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Es dauerte noch ein paar Stunden, bis der Marshal seine Leute zusammengetrommelt hatte. Da fiel es kaum auf, dass Cassius sich eine ausgiebige Mahlzeit gegönnt hatte. Die Eier mit Speck und Barbaras Kaffee hatten ihm wieder Kraft, ja sogar ein bisschen Frohsinn wiedergegeben. Diesen hatte er auch bitter nötig bei dem, was hinter ihm lag – und was noch auf ihn zukommen würde.

Er hoffte inständig, dass es den Geiern nicht gelungen war, in das Zuginnere einzudringen. Die armen Teufel in den Waggons hatten es einfach nicht verdient, von diesen Kreaturen gefressen zu werden – auch wenn das eigentlich nur der natürliche Lauf der Dinge war.

Schließlich hatten sich alle verfügbaren Männer vor dem Marshal's Office eingefunden. Fackeln wurden verteilt, und nachdem der Marshal allen seine Instruktionen mitgeteilt hatte, wandte er sich an Cassius, der neben ihm reiten sollte.

»Nun, Mister Blake, sind Sie bereit?« Der Cowboy nickte.

»Also gut, dann lassen Sie uns aufbrechen.« Mit diesen Worten schwang sich der Sternträger in den Sattel. »Haben Sie die Kleine bei Miss Barbara unterbekommen, Mister Blake?«

»Ja, und es scheint ihr dort auch ziemlich gut zu gefallen. Kein Wunder bei dieser Wirtin.« Cassius grinste breit, und dem Marshal entging nicht, dass es ihm die Frau angetan hatte.

»Ja, unsere Miss Barbara ist ein wahres Schmuckstück. Wäre ich zehn Jahre jünger und nicht verheiratet, würde ich ihr ganz bestimmt den Hof machen.« Stephen Baldwin lächelte Cassius hintergründig an. »Vielleicht findet sie ja Gefallen an Ihnen.«

Cassius spürte, dass er rot wurde, und er war froh, dass das Fackellicht, das ohnehin alle Farben verfälschte, die einzige Beleuchtung war. »Bestimmt nicht«, antwortete er, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes hoffte. »So eine Frau wie sie hat sicher an jedem Finger zehn Bewerber.«

»Aber eine Frau wie sie ist auch sehr wählerisch. Soweit ich weiß, hatte bisher noch keiner bei ihr Glück.«

»Dann habe ich sicherlich auch keine Chance bei ihr«, entgegnete Cassius, worauf der Marshal auflachte.

»Abwarten, Mister Blake, abwarten!«, rief er und riss die Hand zum Zeichen des Aufbruches hoch.

Augenblicklich ließen die Männer ihre Pferde angehen. Cassius war froh, dass die Unterhaltung ein Ende hatte, obwohl er sich während des Rittes doch Gedanken über das machte, was der Marshal gesagt hatte. Miss Barbara hatte ihm überaus gut gefallen, und auch ihr Umgang mit Kindern war hervorragend. Die kleine Anne hatte ihr nicht den geringsten Widerstand entgegengebracht, und obwohl sie eine Fremde war, hatte sie sich zwischendurch immer wieder an die junge Saloonwirtin geschmiegt. Wenn Barbara schon so mit einem wildfremden Kind umging, wie würde dann erst der Umgang mit eigenen Kindern sein?

Doch diesen Gedanken verfolgt er nicht weiter, denn sie hatten die Stadtgrenze überquert, und jetzt musste er sich daran erinnern, in welche Richtung er geritten war. Der Mond versteckte sich wie in der vergangenen Nacht hinter dicken Wolken und war den Reitern keine große Hilfe.

Die Schienen, an denen sie entlangritten, boten da schon eine bessere Orientierungsmöglichkeit. Sie glänzten im Fackelschein und würden die Männer unweigerlich an den Ort des Geschehens führen.

Als sie einige Stunden geritten waren, zog sich die Nacht zurück, und der Morgenbrach rotgolden herein. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis der zerstörte Zug in Sicht kam.

