habe Telefonsex machen wollen und gesagt, sie soll sich ausziehen und Ähnliches. Das übliche widerliche Zeugs.«

»Wann hat sie das erzählt?«

»Bei ihrem letzten Besuch hier. Der Anruf muss ein paar Abende oder Nächte zuvor erfolgt sein. Kennen Sie den Mann? Meinen Sie, dieser Mann war es?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich mach mich jetzt auf den Weg.«

Ich verließ das Haus, setzte mich in den Wagen und startete. Nach Bronski konnte ich auch am Steuer fahnden. Ich rief im Hotel Panorama an und fragte nach Tina Colin.

»Baumeister hier. Kannst du mir bitte die Handynummer von Ladi geben? Du musst sie doch haben.«

»Habe ich auch. Warte mal.« Tina legte den Telefonhörer beiseite, dann diktierte sie mir die Nummer. »Und, habe ich Recht gehabt, war sie bei Schminck und hat kassiert?«

»Ja, war sie. Aber Geld wollte sie nicht. Ich melde mich später.«

Mein nächster Anruf galt der Auskunft, die ich bat, mich mit Florian Lampert zu verbinden.

Er hatte eine jugendliche Stimme und klang gut gelaunt.

»Mein Name ist Baumeister. Ich habe mich heute mit Svenja Fiedler unterhalten. Sie hat mir Ihren Namen genannt. Darf ich Sie heute Abend noch besuchen, es ist dringend.«

»Wann wollen Sie denn kommen?«

»Ich muss erst noch woanders hin, daher kann es spät werden. Mitternacht etwa. Es geht um den Mordfall Natalie.«

»Komisch«, kommentierte Lampert trocken, »ich hatte viel eher mit Besuch gerechnet. Gut, kommen Sie.«

Zunächst fuhr ich in die entgegengesetzte Richtung von Wittlich. Mir war ganz plötzlich der Gedanke gekommen, dass in der Eifel gewisse Umstände des Lebens immer gleich gehandhabt werden. Warum sollten für einen Besuch in Maria Laach nicht die gleichen Regeln gegolten haben wie für einen Besuch bei Adrian Schminck in Boos? Hatte Hans Becker nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit gemahnt: »Diskretion, meine Liebe, ist oberstes Gebot!«

Ich dachte über Hans Becker nach, der in seinem eigenen Mausoleum hauste und sich dort wahrscheinlich wohl fühlte, weil es ihm Schutz gab. Er hatte sich ein Imperium gebaut, aus Geld, aus Macht. Wahrscheinlich war er wie viele sehr erfolgreiche Männer auf dieser Welt vollkommen eins mit sich selbst: Er machte die Gesetze, nach denen er lebte. Und wahrscheinlich gestand er sich junge Frauen wie Natalie als Belohnung für ein arbeitsreiches Leben zu; er war mit seinem Herrgott vollkommen einig darin, dass dem Zeus durchaus erlaubt ist, was dem Ochsen niemals erlaubt sein darf. Zudem wusste er sich unter dem besonderen Schutz seiner Mutter Kirche, lebte neben einem der berühmtesten Klöster dieses Abendlandes, war sogar Teil dieses Klosters, war wichtig für diesen Hort unablässig aufsteigender Gebete, sicherte Einkünfte, machte Geschäfte zum Lobe des Herrn. War es nicht unmöglich, sich unter diesen Umständen als normaler Bürger zu fühlen?

Ich bog von der Schnellstraße auf die Landstraße nach Bell ein und wurde langsamer. Hier musste irgendwo eine Möglichkeit sein.

Dann sah ich eine.

Der Weg war breit und geschottert, wahrscheinlich diente er zum Holzabfahren. Er führte in einem weiten Linksbogen in den Hochwald hinein und stieg dabei leicht an. Es begann zu nieseln, der Himmel war dunkel. Ich überlegte, ob ich es riskieren konnte, diesen Weg zu befahren, ließ es dann aber sein.

Ich nahm die Taschenlampe und stiefelte los. Nach meiner Berechnung war ich etwa achthundert bis tausend Meter von Beckers Haus entfernt, war mir aber nicht sicher.

Ich schaltete die Taschenlampe nicht ein, weil es nicht notwendig war, das hellgraue Schottergestein bildete einen klaren Wegweiser. Wind kam auf, ein Käuzchen schrie, es war exakt die Stimmung, die man bei Wallace-Verfilmungen versucht hatte zu erzeugen, in denen der unvergleichliche Held Blacky Fuchsberger loszog, um in nebligen Sümpfen und unbeschreiblich geheimnisvollen Lagerhäusern Killermonstren unschädlich zu machen und anschließend mit irgendeiner adligen Enkelin zu knutschen.

Der Regen wurde intensiver, es frischte auf. Nach etwa zehn Minuten erreichte ich eine Gabelung, der Hauptweg führte rechts weiter, die Nebenstrecke führte nach links, schien jedoch in diesem Bereich nicht mehr befahren. Gras wucherte in den alten Fahrrillen, und als ich die Lampe einschaltete, fand ich mich in einem Flecken von Waldweidenröschen. Und es gab jede Menge roter Wegschnecken. Der Weg senkte sich langsam den Hang hinab.

