8.
Suu aus Burma
Aung San Suu Kyi wuchs in einem völlig anderen politischen Klima und in weitaus privilegierteren Verhältnissen als ihre Eltern auf. Aung San und Khin Kyi schienen schon als Jugendliche gewusst zu haben, welchen Weg sie einschlagen würden; dass sie nämlich ihren Beitrag im Kampf für die Souveränität des Landes beitragen müssten. Für Aung San Suu Kyi zeichnete sich die Lebensaufgabe nicht so deutlich ab und es gab auch keine von außen kommenden Erwartungen, die sie veranlassten, sich frühzeitig zu entscheiden. In einem Kommentar umreißt sie den Unterschied zwischen sich und ihrem Vater:
»Er war ein besserer Mensch als ich es bin, und das sage ich nicht, um bescheiden zu wirken. Mein Vater gehörte wohl zu den Menschen, denen ein Verantwortungsgefühl angeboren ist, und dieses Gefühl war bei ihm viel stärker als bei mir. Seit seinem ersten Schultag hat er hart gearbeitet. In dieser Beziehung war ich anders. Ich habe mich nur dann angestrengt, wenn mir das Thema gefiel oder der Lehrer. Ich war gezwungen, mein Verantwortungsgefühl erst zu entwickeln und dann daran zu arbeiten.«
Dieses Selbstbild stimmt nur teilweise mit der Person überein, die ihre Freunde aus der Zeit in Indien beschreiben. Malavika Karlekar begegnete ihr, als sie 1960 dieselbe Schule in Indien besuchten. »Suu war ein fröhlicher und unbekümmerter Mensch, der nicht viel über Politik oder gesellschaftliche Fragen redete. Stattdessen hatte sie großes Interesse am Lesen. Das zeichnete sich ganz deutlich ab.«
Karlekar beschreibt Aung San Suu Kyi darüber hinaus als eine Person, die über große Disziplin verfügte und ihr Studium sowie ihren kulturellen Hintergrund sehr ernst nahm. »Sie sprach oft über das Vermächtnis und darüber, dass ihre Familie sie nicht vergessen ließ, wer ihr Vater gewesen war.«
Ganz offensichtlich war Aung San Suu Kyi, anders als ihre Eltern, keine politische Aktivistin. Die Junta behauptete zeitweilig, dass sie sich während ihrer Zeit in Oxford für »radikale Studentenpolitik« engagiert hätte, doch dafür gibt es keinerlei Beleg. Gleichwohl scheint sie sich schon früh für politische und gesellschaftliche Fragen interessiert zu haben und war von Gedanken und Ideen beeinflusst, auf die sie während ihrer Zeit im Ausland stieß.
»Zu Beginn waren wir alle unerfahrene Teenager«, sagte Malavika Karlekar in einem Interview. »Doch während der Zeit in Indien entwickelte sich Suu von einem schüchternen Mädchen zu einer selbstsicheren Frau, von einem eher zurückhaltenden Schulkind zu einer Person mit klaren und starken Überzeugungen.«
In Indien machte Aung San Suu Kyi zum ersten Mal auch nähere Bekanntschaft mit Ma Than É, einer älteren Frau, die in Suu Kyis Leben lange Jahre eine wichtige Rolle als Mentorin und Vorbild spielen sollte. Ma Than É wurde 1908 in Burma geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg war sie eine bekannte Sängerin in Rangun gewesen, und als Aung San und Khin Kyi im Sommer 1942 einander häufiger zu treffen begannen, hörten sie oft ihre Schallplattenaufnahmen an.
Ma Than É floh aus dem Land, als die japanische Okkupation einsetzte. Sie arbeitete für das US Office of War Information, dem späteren Sender Voice of America. Nach dem Krieg kam sie nach London, wo sie Aung San begegnete, der dort mit Clement Attlee über Burmas Souveränität verhandelte. In einem ihrer Texte, der in Freedom from fear veröffentlicht wurde, hat sie eine anschauliche Beschreibung dieser kalten Januartage des Jahres 1947 abgegeben. Aung San und die anderen Delegationsmitglieder trafen tagsüber mit britischen Regierungsvertretern zusammen und am Abend versuchten sie, mit möglichst vielen der in London lebenden Burmesen zusammenzukommen. Sie versammelten sich »vor einem wärmenden Feuer« im Dorchester Hotel, nahmen burmesische Speisen zu sich und stimmten traditionelle Lieder an. Einige der Delegationsmitglieder gaben Lieder zum Besten, die sie während ihrer Zusammenarbeit mit den Japanern im Krieg gelernt hatten. Sie sprachen über die 1930er Jahre und den antikolonialen Kampf, und einige der alten Kämpfer berichteten von dem japanischen Trainingslager in Hainan. Der Krieg selbst wurde nie erwähnt, denn da die meisten in London lebenden Exil-Burmesen, einschließlich Ma Than É, während der japanischen Okkupation die Briten unterstützt hatten, handelte es sich hierbei um einen heiklen Punkt.
Liest man ihre Aufzeichnungen, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass sich Aung San in Ma Than É verliebt hatte. Auf alle Fälle scheinen sie Sympathien füreinander entwickelt zu haben, und kurz vor der Abreise nach Rangun fragte Aung San, ob Ma Than É ihn nicht nach Burma begleiten wolle. Sie lehnte ab und erhielt kurz danach eine Anstellung bei den Vereinten Nationen. Während der 1950er Jahre, nach Aung Sans Ermordung, besuchte sie des Öfteren seine Familie in Rangun.
Als Khin Kyi mit ihrer Tochter nach Neu-Delhi zog, arbeitete Ma Than É in der UN-Pressestelle, und so hatten die Frauen regelmäßigen Kontakt miteinander. »Das Jahr in Indien war für Suu Kyi eine phantastische Gelegenheit, das Heimatland von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru kennenzulernen. Ihr Vater war früher schon einmal dort gewesen und hatte Nehru näher kennengelernt«, schreibt Ma Than É in einem Essay über ihre Freundschaft mit Suu Kyi und ihrer Familie.
Khin Kyi achtete darauf, dass ihre Tochter während des Aufenthalts in Indien ständig beschäftigt war. Neben der Schule belegte Aung San Suu Kyi Kurse in japanischer Blumenkunst und nahm Klavierunterricht und Reitstunden. Ansonsten schien Aung San Suu Kyi noch immer hauptsächlich daran interessiert, sich in einen Sessel sinken zu lassen und zu lesen.