Ob inzwischen noch jemand anderes auf den Unglückszug gestoßen war, wusste Cassius nicht. Falls ja, hatte derjenige die Toten auf jeden Fall nicht angerührt. Das schloss der Cowboy aus den Geiern, die sich immer noch zahlreich um den Zug versammelt hatten, lauerten und erst aufflatterten, als die Reiter auf sie zukamen.

Ein lautes Rauschen ertönte, als die Vögel aufstiegen. Sie waren so zahlreich, dass sie fast den Morgenhimmel verdunkelten. Einige von ihnen stießen wütende Schreie aus, aber das kümmerte die Männer wenig. Ihnen machte der Gestank zu schaffen, der sich langsam, aber sicher aus den Waggons geschlichen und die Grauflügel angezogen hatte. Und auch der Anblick der zerstörten Lokomotive ließ sie nicht kalt.

»O mein Gott«, murmelten ein paar der Männer gleichzeitig, während sie ihre Pferde aufnahmen.

In der morgendlichen Dämmerung wirkte der Zug noch gespenstischer. Wie ein Monstrum sah er aus, ein Monstrum, das die Menschen in den Waggons verschlungen hatte.

Stumm stieg der Marshal aus dem Sattel. Die Augen abwenden konnte auch er nicht. Er betrachtete das Furcht erregende Monument eine ganze Weile, dann wandte er sich seinen Leuten zu, die ebenfalls wie angewurzelt dastanden.

»Also los, lasst uns nachschauen.« Nur zögerlich setzten sich die Männer in Bewegung. Im Gegensatz zu Cassius wussten sie noch nicht, was sie finden würden, aber eine Ahnung hatten sie gewiss schon. Auch Cassius war es erneut flau im Magen.

Es half aber alles nichts, er musste an den Zug heran. Dass die Geier das Gefährt belagert hatten, zeigte, dass sie keinen Zugang zu den Leichen gehabt hatten. Wenigstens etwas.

An den Waggons angekommen, zog der Marshal ein Taschentuch hervor, dann beorderte er zwei seiner Leute, den ersten Wagen zu öffnen. Die Männer folgten seiner Anweisung mit sichtlichem Widerwillen. Sie hielten sich ebenfalls ein Taschentuch vors Gesicht und öffneten dann die erste Tür.

Der Gestank, der ihnen entgegenströmte, war mörderisch. Die Männer wichen zurück, während einer von ihnen nicht mehr an sich halten konnte und sich im hohen Bogen übergab.

Über den Köpfen der Anwesenden kreisten die Geier und stießen helle Schreie aus, doch landen konnten sie nicht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Geruch einigermaßen verflüchtigt hatte und die Männer den Waggon betreten konnten.

»Verdammte Schweinerei«, murmelte der Marshal und folgte ihnen. Cassius blieb noch kurz auf seinem Platz stehen. Er wusste, dass er sich beteiligen musste, aber er wollte sich den Anblick wenigstens noch einen Augenblick lang ersparen.

Die Männer betraten die Waggons nur zögernd. Selbst die härtesten unter ihnen konnten diesen Anblick nicht lange ertragen. Alle Wagen wurden geöffnet, und überall bot sich den Männern dasselbe Bild.

Schließlich richtete der Marshal das Wort an seine Mitstreiter.

»Männer, wir werden jetzt die Toten rausholen, sie in Planen und Decken verpacken und dann auf die Pferde laden!«, rief er. »Und wehe, ich erwische einen von euch, der sich an der Habe dieser Menschen zu schaffen macht! Dann kommt er in den Bau, habt ihr verstanden?«

Die Männer nickten einhellig. Angesichts dieses Erlebnisses war ihnen nicht danach zu Mute, die Leichen zu fleddern.

Sie machten sich also an die Arbeit, und auch Cassius beteiligte sich. Mit vor das Gesicht gebundenen Bandanas betraten die Männer die Waggons und trugen eine Leiche nach der anderen raus. Frauen und Männer, junge wie alte. Glücklicherweise stieß Cassius auf keine Kinderleiche, diesen Anblick hätte er nicht ertragen können.