Als ich es sah, wollte ich instinktiv in die Knie gehen, als ob jemand eine Woche lang darauf gewartet hätte, dass Baumeister hier auftauchte. Ich schalt mich einen Narren, war aber nervös. Das Auto stand rechts neben zwei großen Buchenstämmen und nichts deutete darauf hin, dass etwas damit nicht in Ordnung war.

Ehe ich mich dem Wagen näherte, nahm ich das Handy und rief Rodenstock an. Eine automatische Frauenstimme sagte, er sei im Moment nicht erreichbar. Daraufhin versuchte ich es mit Veras Handy, sie meldete sich.

»Ich habe ihr Auto.«

»Wie bitte?«

»Ich habe Natalies Auto. Wo seid ihr?«

»Bei Kischkewitz in Wittlich. Wo ist das Auto?«

»Es steht hinter dem Haus von Hans Becker. Ich schätze, etwa dreihundert Meter dahinter auf einem Waldweg. Hast du einen Zettel? Ich beschreibe dir den Weg. Also ...« Ich diktierte ihr die Route.

»Du mit deinen Alleingängen!«, schimpfte Vera freundlich. »Wie bist du darauf gekommen?«

»Wenn sie sittliche Verfehlungen begehen wollen, sind die Eifler wie alle Provinzler dieser Welt äußerst diskret. Sie kommen immer durch den Hintereingang oder sie treffen sich auf Hawaii.«

Ich beendete das Gespräch und ging auf das Auto zu. Ich leuchtete erst einmal den mit altem Buchenlaub bedeckten Boden ab, ob sich so etwas wie Spuren erhalten hatten. Ich sah nichts.

Das Auto war dunkelgrün mit feinen weißen Streifen an den Absätzen der Radkästen, die Bereifung war neu. Der Mini war abgeschlossen, die Sicherungsknöpfe waren nicht zu sehen, im Inneren herrschte Ordnung. Es gab eine Schachtel Marlboro mit daneben liegendem Feuerzeug, einen Stapel Briefe, alle geöffnet, dann Landkarten, eine kleine Taschenlampe. Auf dem Nebensitz so etwas wie eine Brieftasche, schwarz. Hinten im Wagen zwei schwarze Segeltuchtaschen der Marke Camel, beide mit zugezogenen Reißverschlüssen. Ernüchternd klar, ernüchternd wenig. Frage: Warum hatte Natalie ihre Zigaretten und das Feuerzeug im Wagen liegen lassen?

Gut, rede mit mir, Natalie. Du kommst hierher gerollt. Es ist abgesprochen und braucht nicht betont zu werden, dass du an dieser Stelle parkst. Du gehst die paar Schritte bis zum Hintereingang des Hauses zu Fuß.

Ich machte es genauso, ging auf das Haus zu, das schräg links von mir im unteren Teil des Hanges lag. Gelb und fade brannte eine Außenleuchte. Das Grundstück umgab ein hoher, solide gebauter Zaun, der dann in eine etwa zwei Meter hohe hölzerne Sichtblende überging. Inmitten dieser Sichtblende befand sich eine schwere Eisentür, aber keine Klingel.

Wurdest du erwartet? Wer öffnete dir? Die Haushälterin? Wie machtest du dich bemerkbar, ohne Klingel? Moment, natürlich, du hattest einen Schlüssel. Wo ist dieser Schlüssel? Oder konnten sie dich auf den Monitoren im Haus sehen?

Ich trat zwei Schritte zurück. Auf dieser Seite des Hauses waren zunächst keine Kameras zu entdecken. Dann bemerkte ich doch welche, sie waren an die hohen Buchenstämme geheftet, in sicherlich mehr als vier Metern Höhe.

Also gut, du kommst an, steigst aus, nimmst die Schlüssel mit, vergisst deine Zigaretten, läufst zu dieser Tür, schließt auf und gehst hinein. Becker kannst du nicht angetroffen haben, bestenfalls seine Hausdame. Die sagt dir, Becker sei nicht hier, er sei in Düsseldorf im Parkhotel.

Vielleicht weist die praktische Hausdame dich auch darauf hin, dass du dir den ganzen Weg hättest ersparen können. »Wenn Sie angerufen hätten, Schätzchen, hätte ich Ihnen sagen können, dass er nicht hier ist. Warum haben Sie nicht angerufen, Schätzchen?«

»So ein Pech!«, sagst du oder etwas Ähnliches, drehst dich um und willst zurück zu deinem Auto.

Und was ist dann passiert? Irgendetwas muss passiert sein. Aber was?

Oder ist etwas ganz anderes geschehen? Hat die Hausdame dich empfangen und dich einfach nicht mehr aus dem Haus herausgelassen? Hat sie dich getötet, weil sie glaubte, du würdest das Leben ihres geliebten Chefs zerstören?

Baumeister, reiß dich zusammen! Wie, zum Teufel, soll das abgelaufen sein? Wie ist Natalie dann auf die Müllkippe nach Mannebach gekommen? Hat sich die Hausdame etwa ein Taxi genommen und den Transport persönlich überwacht?

Es war wirklich grotesk, was meine Unsicherheit an pittoresken Szenarien produzierte. Wahrscheinlich war es besser, schleunigst aus diesem Wald zu verschwinden und sich etwas Realem zu widmen. Florian Lampert zum Beispiel.