Khin Kyi war es außerdem wichtig, ihrer Tochter die Traditionen des Heimatlandes zu vermitteln und diese aufrechtzuerhalten. Als neue Botschafterin engagierte sie sich unter anderem für die Renovierung eines buddhistischen Zentrums am Rande Neu-Delhis. Später kam Aung San Suu Kyi häufig mit ihrer Mutter an diesen Ort zurück, um zu meditieren und die buddhistischen Feiertage zu begehen. Anlässlich einer dieser Festtage kam sogar ihr Bruder Aung San Oo zu Besuch, der sich auf einem Internat in London befand. Er und Suu Kyi fungierten als Gastgeber bei Empfängen in der Botschafterresidenz. Doch schon zu diesem Zeitpunkt zeigte sich, dass sich die beiden nicht sonderlich gut verstanden. Aung San Suu Kyi wollte den Erwartungen ihrer Mutter, vielleicht auch denen ihres Vaters, gerecht werden. Sie benahm sich stets korrekt, hatte eine vorzügliche Aussprache und eignete sich nach und nach die richtige Ausbildung an, um die Arbeit fortzusetzen, die ihre Eltern begonnen hatten. Aung San Oo hingegen war weniger interessiert an seinem sozialen Erbe. Er war bereits dabei, sich eine eher westliche Lebensweise anzueignen und hatte keine Pläne, nach Burma zurückzukehren.
Nach einer gewissen Zeit besuchte Aung San Suu Kyi das Lady Shri Ram College. Die Schule war 1956 von Sir Shri Ram, einem indischen Industriellen, zum Gedenken an seine verstorbene Frau gegründet worden. Er wollte eine Institution für die höhere Ausbildung von Frauen schaffen und der Schule außerdem eine internationale Prägung verleihen. Auf der Homepage des Lady Shri Ram Colleges steht im Jahr 2010, dass die Schule »Frauen erziehen und ausbilden will, die bereit sind, Weltbürgerinnen zu werden. Frauen, die stolz auf ihre Kultur und ihr Erbe sind, aber auch ein kosmopolitisches Verständnis für die heutige Welt und eine Empfänglichkeit für deren Vielfalt besitzen.«
Eine vielleicht etwas hochtrabende Formulierung, die jedoch auch als Personenbeschreibung für Aung San Suu Kyi gelten könnte.
Zu jener Zeit lag die Schule im Daryanganj-Viertel im Zentrum Neu-Delhis. Das Hauptgebäude bestand aus grauweißem Stein und war im Kolonialstil erbaut, mit hohen Kreuzgängen und grünen Büschen neben der Eingangstür. Suu Kyi studierte Politikwissenschaft. Auf der Literaturliste standen Bücher über politische Philosophie, darunter auch Gandhis Gedankengut – eben jenes Rezept für politischen Widerstand, das sie seit der Führungsübernahme der burmesischen Demokratiebewegung so konsequent angewendet hat. »Ich glaube, dass sie ihre Kenntnisse über Gandhi erst später vertiefte, als sie in Rangun unter Hausarrest stand«, sagt Malavika Karlekar, »aber es ist durchaus denkbar, dass sie den ersten Kontakt mit den Theorien über zivilen Ungehorsam während ihrer Zeit am College hatte. Doch was sie von ihrer Zeit in Indien mitnahm, war vor allem ein weitverzweigtes Netzwerk aus Freunden, mit denen sie bis Ende der 1980er Jahre Kontakt hielt.« Nach Aussage Malavika Karlekars hatte Suu Kyi während ihrer Zeit auf dem Lady Shri Ram College niemals irgendwelche deutlich ausgeprägten politischen Ansichten geäußert. Doch es war offenkundig, dass ihre Gedanken und Reflexionen die ganze Zeit um Politik kreisten. »Als Tochter ihres Vaters gewann sie natürlich im Laufe der Zeit bestimmte Ansichten. Über ihre Standpunkte sprach sie nie, aber es war deutlich, dass sie welche hatte.«
Politisch aktiv war sie hingegen nicht. »Ich erinnere mich nur daran, dass wir eine Kampagne starteten, um zu erreichen, dass die Schultüren am Abend länger geöffnet blieben«, sagt Karlekar, die später zu einer geachteten Soziologin und zur Leiterin des Centre for Women’s Development Studies wurde. »Wir gewannen diesen Kampf, aber ich entsinne mich nicht, dass wir irgendetwas anderes Politisches unternommen hätten.«
Khin Kyi war zur Botschafterin ernannt worden, noch während Ne Win als Premierminister regierte. Obwohl sie der Entwicklung in ihrem Heimatland äußerst kritisch gegenüberstand, entschied sie sich, auch nach dem Militärputsch im Jahr 1962 ihren Posten zu behalten.
Der Übergang Burmas zu einer Militärdiktatur war in der Region kein einzigartiger Vorgang. In Südkorea hatte General Park Chung-Hee gerade eine Diktatur errichtet, die 26 Jahre überleben sollte. Im Nachbarland Thailand herrschte Feldmarschall Sarit Thanarat, und in Pakistan kontrollierte Ayub Khan eine ähnliche Militärdiktatur.
Was Ne Win allerdings von allen anderen unterschied, war seine extreme Vorgehensweise nach dem Staatsstreich. Zunächst ließ er die demokratisch gewählten Politiker einsperren. U Nu wurde auf einer Militärbasis interniert und erst vier Jahre später wieder freigelassen. Direkt nach dem Staatsstreich unternahm Ne Win eine Reise nach China. Schon nach wenigen Tagen kehrte er zurück und zeigte sich tief beeindruckt von dem, was Mao und die Kommunistische Partei Chinas seit der Revolution von 1949 erreicht hatten. Im April 1962 präsentierte er zwei absonderliche Dokumente. Eines davon zeichnete die Richtlinien für »Burmas Weg zum Sozialismus« auf, das andere hatte den Titel »Ein System zur Läuterung des Menschen und seines Umfelds«. Alles in allem war dieses Programm weder ausgeprägt burmesisch noch sozialistisch, sondern in erster Linie ein Ausdruck für Ne Wins Vorurteile und seine totalitären Machtambitionen. Alle Betriebe wurden verstaatlicht, von der Fertigungsindustrie bis hin zum kleinsten Teehaus. Das vom Volk gewählte Parlament wurde abgeschafft, und Ne Win verkündete, dass das Land niemals zu einem System zurückkehren würde, das so stark von westlichen Idealen beeinflusst war. Stattdessen gründete er die Sozialistische Programmpartei Burmas (BSPP). Diese wurde von einem zentralen Revolutionsrat geführt, dem wiederum regionale und lokale Räte unterstanden. Auf allen Ebenen wurden die Posten mit Offizieren besetzt, und nach einigen Jahren war es unmöglich, noch sinnvoll zwischen der BSPP und der Tatmadaw, der Armee, zu unterscheiden. Die Partei wurde zu einer parallelen Struktur im Staatsapparat, und das höchste Leitungskomitee war deutlich mächtiger als die Minister der formellen Regierung.
