Er drehte sich zu Silver um, der gerade hereinkam. »Dicke Luft.« Er ging in Richtung Bibliothek.

»Da verziehe ich mich lieber. Ich rechne jeden Augenblick damit, dass sich einer meiner Kontaktleute bei der CIA mit Informationen über unsere mysteriöse Helen meldet, und den Anruf möchte ich ungern verpassen.«

Er warf Kerry über die Schulter hinweg einen Blick zu.

»Lassen Sie ihn leben. Ich habe meine Revanche noch nicht gehabt.«

»Vielleicht hat er zu lange gewartet«, sagte Kerry zu Silver, nachdem George die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Jetzt wird er sich hinter mir anstellen müssen. Was hast du mit mir gemacht?«

»Ich dachte, das hätten wir letzte Nacht schon diskutiert.«

»Komm mir nicht mit einer so blöden Ausrede! Ich rede davon, was du gemacht hast, kurz bevor ich eingeschlafen bin.

Hast du mir irgendeinen posthypnotischen Befehl gegeben, um meiner Erinnerung ein bisschen auf die Sprünge zu helfen?«

Er schwieg einen Moment. »Möglich.«

»Und es war auch kein Zufall, dass ich letzte Nacht einen Albtraum hatte.«

Er zuckte die Achseln. »Es gibt nicht viele echte Zufälle auf der Welt.«

Erst in diesem Augenblick wurde ihr klar, wie sehr sie sich gewünscht hatte, sich geirrt zu haben. »Du verdammter Mistkerl! Es war schlimm genug, dass du dich in meinen Traum gedrängt hast, wo du nichts zu suchen hattest. Du hast mich tatsächlich manipuliert. Du hast gesagt, das würdest du nicht tun. Du hast es mir versprochen. Warum zum Teufel hast du dein Wort gebrochen?«

»Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Du hast dich mit Zähnen und Klauen gegen mich gewehrt. Ich musste Zugang zu dir finden, als du entspannt warst und deine Abwehr nicht so stark war.«

»Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, dass du damit jedes Vertrauen zerstören würdest, das ich in dich gesetzt hatte?«

»Doch, es ist mir durchaus in den Sinn gekommen. Aber ich bin zu dem Schluss gelangt, dass es den Versuch wert war. Er ist das Monster, das dich schon dein Leben lang quält. Du musstest dich ihm stellen, anstatt dich vor ihm zu verstecken.«

»Deiner Meinung nach.«

»Meiner Meinung nach.«

»Du arrogantes Arschloch!«

»Ja, das bin ich. Ich habe nie geleugnet, dass ich ein arrogantes Arschloch bin. Und wahrscheinlich bin ich das Risiko nicht ganz ohne Eigennutz eingegangen.«

Dann fügte er trocken hinzu: »Ich konnte es nicht ertragen, wie du dich quälst. Jedes Mal wenn ich mit diesem Teil von dir in Berührung kam, hat es mich … getroffen. Ich musste dem ein Ende setzen, Kerry.«

»Und was glaubst du, hast du dabei gewonnen?«

»Wenn du dir gestatten würdest, deine Wut beiseite zu lassen, würdest du es vielleicht rausfinden.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Blaue Augen«, sagte er leise. »Er hatte blaue Augen. Warum wolltest du dich daran nicht erinnern, Kerry?«

»Vielleicht konnte ich mich einfach nicht erinnern. Vielleicht hast du diesen Gedanken in mein Gehirn gepflanzt, als du dich –

«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, fiel er ihr ins Wort. »Lass den Blödsinn und sag mir lieber, warum du die Erinnerung an den Mann verdrängt hast, der deine Mutter getötet hat.«

»Das habe ich nicht. Ich lag im Koma, und als ich aufgewacht bin, konnte ich mich an nichts mehr erinnern.«

»Aber letzte Nacht hast du dich erinnert. Du hast blaue Augen gesehen. Wenn ich noch ein bisschen gedrängt hätte, hättest du ihn dann beschreiben können?«

»Nein!«

»Ich glaube doch.«

»Du irrst dich.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Du bist total auf dem Holzweg.«

»Warum hat dir der Anblick seines Gesichts einen Schock versetzt?«

»Ich hatte Angst.«

»Ja, das stimmt.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Wen kennst du, der blaue Augen hat?«

»Das ist eine bescheuerte Frage. Ich kenne jede Menge Leute mit blauen Augen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und riss die Haustür auf. »Ich höre mir dein Gequatsche nicht länger an.

Halt dich einfach von mir fern.«

»Mach ich«, erwiderte er ruhig und folgte ihr die Stufen hinunter. »Du musst allein sein, um deine Gedanken zu sortieren. Falls ich dir helfen kann, werde ich in der Nähe sein.«

»Ich habe genug von deiner Hilfe.« Sie ging die Einfahrt hinunter. »Und ich habe nicht die Absicht, irgendwas zu sortieren. Ich will dich einfach nicht mehr in meiner Nähe haben.«

»Du bist nicht der Typ, der die Augen vor der Wahrheit verschließt.« Er setzte sich auf die Stufen vor der Tür. »Du wirst anfangen, dir Fragen zu stellen, ob du willst oder nicht. Es wird nicht leicht werden, aber du hast den Mut, dich dem Problem zu stellen. Wenn du aufhörst davonzulaufen, komm zurück, dann können wir reden.«

»Ich will nicht reden.« Sie spürte seinen Blick im Rücken, als sie zwischen den Bäumen verschwand. Und sie lief nicht davon, verdammt. Sie war wütend und wollte allein sein. Das war eine ganz normale Reaktion, wenn man feststellte, dass jemand, dem man vertraute, einen verraten hatte. Und sie verschloss auch nicht die Augen vor der Wahrheit. Vielleicht war es ihm gelungen, Erinnerungen in ihr wachzurufen, an die weder die Psychologen noch die Polizisten bisher rangekommen waren.

Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie die Erinnerungen absichtlich verdrängt hatte aus – Blaue Augen.

Hastig schob sie den Gedanken beiseite. Nicht darüber nachdenken. Sie wollte an nichts von dem denken, was Silver gesagt hatte. Er irrte sich. Es gab nichts – Weglaufen.

Wenn seine Worte sie dermaßen in Panik versetzten, dann war vielleicht doch etwas Wahres daran.

Gott, sie wollte nicht, dass etwas Wahres an seinen Worten war. Sie wollte nicht, dass er Recht hatte.

Sie konnte das alles ignorieren. Sie konnte Silver einfach ignorieren.

Es gelang ihr nicht. Es wäre nicht ehrlich, und sie versuchte immer, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein.

Doch vielleicht war ihr das nicht immer gelungen.

Als sie im Schatten einer riesigen Eiche stehen blieb, kam ihr ein Gedanke. Vielleicht war die Ehrlichkeit nur an der Oberfläche. Vielleicht hatte sie nie den Mut gehabt, tiefer zu graben.

Aber Silver hatte gesagt, sie würde den Mut dazu haben, und er kannte sie besser als jeder andere.

Sie lehnte sich gegen den Baumstamm und schloss die Augen.

Blaue Augen …

Die Sonne ging unter, als Kerry zum Haus zurückkehrte. Silver saß immer noch auf den Stufen vor der Tür, wo sie ihn vor Stunden verlassen hatte.

Sie wappnete sich. Sie hatte gehofft, noch ein bisschen Zeit zu haben, bevor sie sich mit ihm auseinander setzen musste. »Hast du nichts Besseres zu tun, als hier auf den Stufen zu hocken?«

»Nein.« Er lächelte. »Tja, es gab ein paar weltbewegende Probleme, die meine Aufmerksamkeit erfordert hätten, aber du warst mir wichtiger. Wenn man die Flamme hochdreht, ist es nur fair, in der Nähe zu bleiben und aufzupassen, dass das Versuchsobjekt nicht überkocht.«

»Ich bin keins von deinen Versuchsobjekten.«

Sein Lächeln verschwand. »Tut mir Leid. Das war eine blöde Bemerkung. Aber ich glaube, du weißt sehr wohl, dass ich dich nicht mit so unpersönlichen Augen betrachte. Was uns verbindet, ist im Gegenteil sehr persönlich.«

Ja, das stimmte. So persönlich, dass sie die Nähe manchmal kaum ertrug. »Und ich habe nicht vor, zusammenzubrechen, bloß weil du dein Versprechen gebrochen und dich wie ein Arschloch benommen hast.«

Sie setzte sich neben ihn. »Trotzdem werde ich dir das nie verzeihen.«

Er wandte sich ab. »Mit der Möglichkeit habe ich gerechnet.«

»Das kann ich mir vorstellen. Aber du konntest einfach nicht widerstehen, dich einzumischen und zu versuchen, alles in Ordnung zu bringen.«

»Das ist meine Berufung.« Er schwieg eine Weile.

»Und da du aufgehört hast, Gift und Galle zu spucken, nehme ich an, dass du angefangen hast nachzudenken.«

»Ich bin viel zu erschöpft, um wütend auf dich zu sein. Das kommt vielleicht später.«

»Die eigene Seele zu erforschen ist ein sehr anstrengender Prozess.«

»Sei nicht so anmaßend. Ich habe meine Seele nicht erforscht.

Meiner Seele geht es prächtig.« Sie überlegte. »Aber vielleicht hast du Recht, wenn du sagst, dass ich mich immer vor dem, was in jener Nacht passiert ist, versteckt habe.«

Er schaute sie an. »Halleluja!«, sagte er leise. »Der Durchbruch.«

»Ich sagte vielleicht.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Mir fällt einfach kein anderer Grund dafür ein, dass ich mich nicht …

Wenn es in meinem Gedächtnis gespeichert ist, warum ist es dann in all den Jahren nicht an die Oberfläche gelangt?«

»Sag du’s mir.«

Sie presste die Hände zusammen, die Finger ineinander verschränkt. »Blaue Augen.«

Er sagte nichts.

»Verdammt nochmal, sitz nicht da rum wie eine allwissende Sphinx!«

»Was willst du denn von mir hören? Soll ich die Frage nochmal wiederholen? Also gut: Wen kennst du, der blaue Augen hat?«

»Ich hab dir doch gesagt –« Sie holte tief Luft. »Alle in meiner Familie haben blaue Augen. Ich habe blaue Augen. Meine Tante Marguerite hatte blaue Augen. Mein Bruder hat blaue Augen.«

»Und?«

Einen Moment lang brachte sie kein Wort heraus.

