7.
Kindheit
In den 1950er Jahren war Burma ein Land voll scharfer Kontraste. Auf der einen Seite herrschte Krieg und Unruhe – Aung San war tot, und die Gesellschaft durchlief eine immer deutlicher werdende Militarisierung –, auf der anderen Seite gab es einen starken Glauben an die Zukunft, an eine Wirtschaft, die nach dem Krieg wieder aufgebaut werden konnte, und an eine freiheitliche Gesellschaft, die Burma nie zuvor erlebt hatte.
Der dänische Lehrer und Autor Aage Krarup Nielsen beschreibt in seinem Buch De gyldne Pagoders Land (Das Land der goldenen Pagoden) aus dem Jahr 1958 die hellen Seiten des Landes. Er berichtet von Burmas enormen Naturressourcen: Mineralien und Rubine in den Gruben im Norden, riesige Teakwälder und fruchtbare Reisfelder. Darüber hinaus war das Bildungssystem gut ausgebaut und die Lesekompetenz die höchste in Südostasien. Krarup Nielsen begegnete Geschäftsleuten und Politikern, die Burma allesamt als ein Erfolgsbeispiel für andere asiatische Länder beschrieben. Zwar war der Begriff zu dieser Zeit noch nicht erfunden, aber alle gingen davon aus, dass Burma einer der »asiatischen Tiger« werden würde.
Gleichwohl stand Burma vor gewaltigen Problemen. Zunächst einmal war das Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerbombt. Der japanische Vormarsch und der Gegenangriff der Alliierten hatten ganze Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt. Der Hafen von Rangun lag in Trümmern und über 500 Züge und Eisenbahnwaggons waren beim Abzug der Japaner gesprengt worden. Gerade als mit dem Wiederaufbau begonnen werden sollte, waren die Kommunisten untergetaucht und hatten einen bewaffneten Kampf gegen die Zentralregierung begonnen. Drei Monate nach Erreichen der Souveränität hatten die Guerilla des Karenni-Volkes sowie die Karen mit ihrem bewaffneten Zweig der Karen National Liberation Army (KNLA) der Zentralregierung den Krieg erklärt. Die erste Phase des Bürgerkrieges war extrem blutig und verhinderte jedwede Entwicklung auf dem Lande. In dieser Periode hatte die Regierung U Nus nur das Gebiet um die Hauptstadt unter Kontrolle. Nach einigen Jahren konnte die Karen-Guerilla zwar zurückgedrängt werden, kontrollierte jedoch weiter große Teile des Karen-Staates und etablierte in der Praxis eine souveräne Nation in den Bergen zwischen Burma und Thailand.
Die meisten anderen ethnischen Gruppen verhielten sich anfangs loyal gegenüber der Regierung in Rangun, sorgten aber dennoch dafür, sich zu bewaffnen. Keine Gruppe vertraute gänzlich auf die Versicherungen der Burmanen, eine Souveränität im Rahmen einer föderalen Union zu garantieren. An Waffen war leicht heranzukommen. Japaner und Alliierte hatten große Arsenale hinterlassen, darüber hinaus hatten die meisten Gruppen in irgendeiner Form am Zweiten Weltkrieg teilgenommen.
Inmitten dieses Chaos wurde Burma außerdem zu einem Spielball des Kalten Krieges. Als Mao Zedongs Kommunisten die Macht in Peking 1949 übernahmen, floh Chiang Kaishek, der Anführer der Nationalisten, nach Taiwan. Seine Armee, die Kuomintang (KMT), errichtete eine Militärdiktatur auf der Insel und schwor, das chinesische Festland eines Tages wieder einzunehmen. Die westliche Welt stützte die KMT lange, und bis in die 1970er Jahre wurde ganz China bei der UN durch Taiwan vertreten.
Dieser Teil der Geschichte ist relativ bekannt. Weniger bekannt ist, dass zwei Armeeeinheiten Chiang Kai-sheks planten, Maos Vorgehensweise zu kopieren. Wie er wollten sie zunächst in einem abgelegenen Teil des Landes bleiben, dieses Areal weiträumig kontrollieren und von dort aus die Eroberung des restlichen Gebietes einleiten. Sie beschlossen, Jinghong in der südlichen Provinz Yunnan als Operationsbasis zu erobern, doch bevor sie ihren Plan verwirklichen konnte, hatte Maos Volksarmee bereits die Kontrolle über die Stadt übernommen. 1 700 Soldaten aus Chiang Kai-sheks 8. und 26. Armee zogen sich daraufhin über die Grenze nach Burma zurück. Damit sie von burmesischen Regierungstruppen nicht entdeckt und zurückgedrängt werden konnten, durchquerten sie den schwerpassierbaren Dschungel im Shan-Staat. Einer der Offiziere, Zang Weicheng, hatte zusammen mit den alliierten Truppen im Krieg gekämpft und kannte die Gegend. Schließlich ließen sie sich in der Stadt Möng Hsat nieder, die in einem grünen, fruchtbaren Tal im östlichen Shan-Staat liegt. Hier gab es genügend Nahrungsmittel, und die Lokalbevölkerung war ihnen freundlich gesinnt. Im Laufe der nächsten Jahre etablierte die KMT im Prinzip einen eigenen Staat im nordöstlichen Burma.