Nach einer Weile hatten sie die Leute aus dem ersten Waggon alle ins Freie gebracht.

Die Geier hatten sich inzwischen ganz in der Nähe niedergelassen, und einige von ihnen waren sogar so dreist, sich den Leichnamen zu nähern.

»Haut ab, verdammte Grauflügel!«, fuhr einer der Männer die Tiere an und verscheuchte sie mit einer Fackel.

»Wir sollten uns beeilen«, drängte der Marshal seine Leute. »Sonst hacken uns diese Viecher noch die Augen aus. – Jake, John und Ken, geht doch mal nachschauen, ob ihr ein bisschen Holz findet, aus dem wir Tragen bauen können!«

Die Angesprochenen liefen los und verschwanden im morgendlichen Dämmerlicht, und so mancher der Männer wäre gern an ihrer Stelle gewesen.

Doch auf sie warteten die restlichen Wagen.

Kurz darauf wurde die Leiche des Gouverneurs geborgen und zu den anderen Toten gebracht. Die Männer betrachteten ihn einen Moment länger als die anderen, vielleicht fragten sie sich, ob das wirklich derselbe Mann war, den sie Stunden vorher noch auf den Wahlplakaten gesehen hatten. Dann wandten sie sich wieder dem Zug zu.

»Wir haben was gefunden!«, tönte es plötzlich. Der Mann, der das gerufen hatte, kam auf seine Mitstreiter zugelaufen. In der Hand hielt er einen kleinen Kasten, der auf den ersten Blick wie ein Behältnis erschien, der einen Kastenteufel beherbergte. Der Teufel steckte tatsächlich in dem Gerät, doch es war alles andere als ein Kinderspielzeug.

»Das ist doch ein Auslöser für eine Sprengladung!«, rief einer der Männer.

Der Marshal wirbelte herum. »Was sagst du da?«, fragte er und ging zu den beiden Herangekommenen. Inzwischen hatten die anderen ebenfalls ihre Arbeit eingestellt und blickten herüber.

»Wir haben nach Holz gesucht und das hier gefunden. Es lag es gutes Stück von den Schienen entfernt, gleich so, als hätte sich jemand in Sicherheit bringen wollen, um die Trümmer des Zuges nicht ins Genick zu kriegen!«

Damit lag der Mann natürlich vollkommen richtig.

Cassius hatte bereits am vergangenen Tag vermutet, dass die Katastrophe ein Attentat gewesen sein könnte. Der Fund des Auslösers bestätigte ihn darin. »Sicher hat der Anschlag dem Gouverneur gegolten«, mutmaßte er laut, worauf ihn alle Männer anschauten. Erst da wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Vielleicht gab es unter den Leuten des Rettungstrupps welche, die mit den Attentätern zusammenarbeiteten. Dann war er nun nicht mehr sicher in der Stadt.

Und Anne noch viel weniger!

Oder ging sein Verfolgungswahn damit zu weit?

Die Anwesenden starrten ihn sprachlos an. Natürlich hatten sie den Gouverneur unter den Toten erkannt, doch bisher waren alle von einem Unfall ausgegangen. Jetzt schienen sie von Cassius eine Erklärung zu erwarten.

Oder glaubten sie vielleicht sogar, dass er der Attentäter war?

»Nun ja, ich meine, es ist doch im Moment Wahlkampf«, sagte er zögernd. »Vielleicht hatte jemand etwas gegen den Gouverneur?!«

Das Starren ging weiter.

Gleichwerden sie sich auf dich stürzen und dich als Attentäter verhaften, ging es ihm durch den Sinn. Er schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an.

Doch schließlich räusperte sich der Marshal und nickte schwer. »Damit könnten Sie Recht haben, Mister Blake. Wenn wir in Wichita sind, werde ich den Bundesrichter in Topeka benachrichtigen. Es müssen Ermittlungen angestellt werden. Aber jetzt müssen wir erst einmal von hier fort.«

Mit diesen Worten wandte er sich um und ging zu den Pferden, um den Auslöser in seiner Satteltasche zu verstauen.