»Mein Vater hat blaue Augen«, sagte sie zitternd. »So. Bist du jetzt zufrieden?«

»Bist du es?«

»Hör auf, den Seelenklempner zu spielen und eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.« Aber sie musste es über die Lippen bringen. Sie musste es aussprechen. »Mein Vater und meine Mutter wollten sich scheiden lassen. Ich erinnere mich an

… hässliche Szenen. Sie haben sich fürchterlich gestritten. Über alles. Über mich, über Jason, über unser Haus. Es war das Geburtshaus meines Vaters, aber meine Mutter wollte es unbedingt haben. Als mein Vater mit Jason auf diesen Jagdausflug nach Kanada gefahren ist, war ich richtig froh, dass er weg war.«

»Eine normale Reaktion.«

»Aber ich hatte Schuldgefühle deswegen.« Seltsam, dass sie sich plötzlich wieder an den Tag erinnern konnte, an dem ihr Vater das Haus verlassen hatte. An die Erleichterung, die sie empfunden hatte, als sie zugesehen hatte, wie ihr Vater und Jason in das gelbe Taxi gestiegen waren, das vor dem Haus vorgefahren war. »Aber es hat mich gleichzeitig gekränkt, dass er Jason mitgenommen hat und nicht mich. Ich dachte, er liebt mich nicht mehr. Ich wusste ja, dass er meine Mutter nicht mehr liebte. Warum also sollte er mich lieben?«

»Ein Kind ist etwas anderes.«

»Er hat Jason mitgenommen. Mich hat er gar nicht erst gefragt, ob ich mitfahren will. Wenn meine Eltern sich gestritten haben, ging es immer darum, ob er Jason bekommt. Meine Mutter wollte, dass Jason und ich zusammenbleiben, aber er wollte seinen Sohn.«

»Ich glaube, deine Eltern werden mir allmählich immer unsympathischer. Sie hätten es nie zulassen dürfen, dass du diese Streitereien mitkriegst.«

Sie zuckte die Achseln. »Wenn so viel Hass da ist, breitet er sich unaufhaltsam aus.«

»Wie Feuer.«

Sie schaute ihn an. »Wie dieses Feuer.«

»Du glaubst, dass dein Vater das Feuer gelegt hat, in dem deine Mutter umgekommen ist?«

»Ich weiß nicht. Den ganzen Nachmittag hab ich versucht, mich durch die Ablehnung und die Verunsicherung zu kämpfen, die ich ihm gegenüber empfinde. Er hat sie gehasst. Er hat mich nicht geliebt. Er wollte nicht, dass sie das Haus kriegt. Und was ist passiert? Das Haus ist abgebrannt, meine Mutter ist bei dem Brand ums Leben gekommen und ich lag zwei Jahre lang im Krankenhaus.«

»Aber du warst eine Zeugin. Als du hilflos im Krankenhaus lagst, hätte er leicht eine Möglichkeit finden können, dich zu töten.«

»Aber das wäre ein unnötiges Risiko gewesen. Wer weiß? Ich lag im Koma. Ich hätte jeden Augenblick einfach sterben können. Und nachdem ich aus dem Koma aufgewacht war, konnte ich mich an nichts erinnern. Er wäre also nicht in Verdacht geraten. Es war gar nicht nötig, mich aus dem Weg zu schaffen.«

»Du glaubst also, er hat das Feuer gelegt?«

»Ich muss es angenommen haben. Ich wollte nicht glauben, dass er ein Mörder ist. Wenn ich es geglaubt hätte, hätte ich die Erinnerung nicht verdrängt.«

»Ein Mann mit blauen Augen. Das reicht nicht als Beweis. An was erinnerst du dich sonst noch?«

Sie schüttelte den Kopf. »An nichts. Du hast diese Erinnerung mit Gewalt aus mir rausgeholt.«

»Aber du hast dich gewehrt. Du hast mich nicht tiefer graben lassen.«

»Ich habe seine Augen gesehen. Aber der Rest seines Gesichts lag im Schatten.«

»Die Augen waren nur das Erste, was du gesehen hast. Du hast geglaubt, ihn zu erkennen, und das hat den Schock ausgelöst.

Ich kann dir helfen, dich an sein Gesicht zu erinnern.«

»Es war zu dunkel«, sagte sie hastig.

»Nicht so dunkel, dass du seine blauen Augen nicht erkennen konntest.«

»Das muss am Widerschein des Feuers gelegen haben.«

»Oder du hast die Augen im Bruchteil einer Sekunde wahrgenommen und nur einen kurzen Eindruck bekommen.

Wenn ich diesen Augenblick anhalte, hast du Zeit, dir sein Gesicht anzusehen.«

»Jetzt kannst du schon die Zeit anhalten? Das macht einen ja ganz verrückt. Gott, was kommt als Nächstes?«

»Das kann man nie wissen. Ich bin ein Mann mit ungeahnten Möglichkeiten.« Er musterte sie. »Du hast Angst, nicht wahr?«

»Nein, ich –« Sie unterbrach sich. »Vielleicht. Das ist alles noch zu neu. Mir ist nie bewusst gewesen, dass ich meinen Vater verdächtige, ein Mörder zu sein.«

»Die Betonung liegt auf verdächtige. Möchtest du es nicht genau wissen?«

Da war sie sich nicht ganz sicher. Jedes Mal wenn sie darüber nachdachte, geriet sie innerlich in Panik. »Es ist … schwierig.

Ich könnte mich ja irren. Es könnte auch ein völlig Fremder gewesen sein.«

»Und du willst nicht, dass es dein Vater war. Kinder wollen instinktiv glauben, dass ihre Eltern gut sind. Das hast du auch bei Carmela gesehen. Wahrscheinlich hast du dich deswegen all die Jahre so hartnäckig gegen die Wahrheit gesperrt.«

»Du hast das ja alles schon genau analysiert. Aber so einfach ist das nicht.«

»Ich habe nie behauptet, es wäre einfach.« Er schaute sie an.

»Du bist noch nicht so weit, stimmt’s? Du willst dir nicht von mir helfen lassen.«

»Ich glaube, dass ich schon genug Hilfe von dir bekommen habe.«

»Nein, hast du nicht. Aber das ist in Ordnung. Du brauchst Zeit, um den Schock zu verdauen und dich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass du dich nicht länger verstecken kannst.«

»Da bin ich aber erleichtert, dass du das in Ordnung findest«, sagte sie sarkastisch und stand auf. »Es würde mich fürchterlich belasten, wenn du meine Entscheidung missbilligen würdest.

Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich werde zu George in die Bibliothek gehen und mal hören, ob er noch was über diese Freundin von Trask in Erfahrung gebracht hat.«

Silver nickte. »Tu das.« Er erhob sich. »Und da ich annehme, dass du es vorziehst, wenn ich mich vorerst von dir fern halte, werde ich mich einiger der weltbewegenden Probleme annehmen, die ich eben erwähnte.«

»Wie bitte?«

Er lächelte. »Travis hat angerufen. Rosa trifft in ein paar Stunden am Flughafen ein.«

»Die Behörden von Louisville haben zugestimmt?«

»Dass Ledbruk sie in seine Obhut nimmt. Es war ein bisschen Druck von ganz oben nötig, um sie dazu zu bringen, den ganzen Papierkram außen vor zu lassen, der gewöhnlich anfällt, wenn Eltern das Sorgerecht für ein Kind entzogen wird, aber schließlich haben sie sich doch darauf eingelassen.«

Sie atmete erleichtert auf. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Du warst mit anderen Dingen beschäftigt. Ich hole Rosa ab und bringe sie in das sichere Haus, das Ledbruk für sie beschafft hat.«

»Warum bringt er sie nicht einfach hierher?«

»Du hast Carmela versprochen, dass Rosa in Sicherheit sein würde. Glaubst du wirklich, bei uns wäre sie in Sicherheit? Du stehst an erster Stelle auf Trasks Abschussliste und ich wahrscheinlich an zweiter.«

Er hatte Recht. Je weiter Rosa von ihnen beiden entfernt war, umso besser für sie. Ihr widerstrebte nur die Vorstellung, dass ein junges Mädchen nur von Geheimdienstleuten umgeben war.

»Sie ist erst zwölf.«

»Ich bin sicher, dass Ledbruk eine Kollegin abkommandiert hat, die sich um sie kümmern wird. Und ich werde mir von ihm eine Telefonnummer geben lassen, über die du sie erreichen kannst.«

Mehr konnte sie wohl nicht erwarten. »Erklär ihr alles. Sag ihr, dass Carmela –«

»Himmel, Herrgott, ich werde sie schon nicht aus dem fahrenden Auto vor die Füße der CIA werfen!«, sagte Silver barsch. »Ich habe auch eine sensible Seite. Verdammt, ich mag Kinder.« Er ging die Stufen hinunter. »Wir sehen uns, wenn ich zurückkomme.«

Er war wieder sauer. Tja, daran konnte sie nichts ändern. Sie war nicht in der Stimmung, ihn zu beruhigen, sie hatte genug mit ihrem eigenen Unmut zu tun.

Unmut? Das war reichlich untertrieben. Sie fühlte sich hin-und hergerissen zwischen Zorn und Angst. Silver hatte den dunklen Vorhang aus Lügen weggezerrt, mit dem sie sich jahrelang geschützt hatte, und nun fühlte sie sich nackt und verletzlich. Sie wollte den Vorhang wiederhaben. Er hatte den Schrecken verdeckt, dem sie sich noch nicht stellen konnte.

Aber wann wollte sie sich dem Horror stellen? Es gab kein Zurück mehr. Mit seiner typischen brutalen Gründlichkeit hatte Silver dafür gesorgt, dass sie nicht länger in der Lage sein würde, sich selbst zu täuschen.

Was war eigentlich das Problem? Sie hatte genug von Angst und Selbsttäuschung. Im Moment war sie noch nicht so weit, dass sie tiefer in die Erinnerung eintauchen konnte, doch in nicht allzu ferner Zukunft würde sie sich damit auseinander setzen müssen.

»Sehr gut.« Silver schaute sie über die Schulter hinweg an, als er gerade in den Wagen steigen wollte. »Genau das hatte ich gehofft, als ich –«

»Mich interessiert nicht, was du gehofft hast«, erwiderte sie kühl. »Und halt dich verdammt nochmal aus meinem Kopf raus.

Du hast meine Gastfreundschaft reichlich überstrapaziert.«

Er zuckte die Achseln. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis das passieren würde. Ich hatte damit gerechnet.« Er stieg in den Wagen. »Bis später.«

Sie hatte ihn verletzt. Sie spürte seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener. Gott, sie konnte einfach nicht zulassen, dass er ihr das antat. Sie verdrängte ihn aus ihren Gedanken und blockierte ihm den Zugang zu ihr. Das war schon besser. Sie war stärker, als sie gedacht hatte. In den vergangenen Tagen hatte sie eine Menge von ihm gelernt. Bald würde sie sich ganz von ihm befreien können. Keine Nähe. Keine Verbindung mehr.

Quälender Schmerz. Schreckliche Einsamkeit.

Sie würde drüber hinwegkommen. Eine solch süchtig machende Nähe war ungesund, und Silver hatte bewiesen, dass man ihm nicht trauen konnte. Dass er sie mit den allerbesten Absichten manipuliert hatte, zählte nicht. Er befand sich in einer Machtposition und hatte seine Macht missbraucht.

Sie schaute ihm nach, als er zurücksetzte und die Einfahrt hinunterfuhr. Es war das erste Mal seit Tagen, dass er sich ohne sie auf den Weg machte. Konnte es sein, dass Trask schon auf ihn wartete?

Ich stehe an zweiter Stelle auf Trasks Abschussliste.

Warum machte sie sich Sorgen um ihn, wo sie doch wild entschlossen war, sich aus dieser ungewöhnlichen Beziehung zu befreien? Ledbruks Leute würden Silver folgen und ihn beschützen. Verdammt, sie würde nicht hier stehen bleiben und ihm nachschauen, wie er auf die Straße fuhr. Sie musste sich ihn vom Leib halten. Sich um ihr eigenes Leben kümmern. Eine Möglichkeit finden, Trask endlich ausfindig zu machen.

Sie drehte sich um und ging ins Haus, um nach George zu suchen.

George telefonierte gerade, als Kerry in die Bibliothek kam, legte jedoch sofort auf. »Ja?«

»Was haben Sie über diese Helen in Erfahrung gebracht?«

Er hob die Brauen. »Sie haben aber lange gebraucht, um sich nach ihr zu erkundigen.«

»Ich tue es jetzt. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Das war nicht zu übersehen. Ich hatte gehofft, Brad ein bisschen in Schutz nehmen zu können, offenbar waren Sie jedoch nicht ansprechbar.«

»Nein, aber jetzt bin ich ansprechbar. Was haben Sie herausgefunden?«

»Ich glaube, der volle Name der Dame lautete Helen Saduz.«

George ging die Papiere durch, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Hier.« Er reichte ihr das Dossier.

»Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es ein falscher Name war und sie sich illegal in den USA aufhielt.«

»Ist das der Grund, warum uns niemand sagen konnte, wer sie war?«

Er schüttelte den Kopf. »Niemand hat uns etwas gesagt, weil niemand wollte, dass herauskommt, was mit ihr passiert ist.«

Sie runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Erinnern Sie sich, dass in dem Bericht stand, Trasks Labor sei auf Befehl des Weißen Hauses in die Luft gesprengt worden?«

Sie nickte.

»Nun, die Frau befand sich zu dem Zeitpunkt in dem Labor.«

Kerrys Augen weiteten sich. »Wie bitte?«

»Bum«, sagte George mit einer eindeutigen Geste.

»Das Labor ist in die Luft geflogen und Helen Saduz gleich mit.«

»Wie konnte das passieren?«

»Ich glaube, Trask hatte sie dorthin geschickt, um etwas zu holen, was er zurückgelassen hatte.«

»Was denn?«

George zuckte die Achseln. »Papiere, vielleicht irgendein Prototyp … Jedenfalls hatte sie das Pech, in dem Gebäude zu sein, als es gesprengt wurde.«

»Haben die das Gebäude denn nicht vorher durchsucht?«

»Das Gebäude war versiegelt. Eigentlich hätte also niemand da drin sein können. Falls das Gebäude durchsucht wurde, dann sicherlich nur flüchtig.«

»Wie kann sie denn da reingekommen sein, wenn das Gebäude versiegelt war?«

»Trask muss ihr gesagt haben, wie sie das bewerkstelligen konnte. Offenbar war es ihm ja auch gelungen, an den Wachen vorbei hineinzugelangen, um Komponenten und Aufzeichnungen anderer Mitarbeiter zu stehlen, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat.«

Kerry betrachtete das Foto, das George ihr gegeben hatte. Die Frau war brünett, etwa Ende zwanzig und hatte klassische Gesichtszüge. »Sie ist sehr schön.«

Er nickte. »Allerdings. Eine Frau, die man nicht vergisst. Und genau das hat uns geholfen. Denn es gab nicht mehr viel zu identifizieren, als man ihre Asche gefunden hat. Anhand des Skeletts konnte man das Alter und das Geschlecht feststellen, aber alles andere beruhte nur auf Vermutungen. Keiner seiner Mitarbeiter hatte Trask jemals mit ihr zusammen gesehen, doch das war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Er war ein Einzelgänger und verkehrte mit keinem seiner Kollegen. Aber die CIA-Leute haben sämtliche Restaurants abgeklappert, die Trask gern aufsuchte, und gleich mehrere Kellner konnten sich an sie erinnern. Nach deren Beschreibungen wurde ein Phantombild angefertigt, das dann an die Datenbank geschickt wurde. Und da sind sie auf Helen Saduz gestoßen.«

»Eine Griechin?« Helen überflog das Dossier. Plötzlich erstarrte sie. »Ihr Vater war Iraner?«

»Genau. Trask verhandelte wahrscheinlich schon mit dem Iran, bevor das Projekt ausgereift war. Und die haben Helen Saduz geschickt, um den Deal perfekt zu machen. Sie war klug, sehr gebildet und sehr versiert in der Kunst, Männer dazu zu bringen, dass sie taten, was sie wollte. Wie Sie dem Dossier entnehmen können, war sie eine Agentin, die mit Hilfe von Sex mindestens vier Wissenschaftler auf die Seite des Iran gelockt hat.«

Kerry blickte von dem Dossier auf. »Sogar Trask hat sie reingelegt. Er hat sie geliebt. Vielleicht ist das ein zusätzlicher Grund dafür, dass er jeden töten will, der mit der Sprengung des Labors zu tun hatte.«

»Vergessen Sie nicht, dass er es war, der sie dorthin geschickt hat. Er mag vielleicht nicht gewusst haben, dass das Gebäude gesprengt werden sollte, aber er wusste ganz sicher, dass er sie damit in Gefahr brachte.«

»Stimmt. Aber vielleicht hat sie ihn auch dazu überredet, sie die Sachen holen zu lassen. Damit hätte sie ihn noch stärker an sich binden können.«

»Möglich. Und sie hätte wertvolle Aufzeichnungen in die Hände bekommen, die sie hätte fotografieren können, bevor sie sie Trask übergab.«

»Aber warum wollten die Behörden unbedingt verhindern, dass bekannt wurde, dass sie in dem Gebäude ums Leben gekommen ist?«

»Die CIA hat sich eingeschaltet, nachdem feststand, wer sie war. Sie gehen davon aus, dass die iranische Regierung mit dem Spionagefall zu tun hat. Sie war in Regierungskreisen gut bekannt und vielleicht haben die eine gute Gelegenheit gewittert. Die CIA wollte ihren Tod verheimlichen. Die haben den Präsidenten dazu überredet, die Akten aus dem Verkehr zu ziehen und ihnen die Ermittlungen zu überlassen. Sie schicken regelmäßig Nachrichten an ihren Kontaktmann im Iran, in der Hoffnung, einen Beweis zu finden, dass die Regierung in die Sache verwickelt ist.« Er verzog das Gesicht. »Deswegen wurden alle Informationen über sie gelöscht. Keine undichte Stelle.«

»Schon wieder so ein streng geheimer Fall, bei dem Informationen nur an solche Stellen weitergegeben werden, die unbedingt Bescheid wissen müssen? Lieber Himmel, tauschen die CIA und das FBI denn überhaupt keine Informationen aus?«

»So wenig wie möglich. Selbst die Leute von der Homeland Security schaffen es nicht, dieses bürokratische Gestrüpp zu durchdringen.«

»Aber Trask verhandelt nicht mehr mit dem Iran. Sie sagten, er macht jetzt Geschäfte mit Nordkorea. Wieso?«

George schüttelte den Kopf. »Da Sie offenbar so einen guten Draht zu ihm haben, könnten Sie ihn ja einfach danach fragen.

Hat er sich wieder bei Ihnen gemeldet?«

»Nein.« Aber sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war.

Sie spürte regelrecht, wie er … auf eine Gelegenheit lauerte.

»Und von Dickens gibt es auch keine Spur?«

»Sie wären die Erste, die es erfahren hätte, wenn Ledbruk ihn gesichtet hätte. Keine Spur von irgendeinem Verdächtigen im und ums Krankenhaus. Niemand folgt Ihnen auf Ihren täglichen Ausflügen.«

Was war los mit Trask? Ihr Instinkt sagte ihr, dass er die Niederlage am Lagerhaus auf keinen Fall hinnehmen würde, ohne sich zu rächen.

»Keine Sorge, hier sind Sie in Sicherheit«, sagte George, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Ich habe dafür gesorgt, dass Ledbruk seine besten Leute auf Sie abgestellt hat. Sie werden keinen Fehler machen und riskieren, dass Ihnen etwas zustößt.«

»So wie bei Joyce Fairchild?«

George zuckte zusammen. »Touché. Aber die sind klug genug, um aus ihren Fehlern zu lernen.«

»Das hoffe ich.« Sie senkte ihren Blick. »Silver ist unterwegs, um Rosa Ruiz abzuholen.«

»Ja, das sagte er mir.«

»Ach? Nun, ich möchte nicht, dass ihr etwas passiert.« Sie wandte sich ab. »Und ich möchte auch nicht, dass Silver etwas zustößt.«

»Obwohl Sie so wütend auf ihn sind?«

»Das spielt keine Rolle.«

George lehnte sich zurück und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Nein, da haben Sie Recht.

Sie beide sind einander sehr verbunden.«

Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie schaute ihn an. »Was soll das denn heißen?«

George machte ein unschuldiges Gesicht. »Wieso? Habe ich etwa einen wunden Punkt getroffen?«

»Wenn ja, dann war es Absicht.«

»Die Diskretion verbietet mir zuzugeben, dass ich auch nur entfernt darauf angespielt habe, dass Sie miteinander schlafen.«

Seine Direktheit überraschte sie. Sie war davon ausgegangen, dass George nicht entgangen war, dass sie ein Liebespaar waren, aber sie hätte nie damit gerechnet, dass er es erwähnen würde.

Wieso also ausgerechnet jetzt? Aus heiterem Himmel? »Diese Bemerkung war alles andere als diskret.«

Sie musterte ihn. »Und sie passt nicht zu Ihnen. Kann es sein, dass das ein Ablenkungsmanöver war?«

Er lachte in sich hinein. »Absolut. Meine subtilen Anzüglichkeiten haben mir Spaß gemacht, aber ich hätte mir denken können, dass Sie meinen Bluff durchschauen.«

»Dann legen Sie Ihre Karten auf den Tisch.«

Er lächelte immer noch. »Während Sie in Marionville waren, habe ich der Georgetown University einen Besuch abgestattet.

Auf dem Campus ist es ein offenes Geheimnis, dass das Institut für Hydrostatik nicht das ist, was es zu sein scheint. Es gibt alle möglichen Gerüchte über die Leute, die in dem Gebäude aus und ein gehen. Es wird sogar über Verbindungen zur CIA gemunkelt. Also habe ich nach meiner Rückkehr ein paar alte Freunde bei der CIA angerufen, die mir noch was schuldig waren.«

»Und?«

»Sieht so aus, als wäre die CIA Brad Silver auch etwas schuldig, und zwar für ein paar sehr außergewöhnliche, man könnte sogar sagen merkwürdige Gefälligkeiten.«

Er legte den Kopf schief. »Und da habe ich mich gefragt, wenn Brad so eine Art parapsychologischer Guru ist, was sind Sie dann, Kerry?«

»Ich bin davon überzeugt, dass Sie die Antwort darauf längst gefunden haben.«

»Allerdings. Und sie hat mich fasziniert. Das Leben findet doch immer wieder Mittel und Wege, unsere Existenz kurzweilig zu gestalten.«

»Glaubhafte Mittel und Wege?«

Er nickte. »Wollen Sie wissen, ob ich Sie und Brad für verrückt halte? Ich würde meinen Hals nicht mit etwas riskieren, was Sie in meinen Gedanken ›lesen‹ könnten, aber im Prinzip bin ich für alles offen. Ich habe schon genug abstruse Situationen erlebt, um zu wissen, dass sich gewöhnlich unter der Oberfläche wesentlich mehr abspielt, als wir wahrnehmen.«

»Und was wollen Sie jetzt deswegen unternehmen?«

»Gar nichts. Warum sollte ich? Ich konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, Sie wissen zu lassen, dass ich im Bilde bin. Das war ich meinem Ego schuldig. Was das Ausmaß Ihres Talents angeht, das interessiert mich eigentlich nicht, jedenfalls nicht, solange ich nicht davon betroffen bin. Sie können doch nicht etwa meine Gedanken lesen, oder?«

»Nein.«

»Und Brad?«

Sie zögerte. »Es ist das Letzte, was er tun würde.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« Er schnitt eine Grimasse. »Oder vielleicht doch. Vielleicht fühle ich mich bei der ganzen Sache doch nicht so wohl, wie ich dachte. Am besten, wir konzentrieren uns darauf, Trask so schnell wie möglich zu fassen, bevor ich das Weite suche.«

Es machte ihn nervös. Das war verständlich. Es war die Reaktion, die sie fürchtete, seit dem Tag damals in der Klinik, als Travis ihr offenbart hatte, was für ein Talent sie besaß. Aber aus irgendeinem Grund störte es sie, dass selbst George davon betroffen war. Verdammt, sie mochte ihn. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Wir konzentrieren uns schon seit Tagen auf nichts anderes.«

»Aber ich habe Ihnen beiden die Hauptarbeit überlassen. Ich denke, ich sollte ein bisschen mehr Einsatz zeigen, damit es schneller geht.« Er nahm sein Telefon.

»Ich werde mir ein paar Gedanken darüber machen. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«

Das war eine eindeutige Aufforderung an sie, zu gehen.