Die CIA baute sofort enge Kontakte zur KMT auf und leitete eine Operation ein, um China den Kommunisten zu entreißen. Das Weiße Haus unterstützte die Grundzüge der von der CIA erarbeiteten Strategie. Präsident Harry S. Truman musste zusehen, wie kommunistische Guerillabewegungen in ganz Südostasien an Einfluss gewannen, und ging fälschlicherweise davon aus, dass all diese Bewegungen mit Moskau und Peking zusammenhingen. Obwohl die führenden Politiker in den USA dieser Analyse im Prinzip zustimmten, herrschte dennoch große Uneinigkeit, inwiefern eine Guerilla in einem souveränen Land wie Burma offiziell unterstützt werden könnte. Ausmaß und Inhalte der Operation wurden daher von den zuständigen Beamten der CIA geheim gehalten – sogar gegenüber dem Weißen Haus und dem amerikanischen Kongress. Im Laufe einiger Jahre wurden enorme Mengen an Waffen und Vorräten in die Berge des Shan-Staates transportiert. Zwecks Durchführung der Transporte wurde sogar eine eigene Fluggesellschaft, die Civil Air Transports (CAT), gegründet. Über verschiedene Unternehmen mit Basis in Thailand wurde der Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten.
Die burmesische Armee wurde in den Shan-Staat geschickt. Es gelang ihr allerdings nicht, die KMT zu vertreiben, was U Nu veranlasste, die Situation vor der neugegründeten UN-Generalversammlung zu erörtern. Im April 1953 wurde eine Resolution verabschiedet, die besagte, dass die KMT ihre Waffen niederlegen und das Gebiet der burmesischen Regierung überlassen müsse. Doch KMT und CIA scherten sich wenig um diese Resolution. Sie rekrutierten weitere Soldaten aus den ethnischen Gruppen im Grenzgebiet, und Ende 1953 verfügte die KMT über insgesamt 12 000 Soldaten.
Allerdings wollten oder konnten sich die chinesischen Truppen in den Shan-Bergen nicht vollständig auf die Unterstützung der USA verlassen. Sie benötigten eigene Ressourcen und bedienten sich daher der einzig reichhaltig vorhandenen Einkommensquelle: Opium. Mit Wissen der CIA explodierte die Opiumproduktion in den Shan-Bergen. Die Flugzeuge der CAT starteten in Thailand und transportierten auf dem Hinweg Waffen und Munition in den Norden. Auf dem Rückweg wurden Tonnen von Opium geladen, die dann zu Heroin verarbeitet und über Bangkok in die ganze Welt verschifft wurden.
Anfang der 1950er Jahre unternahm die KMT zwei Versuche zur Rückeroberung Chinas. Mit mehreren tausend gut ausgerüsteten Soldaten sowie Militärberatern aus den USA wurde die Grenze überschritten. Die Unterstützung der chinesischen Bevölkerung, mit der die KMT fest gerechnet hatte, blieb jedoch aus, so dass der Vorstoß von den Kommunisten leicht zurückgedrängt werden konnte. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre stand schließlich irgendwann fest, dass die Kuomintang in Burma »steckenbleiben« würde.
Die Zentralregierung in Rangun verstärkte ihre Militäreinsätze in diesem Gebiet. Armeechef Ne Win schickte Tausende von Soldaten in die Bergregion, was zur Folge hatte, dass sich das historisch immer souveräne Shan-Volk von zwei Seiten unter Druck gesetzt fühlte, da beide Armeen als »ausländisch« betrachtet wurden.
Zur gleichen Zeit verstärkte China die Unterstützung der kommunistischen Partei Burmas, nicht zuletzt um die KMT zu bekämpfen, wodurch Peking die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschwor. U Nu war sich der Bedrohung sowohl durch die USA als auch durch China bewusst. Das große Nachbarland im Norden hatte schon immer Ambitionen gezeigt, sich nach Süden hin auszudehnen, um Handelswege zu öffnen und einen direkten Zugang zum Indischen Ozean zu erhalten. In dieser Hinsicht war Mao nicht anders als die früheren chinesischen Machthaber.
Aung San Suu Kyi ist keine Augenzeugin dieser Ereignisse gewesen. Anfang der 1950er Jahre wuchs sie in einem Rangun auf, das weitaus mehr als die problembeladenen Grenzgebiete von Optimismus und Glauben an die Zukunft geprägt war. Burma war auf dem Weg, sich als souveräner Staat zu etablieren. Das Land schloss sich den neugebildeten Vereinten Nationen an und empfing zahlreiche Delegationen, die ins Land kamen, um die politische Entwicklung zu studieren sowie Investitionsmöglichkeiten zu eruieren. Viele dieser ausländischen Gäste besuchten auch das Haus in der Tower Lane. Während des Krieges hatte Aung San ein beeindruckendes Kontaktnetz in Indien, Japan, Großbritannien und den unmittelbaren Nachbarländern aufgebaut. Khin Kyis Zuhause war darüber hinaus zu einem wichtigen Treffpunkt für Burmas politische und militärische Elite geworden. Nachdem Aung San gestorben war, hatte Khin Kyi zunächst beabsichtigt, ihren alten Beruf als Krankenschwester wiederaufzunehmen. U Nu und die anderen Landesführer waren allerdings der Ansicht, dass diese Aufgabe für die Witwe des burmesischen Nationalhelden viel zu gering war. Stattdessen wurde sie zur Chefin eines Komitees ernannt, das sich mit der Entwicklung der Gesundheitsfürsorge für Frauen und Kinder beschäftigte. Sie übernahm Aung Sans Parlamentssitz und leitete eine burmesische Delegation der Weltgesundheitsorganisation, WHO, die in Burma ein Projekt zur Bekämpfung der Malariakrankheit gestartet hatte. In der politischen Nachkriegslandschaft spielte Khin Kyi also eine wichtige Rolle.