Zu Beginn betrachteten viele Burmesen Ne Wins Machtübernahme als eine Übergangslösung bis zur nächsten demokratischen Wahl, so wie es schon unter der militärischen Landesführung während der 1950er Jahre gewesen war. Damals jedoch hatten die zivilen Staatsbediensteten und Politiker ihre Stellung behalten können. Nun wurde der gesamte gesellschaftliche Apparat militarisiert, was insbesondere die Studenten an der Universität von Rangun zu Protesten veranlasste. Sie dachten nicht daran, stillschweigend mitanzusehen, wie sich ihr Land in einen Militärstaat verwandelte, und entschlossen sich zu einer friedlichen Demonstration auf dem Universitätscampus. Am 7. Juli 1962 versammelten sich ein paar tausend Studenten auf dem Universitätsgelände, das zu einem »demokratischen Fort« ernannt wurde. Die Proteste hatten beinahe die Form eines Volksfestes angenommen, mit Gesang und Tanz und langen Reden in den Gebäuden der Studentenschaft. Ne Win reagierte mit blutiger Niederschlagung der Proteste, einer Praxis, die von nun an jedes Mal angewandt wurde, wenn es in Burma zu größeren Demonstrationen kam. Das Militär eröffnete das Feuer auf die wehrlosen Studenten und tötete einige Dutzend, wenn nicht Hunderte von ihnen. Um zu verdeutlichen, dass es der Junta ernst war, wurde das Gebäude der Studentenschaft an der Universität von Rangun in die Luft gesprengt. Schon Aung San war hier einst ein- und ausgegangen. Ne Win löschte somit rein physisch eines der wichtigsten Symbole für jenen Kampf aus, den Aung San gegen die britische Kolonialmacht geführt hatte.
Schon bald wurde auch die puritanische Seite der Junta sichtbar. Sie verbot Pferderennen, Schönheitswettbewerbe und alle westlichen Tänze, und die wenigen Nachtclubs in der burmesischen Hauptstadt wurden geschlossen. Ausländer sollten nicht zu Reisen in das Land ermuntert werden, und ein Visum war nur für einen Aufenthalt von 24 Stunden erhältlich.
Am deutlichsten spiegelte sich die Ideologie der Junta vielleicht in dem Programm wider, das die Grenzgebiete wieder burmanischer werden lassen und den Einfluss der ethnischen Minderheiten zurückdrängen sollte. Den Minderheiten wurde untersagt, Zeitungen und Bücher in der eigenen Sprache zu drucken, der Schulunterricht sollte auf Burmanisch durchgeführt werden, und die politischen Strukturen wurden zerbrochen. Einige der Prinzen aus dem Shan-Staat wurden entführt und ermordet. Einige Jahre nach dem Militärputsch hatten die meisten ethnischen Gruppen wieder zu den Waffen gegriffen, und Burma versank immer mehr in einem totalen Chaos. Obwohl die Junta mittlerweile einen Waffenstillstand mit den meisten Guerillatruppen geschlossen hat, gibt es allein im Shan-Staat noch heute über 20 bewaffnete Gruppen.
Auch alle westlichen Organisationen, die sich in Burma aufhielten, wurden des Landes verwiesen, nicht zuletzt die christlichen Missionare, die bei den ethnischen Minderheiten aktiv waren. Der letzte von ihnen, der aus Schweden stammenden, US-Amerikaner Herman Tegenfeldt, der sich bei den Kachin aufhielt, verließ Burma 1966. Viele der Inder und Briten, die seit Generationen in Burma gelebt hatten, waren schon vor dem Militärputsch aus dem Land geflohen. »Wir sahen, woher der Wind wehte. Wir konnten uns retten, aber diejenigen, die bis 1962 blieben, hatten nicht so viel Glück«, berichtet Peter Carey, der 1956 im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern Rangun verließ. »Noch bevor sie sich in ein Flugzeug setzen und aus dem Land fliehen konnten, wurden all ihre Besitztümer geplündert. Die Soldaten nahmen ihnen Trauringe, Schmuck und Bargeld ab.«
Vielleicht war es diese Zeit, an die eine Freundin von Aung San Suu Kyi einige Jahre später dachte, als sie ihr riet, den frühen Tod des Vaters nicht zu betrauern. »In gewisser Weise war es ein Segen, dass er nicht alt wurde«, sagte sie. »Er musste die destruktiven Jahre nicht miterleben.«
Nach dem Militärputsch war Khin Kyi fünf weitere Jahre als Botschafterin tätig, danach war es ihr moralisch nicht länger möglich, eine Regierung zu repräsentieren, an die sie nicht glaubte und die sie noch weniger respektierte. 1967 zog sie zurück in das Haus in der University Avenue in Rangun. Sie verzichtete auf alle öffentlichen Auftritte, und die letzten 20 Jahre ihres Lebens verbrachte sie mit Gartenpflege, Lesen und der Erörterung religiöser Fragen. Ne Win hatte das Signal verstanden. Aung San und er waren nie übereingekommen, es gibt sogar Aufzeichnungen, die besagen, dass Aung San seine Parteikollegen in der AFPFL davor gewarnt hatte, Ne Win eine zu große Kontrolle über die bewaffneten Streitkräfte zu geben.
Als sich ihre Mutter aus dem öffentlichen Leben zurückzog, hatte Aung San Suu Kyi bereits zwei Jahre in England gelebt. 1964 war sie dort hingezogen, um am St. Hugh’s College in Oxford zu studieren. Zu jener Zeit kamen in dieser traditionsreichen Universitätsstadt zehn männliche Studenten auf eine Studentin, und St. Hugh’s war eines von fünf Colleges, die speziell für Frauen vorgesehen waren. »Sie fiel mir sofort auf«, sagt Ann Pasternak Slater, die sich am selben Tag wie Suu Kyi einschrieb. »Ich entdeckte sie am anderen Ende des Raumes, als ich auf irgendeinem Empfang für neue Studenten war, und ich dachte: Du meine Güte, was für eine schöne Frau! Die muss ich kennenlernen!«
Spricht man mit anderen Menschen über Aung San Suu Kyis Zeit in Burma nach 1988, hört man oft, sie verlange so viel von ihrer Umgebung, weil sie auch von sich selbst viel verlange. »Sowohl im Privatleben als auch in der Politik ist sie davon überzeugt, dass diejenigen, die Privilegien haben, auch Verantwortung tragen müssen, und dass man dieser Verantwortung gerecht werden muss«, sagte ein burmesischer Aktivist, der mit ihr in den 1990er Jahren gearbeitet hat.
Als Studentin in Oxford beklagte sie sich zwar nicht über ihre Freunde, war aber der Ansicht, dass viele von ihnen das Studium nicht ernst genug nahmen und die Jahre an der Universität verplemperten.
»Suus figurbetonter und hübscher Longyi, ihre aufrechte Haltung, ihre starken moralischen Überzeugungen und ihre ererbte soziale Anmut standen in scharfem Kontrast zu der nachlässigen Kleidung, der entspannten Haltung, dem latenten Liberalismus und der unausgegorenen Sexualmoral meiner gleichaltrigen Kommilitonen«, heißt es in dem Aufsatz »Suu Burmese« von Ann Pasternak Slater. Der Titel spielt übrigens auf den Spitznamen an, den sie Suu Kyi gegeben hatte. Als sie einander kennenlernten, hatte Ann Pasternak Slater bereits mehrere englische Freundinnen, die Sue hießen, und so bekam die neue burmesische Bekanntschaft den Namen Suu Burmese verpasst. Der Text ist eine der persönlichsten Beschreibungen, die über Aung San Suu Kyi verfasst wurden.