Irgendwie hatte sein Verhalten sich geändert. Sein spöttischer Unterton war verschwunden. »Nein, ich habe bekommen, was ich wollte. Ein weiteres Puzzleteil.« Sie wandte sich zum Gehen. »Helen Saduz.«

»Kerry.«

Sie schaute ihn über die Schulter hinweg an.

Er lächelte. »Ich halte Sie nicht für verrückt. Aber ich lege großen Wert auf meine Privatsphäre und ich muss mich vor Brad schützen. Ich habe zu viele Geheimnisse.«

»Das haben wir doch alle.« Diesmal war ihr Lächeln echt. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Aber ich glaube, Sie können ihm vertrauen.«

»Vertrauen Sie ihm?«

Ihr Lächeln verschwand. »Nein, verdammt. Aber unsere Beziehung ist … anders. Man braucht ihm nicht besonders nahe zu kommen, um ein Problem mit ihm zu haben.«

George warf den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft.

»Gott, das hoffe ich doch. Ich bin wirklich nicht in Versuchung, mit ihm ins Bett zu gehen.«

»Sehr gut.« Sie öffnete die Tür. »Die Situation ist auch so schon kompliziert genug.«

15

Um neun Uhr abends rief Silver an. »Rosa Ruiz ist in Sicherheit.

Sie ist in einem netten kleinen Haus in der Nähe des Krankenhauses untergebracht, wo Agent Jane Dorbin sich um sie kümmert.«

»Ist Agent Dorbin die Einzige, die mit diesem Auftrag betraut wurde?«

»Nein, mehrere Geheimdienstler, die zu ihrem Schutz abgestellt wurden, haben das Nachbarhaus bezogen. Aber ich dachte, du wärst in erster Linie um ihr emotionales Wohlergehen besorgt.«

»Das bin ich auch. Wie geht es ihr denn? Hat sie Angst?«

»Ja. Aber nicht genug, um zurück nach Hause zu wollen. Sie will bei ihrer Schwester bleiben. Carmela wird morgen entlassen. Ich werde sie im Krankenhaus abholen und sie zu Rosa bringen.«

»Lass mal. Ich würde das gern übernehmen.«

»Um dich davon zu überzeugen, dass sie sich geborgen fühlt.«

Er holte tief Luft. »Meinst du nicht, du könntest dich auf mein Urteil verlassen?«

Sie wich seiner Frage aus. »Ich möchte mich einfach davon überzeugen, dass die beiden zusammenkommen und sich sicher fühlen.«

Silver fluchte leise. »Himmel, du kannst mir doch nicht immer wieder misstrauen.« Als sie schwieg, fügte er verbittert hinzu:

»Anscheinend doch. Ich bringe dich morgen früh um zehn zum Krankenhaus. Wir holen Carmela gemeinsam ab.« Dann legte er auf.

»Mann, Sie fahren ja im Kreis herum.« Carmela sah Silver argwöhnisch an. »Bringen Sie mich auch wirklich zu meiner Schwester?«

»Ja. Hast du denn nicht gestern Abend mit ihr telefoniert?«

Sie nickte. »Aber woher soll ich wissen, ob man ihr nicht was vorgemacht hat? Sie ist noch ein Kind.« Sie wandte sich an Kerry. »Kein Scheiß? Sie schicken uns nicht zurück zu unserer Mutter?«

»Kein Scheiß«, sagte Kerry. »Wir wollen euch nur in Sicherheit bringen. Silver ist im Kreis gefahren, weil er fürchtete, jemand könnte uns vom Krankenhaus aus folgen,«

»Und? Ist uns jemand gefolgt?«

Silver schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Reden Sie nicht drum herum!«, fauchte Carmela.

»Ich will mir ganz sicher sein. Ich will nicht, dass Rosa was zustößt.«

»Rosa wird nichts zustoßen«, sagte Kerry. »Du kannst Silver vertrauen, Carmela.«

»Wirklich?«

»Ach, tatsächlich?«, murmelte Silver. »Ich bin ja direkt gerührt, dass du das sagst.«

Kerry ignorierte seine Bemerkung. »Er wird nicht zulassen, dass dir oder Rosa etwas geschieht. Und ich auch nicht«, fügte sie hinzu. »Wir müssen einfach sehr vorsichtig sein.«

»Klar, wegen diesem Bekloppten«, sagte Carmela. Sie schwieg einen Moment. »Ich vertraue Ihnen ja auch – meistens jedenfalls. Es ist nur … nicht so einfach. Woher soll ich wissen, ob es diesen Trask wirklich gibt?«

»Das kann ich verstehen«, erwiderte Kerry. »Manchmal fällt es mir auch schwer, zu glauben, dass es ihn gibt. Ich wünschte, er wäre nur eine Ausgeburt meiner –« Sie brach ab, als Silver vor einem kleinen Backsteinhaus hielt. »Sind wir da?«

Silver nickte, schaltete den Motor ab und stieg aus.

»Wartet hier. Ich gehe rein und sage Agent Dorbin, dass ihr keine Gefahr bedeutet. Sie wird mir glauben.« Er ging auf die Haustür zu. »Auch wenn ihr beiden mir nicht über den Weg traut.«

»Ich dachte ja nicht, dass er mich reinlegen wollte«, sagte Carmela zögernd zu Kerry. »Es ist … Rosa. Ich habe kein Recht zu … Ich traue ihm.«

»Er hat nur gescherzt. Er versteht das.«

»Das hoffe ich.« Sie verzog das Gesicht. »Wissen Sie, ich meine … Es ist seltsam, aber ich möchte nicht, dass er weiß …

Es kommt mir so vor, als würde ich ihn schon mein Leben lang kennen. Nein, das ist es nicht. Es ist –«

Sie unterbrach sich, sichtlich verwirrt. »Egal. Ich weiß einfach nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

Zusammen sein. Verbunden sein.

Wahrscheinlich war mit so etwas zu rechnen gewesen, dachte Kerry, nachdem Silver in Carmelas Psyche eingedrungen war.

Offenbar hatte er ein bisschen was zurückgelassen. »Du fühlst dich ihm irgendwie verbunden?«

»Ja, so ungefähr.« Carmela zuckte die Achseln. »Irgend so was. Sie auch?«

»In gewisser Weise. Jedenfalls glaube ich nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen –«

»Da ist sie ja!« Carmela sprang aus dem Wagen, als ein schmales, dunkelhaariges Mädchen in der Tür erschien. »Rosa!«

Kerry stieg langsam aus und sah zu, wie Carmela auf ihre Schwester zurannte. Carmela strahlte vor Glück. In diesem Augenblick wirkte sie wesentlich jünger als fünfzehn. So sollte sie eigentlich immer aussehen, dachte Kerry. So sollten alle Kinder aussehen. Voller Leben. Ohne Verdacht. Ohne Sorgen.

Carmela blieb vor ihrer Schwester stehen. »Alles in Ordnung?«

Rosa nickte. »Und bei dir?«

»Klar.« Unbeholfen nahm sie Rosa in die Arme. »Es wird alles gut. Das verspreche ich dir.«

»Dann hör auf, so einen rührseligen Zirkus zu veranstalten. Ich komm mir ja ganz komisch vor.«

Kerry musste innerlich grinsen über die typische Reaktion dieser beiden Heranwachsenden. Dass die Schwestern sich mochten, war nicht zu übersehen, aber auch, dass sie das beide nicht gerade überschwänglich zeigten. Tja, so waren Teenager nun mal. Die meisten würden sich eher die Zunge abbeißen, als offen zuzugeben, dass sie ihre Geschwister liebten.

»Rührend, was?«, meinte Silver, als er auf Kerry zukam.

»Reicht das, um dein kaltes Herz zu erwärmen?«

»Sei nicht so sarkastisch.« Sie sah, wie Carmela und Rosa ins Haus gingen und die Tür hinter sich schlossen.

»Es wärmt mir tatsächlich das Herz.«

»Das war nicht sarkastisch gemeint.« Sein Lächeln verschwand. »Und du kennst mich inzwischen gut genug, um das zu wissen. Ich bin froh, dass wir es geschafft haben, die beiden zusammenzubringen. Willst du reingehen und Rosa kennen lernen? Sie ist ein nettes Mädchen.«

Kerry schüttelte den Kopf. »Später. Ich will sie erst mal ein bisschen allein lassen.« Sie schaute ihm in die Augen.

»Allerdings frage ich mich, ob Carmela jemals wieder allein sein wird. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du immer noch mit ihr verbunden bist?«

»Sie weiß es?« Er runzelte die Stirn. »Es ist nur ein ganz schwacher Rest. Das gibt sich wahrscheinlich mit der Zeit.«

»Du hast nicht mit Absicht einen Rest bei ihr hinterlassen?«

»Verdammt, glaubst du etwa, es macht mir Spaß, mit allen möglichen Leuten verbunden zu sein? Wenn es eins gibt, was ich aus unserer Beziehung gelernt habe, dann, dass ich das nie wieder erleben möchte.«

Gott, sie fühlte sich tatsächlich gekränkt. Nicht dass sie das Recht dazu hatte. Es war genau dasselbe, was sie sich schon die ganze Zeit sagte. »Dito.« Sie wandte sich ab. »Ich gehe jetzt rein. Kommst du mit?«

»Nein. Ich will erst noch George anrufen und hören, ob es was Neues gibt.« Er ging zum Wagen. »Ich habe übrigens eine Pflegefamilie für Carmela und Rosa gefunden, die sie aufnimmt, wenn das hier vorbei ist und keine Gefahr mehr besteht.«

»Wo denn?«

»In der Nähe der Georgetown University. Das ist eine ruhige Gegend, ich kenne da sehr nette Leute, die bereit sind, sich um die beiden zu kümmern.«

»Normale Leute?«

»Ja«, erwiderte er ernst. »Ich kenne tatsächlich ein paar normale Leute, Kerry. Obwohl ich zugeben muss, dass ich Verrückte wie dich bevorzuge.«

»Verdammt, ich bin nicht –« Er hatte nur gescherzt. Wenn sie nicht so angespannt wäre, hätte sie nie so gereizt darauf reagiert.

»Ich möchte einfach nicht, dass sie denken, die ganze Welt wäre voll von Leuten wie … Die beiden haben schon genug durchgemacht, es muss nicht sein, dass ihnen auch noch ihr Weltbild ins Wanken gerät und –«

»Ich weiß.« Er lächelte. »Hör auf, mir alles erklären zu wollen.

Das brauchst du bei mir nicht.«

Genau das war das Problem, dachte sie verzweifelt. Sie war wütend und aufgebracht, trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass es etwas Tröstliches hatte, sich von ihm vollkommen verstanden und akzeptiert zu fühlen. Es war beinahe so verführerisch wie mit ihm zu schlafen.

»Vergiss es«, murmelte er, während er die Wagentür öffnete.

»Mach dir nichts vor, Kerry. Dir nicht und mir auch nicht.«

Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg, als sie auf das Haus zuging. Sie hätte sich denken können, dass er den einen Gedanken, den sie ihm vorenthalten wollte, sofort mitbekam.

»Sag mir Bescheid, falls George was Neues in Erfahrung gebracht hat.«

»Es wird schon nichts so Dringendes sein, dass es sich lohnt, dich deswegen zu stören.« Er nahm sein Handy.

»Sonst hätte er sich schon längst gemeldet. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich dich nicht außen vor halten werde.«

Die Betonung auf dem dich war ihr nicht entgangen.

»Himmel, nach allem, was du getan hast, willst du mir jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen einreden?«

»Das war nur eine Feststellung.«

Sie warf ihm einen verzweifelten Blick zu, bevor sie die Klingel drückte. »Scher dich zum Teufel, Silver!«

»Irgendwas Neues?«, fragte Kerry, als sie eine Stunde später ins Auto stieg.