In den Interviews mit Alan Clements berichtet Aung San Suu Kyi über ihre ersten Kindheitserinnerungen, als sie auf dem Schoß von Offizieren und Soldaten sowie Kollegen ihres Vaters aus der Befreiungsbewegung saß, die inzwischen zu wichtigen Männern im Land geworden waren.
U Nu kam regelmäßig vorbei, um Khin Kyis Rat zu politischen Fragen einzuholen, und sogar Ne Win und andere linientreue Generäle besuchten sie, um sich im Glanz des Vermächtnisses von Bogyoke Aung San zu sonnen.
Am Vormittag des 16. Januar 1953 wurde die Familie erneut von einer Tragödie heimgesucht. Aung San Suu Kyi spielte mit ihrem Bruder Aung San Lin draußen vor dem Haus. Die beiden Kinder, sieben und acht Jahre alt, standen einander sehr nahe. Nachts schliefen sie im selben Zimmer, besuchten dieselbe Schule und durchstreiften häufig gemeinsam den Garten. An diesem Morgen tobten sie eine Weile draußen herum. Als Aung San Suu Kyi müde wurde und hineinging, um sich auszuruhen, lief ihr Bruder zu einem Teich, der neben der Auffahrt zum Haus lag. Dort verlor er sein Spielzeuggewehr, und als er es wieder aus dem Teich herausfischte, blieb eine seiner Sandalen im Matsch stecken. Er lief ins Haus, gab Aung San Suu Kyi sein Spielzeug und rief, dass er seine Sandale holen wolle. Eine Stunde später wurde er mit dem Gesicht im Wasser tot aufgefunden.
Die Menschen in Burma haben gelernt, mit dem Tod als Teil ihres Alltags zu leben. Die Armut hat immer schon große Opfer gefordert. Das Land hat sich fast ununterbrochen im Kriegszustand befunden, wodurch gewaltsame Todesfälle oder das plötzliche Verschwinden von Menschen an der Tagesordnung waren. Infolgedessen hatte Burma während der gesamten Nachkriegszeit – und sogar bis hinein in unsere Tage – eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten in ganz Asien zu verzeichnen. Das Problem wurde darüber hinaus in späteren Jahren noch verstärkt, weil die Junta so gut wie alle Ressourcen auf militärische Aufrüstung verwandte und das Gesundheitswesen vernachlässigte.
Viele sind auch der Ansicht, dass der Buddhismus die Menschen viel besser als andere Religionen in die Lage versetzt, Trauer und Tragödien zu bewältigen. Ein Grundfundament im buddhistischen Glauben ist die Vergänglichkeit des Lebens; Glück und Leid wechseln einander stets ab, und kein Leid währt ewig. Als Mensch muss man daher lernen, sich an diesen Wechsel zu gewöhnen, ebenso sehr aber auch an die Erkenntnis, dass das Leben nicht mit dem Tod endet. Es nimmt lediglich andere Formen an, und die Seele lebt weiter.
All das sind jedoch rein theoretische Erwägungen. Tatsächlich kann man sich als Reaktion auf den Tod eines Kindes kaum etwas anderes vorstellen als tiefe Trauer. Der Tod Aung San Lins muss insbesondere für die siebenjährige Aung San Suu Kyi einen enormen Verlust bedeutet haben.
»Ich stand ihm sehr nahe […] wahrscheinlich wohl näher als jedem anderen. Wir wohnten im selben Zimmer und spielten zusammen. Sein Tod war ein großer Verlust für mich. Als er starb, verspürte ich sehr große Trauer, vermutlich war es eine Art Trauma, aber gleichwohl war das nichts, womit ich nicht umgehen konnte. Es versteht sich von selbst, dass mich die Aussicht, ihn nie wiederzusehen, stark beeinflusste.«
Rein äußerlich quittierte Khin Kyi den Tod ihres Sohnes mit derselben stoischen Gelassenheit, mit der sie die Nachricht von der Ermordung Aung Sans aufgenommen hatte. Einige Zeit vor dem Unglück war sie zur Chefin einer Planungskommission im Sozialministerium befördert worden. Als einer ihrer Mitarbeiter ihr Büro betrat und die schreckliche Nachricht überbrachte, fuhr sie nicht direkt nach Hause, sondern blieb im Ministerium und ging weiter ihrer Arbeit nach. Die Reaktion wirkt ungewöhnlich. Einige Biographen Aung San Suu Kyis sind der Ansicht, dass der Vorfall im Nachhinein von der Junta konstruiert wurde, um damit einen Schatten auf die Tochter Khin Kyis zu werfen. Doch die Angaben stammen direkt von Aung San Suu Kyi, so dass es eigentlich keinen Grund gibt, ihren Wahrheitsgehalt in Zweifel zu ziehen. Sie beschreibt die Reaktion ihrer Mutter als Beispiel für das enorme Verantwortungsgefühl ihrer Eltern im Hinblick auf soziale und gesellschaftliche Pflichten. Trifft dies zu, handelt es sich um eine geradezu unmenschlich rationale Haltung: Das Lebens des Sohnes ist nicht zu retten, also gibt es auch keinen Grund, nach Hause zu gehen und die Arbeit zu vernachlässigen, mit der sie gerade beschäftigt ist.