Die Regeln am St. Hugh’s College waren genauso streng wie auf Suu Kyis ehemaligen Schulen, doch der Unterschied bestand darin, dass die weiblichen Studenten in Oxford alles taten, um mit diesen Regeln zu brechen. Die Studentinnen mussten abends vor zehn Uhr zu Hause sein, und daher saßen viele bis spät in die Nacht auf den Betten, unterhielten sich und tranken heiße Schokolade. Die meisten trafen sich auch mit ihren Freunden oder Liebhabern und kletterten nach Mitternacht über die Steinmauer.
Aung San Suu Kyi tat nichts davon. Sie lebte gemäß ihrer traditionellen Erziehung, war aber dennoch viel zu neugierig, um nicht einiges von dem auszuprobieren, worüber ihre westlichen Freundinnen so häufig sprachen. Nach zwei Jahren an der Universität wollte sie beispielsweise wissen, wie es war, über die Mauer zu klettern und sich unbemerkt wieder in die Schule hineinzuschleichen. Daher bat sie einen indischen Bekannten, dem sie hundertprozentig vertraute, sie in ein Restaurant mitzunehmen und ihr danach, als es Zeit war zurückzugehen, über die Mauer zu helfen. »Kein anderer Verstoß gegen die Regeln der Universität hätte mit größerer Rechtschaffenheit vonstattengehen können«, schreibt Pasternak Slater.
Bei einer anderen Gelegenheit beschloss Suu Kyi, dass es an der Zeit war, einmal auszuprobieren, was es eigentlich mit dem Alkohol auf sich hatte. Aus sozialen und religiösen Gründen hatte sie es bis dahin abgelehnt, Bier, Wein oder Schnaps zu trinken. Doch sie fand, dass sie nicht nein zu etwas sagen könne, bevor sie nicht wüsste, worum es sich handelte. Gegen Ende des ersten Semesters kaufte sie also eines Abends eine Miniaturflasche mit Sherry oder möglicherweise auch Wein und versteckte sich mit zwei indischen Kommilitoninnen in der heruntergekommenen Damentoilette. »Dort, zwischen Waschbecken und Toilettenschüssel, einem Platz, der die Geschmacklosigkeit der ganzen Sache nur umso deutlicher hervorhob, probierte sie es und entsagte dem Alkohol daraufhin für alle Zeiten.«
Sex hingegen war eine ganz andere Sache. Hier hatte sie bereits eine klare Überzeugung: Sie würde mit keinem anderen Mann Sex haben als mit dem, den sie heiratete.
»Wir anderen waren alle auf der Jagd nach einem Freund, viele wollten gern eine Affäre haben. Noch immer war Sex zur Hälfte verboten und zur Hälfte ein bereits erkundetes Terrain … für die meisten unserer gleichaltrigen englischen Kommilitonen wirkte Suu Kyis ablehnende Haltung gegenüber diesem Lebensstil beinahe ein wenig komisch.«
Als eines der Mädchen Suu einmal fragte, ob sie wirklich mit niemanden schlafen wolle, erwiderte sie: »Nein, ich werde niemals mit jemand anderem als meinem Ehemann ins Bett gehen. Und jetzt? Jetzt lege ich mich einfach ins Bett und umarme mein Kissen.«
Dies alles hieß jedoch nicht, dass Suu Kyi keine Gefühle hatte. Während ihrer Zeit am St. Hugh’s College verbrachte sie viel Zeit mit den indischen Studenten, und zu Beginn ihres Studiums verliebte sie sich in einen von ihnen. Doch das Interesse war einseitig und die Beziehung entwickelte sich niemals zu einem Liebesverhältnis. »Schon damals bekam man einen Eindruck von ihrer Hartnäckigkeit«, sagt Ann Pasternak Slater. »Von Anfang an war klar, dass er nicht dasselbe Interesse wie sie hatte, aber sie weigerte sich, aufzugeben. Sie pflegte diese Verliebtheit länger, als jeder andere es getan hätte.«
Als sie sich für St. Hugh’s bewarb, hatte sie sich bereits für Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaft entschieden, eine Fächerkombination, die bei den indischen Studenten an der Universität häufig vorkam. Eigentlich wollte Suu Kyi jedoch etwas völlig anderes, und nach dem ersten Semester beantragte sie, das Fach zu wechseln und stattdessen Forstwirtschaft zu studieren. Sie war der Ansicht, dass es sich hierbei um einen praktischen Beruf handelte, der es ihr erleichtern würde, nach Burma zurückzukehren und etwas Sinnvolles für das Land zu tun. Doch in Oxford war es nicht üblich, dass die Studenten ihre Fachrichtung wechselten, und der Antrag wurde abschlägig beschieden. Nachdem sie ihr Examen abgelegt hatte, machte sie einen erneuten Versuch und bewarb sich für ein Anglistikstudium, aber auch hier wurde sie abgelehnt.
Viele von Suu Kyis Kommilitonen waren politisch engagiert. Zu jener Zeit schlug ein radikaler Internationalismus gerade seine Wurzeln in Europa und den USA. Die Welt hatte sich geöffnet, das koloniale System stand vor der Abwicklung und das Fernsehen hatte die Welt in die Wohnstuben gebracht. Studenten, die es sich leisten konnten und Zeit hatten, reisten umher, um mehr über solche Orte in Erfahrung zu bringen, wo die »Wirklichkeit« fassbarer war als in den kühlen Seminarräumen der Oxforder Universität. Man war schlichtweg nicht auf der Höhe der Zeit, solange man nicht an der Obsternte in einem israelischen Kibbuz teilgenommen oder die Armen in Indien besucht hatte. Und erst recht war man nicht richtig radikal, solange man sich nicht gegen die Aufrüstung mit Atomwaffen engagierte oder gegen das Apartheid-Regime in Südafrika protestierte.
Durch ihren Hintergrund und die Kontakte ihrer Familie war Suu Kyi natürlich weltgewandter und bereister als die meisten Gleichaltrigen, doch sie hielt sich fern von allen politischen Aktivitäten. »Als Studentin war ich an der Apartheid-Frage interessiert und trug mein Weniges dazu bei, indem ich keine Waren aus Südafrika kaufte«, schrieb Suu Kyi über die betreffende Zeit. Als Anführerin der Demokratiebewegung hat sie Südafrika oft als Beispiel erwähnt, um darauf hinzuweisen, wie Wirtschaft und Politik zusammenhängen und dass Sanktionen unter gewissen Umständen ein Rezept für politische Veränderungen sein können.