»Alles ruhig an der Front. Keinerlei verdächtige Bewegungen in der Nähe der Leute, die Ledbruk bewachen lässt«, sagte George.

»Und wo ist Trask?« Müde schüttelte sie den Kopf. »Und was zum Teufel treibt er die ganze Zeit?«

Silver ließ den Motor an und fuhr los. »Zumindest weißt du jetzt, dass Carmela und Rosa in Sicherheit sind, darüber müsstest du dich doch eigentlich freuen.«

»Ja, das tue ich auch.« Sie knabberte an ihrer Unterlippe. »Bist du dir ganz sicher, dass uns niemand hierher gefolgt ist?«

»Ich glaube es nicht, aber sicher bin ich mir natürlich nicht.

Heutzutage sind so viele High-Tech-Überwachungsgeräte mit großer Reichweite auf dem Markt, dass Dickens oder Trask uns folgen könnten, ohne dass wir sie je zu Gesicht bekommen würden.«

»Sehr beruhigend.«

»Es ist eine ehrliche Antwort. Du wolltest nicht beruhigt werden, sondern die Wahrheit hören.«

Er hatte Recht. Sie konnten nur überleben, wenn sie der Wahrheit ins Gesicht sahen. »Wahrscheinlich hatte ich insgeheim gehofft, eine Bestätigung für die Annahme zu erhalten, dass Trask Carmela von seiner Liste gestrichen hat.«

»Möglich ist alles. Aber dann müssten wir uns fragen, wen er als Nächstes aufs Korn genommen hat.«

»Tja, logischerweise wäre ich –« Sie brach ab, als ihr Handy klingelte. Sie nahm es aus ihrer Handtasche.

»Na, wie geht es unserer kleinen Carmela? Hat sie sich gut erholt?«

Trask.

Kerry holte tief Luft. »Es geht ihr gut, Trask. Und sie wird sehr gut beschützt. Sie werden nicht an die Mädchen rankommen.«

Silver fluchte vor sich hin, fuhr an den Straßenrand und hielt.

»Oh, da irren Sie sich. Man kommt an jeden heran. Das erfordert nicht mehr als eine sorgfältige Planung und die richtigen Hilfsmittel.«

»Heißt das, dass Sie es versuchen werden?«

»Vielleicht. Sie bedeutet für mich eine unerledigte Aufgabe und das wurmt mich. Sie hat auf jeden Fall Priorität, da Firestorm seine Mission nicht ganz erfüllt hat. Ich muss mir nur noch überlegen, wie hoch oben sie auf meiner Liste steht.«

»Sie vergeuden meine Zeit. Warum rufen Sie mich an, Trask?«

»Ich fand, es war mal wieder an der Zeit. Mir fehlte der persönliche Kontakt mit Ihnen, aber ich habe Geduld. Ich wollte Sie schon seit Tagen anrufen, jedoch war ich mit meinen Plänen beschäftigt.«

»Was für Pläne?«

»Nun, ich muss Ihnen schließlich beweisen, dass Sie weder mich noch Firestorm geschlagen haben, als Sie die kleine Latina retteten. Das war erst die Vorrunde zu unserem Zweikampf.«

»Antworten Sie mir. Werden Sie wieder versuchen, sie zu töten?«

»Möglich. Es geht doch nichts über ein schönes Geheimnis.

Ich denke, ich werde Sie diesbezüglich noch ein bisschen im Dunkeln lassen. Eigentlich ist das der Grund für meinen Anruf.

Ich möchte spüren, wie Sie sich Sorgen machen, vielleicht sogar ein bisschen in Panik geraten. Die Vorstellung ist äußerst befriedigend für mich.«

»Ich bin nicht in Panik und das Sorgenmachen überlasse ich den Behörden.«

Er lachte in sich hinein. »Das glaube ich Ihnen nicht. Ihnen liegt viel zu sehr daran, die Dinge so zu beeinflussen, dass alles nach Ihren Vorstellungen läuft. Das liegt in Ihrer Natur. Sie sind genauso wie ich.«

»Ich bin in keiner Hinsicht wie Sie.«

»Das werden Sie schon noch begreifen. Wenn Sie Firestorm am Werk sehen.«

»Das habe ich bereits. Ich fand es zum Kotzen.«

»Sie machen sich etwas vor. Als Sie gesehen haben, wie das Lagerhaus in Flammen aufging, hat sich da nicht ein bisschen Erregung in Ihren Schrecken gemischt?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Geben Sie sich keine Mühe. Sie würden mir ohnehin nicht die Wahrheit sagen. Aber beim nächsten Mal werde ich es an Ihrem Gesicht ablesen können. Darauf freue ich mich jetzt schon. Ich melde mich wieder.« Er legte auf.

Ihre Finger zitterten, als sie das Handy ausschaltete.

»Dieser Dreckskerl!«

»Keine Frage. Hat er irgendwas Brauchbares gesagt?«

»Nein. Er wollte nur meine Stimme hören.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich habe ihm gefehlt.«

»Hat er was von Carmela gesagt?«

»Er weiß, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er meinte, sie würde ganz oben auf seiner Prioritätenliste stehen.«

Sie holte tief Luft. »Ruf Agentin Dorbin an und sag ihr, dass wir Alarmstufe Rot haben.«

Silver nahm sein Handy. »Vielleicht weiß er gar nicht, wo die beiden sind. Womöglich hat er nur die Information vom Krankenhaus, dass Carmela heute entlassen wurde.«

»Oder er ist uns gefolgt. Du hast selbst gesagt, dass es möglich ist.«

»Hat er gesagt, dass er sie töten will?«

Sie schüttelte den Kopf. »Der Mistkerl macht sich einen Spaß daraus, mich zu quälen, verdammt. Er hat gesagt, man könne an jeden rankommen, wenn man über die richtigen Hilfsmittel verfügt.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Wir dürfen nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt, Silver.«

Er nickte, während er die Nummer wählte. »Ich widerspreche dir ja nicht. Ich rufe zuerst Agent Dorbin und dann Ledbruk an.«

Während er telefonierte, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und betrachtete die kleinen, adretten Häuser zu beiden Seiten der Straße. Dieser hübsche Vorort war wie Hunderte andere in hundert anderen Städten. Es schien unmöglich, dass ein Monster wie Trask hier sein Unwesen trieb.

Aber es war nicht unmöglich. Für Trask war nichts unmöglich.

Er war vollkommen unberechenbar.

Nein, er war nicht unberechenbar. Nicht wenn sie sich auf das konzentrierte, was sie über ihn wusste. Sie musste einfach ihre Panik in den Griff bekommen und versuchen, ihm immer einen Schritt voraus zu sein.

»Erledigt.« Silver hatte seine Gespräche beendet.

»Carmelas Schutztruppe wird verdoppelt. Obwohl Ledbruk das für überflüssig hält. Er meinte, die Sicherheitsleute, die er zu ihrem Schutz abgestellt hat, würden ausreichen.«

»Vielleicht. Falls Trask allein arbeitet. Aber er hat was von

›ausreichenden‹ Hilfsmitteln gesagt.«

»Dickens?«

Sie zuckte ratlos die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, dass … Wir werden sehen.«

Silver ließ den Motor an. »Sicher. Aber wir können nicht abwarten, bis –«

»Fahr zurück.«

Er schaute sie an. »Warum?«

»Ich möchte, dass du mich zu Carmela und Rosa bringst. Ich werde bei ihnen bleiben.«

Silver fluchte leise vor sich hin. »Den Teufel wirst du tun!«

»Was hast du dagegen? Wenn die beiden in dem Haus in Sicherheit sind, bin ich es auch.«

»Das heißt noch lange nicht, dass du sie höchstpersönlich beschützen musst.«

»Doch, das heißt es. Denn ich bin die Einzige, die vielleicht merkt, wenn Trask in der Nähe des Hauses herumschleicht.

Vielleicht kann ich ihn aufhalten, bevor er zuschlägt. Du weißt, dass ich Recht habe.«

Seine Lippen spannten sich. »Dann bleibe ich auch da.«

»Nein.«

»Was ist, wenn er nicht allein kommt? Was ist, wenn er jemand anderen schickt, um Carmela zu töten? Trask ist der Einzige, dessen Schwingungen du aufnehmen kannst. Du brauchst mich.«

Aber sie wollte nicht in dem winzigen Haus mit ihm zusammen sein. Es war schon anstrengend genug, in seiner Villa mit den vielen Zimmern zu wohnen. »Trask ist der Einzige, der mir Angst macht. Alle anderen können Ledbruks Leute übernehmen.«

»Aber ich mache mir Sorgen und ich –«

»Nein, Silver.« Sie wandte sich ab. »Ich will dich nicht in meiner Nähe haben. Also, bringst du mich jetzt zu den beiden oder soll ich zu Fuß gehen?«

Er sah sie frustriert an, dann trat er das Gaspedal durch. »Ich bringe dich hin, verdammt.«

Dickens hatte gute Arbeit geleistet.

Das Farmhaus war beinahe perfekt.

Zufrieden und mit einem Anflug von Wehmut betrachtete Trask das zweistöckige Holzhaus mit der großen Veranda. Er hatte gewusst, dass er dieses wunderbare Déjà-vu-Gefühl empfinden würde, wenn er das richtige Haus fand. Und es bestand kein Zweifel daran, dass dies das richtige war. Es würde den idealen Ort abgeben, um Firestorm gemeinsam mit Kerry zu genießen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünf vor sechs.

Fast war es so weit.

Die Haustür wurde geöffnet, dann trat ein massiger, grauhaariger Mann auf die Veranda und ging die Stufen hinunter. Lon Mackey machte sich auf den Weg zu dem etwas abgelegenen Stall, um die Kühe zu füttern.

»Beeil dich!«, rief seine Frau Janet ihm nach. »Heute Abend kommt Wheel of Fortune. «

Mackey lachte. »Ich habe noch fast eine Stunde Zeit. Soll ich vielleicht wegen dieser albernen Sendung die Kühe hungern lassen?« Ohne auf eine Antwort zu warten ging er gemütlich in Richtung Stall.

Nachdem Mackey durch die Stalltür verschwunden war, löste Trask sich aus dem Schatten der Bäume und folgte ihm. Das einzige Problem an dem Haus war, dass Leute darin wohnten.

Aber dieses Hindernis würde Firestorm mit Leichtigkeit aus dem Weg räumen.

Dann würde das Farmhaus absolut perfekt sein.

»Was gibt’s da draußen zu sehen?«

Als Kerry sich umdrehte, sah sie Carmela in der Tür stehen.

»Nichts.« Sie trat vom Fenster weg. »Nur ein paar Jungs, die vor der Garage am Haus gegenüber Basketball spielen.«

Carmela kam zu ihr herüber und schaute aus dem Fenster.