Selbst wenn die Episode der Wahrheit entspricht, muss Khin Kyi sich gleichwohl in einem Schockzustand befunden haben, denn nach dem Tod ihres Sohnes wollte sie nicht länger im Haus in der Tower Lane wohnen bleiben. Im Frühjahr 1953 packte die Familie ihre Sachen zusammen und zog in das weiße Steinhaus in der University Avenue 54 am schönen Inya See, einige Kilometer nördlich der Tower Lane. Die Gegend war früher von britischen Kolonialbeamten und angesehenen Geschäftsleuten bewohnt gewesen, doch nach der Souveränität hatten die neuen Machthaber Burmas einige der Villen rund um den See übernommen. Armeechef Ne Win wohnte beispielsweise in einer geräumigen Villa gleich auf der anderen Seeseite. Als Aung San Suu Kyi 40 Jahre später von Ne Wins Handlangern unter Hausarrest gestellt wurde, hätten sie einander im Prinzip über die spiegelglatte Wasseroberfläche hinweg zuwinken können.
Aung San Suu Kyi war eine materiell privilegierte Kindheit in einem Land vergönnt, in dem die meisten Menschen in Armut und Elend lebten. Nichtsdestotrotz war ihre Jugend nicht von Überfluss geprägt. Khin Kyi hatte dieselbe asketische Haltung, die schon Aung San eingenommen hatte, und achtete sehr darauf, das Kind nicht zu verwöhnen.
»Meine Spielsachen waren in Burma nach dem Zweiten Weltkrieg sicher ein Luxus, aber sie waren dennoch sehr bescheiden«, schrieb Aung San Suu Kyi in den 1990er Jahren für eine thailändische Zeitungskolumne. »Ich hatte ein paar haarlose, großäugige Puppen aus rosa Plastik, die ständig auseinanderfielen und Beulen bekamen. Arme und Beine waren beweglich und mit Gummiband am Körper befestigt. Aber die waren nicht ausreichend stabil für unruhige Kinderhände.«
Gingen irgendwelche Dinge kaputt, mussten sie geflickt oder repariert werden. Neue Sachen kamen nicht in Frage. Suu Kyi fand diese Puppen eigentlich hässlich und unpraktisch, behandelte sie aber mit Respekt, nachdem sie einige Erwachsene hatte sagen hören, dass Japans Industrialisierung mit der Herstellung solcher Spielsachen begonnen hatte. In ihrer kindlichen Phantasie verwandelten sich die Puppen zu Schlüsseln, die die Tür zu einer besseren Welt öffnen konnten.
Ihr anderes Lieblingsspielzeug war ein Kaleidoskop. Als es zerbrach, fertigte ihr Bruder, Aung San Oo, einen Ersatz mit Hilfe von Spiegeln und farbigen Glassplittern für sie an. Doch in Aung San Suu Kyis Augen konnte die Kopie das Original niemals ersetzen.
Heutzutage sind die meisten Spuren der britischen Kolonialzeit in Burma ausgelöscht. Abgesehen von der Architektur, den verstaubten und heruntergekommenen Häusern in der Innenstadt von Rangun, die so aussehen, als hätte jemand ein paar Londoner Viertel nach Südostasien versetzt, ist nicht viel übrig geblieben. In einem Teil der Schulen wird Englisch unterrichtet, aber nach Ne Wins Machtübernahme war selbst dies für viele Jahre verboten. (Ne Win führte Englisch als Schulfach wieder ein, nachdem eine seiner Töchter aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse von einer Schule in den USA abgewiesen worden war.)
In der ersten Hälfte der 1950er Jahre war die Situation eine völlig andere. Viele Briten hatten sich nach der Souveränität Burmas entschieden, im Land zu bleiben. Englische Unternehmen betrieben weiterhin Handel, und Premierminister U Nu war darauf bedacht, weitere ausländische Investoren ins Land zu holen. Auch die indische Bevölkerung lebte noch immer in intakten Verhältnissen. Während der Kolonialzeit hatten zeitweilig mehr Inder als Burmanen in der Hauptstadt gelebt.
Als Burma nun also erneut vor einer Grundsatzentscheidung stand, war Rangun eine multikulturelle Stadt, ein Umstand, von dem Aung San Suu Kyis Jugend stark geprägt wurde. Ihre Mutter verstand unter Nationalismus nicht, die Engländer »zu vertreiben« oder das Burmanische gegenüber einer der ethnischen Minderheiten hervorzuheben. Beim Nationalismus ging es ihr um das Recht, über das eigene Schicksal zu entscheiden und die eigene Kultur zu pflegen. Die Tatsache, dass auch andere Kulturen im Land vertreten waren, stellte keine Bedrohung dar, und es war weder wünschenswert noch möglich, diese Kulturen zu vertreiben.
Aufgrund von Khin Kyis weitverzweigtem und internationalem Netzwerk wurden viele der Gespräche in ihrem Haus auf Englisch geführt. Daher wünschte sie sich, dass ihre Kinder zweisprachig aufwuchsen. In dieser Hinsicht hatte sie dieselbe Einstellung wie Aung San. Schon als Junge hatte er gefordert, in der Schule Englisch zu lernen, da es kaum möglich war, eine Ausbildung abzuschließen und die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen, wenn man die Sprache der Kolonialmacht nicht beherrschte.