Die Tatsache, dass sich Suu Kyi nicht offen politisch äußerte, lässt sich sicher durch die Position ihrer Mutter erklären, sowohl zur Zeit ihrer Botschaftertätigkeit als auch nach ihrer Rückkehr nach Burma. Khin Kyi hätte große Probleme bekommen können, wenn sich herausgestellt hätte, dass sich ihre Tochter zusammen mit jungen britischen Radikalen für Menschenrechtsfragen einsetzte. »Ich glaube nicht, dass sie sich jemals irgendwelche Diskussionen anhörte oder an irgendeiner Form von politischer Aktivität beteiligt war«, sagt Pasternak Slater. »Allerdings wusste sie immer genau, was in der Gesellschaft vor sich ging, und wir sprachen oft über ihren Hintergrund in Burma und die dortigen Kulturen und Traditionen. Häufig ärgerte sie sich über ihren älteren Bruder. Ihrer Ansicht nach hielt er sich nicht an die Familientraditionen.«
In den Sommerferien reiste Aung San Suu Kyi meist zu ihrer Mutter nach Indien, doch in einem Sommer flog sie nach Algerien, um Ma Than É zu besuchen. Die Freundin aus New Yorker Zeiten hatte gerade ihren Posten in Neu-Delhi aufgegeben, um die UN-Pressestelle in der algerischen Hauptstadt Algier aufzubauen.
Diese Reise verschaffte Suu Kyi die Möglichkeit, ein wenig von dem »Abenteuer« nachzuempfinden, über das ihre Mittelklassefreunde aus Oxford nach den Sommerferien so oft berichteten.
Algerien hatte sich gerade von der französischen Kolonialherrschaft losgerissen und erholte sich langsam von acht Jahren Bürgerkrieg – eine Situation, die der Burmas nach dem Zweiten Weltkrieg ähnelte. Die Städte waren heruntergekommen und zerstört, und es gab nur wenige Hotels, die Gäste aufnehmen konnten. Einige Wochen bevor Suu Kyi nach Algerien kam, war Algeriens Äquivalent zu Aung San, Ahmed Ben Bella, von seinem ehemaligen Kollegen, dem eher moderaten Houari Boumedienne gestürzt worden.
Suu Kyi wurde zu zahlreichen sozialen Zusammenkünften und Partys eingeladen, ging aber meistens in den Straßen spazieren, wo sie ganz gewöhnlichen Algeriern begegnen konnte. Nach einigen Tagen lernte sie einen Mann kennen, der eine Hilfsorganisation für Frauen betrieb, deren Männer im Befreiungskrieg gefallen waren. Er erklärte, dass er ein Wohnprojekt für diese Frauen aufbauen wolle und Freiwillige brauche, die ihn unterstützen könnten. Danach arbeitete und wohnte Suu Kyi einige Wochen auf dieser Baustelle und lernte Jugendliche aus ganz Europa und Nordafrika kennen. Es gab Russen, Briten, Libanesen, Niederländer, Deutsche und Algerier, die alle als Freiwillige arbeiteten. Aung San Suu Kyi machte die Bekanntschaft zahlreicher Algerier und wurde sogar zu einer Hochzeit in die kabylischen Berge eingeladen. Sie besuchte die Sahara und machte einen kurzen Abstecher nach Marokko und an den Golf von Gibraltar. Danach kehrte sie nach Oxford zurück.
Kurz vor ihrem Examen wurde Suu Kyi eingeladen, Ne Win zu besuchen. Der burmesische Diktator hatte Millionen von Burmesen die Pässe entzogen und alles getan, um die Grenzen zu schließen, reiste jedoch selbst jedes Jahr nach Europa. Gern flog er nach Österreich, wo er sich in einem Hotel einquartierte und Ärzte aufsuchte, oder nach Wimbledon, wo er für sich und seine aus Frauen und Offizieren bestehende Reisegesellschaft eine große Villa mietete. Als Suu Kyi zu ihm eingeladen wurde, hatte ihre Mutter gerade ihren Posten als Botschafterin aufgegeben und alle öffentlichen Aufgaben abgelehnt. Suu Kyi hatte demnach also keine Probleme, sich von dem Regime in ihrem Heimatland zu distanzieren. Sie lehnte die Einladung ab und gab mangelnde Zeit als Entschuldigung an; sie sei gerade dabei, sich auf die Abschlussprüfung vorzubereiten.
Während der Semester war Suu Kyi im St. Hugh’s College untergebracht, doch an den Wochenenden fuhr sie die kurze Strecke mit dem Zug nach London und wohnte bei Sir Paul Gore-Booth und seiner Frau Patricia in deren Haus im Stadtteil Chelsea. Die Gore-Booths hatten Suu Kyis Familie kennengelernt, als Paul zwischen 1953 und 1956 als britischer Botschafter in Rangun stationiert war. Nach seiner Tätigkeit in Burma wurde er als Hochkommissar an die britische Botschaft in Indien versetzt, wodurch sich die Freundschaft zwischen den Familien vertiefte. Als Suu Kyi sich in Oxford bewarb, suchte Khin Kyi jemanden, der ihre Tochter in die neue Umgebung einführen könnte, und ihre natürliche Wahl fiel auf das Ehepaar Gore-Booth, das zu diesem Zeitpunkt bereits nach England zurückgekehrt war. Einige Jahre lang war Suu Kyi so etwas wie ein Familienmitglied. »Eine zusätzliche Tochter«, sagte Patricia Gore-Booth. Wenn Pauls Kollegen zum Abendessen kamen, saß Suu Kyi mit am Tisch und erhielt so Einblicke in die Diskussionsweise der britischen Diplomaten.
Bei der Familie Gore-Booth begegnete Suu Kyi zum ersten Mal den Zwillingsbrüdern Michael und Anthony Aris. In vielerlei Hinsicht hatten die beiden denselben bunten kosmopolitischen Hintergrund wie Suu Kyi. Die Brüder wurden am 27. März 1946 in Havanna geboren, wo ihr Vater für den British Council arbeitete, eine Einrichtung, die sich für die Verbreitung der englischen Kultur und Sprache in der Welt einsetzt. Die Mutter der beiden war Tochter eines frankokanadischen Diplomaten. Die Familie zog zuerst von Kuba nach Peru und landete danach in England.
Mitte der 1960er Jahre studierten Michael und Anthony Aris Orientalismus an der Universität im nordenglischen Durham. Schon als ihr Vater eine Zeitlang in Indien gearbeitet hatte, interessierten sich die beiden für Tibet, und Michael hatte bereits im Alter von 14 Jahren die tibetische Sprache erlernt. In Durham hatten die Brüder Christopher Gore-Booth, den Sohn von Paul und Patricia, kennengelernt, und da das Haus in Chelsea als eine Art Sammelpunkt für den ganzen Freundeskreis der Familie fungierte, kamen die Brüder Aris schließlich auch nach London. Zunächst war es Anthony, dem Suu Kyi auffiel. »Du musst mitkommen und diese einzigartige burmesische Frau kennenlernen!«, sagte er zu seinem Bruder.
Michael verliebte sich sofort bis über beide Ohren, doch Suu Kyi wollte erst einmal abwarten. Sie hatte nicht die Absicht, ein Verhältnis einzugehen, geschweige denn einen Mann aus der westlichen Welt zu heiraten. Viele ihrer Freunde und Verwandte zu Hause hätten starke Vorbehalte gegen eine solche Ehe gehabt. Vielleicht hat sie auch schon zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass es problematisch werden könnte, falls sie irgendwann einmal eine öffentliche Rolle in ihrem Heimatland einnehmen müsste. Gleichwohl jedoch begann sie, den Kontakt mit Michael Aris zu vertiefen, dem schlaksigen, etwas unkonventionellen, aber dennoch konservativ erzogenen Studenten aus Durham.