»Rosa spielt auch Basketball. Sie ist sogar ziemlich gut.«

»Dann pass auf, dass sie nicht nach draußen geht und die Jungs fragt, ob sie mitspielen darf.«

Carmela setzte eine genervte Miene auf. »Es ist gar nicht so einfach, Rosa von irgendwas abzuhalten.«

»Ich meine es ernst, Carmela.«

»Ich hab gesagt, es ist nicht so einfach, ich hab nicht gesagt, es ist unmöglich. Ich passe schon auf, dass sie keine Dummheiten macht.« Dann fügte sie verlegen hinzu: »Ich weiß, dass Sie gestern Abend nicht zurückgekommen wären, wenn Sie nicht wirklich Angst hätten.«

»Ich habe keine Angst.«

»Von wegen!«

Kerry lächelte. »Also gut, du hast Recht. Ich habe Angst. Aber vielleicht ist das gut so. Wenn man Angst hat, ist man besonders vorsichtig.«

»Ist er in der Nähe?«

Kerry schüttelte den Kopf. »Aber es besteht die Möglichkeit, dass er versucht, in die Nähe zu gelangen.«

»Aber Sie werden uns beschützen.«

»Ich und Agent Dorbin und all die Männer im Haus nebenan.«

»Ich würde mich viel lieber auf Sie und Mr Silver verlassen.«

»Deswegen bin ich ja hier.« Sie schaute wieder zu den Basketballspielern hinaus. Es war Samstag, und es sah nicht danach aus, als würden die Jungs bald ins Haus gehen. Das Spiel könnte allzu verlockend für Rosa werden. »Komm, wir holen Rosa und schauen mal, ob irgendwas Interessantes im Fernsehen kommt.«

»Wir könnten uns die Wiederholungen von Buffy ansehen.«

»Vormittags?«

»Die laufen doch zu jeder Tageszeit.«

Kerry lächelte. »Gott, wie aufregend!«

»Sie müssen sich Buffy unbedingt ansehen«, sagte Carmela bestimmt. »Aber es kann ein bisschen verwirrend werden, wenn Sie die Leute nicht kennen. Ich kann Ihnen aber alles erklären, wenn wir –«

Kerrys Handy klingelte.

Sie zuckte zusammen, dann ging sie an den Tisch, wo sie ihr Handy abgelegt hatte.

»Kerry?«

Nicht Trask. Es war Silver. Erleichtert atmete sie auf.

»Ja?«

»Ich bin unterwegs, um dich abzuholen.«

»Ich fahre nirgendwohin. Ich hab dir doch gesagt –«

»Ivan Raztov ist tot.«

Sie erstarrte. »Was?«

»Eine Autobombe in seinem Jeep. Hat ihn komplett in Stücke gerissen. Er war gerade in die Tiefgarage des Gebäudes gefahren, in dem er wohnte.«

»Wie konnte das passieren? Ledbruks Leute überwachen ihn doch rund um die Uhr.«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich habe nur von Ledbruk erfahren, dass er tot ist. Wir werden mehr erfahren, sobald wir dort sind.«

»Wann ist es passiert?«

»Vor vierzig Minuten. Ich dachte, du würdest dir den Unglücksort gern ansehen, vielleicht kannst du ja was rausfinden. Du hast doch gesagt, dass du manchmal an einem Brandort Schwingungen aufnehmen kannst.«

Vierzig Minuten. Während sie diese Jungs beim Basketballspielen beobachtet und versucht hatte, Trasks Schwingungen aufzunehmen, hatte er wieder zugeschlagen.

In Stücke gerissen.

»Kerry?«

»In Ordnung, ich komme mit. Ich sorge dafür, dass hier alle in Alarmbereitschaft sind. Wir treffen uns vor dem Haus.«

In Stücke gerissen.

Völlig verbogene Karosserieteile von Raztovs Jeep waren durch die Wucht der Explosion bis in die hintersten Ecken der Tiefgarage geschleudert worden und die Hitze des Feuers hatte den Lack und die Reifen der umstehenden Wagen zum Schmelzen gebracht.

O Gott!

Kerry atmete tief durch, dann ging sie an dem Absperrband vorbei, mit dem die Polizei die Unglücksstelle abgeriegelt hatte, auf Ledbruk zu. »Wo ist er?«

»Gute Frage«, erwiderte Ledbruk. »Die Forensiker versuchen gerade, genug von ihm von den Trümmern abzukratzen, um Material für eine eindeutige Identifizierung zu bekommen. Zum Glück ist die Bombe hier in der Tiefgarage hochgegangen. Die Betonwände haben die Wucht der Detonation weitgehend aufgefangen. Trask muss so viel Plastiksprengstoff benutzt haben, dass es ausgereicht hätte, das gesamte Gebäude in die Luft zu sprengen.«

»Wie konnte das passieren? Haben Sie seinen Wagen nicht beobachten lassen?«

»Doch, verdammt. Wir nehmen an, dass die Bombe auf dem Parkplatz des Labors, wo Raztov seit einiger Zeit arbeitete, angebracht wurde. Der Agent, der für die Überwachung des Wagens zuständig war, meinte, ein Buick wäre auf einen Cadillac aufgefahren und da hätte er Raztovs Fahrzeug ein paar Minuten lang nicht ganz sehen können.«

»Und er hat keinen Verdacht geschöpft?«

»Doch, natürlich. Aber die Frau in dem Buick hatte zwei kleine Kinder bei sich und der Unfall schien echt gewesen zu sein. Seine Sicht auf den Jeep war nur wenige Minuten lang behindert, die Frau hat sogar auf dem Parkplatz gewartet, bis die Polizei kam und den Unfall aufgenommen hat.«

»Dann dürfte es ja kein Problem sein, die Frau zu identifizieren«, sagte Silver.

»Wir arbeiten dran. Wir vermuten, dass ihr Führerschein und ihre Versicherungskarte gefälscht waren«, sagte Ledbruk und wandte sich ab. »Erzählen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Silver.«

»Das würde mir nicht im Traum einfallen.« Silver bugsierte Kerry in die Richtung, wo die Forensiker arbeiteten. »Kerry möchte sich den Tatort ansehen. Wir werden aufpassen, dass wir keine Spuren vernichten.«

»Da gibt’s nicht viel zu vernichten. Nachdem erst das Feuer hier gewütet und dann noch die Sprinkleranlage ausgelöst hat, ist nicht viel Verwertbares an Spuren übrig geblieben.« Der Mann wandte sich ab. »Sehen Sie einfach zu, dass Sie mir nicht im Weg rumstehen.«

»Eine Frau …«, murmelte Kerry, während sie die Verwüstung betrachtete. »Und zwei Kinder?«

»Sieht so aus, als hätte Trask ein paar neue Talente rekrutiert.«

»Nein … Irgendwas stimmt da nicht.« Sie schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. »Irgendwas passt nicht zusammen.«

»Was denn?«

»Ich weiß nicht.« Sie leckte sich die Lippen. »Bring mir ein Stück Metall von Raztovs Jeep.«

»Das dürfte kein Problem sein. Davon liegt ja hier reichlich herum.« Er deutete mit dem Kinn auf ein verbogenes Etwas, das einmal eine Stoßstange gewesen sein könnte. »Wie wär’s damit?«

»Vielleicht. Ich hoffe, das tut’s.« Sie ging auf das Metallstück zu. »Gott, ich hoffe es.« Sie kniete sich hin und berührte es.

Nichts.

Sie legte ihre ganze Hand darauf und drückte etwas fester zu.

Schnell. Unter den Jeep kriechen, den Plastiksprengstoff am Auspuffrohr befestigen und dann nichts wie weg. Zwei Minuten.

Geschafft!

Unter den Wagen neben dem Jeep rollen. Vorsicht, bücken …

»Nimmst du irgendwelche Schwingungen auf?«

Sie schaute Silver an. »Trask hat die Bombe nicht angebracht.

Der Mann war schwarz, etwa vierzig Jahre alt, sehr erfahren im Umgang mit Sprengstoff. Er hat das nicht zum ersten Mal gemacht.«

»Sein Name?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Meinst du, du kannst noch mehr rauskriegen?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich sehe immer nur ein paar kurze Eindrücke und den Augenblick, in dem es geschieht.« Sie legte ihre Hand noch einmal auf das Metallstück, konzentrierte sich kurz und ließ es wieder los.

»Nein, das war’s.« Von Panik ergriffen sprang sie auf.

»Machen wir, dass wir hier rauskommen!«

»Kannst du Ledbruk den Mann kurz beschreiben?«

»Nicht jetzt.« Falsch. Es ist alles falsch. Es war nicht Trask.

»Was soll ich ihm denn schon sagen?« Sie rannte auf das Absperrband zu. »Los, verschwinden wir!«

Er holte sie ein, als sie die Straße erreichte. »Was zum Teufel ist los mit dir?«

»Es war nicht Trask.« Sie stieg in den SUV. »Er hätte der Täter sein müssen, aber er war es nicht.«

»Dann war es eben jemand, den er dafür bezahlt hat. Das Ergebnis bleibt dasselbe.«

»Aber er tut es immer selbst. Und er setzt jedes Mal Firestorm ein. Firestorm ist sein Baby, seine bevorzugte Waffe. Wir wissen, dass Raztov auf seiner Liste stand. Warum hat er diesmal nicht Firestorm eingesetzt?«

Silver fixierte sie mit seinem Blick. »Weißt du es?«

Sie sprach ihre Gedanken laut aus. »Raztov war nicht so wichtig wie eine andere Zielperson, die er sich ausgesucht hat.

Er wollte zwar seinen Tod, aber er hat auf das Vergnügen verzichtet, ihn selbst zu töten, weil dieser Mord ihm nützlich ist.«

»Nützlich für was?«

»Als Ablenkungsmanöver.« Sie begann zu zittern. »Er wollte unsere Aufmerksamkeit auf Raztov lenken und –« Sie nahm ihr Handy aus der Tasche. »O Gott, Carmela! Er hat es auf Carmela abgesehen. Wie lautet Agent Dorbins Telefonnummer?«

»Ich übernehme das.« Silver tippte die Nummer in sein Handy ein. »Agent Dorbin? Silver hier. Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Als er Kerry zunickte, atmete sie erleichtert auf. »Nein, wir wollten uns nur vergewissern.« Er legte auf. »Kein Problem. Bei dem Sicherheitsaufwand, den wir betreiben, ist es fast unmöglich für ihn, an sie heranzukommen.«

»Fast. Aber nicht ganz.« Ihre Erleichterung zerrann allmählich. »Ich irre mich nicht, Silver. Raztov war ein Ablenkungsmanöver, Trask hat am Telefon ausdrücklich von Carmela gesprochen. Deshalb –«

»Dieser Scheißkerl!. « Silver tippte eine Nummer in sein Handy ein. »Eine verdammte falsche Spur.«

»Was?«

»Er will dich treffen. Er will es dir heimzahlen. Dazu braucht er Carmela gar nicht. Sie ist nur diejenige, um die du dich am meisten sorgst. Und indem er dich angerufen und sie erwähnt hat, hat er dafür gesorgt, dass es auch so bleibt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, dass er versuchen wird, dich noch empfindlicher zu treffen. – George«, sagte er ins Telefon, »rufen Sie in Macon an und vergewissern Sie sich, dass Jason Murphy in Sicherheit ist. Nein, rufen Sie nicht zurück. Ich warte.«

Sie schaute ihn entsetzt an. »Jason? Du hast doch gesagt, er ist in Sicherheit. Du hast es mir versprochen.«

»Er ist in Sicherheit, verdammt. Ledbruk hatte doppelt so viele Leute für Jason und seine Frau abgestellt wie für Carmela. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Trask an die beiden rankommen soll.«

Aber sie spürte seine Angst, es könnte Trask trotz allem gelungen sein. »Die richtigen Mittel«, sagte sie tonlos. »Er hat gesagt, wenn man hinreichend Hilfsmittel hat, kann man an jeden rankommen.« Sie rieb sich die Schläfen. »Nicht Jason.

Mein Gott, ich hoffe, dass du dich irrst.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Silver grimmig. »Ich –« Er brach ab und lauschte in sein Handy. »Scheiße!« Er legte auf. »Jason hat vor vier Stunden das Hotel verlassen. Der Agent, der ihm gefolgt ist, hat ihn fast sofort aus den Augen verloren und Jason geht nicht an sein Handy.«

Er holte tief Luft. »Agent Fillmore meinte, dein Bruder hätte ihn absichtlich abgeschüttelt.«

»Das ist doch verrückt. Warum sollte er so was tun?«

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Das sind doch nur Ausflüchte. Die müssen Jason finden, Silver.«

»George sagt, sie tun, was sie können. Fillmore hat deine Schwägerin angerufen und anschließend sämtliche Freunde und Kollegen von Jason.« Er ließ den Motor an. »Als George mit ihm telefoniert hat, wollte er sich gerade bei Ledbruk melden und Bericht erstatten.«

Wieder leckte sie sich die Lippen. Vier Stunden. »Womöglich ist Jason schon tot.«

»Ich will nicht behaupten, dass das unmöglich ist, aber nach allem, was du mir erzählt hast, würde ich annehmen, dass Trask dich dabeihaben will, damit du Zeuge seines Triumphs wirst.