Als Aung San Suu Kyi das Schulalter erreichte, wurde sie zunächst in die Privatschule Saint Francis Convent geschickt, wo der Unterricht zweisprachig abgehalten wurde. Einige Jahre später wechselte sie zu der prestigeträchtigen Methodist English High School, MEHS, eine Schule für die gesellschaftliche Elite, die hohe Gebühren verlangte und im Zentrum von Rangun angesiedelt war. Die MEHS war eine der zahlreichen Schulen in Rangun, die von christlichen Religionsgemeinschaften geführt wurden. Saint Paul’s war ausschließlich für Jungen vorgesehen, während Saint Mary’s und Saint John’s Mädchenschulen waren. Die MEHS hingegen nahm Schüler beiden Geschlechts auf. Viele britische Kinder besuchten diese Schule, aber auch die sechs Kinder von General Ne Win. Burmanisch war ein obligatorisches Schulfach, aber ein Großteil des Unterrichts wurde auf Englisch durchgeführt.
»Alle wussten, wer Aung San Suu Kyi war. Als Tochter von Aung San konnte sie unmöglich anonym bleiben. Doch sie erhielt keinerlei Sonderbehandlung«, sagte Jenny Tun-Aung, die mit Suu Kyi dieselbe Klasse besuchte. »Trotzdem wurde zu dieser Zeit bereits deutlich, dass sie eigensinnig war und niemals nachgeben wollte. Wie in anderen Schulen wurden wir oft von den Jungen geärgert, doch jedes Mal, wenn sie sich mit Suu Kyi anlegten, wehrte sie sich und jagte ihnen nach bis hinein in die Herrentoilette.«
Ein ähnliches Bild zeichnet ihr Cousin Sein Win, der in den 1990er Jahren Premierminister in einer Exilregierung wurde. Diese war entstanden, nachdem die Junta die Übergabe der Macht an die vom Volk gewählten Politiker verweigert hatte. Sein Win ist ein Jahr älter als Aung San Suu Kyi; sein Vater, U Ba Win, wurde 1947 zusammen mit Aung San im Sekretariat ermordet.
»Die gemeinsame Erfahrung machte das Band zwischen unseren Familien ungewöhnlich stark«, sagte er, als ich im Frühjahr 2010 mit ihm sprach. »Wir wohnten nebeneinander und spielten als Kinder oft zusammen. Aung San Suu Kyi war ein ganz normales Mädchen, das gern mit seinen Freunden spielte, aber ein ungewöhnlich starkes Gespür für Fair Play hatte. Wenn irgendjemand versuchte, beim Baseball oder bei einem anderen Spiel zu schummeln, hat sie das immer sofort unterbunden.«
Clas Örjan Spång, der heute als Lehrer in Schweden arbeitet, ging in den 1950er Jahren ein Jahr lang mit Aung San Suu Kyi in dieselbe Klasse. Er lebte mit seiner Familie in Rangun; sein Vater war für das schwedische Untenehmen Ericsson tätig und in der burmesischen Hauptstadt stationiert. Clas Örjan erinnert sich noch gut an seine berühmte Klassenkameradin, nicht zuletzt aufgrund ihres Namens. Alle Kinder in der Klasse wurden von ihrer Lehrerin, Mrs. Brindley, mit englischen Namen angesprochen. Nicht aber Aung San Suu Kyi. In ihrem Fall wandte Mrs. Brindley den Namen ihres Vaters, Aung San, an. Nach ein paar Tagen war Aung San Suu Kyi es jedoch leid. »Ich heiße nicht Aung San«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Aber du bist doch mit ihm verwandt?«, fragte die Lehrerin, entschied sich aber gleichwohl, sie für den Rest des Schuljahrs mit Suu Kyi anzureden.
»Deswegen erinnere ich mich so gut an sie«, sagte Clas Örjan. »Hätte sie einen englischen Namen gehabt, hätte ich sie wahrscheinlich vergessen.«
Er erzählte, dass ungefähr 40 Kinder in dieselbe Klasse gingen, die geschwätzigen Schüler saßen hinten in der letzten Reihe. Aung San Suu Kyi hingegen saß immer ganz vorn.
Der Unterricht fiel ihr leicht, und besonders mochte sie Sprachen. Sobald sie zu lesen gelernt hatte, verließ sie die Welt der Puppen und stürzte sich auf die Welt der Bücher. Sein Win erwähnte, dass sie immer ein Buch mit sich herumtrug. Kam seine Familie zu Besuch, fand sie Suu Kyi oft in einem Buch versunken vor.
Als sie neun Jahre alt war, bekam sie einen Tipp von einem ihrer Cousins; er riet ihr, ein Sherlock-Holmes-Buch zu lesen. Schon bald war sie ganz versessen auf Kriminalromane. »Bugs Bunny konnte sich nicht mit einer Person messen, die allein durch die Untersuchung eines alten, abgetragenen Hutes Rückschlüsse auf den körperlichen und geistigen Zustand des ehemaligen Besitzers, seine finanzielle Lage und seine Eheprobleme zu ziehen vermochte«, schreibt sie in einem ihrer Texte über Literatur. Auf ihre sympathisch unprätentiöse Weise stellt sie fest, dass nichts »entspannender ist, als schnell alle praktischen Angelegenheiten zu erledigen und danach den Rest des Wochenendes mit einem Krimi zu verbringen«.