Nach dem Examen wohnte Suu Kyi eine längere Zeit bei den Gore-Booths in London. Um etwas Geld zu verdienen, nahm sie einen Nebenjob als Privatlehrerin einiger Kinder der britischen Oberklasse in Chelsea an und arbeitete eine Zeitlang als Assistentin des Südostasienforschers Hugh Tinker an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London. Tinker hatte das Buch Burma – the Struggle for Independence 1944–48 herausgegeben und hatte großen Nutzen von einer Assistentin, die ganz persönlich ein Teil der Geschichte war, die er als sein Forschungsfeld gewählt hatte.
Als Suu Kyi nach dem Studium ihre ersten Schritte in das Berufsleben unternahm, hatte Michael Aris England bereits verlassen. Durch einen Bekannten, der ebenfalls Experte in Sachen Himalaya war, hatte er Kontakt zum Hof des kleinen Bergkönigreichs Bhutan bekommen und ein Angebot erhalten, das kein Student seiner Fachrichtung ablehnen konnte: Er wurde Lehrer der königlichen Familie in Bhutan. Mit 20 Jahren bekam er also die einzigartige Gelegenheit, vor Ort mehr über den Himalaya zu erfahren. In den grünen Bergen Bhutans fand Michael Aris Ende der 1960er Jahre seine Lebensaufgabe und sein Selbstverständnis als Wissenschaftler; er wurde zu einem Experten für die Kultur und Religion dieses Gebirgsreiches im Himalaya. Schnell lernte er die lokale Dzongkha-Sprache und konnte parallel zu seiner Arbeit Material für seine Doktorarbeit sammeln. Unter anderem bekam er die Möglichkeit, Dokumente aus dem uralten Klosterarchiv Bhutans auf Mikrofilm aufzunehmen, und baute auf diese Weise eine einzigartige Sammlung buddhistischer Schriften auf, die heute in Oxford archiviert sind.
Zur selben Zeit beschloss Suu Kyi, in die USA umzusiedeln. Sie wollte ihr Studium fortsetzen und ein Magisterexamen ablegen, darüber hinaus konnte sie sich das weitverzweigte internationale Netzwerk der Familie zunutze machen. 1969 kam sie zur University of New York und wurde von Frank Trager betreut. Trager war Professor für Internationale Beziehungen und hatte mehrere Jahre bei einem amerikanischen Hilfsprojekt in Burma mitgearbeitet.
Für Michael Aris und Suu Kyi war es nun, da sie sich nicht einmal treffen konnten, wesentlich schwieriger, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Doch andererseits kam ihr die räumliche Trennung ganz recht. Sie wollte zeitlichen und räumlichen Abstand zwischen sich und Michael schaffen, um sich über ihre eigenen Gefühle klarzuwerden und sich gleichzeitig zu versichern, dass er es ernst meinte. Sollten die Gefühle füreinander nach dieser Zeit noch immer vorhanden sein, würde sie auf die Konventionen pfeifen.
In New York wohnte Suu Kyi bei Ma Than É, die nach ihrem Aufenthalt in Algerien in die USA gezogen war. Sie teilten sich eine kleine Zweizimmerwohnung mit Küche an der 49. Straße Ecke 1. Avenue, nur wenige Blocks vom UN-Wolkenkratzer entfernt. Wie alle, die zum ersten Mal nach New York kommen, war Suu Kyi überwältigt von den Ausmaßen der Stadt, dem Licht, den Wolkenkratzern, den Menschenmassen und der Vielfalt der Kulturen und individuellen Ausprägungen. Weniger hingegen gefielen ihr die Busfahrten zwischen ihrer Wohnung und dem Universitätsgelände nahe dem Washington Square. Noch war die Zeit für Bürgermeister Giulianis »Null-Toleranz-Politik« nicht gekommen, und oft war Suu Kyi nervös, wenn sie früh morgens oder spät abends allein zwischen Wohnung, Bushaltestelle und Universität unterwegs war. Daher zögerte sie auch nicht, als sie die Möglichkeit bekam, sich für einen Job im UN-Hauptgebäude zu bewerben, das nur sechs Gehminuten von ihrer Unterkunft entfernt lag. »Nach Bewerbung, Empfehlungsschreiben, Einstellungsgespräch und den üblichen Verzögerungen und Schwierigkeiten wurde Suu Kyi angenommen«, schreibt Ma Than É.
Zu jener Zeit hieß der UN-Generalsekretär U Thant. Er war in vielerlei Hinsicht ein Symbol dessen, was ohne Bürgerkrieg, Militärputsch und die fremdenfeindliche Isolierung von der Welt aus Burma hätte werden können. U Thant wuchs in einem kleinen Dorf im Irrawaddy-Delta auf. Sein Vater beschäftigte sich mit Bildungsfragen und war an der Gründung der Zeitung The Sun beteiligt, die in den 1920er und 1930er Jahren eine größere Souveränität des Landes forderte, aber dennoch für einen Verbleib im britischen Imperium eintrat. Der Vater starb, als U Thant 14 Jahre alt war, und die Familie musste mit großen ökonomischen Problemen kämpfen. Nichtsdestotrotz konnte sich U Thant zum Lehrer ausbilden lassen und wurde schon mit 25 Jahren Rektor einer Schule in seiner Heimatstadt. Parallel zu seiner Arbeit schrieb er Essays und Artikel, in denen er, gleich seinem Vater, für größere Souveränität warb. Während seines Studiums an der Universität hatte er Aung San, U Nu und die anderen Mitglieder der jungen nationalistischen Bewegung kennengelernt. U Nu hatte eine Zeitlang als Lehrer der Schule in Pantanaw gearbeitet, und als er 1948 Premierminister wurde, bat er U Thant, nach Rangun zu kommen. Im Laufe der 1950er Jahre war U Thant für einige Jahre als Redenschreiber, persönlicher Sekretär und politischer Allroundberater des Premierministers tätig.
1957 wurde er zu Burmas Vertreter bei den Vereinten Nationen ernannt und erwies sich alsbald als effizient und pragmatisch arbeitender Diplomat. Seine zurückhaltende, ruhige und in vielerlei Hinsicht typisch »burmesische« Art gefiel den meisten Lagern in der ansonsten gespaltenen UN. Allerdings nicht allen. Unter anderem machte er sich Feinde, als er Anfang der 1960er Jahre über Algeriens Souveränität verhandelte. »Diese Aufgabe hat mir am besten gefallen«, verriet er später der Autorin June Bingham. »Aber es dauerte lange Zeit, bis ich bei den Franzosen wieder populär war.«
Als UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld im September 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, fiel die Wahl seines Nachfolgers auf U Thant. Er genoss großen Rückhalt bei den afrikanischen und asiatischen Ländern, und die Großmächte sahen in ihm keine Gefahr für ihre Dominanz im Sicherheitsrat. Der Burmese war perfekt für die Rolle, die Präsident Roosevelt einst für den Generalsekretär der Weltorganisation umrissen hatte: Er sollte ein Moderator sein, aber kein Mitspieler aus eigenem Antrieb.