Bei Carmela und dem Lagerhaus hat er es genauso gemacht.«

Hoffnung keimte in ihr auf. »Ja, du hast Recht. Daran hätte ich denken müssen.«

»Du funktionierst im Moment wie ein Automat und denkst mit deinen Gefühlen.«

Sie funkelte ihn wütend an. »Allerdings tue ich das. Er ist mein Bruder, verdammt!«

Er lächelte. »Schon besser. Wut ist immer noch das beste Mittel, um das Adrenalin in Gang zu bringen. Und jetzt lass uns mal überlegen, was deinen Bruder dazu gebracht haben könnte, den Mann abzuschütteln, der versucht hat, ihn zu beschützen.«

»Das würde er nie –« Aber wenn Jason das tatsächlich getan hatte, musste es einen Grund dafür geben. Sie versuchte durch den Nebel der Angst, der sie umgab, klar zu denken.

»Womöglich hat Trask ihn angerufen. Vielleicht benutzt er irgendetwas oder irgendjemanden, um Jason zu zwingen, dass er tut, was er will.«

»Es muss sich um etwas verdammt Wichtiges handeln, wenn Jason ein solches Risiko eingeht.«

»Laura«, sagte sie plötzlich. »Er würde es tun, wenn Laura in Gefahr wäre. Er würde alles tun, um sie zu schützen.«

Silver schüttelte den Kopf. »George hat gesagt, deine Schwägerin ist in Sicherheit.«

»Gott sei Dank!«

»Wer käme sonst noch in Frage?«

»Ich. Wenn Trask ihn davon überzeugen könnte, dass ich in Gefahr bin.«

»Aber er hätte dich angerufen, um sich davon zu überzeugen, dass Trask ihm die Wahrheit sagt.«

Das stimmte. Dann gab es nur noch eine andere Möglichkeit.

»Mein Vater. Jason liebt meinen Vater. Und mein Vater wird nicht von Ledbruks Leuten beschützt.«

»Hast du die Handynummer deines Vaters?«

Sie nickte. »In meinem Adressbuch.« Sie kramte in ihrer Handtasche herum und brachte ein abgegriffenes ledernes Adressbuch zum Vorschein. Einen Augenblick später wählte sie die Nummer ihres Vaters. Nach dem sechsten Läuten sprang seine Mailbox an. Sie legte auf und wählte erneut. Dasselbe. »Er geht nicht ran.«

»Irgendeine andere Nummer, die du anrufen könntest?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat eine Wohnung in Boston, aber da ist er nur ganz selten. Er ist viel unterwegs, versucht aber, sich möglichst im Süden aufzuhalten, um in Jasons Nähe zu sein. Er ist Journalist, verdammt. Eigentlich müsste er jederzeit per Handy erreichbar sein.«

»Ich werde George bitten, es weiter bei ihm zu versuchen.« Er begann, die Nummer einzugeben. »Obwohl ich bezweifle, dass er deinen Vater erreichen wird.«

Nein, wenn Trask ihn in seiner Gewalt hatte, würde er natürlich nicht an sein Handy gehen. Panik ergriff sie. Wenn Trask ihren Vater hatte, dann hatte er auch Jason.

»Ich rede mit George«, sagte sie. »Fahr zum Flughafen. Wir müssen sofort nach Macon. Trask ist ein steckbrieflich gesuchter Verbrecher. Er würde es nicht wagen, Jason von dort, wo er ihn geschnappt hat, weit fortzubringen. Das Risiko wäre zu groß.«

»Stimmt.« Silver trat das Gaspedal durch. »Wahrscheinlich haben wir in Macon am ehesten eine Chance, Trask zu erwischen.«

»Wir werden ihn nicht lange suchen müssen«, sagte Kerry mit zitternder Stimme. »Er hat Jason. Er will, dass ich ihn finde, damit ich zusehen kann, wie mein Bruder stirbt. Wir brauchen nur zu warten, bis er mich anruft, um mir mitzuteilen, wann und wo.«

Silver presste die Lippen zusammen. »Du wirst nicht die Märtyrerin spielen und in eine Falle laufen. Das kommt nicht in Frage.«

»Ich weiß nicht, was ich tun werde.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber ich weiß, dass ich Jason nicht sterben lassen werde. Das kommt genauso wenig in Frage.«

»Ich werde auch nicht zulassen, dass dein Bruder stirbt, aber ich kann nicht –« Er brach ab und stieß einen Fluch aus. »Ich schaffe es einfach nicht, zu dir durchzudringen. Hör zu, du hast mich und du hast den ganzen verdammten Geheimdienst auf deiner Seite bei der Suche nach Trask. Du bist nicht allein.«

»Aber wenn ich Ledbruk um Hilfe bitte, sagt Trask sich womöglich, dass das Spiel, das er mit mir spielt, das Risiko nicht wert ist, und bringt Jason vielleicht sofort um.«

»Aber wenn du stirbst, wird das Jason auch nicht retten, und dann hat Trask gewonnen. Fang endlich an, deinen Verstand zu benutzen.«

Sie hatte solche Angst, dass ihr Verstand im Moment nicht besonders gut funktionierte. »Ich werde Jason nicht sterben lassen«, sagte sie noch einmal.

Silver schwieg einen Augenblick lang. »Also gut. Wir versuchen es ohne Ledbruk. Aber mich hältst du nicht außen vor.«

»Ich hatte nicht die Absicht, dich außen vor zu halten. Ich werde dich vielleicht dringend brauchen.«

»Welch eine Ehre! Ich werde George sagen, er soll uns am Flughafen abholen. Ihn werden wir vielleicht auch brauchen.«

Er schüttelte den Kopf, als sie etwas entgegnen wollte. »Er wird Ledbruk nicht informieren, wenn ich ihm erkläre, dass wir ihn nur unter dieser Bedingung an der Aktion teilnehmen lassen. Er kann es auch nicht abwarten, Trask in die Finger zu kriegen.«

Sie dachte darüber nach, dann nickte sie. Wahrscheinlich würden sie jede Unterstützung brauchen, die sie bekommen konnten, und George war vertrauenswürdig.

»Das wollen wir alle. Aber nicht um den Preis von Jasons Tod.

Mach ihm das klar.« Sie holte tief Luft. »Und jetzt sieh zu, dass wir möglichst schnell zum Flughafen kommen.«

16

Am Mietwagenschalter des Flughafens von Macon nahm George die Autoschlüssel entgegen. »Ich hole den Wagen und fahre am Eingang vor – zuvorkommend, wie ich bin«, sagte er.

»Ich hoffe, Sie sind nicht nur zuvorkommend, sondern auch diskret«, bemerkte Kerry.

»Selbstverständlich.« Er nahm seine Reisetasche. »Alles andere würde gegen mein Berufsethos verstoßen.« Er lächelte.

»Keine Sorge, Kerry, ich habe nichts durchsickern lassen. Ich würde nie etwas tun, was Ihnen schadet.«

Sie glaubte ihm. »Was zum Teufel haben Sie in der Tasche?

Es hat ja ewig gedauert, bis Sie damit durch die Sicherheitsschleuse gekommen sind.«

»Ach, nur ein paar notwendige Hilfsmittel. Ich musste ziemlich überstürzt aufbrechen, aber ich konnte noch schnell ein paar Kleinigkeiten einpacken. Eine Machete, eine M-16 und eine H&K 94 SG-1«, zählte er auf. »Ach ja, und einen Galgenstrick.«

Kerry blinzelte. »Und nichts davon wurde konfisziert?«

»Ich habe vorsichtshalber auch noch meinen alten Geheimdienstausweis und ein Beglaubigungsschreiben von der Homeland Security eingesteckt. Aber wie Sie bemerkt haben, wollten sie trotzdem alles überprüfen. Ich finde das vollkommen in Ordnung. Sie haben getan, wozu sie verpflichtet sind.« Er lächelte. »Geben Sie mir fünf Minuten.« Damit verschwand er in Richtung Ausgang.

Kerry wurde warm ums Herz, als sie ihm nachschaute. George im Team zu haben war sehr beruhigend.

»Das dauert wahrscheinlich keine fünf Minuten«, sagte Silver und nahm ihren Ellbogen. »Das hier ist ein kleiner Provinzflughafen. Wahrscheinlich hätten wir Zeit sparen können, wenn wir gleich mit ihm gegangen wären. Ist dein Handy eingeschaltet?«

Er nahm also an, dass Trask sie wieder anrufen würde. Gott, hoffentlich behielt er Recht. Sie kam sich blind und hilflos vor.

»Ich habe es gleich nach der Landung eingeschaltet. Zwei Anrufe in Abwesenheit.«

»Keine Nachricht?«

»Das ist nicht sein Stil. Trask will hören, dass ich Angst habe.

Er wird warten, bis –«

Ihr Handy klingelte.

»Ich finde es schrecklich, wenn jemand seine Energie sinnlos vergeudet, Kerry«, sagte Trask. »Das Handy Ihres Vaters hat geklingelt und geklingelt, aber er konnte nicht rangehen.«

Kerrys Hand umklammerte das Telefon. »Wo ist mein Bruder, Trask?«

Silver schaute sie an.

»Bei seinem Vater«, sagte Trask. »Die beiden stehen sich so nahe. Das wärmt einem regelrecht das Herz.«

»Ich will mit ihm reden.«

»Nicht mit Ihrem Vater?«

»Ich will mit meinem Bruder sprechen«, wiederholte sie.

»Ja, das glaube ich Ihnen aufs Wort, aber ich treffe hier die Entscheidung. Ich denke, das hebe ich mir als ganz besonderes Vergnügen auf. Hier ist Ihr Vater.«

»Tu, was er verlangt«, sagte Ron Murphy. »Jasons Leben hängt davon ab.«

»Ich will mit ihm reden.«

»Himmel, ich weiß, dass du mir nicht traust, aber glaubst du im Ernst, ich würde dich anlügen, was Jason angeht?«, fragte er barsch. »Du bist für diesen Schlamassel verantwortlich. Und jetzt sorg dafür, dass Jason freikommt, bevor dieses Schwein ihn umbringt.«

»Hast du Jason angerufen und ihm gesagt, dass Trask dich in der Hand hatte?«

»Nein. Trask hat ihn angerufen. Dann ist Jason in mein Motelzimmer gegangen und hat dort eine Nachricht gefunden, die Trask für ihn hinterlassen hatte. Er hätte mich nie zwingen können, Jason in Gefahr zu bringen.«

»Aber bei mir wäre das etwas anderes, stimmt’s?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Was willst du von mir hören?«, fragte Ron Murphy schließlich. »Ich kann nicht zulassen, dass er Jason umbringt.

Und du kannst das auch nicht.«

»Nein«, sagte sie müde. »Ich kann nicht zulassen, dass er Jason umbringt. Gib mir Trask.«

»Wirst du tun, was er verlangt?«

»Gib ihm das Handy.«

Wieder herrschte Stille, dann meldete sich Trask. »Ich sagte Ihnen ja bereits, dass die beiden sich erstaunlich nahe stehen.