Sie liebte die Krimiklassiker von Georges Simenon und Agatha Christie, beschäftigte sich aber auch mit härteren Stoffen wie z. B. den Romanen von Raymond Chandler oder Dashiell Hammet. Im späteren Leben begeisterte sie sich für P. D. James’ Erzählungen um den ruhigen Kommissar Adam Dalgliesh. Gerade von Dalgliesh scheint Suu Kyi besonders viel zu halten. »Der Tropfen französischen Künstlerbluts in seinen Adern machte ihn weitaus interessanter als scheinbar so exotische Charaktere wie Hercule Poirot«, schreibt sie in einem Kommentar, der eher nach einer politischen Stellungnahme zu Mischehen als nach einem literaturkritischen Standpunkt klingt.
Sie las alles, und sie las überall. Sogar wenn sie mit ihrer Mutter zum Einkaufen fuhr, hatte sie ein Buch dabei. Aufgrund der chaotischen Verkehrssituation, die ihr immer Übelkeit bereitete, konnte sie zwar nicht während der Autofahrt lesen, doch sobald der Wagen anhielt, steckte sie ihre Nase wieder in irgendein Buch. »Ich las sogar, wenn wir vor einer roten Ampel stehenblieben. Dann musste ich das Buch wieder zumachen, konnte es aber meist kaum abwarten, bis der Wagen erneut irgendwo anhielt.«
Als sie zehn Jahre alt war, träumte sie davon Soldat und Offizier zu werden – am liebsten natürlich General, so wie ihr Vater. »Zu jener Zeit war die Armee eine respektierte und ehrenhafte Institution, die dem Volk diente, anstatt es zu bestehlen«, zitiert sie Alan Clements in seinem Buch. Der Traum von einem Soldatenleben verblasste allerdings schnell, wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, dass Frauen der Zugang zur Armee nicht gestattet war. Beeinflusst von all den Büchern, die sie verschlang, wollte sie stattdessen Schriftstellerin werden. Sie wollte faszinierende und packende Geschichten schreiben, eben solche, die sie selbst gern las.
Im späteren Leben sollte sie einen Teil dieses Traumes verwirklichen. In den 1980er Jahren veröffentlichte sie eine Reihe von Schriften und Büchern. Ein Buch handelte von ihrem Heimatland, ein anderes von Bhutan – beide erschienen in Australien und waren für Kinder gedacht – darüber hinaus schrieb sie ein Essay über ihren Vater und mehrere Artikel zu aktuellen politischen Fragen. Nur schöngeistige Literatur hat sie nicht geschrieben – zumindest bis jetzt noch nicht.
Von Khin Kyi wird manchmal gesagt, sie habe nicht einen Mann, sondern ein Schicksal geheiratet. Und umgekehrt heißt es oft, dass Aung San eine Frau heiratete, die über genügend Moral und Rückgrat verfügte, um sein Ideal auch über den Tod hinaus zu bewahren.
Sein Ideal, nicht ihr eigenes.
Abgesehen davon, dass diese Aussage ein patriarchalisches Weltbild widerspiegelt, ist sie doch gleichzeitig wahr und falsch. Falsch insofern, als Khin Kyi selbst über ausgeprägte politische Ansichten sowie ein klares Verständnis von Richtig und Falsch verfügte und sich während ihrer erfolgreichen beruflichen Karriere davon leiten ließ. Gleichwohl trifft zu, dass sie sich nach Aung Sans Tod niemals mit einem neuen Mann einließ. Seine Bedeutung für das kollektive Bewusstsein Burmas war viel zu wichtig, als dass sie dies mit einem neuen Liebesverhältnis hätte »beflecken« wollen.
Während der gesamten 1950er Jahre kämpfte sie hart für einen gut funktionierenden Alltag. Ihre Arbeitstage waren lang, und es blieb nicht viel Zeit übrig, um sich um die Kinder zu kümmern. In dieser Hinsicht unterschied sie sich kaum von ihrem verstorbenen Mann. Genau wie er konnte sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren und völlig in der Arbeit aufgehen. Gleichzeitig achtete sie darauf, dass den Kindern eine strikte und auch recht konservative Erziehung zuteil wurde. Auch das äußere Erscheinungsbild ihrer Kinder war ihr sehr wichtig. Wenn Besuch ins Haus kam, mussten sie immer ihre besten Sachen tragen, frisch gebügelt und frei von Schmutzflecken. Gegenüber Alan Clements berichtete Suu Kyi:
»Meine Mutter war eine äußerst starke Persönlichkeit, und ich vermute, dass ich das ebenso bin, wenn auch auf eine andere Art. Ich habe ein viel lockeres Verhältnis zu meinen Kindern. Die Beziehung zu meiner Mutter war immer recht formell. Sie spielte nie mit mir, als ich ein Kind war. Ich hingegen habe immer mit meinen Kindern gespielt, und oft haben wir lange Unterhaltungen und leidenschaftliche Diskussionen geführt, das können meine Söhne und ich nämlich sehr gut. Meine Mutter hat so etwas nie getan.«
Im Grunde genommen spiegelte Khin Kyis Verhältnis zu ihren Kindern die traditionelle burmesische Sicht auf Erziehung wider. Man erwartete von Kindern, dass sie größtenteils allein zurechtkamen. Der ehemalige UN-Generalsekretär U Thant, der sich in den 1940er Jahren der burmesischen Befreiungsbewegung anschloss, beschrieb einmal seine Kindheit als einen nie enden wollenden Ablauf von Tagen, an denen die Erwachsenen schlichtweg keinen Anteil hatten. Die Kinder im Viertel taten, was sie wollten, und gingen nur nach Hause, um etwas zu essen. Fertig gekochter Reis war in jeder Küche vorhanden.