Doch wie die meisten Generalsekretäre, die oft aufgrund ihrer administrativen Begabungen ausgewählt wurden, begnügte sich U Thant nicht mit dieser Zuschreibung. Er vertrat die Ansicht, dass die UN unparteiisch sein müsse, nicht jedoch moralisch neutral. Käme es zu groben Verletzungen der Statuten und grundlegenden Prinzipien der UN, müsse man reagieren. U Thant übte beispielsweise heftige Kritik am Krieg der USA in Vietnam und erbot sich mehrmals, in diesem Krieg zu vermitteln, aber US-Präsident Lyndon B. Johnson lehnte jedes Mal ab. Möglicherweise war U Thant ein Wegbereiter der Debatte um Menschenrechte und humanitäre Interventionen, von der die UN Jahrzehnte später, als die Berliner Mauer fiel und ein weniger angespanntes internationales Klima in Reichweite schien, geprägt sein sollte.
Als Ne Win 1962 die Macht an sich riss, war U Thant bereits zum Generalsekretär gewählt worden. So gern U Thant es auch gesehen hätte, war es dem neuen burmesischen Diktator doch nicht möglich, auf ihn zuzugehen. Ne Win missbilligte U Thant, weil er erstens so eng mit U Nu befreundet und zweitens zum hellsten burmesischen Stern der internationalen Politik aufgestiegen war. Und diese Rolle hätte Ne Win nur zu gern für sich selbst beansprucht.
Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass U Thant die Einstellung von Aung San Suu Kyi bei den Vereinten Nationen direkt beeinflusst hat, doch es ist durchaus denkbar, dass er etwas damit zu tun hatte. Die Bande zwischen den burmesischen Familien in New York war eng geknüpft, und Aung San Suu Kyi hatte Kontakt zur Familie des Generalsekretärs.
Die in New York lebenden Burmesen waren klar in zwei Fraktionen aufgeteilt: die Regimekritiker und die Regimetreuen. Letztere hatten ihre Basis in der burmesischen Botschaft und der von Ne Win ausgewählten UN-Delegation. U Thant lud oft beide Gruppen zum Sonntagslunch in sein Haus in Riverdale/Bronx ein, das über einen großen Garten und eine hübsche Aussicht über den Hudson verfügte. »Viele andere Burmesen waren anwesend, und zu unserer größten Freude wurden stets burmesische Speisen serviert. Zu besonderen Anlässen, wenn beispielsweise eines seiner Enkelkinder Geburtstag hatte, wurde die Terrassentür geöffnet, um alle zu empfangen, und dann kamen sogar die Leiter verschiedener UN-Delegationen dorthin«, erinnert sich Ma Than É.
Aung San Suu Kyi erhielt eine Anstellung beim Advisory Committee on Administrative and Budgetary Questions, dessen Arbeitsaufgaben offenbar so unterhaltsam waren wie die Bezeichnung vermuten lässt. Das Komitee überprüfte die Budgets und Ausgaben verschiedener wichtiger UN-Einrichtungen wie z.B. der WHO oder der UNDP und war unabhängig sowohl vom Generalsekretär als auch der Generalversammlung. Obwohl es sich um eine eher eintönige Arbeit handelte, verschaffte sie Aung San Suu Kyi doch einen einzigartigen Einblick in die Funktionsweise der Weltorganisation.
Abends leistete Suu Kyi ehrenamtliche Arbeit, was von dem jüngeren Personal der UN zu jener Zeit mehr oder weniger erwartet wurde. Suu Kyis »Dienst an der Gesellschaft« vollzog sich im Bellevue Hospital auf der First Avenue. Das Krankenhaus wurde bereits 1736 gegründet und ist heute das älteste, in öffentlichem Besitz befindliche Krankenhaus der USA. Über 80 Prozent der Patienten kommen aus sozial benachteiligten Verhältnissen und haben keine umfassende Krankenversicherung. Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre, als Suu Kyi hier arbeitete, war die Situation nicht anders. Sie verbrachte viele Abende und oft auch einen Tag des Wochenendes im Krankenhaus. Sie las den kleinen Patienten auf der Kinderstation vor und wachte am Bett vieler älterer Menschen. Das Krankenhaus nimmt auch Patienten mit psychischen Problemen auf, und Suu Kyi kümmerte sich um die Betreffenden im Wartezimmer, bis sie mit einem Arzt sprechen konnten.
In Burma war Ne Win nun bereits seit über acht Jahren an der Macht. Die Wirtschaft war zusammengebrochen und der Bürgerkrieg hatte sich aufgrund der Weigerung des Regimes, mit den ethnischen Minderheiten zu verhandeln bzw. ihr Recht auf eine eigene Kultur überhaupt anzuerkennen, weiter fortgesetzt. Der Konflikt mit der Kuomintang war Anfang der 1960er Jahre gelöst worden, indem chinesische und burmesische Truppen einen gemeinsamen Angriff auf die Kuomintang-Festung im nordöstlichen Shan-Staat unternahmen. Die Soldaten wurden über die Grenze nach Laos getrieben, wo sich viele dem eskalierenden indochinesischen Krieg der USA anschlossen. Andere Teile der Kuomintang landeten in Nordthailand, wo noch heute eine Reihe von Dörfern von ehemaligen Kuomintang-Soldaten und deren Nachkommen bevölkert werden.
Doch zu einem Frieden kam es nicht. Die Kuomintang war nur ein Teil des Problems gewesen, und in dem machtpolitischen Vakuum, das nach deren Flucht nach Thailand und Laos entstanden war, witterten andere lokale Kriegsfürsten und ethnisch gefärbte Guerillagruppen eine Chance, ihren Einfluss zu erhöhen. Zur Bekämpfung eines Guerillaaufstands verließ sich Ne Win auf lokale Milizen, die sogenannte Ka Kwe Ye (KKY). Die Übereinkunft beruhte darauf, dass die Kriegsherren in den Shan-Bergen frei mit Opium und Heroin handeln konnten – oftmals sogar unterstützt durch die burmesische Armee, die Transporte und Schutzmaßnahmen bereitstellte. Im Gegenzug sagten die Kriegsherren eine Bekämpfung solcher Guerillatruppen zu, die mit Rangun auf dem Kriegsfuß standen.