Gleichzeitig wurde von den Kindern jedoch erwartet, dass sie den Älteren Respekt zollten. Früh lernten sie, sich vor den Erwachsenen zu verbeugen, genauso, wie sie es lernten, sich vor dem buddhistischen Altar zu verneigen, bevor sie abends zu Bett gingen.
Die Tatsache, dass Khin Kyi oft von ihrer Arbeit vereinnahmt war, bedeutete jedoch nicht, dass die Kinder tagsüber allein waren. Die Definition von Familie im Burma der 1950er Jahre war vielleicht nicht so ausgeprägt wie z. B. in Indien, aber auch nicht so eingeschränkt wie bei den modernen Kernfamilien des Westens. Ein Haushalt bestand für gewöhnlich aus Kindern, Eltern und Großeltern, manchmal ergänzt um eine Tante oder einen Onkel.
In der University Avenue gab es einen oder mehrere Hausangestellte, über einen längeren Zeitraum wohnte aber auch eine Tante im Haus, und ebenso Khin Kyis Vater, Pho Hnyin, der seinerzeit während seiner Jagdausflüge mit Jägern aus dem Karen-Volk zum Christentum konvertiert war.
Liest man die Berichte über Aung San Suu Kyis Mutter, ist auffällig, wie sehr sie trotz der großen geographischen und kulturellen Distanz an Alva Myrdal erinnert. Beide wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren und waren in einer Zeit aktiv, als Frauen langsam anfingen, das öffentliche Leben zu erobern. Sie hatten dieselben politischen Interessen und waren aktiv an der Gestaltung der Sozialpolitik ihres Heimatlandes beteiligt, insbesondere im Hinblick auf Frauen und Kinder. Beide waren darüber hinaus in der Lage, sich ganz und gar auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und gleichzeitig fügten sich beide seltsamerweise in eine traditionelle Frauenrolle. Sie ließen ihren Männern den Vortritt und richteten den Großteil ihres Lebens auf den Mann in der Familie aus, ob er nun lebte oder bereits gestorben war.
Es ist auch durchaus denkbar, dass sich die beiden erfolgreichen Frauen in Indien begegneten, als sie für ihr jeweiliges Heimatland als Botschafterinnen tätig waren. Als Khin Kyi 1960 zur ersten Botschafterin Burmas ernannt wurde, hatte Alva Myrdal bereits vier Jahre in Neu-Delhi verbracht. Beide hatten Kontakt zu Premierminister Nehru und bewegten sich in den diplomatischen Kreisen der indischen Hauptstadt.
Aung San Suu Kyi war 15 Jahre alt, als sie in das westliche Nachbarland zog. Khin Kyi wollte ihre Tochter bei sich haben, und es kam nicht in Frage, dass sie allein in Rangun zurückblieb. Für ihren Bruder Aung San Oo war die Situation anders; er war 17 Jahre alt und befand sich bereits in einem Internat in England.
Aung San Suu Kyi und ihre Mutter verließen ein Land, das sich am Rande des totalen Chaos befand. Die Regierung hatte noch immer Probleme mit der kommunistischen Guerilla, ein paar kleinere ethnische Gruppen hatten zu den Waffen gegriffen, und die Kuomintang stellte in den abgelegenen Bergen des Shan-Staates weiterhin eine Quelle ständiger Unruhe dar. In einem Interview mit dem dänischen Autoren Aage Krarup Nielsen räumte Premierminister U Nu ein, dass es dunkle Wolken am sonst so lichten Himmel gab. Aufgrund der ewigen Streitereien war der Wiederaufbau des Landes vernachlässigt worden. Vor dem Krieg hatte das Land drei Millionen Tonnen Reis exportiert, nun lag die Zahl bei knapp zwei Millionen Tonnen. Aus Angst vor Plünderungen wagten die Bauern nicht, ihr Land zu bestellen. »Wir können nicht jede Stadt befestigen oder jeden Straßenabschnitt sichern!«, sagte U Nu. »Aber wir werden sie schon kriegen! Wir wissen, dass ihre Kampfmoral gesunken ist, und wir wissen auch, dass die wieder aufgeflammten Guerillaangriffe der letzten Zeit ein Zeichen von Schwäche sind, der letzte verzweifelte Kampf mit dem Rücken an der Wand.«
Obwohl der Bürgerkrieg bereits zehn Jahre andauerte, gab es in der restlichen Welt noch immer viel Verständnis dafür, dass die Regierungsarmee mit harter Hand gegen die Rebellen vorging. Die Burmanen verglichen manchmal sogar ihre Geschichte mit der Geschichte der USA. In den USA hatte es hundert Jahre gedauert und einen blutigen Bürgerkrieg gekostet, bevor ein föderaler Staat gegründet werden konnte. Burma seinerseits musste demnach ein historisch notwendiges Stahlbad durchlaufen.