Der Burma-Experte Bertil Lintner sieht drei Gründe für Ne Wins Strategie. Erstens gab es nicht genügend Geld in der Staatskasse, um einen umfassenden, langwierigen Krieg gegen die ethnischen Guerillatruppen zu führen. Der Opiumhandel wurde zum entscheidenden Faktor, was die Versorgung der Soldaten mit Waffen, Munition, Uniformen und Waren betraf. Zweitens wurden die Möglichkeiten der Shan-Rebellen, Einkünfte aus den Opiumfeldern zu beziehen, stark unterminiert, wenn die KKY-Miliz das Handelsmonopol innehatte. Und drittens stand bereits fest, dass Ne Wins Wirtschaftspolitik missglückt war. Überall auf den burmesischen Märkten herrschte Mangel an allen möglichen Waren, so dass der grenzüberschreitende Drogenhandel zu einer Möglichkeit wurde, das Land mit Kapital und Lebensmitteln zu versorgen.
Die KKY transportierte das Opium in die Handelsstadt Tachilek an der Grenze zu Thailand und Laos und wurde dort mit purem Gold bezahlt.
Daher wurde dieses Gebiet als »das Goldene Dreieck« bekannt.
Trotz der immer chaotischer werdenden Lage war Ne Win davon überzeugt, dass sein burmesischer »Sozialismus« der einzig denkbare Weg war. Gleichzeitig wurde das Verhältnis zu Khin Kyi und ihrer Familie immer frostiger, was auch Aung San Suu Kyi während ihrer Zeit in New York zu spüren bekam. In einem Artikel über Aung San Suu Kyi berichtet Ma Than É von einer Begebenheit, die sich im Haus von U Soe Tin, dem burmesischen UN-Botschafter, zugetragen hat. U Soe Tin war ein liberaler Politiker, der der Junta auf diplomatisch korrekte Weise diente, aber auch Wert darauf legte, mit den regimekritischen Teilen der burmesischen Diaspora in Kontakt zu bleiben. Als die Generalversammlung im Herbst zur Jahressitzung zusammenkam, wurden alle Teilnehmer zu einem offiziellen Lunch eingeladen. Das Zuhause des UN-Botschafters lag ebenfalls in Riverdale, war jedoch nicht so beeindruckend wie das Haus U Thants. Als Suu Kyi das große, rechteckige Wohnzimmer betrat, entdeckte sie, dass die Sofas entlang der Wände aufgestellt waren, mit kleinen Tischen davor. U Soe Tins Frau ging schweigend zwischen den Tischen umher und servierte Fruchtsaft und Snacks, bevor sie sich wieder in die Küche zurückzog, um das Essen vorzubereiten. Suu Kyi wurde zu einem Sofa geleitet, auf dem bereits zwei Delegierte der Generalkonferenz saßen. Ma Than É merkte an der Stimmung im Raum, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Nach ein paar einleitenden Höflichkeitsphrasen begann der Delegationsleiter, Suu Kyi Fragen zu stellen. Wie käme sie dazu, für die UN zu arbeiten, obwohl ihr niemand in der Heimat einen solchen Auftrag gegeben hatte? Welchen Pass hätte sie bei der Einreise in die USA benutzt? Wüsste sie etwa nicht, dass ihr Diplomatenpass ungültig geworden war, nachdem ihre Mutter nicht mehr als Botschafterin in Indien arbeitete? Sie beginge eine ungesetzliche Handlung, indem sie den Pass weiter benutzte, und müsste ihn unmittelbar zurückgeben. Während all seiner Äußerungen blickten die anderen im Raum mit bekümmerter Miene ununterbrochen zu Suu Kyi und gaben murmelnd ihre Zustimmung, sobald ein neuer Vorwurf an sie gerichtet wurde. Offenbar hatte ihnen irgendjemand in Rangun, wahrscheinlich Ne Win persönlich, den Auftrag gegeben, Suu Kyi zu demütigen, doch sie zeigte keinerlei Anzeichen, die Kritik anzunehmen. Ruhig und freundlich erklärte sie, dass sie natürlich einen neuen Pass in London beantragt und die Unterlagen einige Monate zuvor eingereicht habe, der Antrag jedoch aus irgendeinem Grund in den bürokratischen Prozessen steckengeblieben sei. Sie könne nicht verstehen, wieso es zu dieser Verzögerung gekommen sei, erklärte sie, aber alle im Raum würden ja wohl verstehen, dass man nicht ohne irgendeinen Pass in ein anderes Land reisen könne, nicht wahr?
Schließlich kam ihr der burmesische Botschafter in London zur Hilfe. Er bestätigte, dass der Antrag eingegangen und zur Absegnung nach Rangun geschickt worden sei, dort allerdings im System feststecke. Alle im Raum wussten, dass die Bürokratie in Burma unter der Herrschaft Ne Wins extrem korrupt und ineffektiv geworden war. Einige der Anwesenden, die vorher zustimmend gemurmelt hatten, als Suu Kyi angegriffen wurde, wirkten jetzt peinlich berührt. Durch ihre ruhige und schlichte Erklärung war die knapp 25-jährige Aung San Suu Kyi nicht nur der Frage nach ihrem Pass ausgewichen, sondern hatte die ganze Unterhaltung in eine Kritik an der Entwicklung Burmas umgewandelt.
Suu Kyis unstetes Leben beinhaltete, dass sie in ihren prägenden Jahren mit radikalen Ideen über Menschenrechte und Demokratie konfrontiert wurde. In Indien war sie von Gandhis Theorien über Gewaltfreiheit und zivilen Widerstand inspiriert worden. In England war sie in Kontakt mit der Anti-Apartheid-Bewegung gekommen und hatte Menschen kennengelernt, die gegen Atomwaffen kämpften. Gleichwohl engagierte sie sich nicht aus eigenem Antrieb in einer dieser Bewegungen – weil es erstens die Arbeit der Mutter nicht zuließ, und sie zweitens, wie sie 1988 konstatierte, nicht zu »der Sorte Menschen« gehörte, die sich großen Demonstrationszügen anschloss. In New York schließlich lernte sie das UN-System von innen kennen. In ihrem späteren Leben hat sie häufig die Bedeutung der UN und der multilateralen Arbeit betont. Sie hat die UN um Unterstützung gebeten, und obwohl diese nicht immer gewährt wurde, betrachtet sie die Arbeit der Weltorganisation noch immer als einen Schlüssel für den friedlichen Übergang zur Demokratie in Burma.
Während ihrer Zeit in den USA kam sie auch in Berührung mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. »Die jungen Leute waren für die Liebe und gegen den Krieg«, sagte sie in einem Interview in den 1990er Jahren. »Alles war von enormer Energie geprägt. Ich war tief berührt von Martin Luther Kings ›I have a dream‹-Rede und davon, wie er versuchte, die Lebensbedingungen der schwarzen Bevölkerung zu verbessern, ohne dass dies zu neuem Hass führte. Der Hass ist das Problem, nicht die Gewalt. Gewalt ist nur ein Symptom des Hasses.«
In einem Interview mit einem Vertreter von Amnesty International sagte sie 1989, dass die Demokratiebewegung eine gewaltfreie Bewegung sei, dies jedoch nicht bedeute, dass sie von politischen Maßnahmen absehe. »Ziviler Ungehorsam hat als politische Methode eine lange Geschichte«, sagte sie und verwies insbesondere auf Gandhi und King als Vorbilder.