Doch dieser Standpunkt erwies sich als grundsätzlich falsch. Wie in allen vom Krieg gezeichneten Gesellschaften erlang das Militär sukzessiv immer mehr Macht. Die 1950er Jahre waren von ständigen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Zivilregierung und Armeechef Ne Win geprägt. Vor dem Hintergrund des blutigen Bürgerkrieges verschlang die Armee einen immer größer werdenden Teil des Staatshaushalts, und die Generäle vereinnahmten schrittweise große Teile des Wirtschaftslebens. Diese Entwicklung begann 1951, als das militäreigene Defense Service Institute ein Lebensmittelgeschäft in Rangun eröffnete. Der dahinterliegende Gedanke war, dass das Armeepersonal die Möglichkeit erhielt, Waren zu kaufen, die in Burma ansonsten nicht zu haben waren. Ähnlich den Geschäften für die Nomenklatur im ehemaligen Ostblock. Viele Offiziere und Soldaten begriffen schnell, dass sie mehr Waren kaufen konnten, als sie selbst benötigten, und verkauften sie weiter auf dem Schwarzmarkt. Innerhalb kurzer Zeit öffneten 18 ähnliche Geschäfte. Kurz danach eröffnete die Armee eine Buchhandlung, die zu Beginn nur den Bedarf der Soldaten decken sollte, aber schon bald Papier, Bücher und Schreibutensilien auch an Zivilisten verkaufte. Der nächste Schritt war die Herausgabe der Zeitung Myawaddy, die sich im Besitz der Armee befand und den Auftrag erhielt, die Berichterstattung der ansonsten regierungskritischen Presse »auszubalancieren«. Die Zeitung hatte großen Erfolg, konnte ihren Journalisten gute Löhne zahlen und bot neben vierfarbigen Annoncen ihren Lesern zudem einfache Unterhaltung. Ende der 1950er Jahre befanden sich Bauunternehmen, Reedereien, Ladenketten und eines der führenden Exportunternehmen im Besitz der Armee.
Parallel mit der wirtschaftlichen Expansion baute Ne Win eine ihm loyal ergebene Armee, eine effektiv arbeitende Sicherheitspolizei sowie ein Netzwerk aus Denunzianten auf. Dabei machte er sich das Wissen und die Erfahrung der britischen Sicherheitspolizei und der im Krieg gefürchteten japanischen Militärpolizei zunutze. Schon 1941 im Trainingslager der Dreißig Kameraden in Hainan hatte er großes Interesse am Nachrichtendienst sowie den Foltermethoden der japanischen Armee gezeigt und fand als Armeechef mit ständig wachsender Macht genügend Anlässe, seine Kenntnisse aus jener Zeit anzuwenden.
Gegen Ende der 1950er Jahre wurde deutlich, dass die Situation des Landes U Nu langsam, aber sicher aus den Händen glitt. Der Bürgerkrieg nahm kein Ende, und im Herbst 1958 gab der demokratisch gewählte Premierminister auf und überließ die Macht einer Militärregierung unter der Führung Ne Wins.
Die Machtübernahme vollzog sich undramatisch, und die Bevölkerung in Zentralburma unterstützte die Maßnahme im Allgemeinen. Noch immer verließen sich die Menschen auf die Armee, und viele waren der Ansicht, dass eine kurzfristige militärische Führung die einzige Möglichkeit war, den Problemen des Landes zu begegnen. Für die ethnischen Minderheiten allerdings hatte die Machtübernahme dramatischere Veränderungen zur Folge. Ne Win verschob das politische Gleichgewicht zwischen Rangun und den grenznahen Gebieten. Zum ersten Mal in der Geschichte sollten die Gebiete der ethnischen Gruppen denselben Gesetzen unterstellt sein wie die zentralen Gebiete Burmas. Die lokalen politischen Anführer aus den Völkern der Karen, Shan, Chin und Kachin verloren ihre Macht und hatten nicht mehr wie früher das Recht, über den Haushalt der Teilstaaten zu bestimmen.
Die Militärregierung sollte vorübergehend sein und auf sechs Monate beschränkt bleiben, doch erst im Februar 1960 wurde eine demokratische Wahl abgehalten. Die AFPFL gewann genauso einfach wie bei der letzten Wahl, und U Nu konnte seinen Posten als Premierminister wieder einnehmen.
Doch U Nu unterliefen zwei entscheidende Fehler. Zum einen hatte er vor der Wahl versprochen, den Buddhismus zur Staatsreligion in Burma zu machen. Nach der Wahl nahm er seine Ankündigung zwar teilweise zurück, doch der Schaden war schon eingetreten. Die ethnischen Minderheiten, die im Rahmen des Panglong-Abkommens der Union beigetreten waren, trauten der Zentralregierung nicht länger und hegten nicht die Absicht, in einem föderalen Staat zu verbleiben, der ihnen die Religionsfreiheit verweigerte. Zum anderen wollte U Nu einen bereits seit Jahren andauernden Grenzkonflikt mit China beilegen. Die Vereinbarung beinhaltete allerdings, dass eine Reihe von Kachin-Dörfern auf der chinesischen Seite eingemeindet werden sollte. Sowohl die Kachin Independence Army als auch einige Gruppen von Shan-Rebellen erklärten daraufhin der Zentralregierung in Rangun den Krieg.
Um die Situation zu retten, rief U Nu Vertreter der ethnischen Gruppen zusammen, welche eine friedliche Lösung der politischen Probleme des Landes bevorzugten. Die Teilnehmer der Konferenz versammelten sich Anfang März in Rangun, um eine neue föderale Verfassung zu erarbeiten, die noch deutlicher als die erste das Selbstbestimmungsrecht der Grenzgebiete garantieren sollte. Diese Maßnahme jedoch verursachte eine Spaltung innerhalb U Nus eigener Partei, die hauptsächlich aus Burmanen bestand, und führte dazu, dass das Militär unter der Führung Ne Wins sich offen gegen ihn stellte. Noch vor Beendigung der Konferenz kam Ne Win mit einem Staatsstreich an die Macht.