Aber ich kann verstehen, dass Sie Ihrem Vater distanzierter gegenüberstehen. Er hat mich noch nicht mal gefragt, warum ich will, dass Sie hierher kommen. Meinen Sie, er kann es sich denken?«

»Ich will mit Jason sprechen.«

»Heute Abend. Ich werde Dickens schicken, um Sie abzuholen. Und ich sage Ihnen gleich, dass er sehr gut darin ist, mitzubekommen, ob er verfolgt wird. Sollte er irgendwelche Anzeichen dafür entdecken, wird er mich sofort anrufen, und dann wird diese ganze Sache ein verfrühtes und enttäuschendes Ende finden. Dasselbe gilt für den Fall, dass Sie und er nicht in angemessener Zeit hier eintreffen, nachdem er Sie abgeholt hat.

Ich werde nicht zulassen, dass irgendwelche CIA-Agenten Dickens unter Druck setzen, weil sie Informationen aus ihm herausquetschen wollen. Wenn Sie hier eintreffen, werden Sie feststellen, dass ich ausreichend Möglichkeiten habe, Ihren Bruder und Ihren Vater gegen jede Befreiungsaktion abzuschirmen. Andererseits wird, sobald wir alle zusammen sind, ohnehin niemand mehr versuchen, dazwischenzufunken.

Ich habe den Wachen klar gemacht, dass ich nur auf einen Knopf zu drücken brauche, um das ganze Haus in Flammen aufgehen zu lassen. Wenn Sie ein braves Mädchen sind und alle meine Anweisungen befolgen, werde ich Sie vielleicht auf dem Weg hierher mit Ihrem Bruder sprechen lassen.«

»Wo ist er?«

»Ich denke, das werden Sie bei Ihrer Ankunft hier sofort erkennen. Das hoffe ich zumindest. Ich habe den Ort sehr sorgfältig ausgewählt. Ein wirklich schnuckeliges kleines Haus.«

»Ich komme erst, wenn ich weiß, dass mein Bruder noch am Leben ist.«

»Ihr Vater hat Ihnen gesagt, dass er lebt. Na ja, nicht direkt, aber glauben Sie etwa, er würde Sie hierher locken, wenn keine Chance bestünde, ihn zu retten?«

»Und warum kann ich dann nicht mit ihm reden?«

Trask seufzte. »Leider hat Ihr Bruder sich geweigert, die Bitte Ihres Vaters zu unterstützen. Er hat beschlossen, sich für Sie zu opfern.«

Sie schluckte. »Und Sie haben ihn getötet?«

»Kerry, Sie müssten mich doch eigentlich besser kennen«, schalt er sie. »Das würde doch alles verderben, dann würde ich mich doch um das Vergnügen bringen, Ihr Gesicht zu beobachten, wenn Firestorm ihn tötet. Im Moment ist er in Sicherheit.«

Im Moment.

»Was soll ich tun?«

»Sind Sie schon in Macon?«

»Ich bin gerade angekommen.«

»Sehr gut. Sie haben ja wirklich keine Zeit vergeudet. Ich wusste doch gleich, dass Sie herkommen, sobald Sie erfahren, dass ich Ihren Bruder habe. Wo sind Sie abgestiegen?«

»Im Hyatt.«

»Dickens wird Sie anrufen, sobald er in der Nähe des Hotels ist, und Ihnen sagen, wo Sie ihn heute Abend treffen können.«

»Wann?«

»Um neun Uhr.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Ich hoffe, Sie wissen, wie wichtig Sie für mich geworden sind. Es ist mir sehr schwer gefallen, darauf zu verzichten, Raztov auf die Weise aus dem Weg zu räumen, die er verdient hätte. Aber ich musste ein paar falsche Fährten legen, um Sie von Ihrem Bruder abzulenken.«

»Carmela hat Ihnen wohl nicht gereicht?«

»Wahrscheinlich hätte sie mir gereicht, aber unser gemütliches Treffen heute Abend zu organisieren hat mich einige Zeit gekostet. Alles sollte genau richtig sein, und ich fürchtete, Sie könnten misstrauisch werden, wenn es zu lange dauert, und anfangen, über andere Möglichkeiten nachzudenken. Und da ich mit meinem ehrenwerten Geschäftspartner bereits einen Termin ausgehandelt hatte, habe ich es ihm überlassen, Raztov zu beseitigen, um ein bisschen Nebel zu verbreiten.«

»Wer hat Raztov umgebracht? Dickens?«

»Gott, nein! Dickens kann eine tödliche Gefahr sein, aber er ist zu ungeschickt. Ich habe meinen zukünftigen Partner gebeten, einen Experten anzuheuern. Der Mann war ziemlich teuer.«

»Aber Sie hatten die ›Mittel‹.«

»Ja. Genauer gesagt, Ki Yong hatte sie und er war bereit zu kooperieren. Aber er hat sehr hart verhandelt, also werde ich dafür sorgen, dass unser kleines Treffen den Aufwand wert sein wird.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich überlasse es ihm, Senator Kimble und Handel unverzüglich zu erledigen, damit meine Angelegenheiten hier in den USA beendet sind. Er ist es leid, zu warten. Im Gegenzug habe ich mich verpflichtet, ihm Firestorm unverzüglich zu übergeben, sobald wir heute Abend hier fertig sind.«

»Sie werden Firestorm doch niemals abgeben.«

Trask lachte leise. »Sie sind ja wirklich scharfsinnig, das muss ich Ihnen lassen. Aber Ki Yong ist nicht so klug, auch wenn er sich das einbildet. Er weiß, dass er mich für die erste Testphase braucht, und ich werde ihm die Wurst noch ein bisschen vor die Nase halten, bevor ich mich mit Firestorm aus dem Staub mache.«

»So wie Sie sich vor den amerikanischen Behörden aus dem Staub gemacht haben? Und dabei den Tod von Helen Saduz in Kauf genommen haben?«

»Ich habe ihren Tod nicht in Kauf genommen, sie hat ihren Tod selbst verschuldet«, erwiderte er traurig. »Ich habe sie wirklich geliebt. Wir hätten uns gut ergänzen können.«

»Aber Sie haben kein schlechtes Gewissen, dass Sie sie der Gefahr ausgesetzt haben.«

»Warum sollte ich? Sie wollte mir Firestorm wegnehmen. Von dem Moment an, als sie sich erbot, diese völlig unwichtigen Unterlagen zu holen, die ich im Labor zurückgelassen hatte, war mir klar, dass sie mich betrügen würde. Ich war unendlich dankbar, als das Labor in die Luft flog, denn das bedeutete, dass ich mich nicht selbst darum kümmern musste, Helen aus dem Weg zu räumen.«

»So dankbar, dass Sie sofort angefangen haben, mit jemand anderem über Firestorm zu verhandeln.«

»Ich hätte es nicht ertragen, mit irgendjemandem Geschäfte zu machen, der etwas mit Helen zu tun hatte. Das hätte mir zu wehgetan.«

»Sie sind unglaublich.«

»Ja, das bin ich. Und Sie auch. Deswegen wird das heute Abend ein faszinierendes Erlebnis werden.« Damit legte er auf.

Silver musterte sie, als sie das Handy abschaltete.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte. »Er hat meinen Vater, und ich glaube, auch meinen Bruder. Aber er wollte mich nicht mit Jason sprechen lassen.

Dickens holt mich heute Abend ab, um mich zu Trask zu bringen.«

»Wann?«

»Um neun.«

»Mist!« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Noch drei Stunden. Uns bleibt nicht viel Zeit.«

Drei Stunden. Angst ergriff sie. »Du und George, ihr beide seid draußen. Er meinte, Dickens merkt es sofort, wenn er verfolgt wird.«

»Er wird es nicht merken.« Silver hielt ihr die Tür auf.

»Vertrau mir.«

»Ich kann dir nicht vertrauen. Jason ist zu –« Sie unterbrach sich und versuchte, sich zu beruhigen. Irgendjemandem musste sie schließlich vertrauen. »Was kannst du tun?«

»Ich warte in der Nähe der Stelle, wo Dickens dich abholt. Ich glaube kaum, dass er über unüberwindliche Barrieren verfügt.

Ich werde in seine Psyche eindringen, ohne dass er etwas davon mitbekommt.«

»Und was ist, wenn es dir nicht gelingt, seine Barrieren zu überwinden?«

»Sieh nicht so schwarz. Trask ist eine Ausnahme. Ich werde es schon schaffen. Falls Dickens sich als schwierig erweist, werde ich ihn niederwalzen wie ein Panzer.«

Was er sagte, klang überzeugt, kalt und brutal. »Panzer? Du hast doch gesagt, du müsstest vorsichtig sein. Bei Carmela warst du total besorgt. Würde Dickens’ Psyche es überleben, wenn du ihm eine derartige Behandlung zuteil werden lässt?«

»Nein, aber sein Körper wird auch nicht lange überleben, deswegen brauche ich mir darüber keine Gedanken zu machen.«

Er schaute sie an. »Er ist ein toter Mann, Kerry. Ich weiß nicht, ob er Trask geholfen hat, meinen Bruder zu töten, aber darauf verlasse ich mich nicht. Tut mir Leid, wenn du da Skrupel hast.«

Nein, sie hatte kein Mitleid mit Dickens. Sie war nur schockiert über die Veränderung, die in Silver vorgegangen war.

Seit dem Tag, an dem sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie diese Seite nicht mehr erlebt. »Ich will mich nicht mit dir streiten. Ich weiß auch nicht, ob er an dem Mord an deinem Bruder beteiligt war, aber ich weiß, dass er Trask geholfen hat, das Lagerhaus in Brand zu stecken, in dem Carmela war.« Sie ging auf den Wagen zu, mit dem George vorgefahren war. »Tu, was du tun musst.«

»Das werde ich«, murmelte er, während er ihr die Wagentür aufhielt. »Und dazu gehört auf keinen Fall, dass ich dich allein in eine Falle laufen lasse.«

Sie sah ihm ins Gesicht. »Letztlich werde ich allein zu ihm gehen müssen. Er hat von einem Haus gesprochen, in dem er Jason und meinen Vater gefangen hält. Falls ihr das Haus stürmt, wird er auf einen Knopf drücken und es in Flammen aufgehen lassen.«

»Mit ihm drin?«

»Solange das Leben meines Bruders in Gefahr ist, gehe ich bei diesem Verrückten kein Risiko ein.«

»Dann müssen Sie uns eine Zielscheibe besorgen«, sagte George. »Glauben Sie, Sie können ihn dazu bewegen, sich an ein Fenster zu stellen, wo wir ihn abknallen können?«

»Vielleicht.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte Silver. »Du bist dir ja nicht mal selbst sicher, ob du ihn in deinem Sinne beeinflussen kannst.«

»Ihr werdet dieses Haus auf keinen Fall stürmen. Ihr werdet kein Risiko eingehen, das Jasons Leben in Gefahr bringen könnte.«

Silver schlug die Autotür zu. »Also gut, wir werden das Haus nicht stürmen.«

Aber auf ihre letzte, die umfassendste Bedingung war er nicht eingegangen, dachte sie.

Nun, im Augenblick konnte sie sich nicht mit ihm herumstreiten. In wenigen Stunden würde sie sich Trask stellen müssen, und sie musste all ihre Kräfte aufbieten, um gegen ihre Angst anzukämpfen.

Um Punkt neun Uhr rief Dickens an.

»Gehen Sie zwei Blocks in östlicher Richtung bis zur Baptistenkirche. Ich werde in zehn Minuten dort sein. Falls Sie nicht allein sind, fahre ich einfach weiter und werde nicht zurückkehren.«

»Ich werde allein kommen.« Sie legte auf und wandte sich an Silver. »Zehn Minuten. Die Baptistenkirche liegt zwei Blocks in Richtung Osten.«

»Wir sind schon unterwegs.« Er eilte zur Tür. »Los, kommen Sie, George!«

»Endlich passiert mal was«, sagte George, als er aufsprang und sich seine Tasche schnappte. »Gehen wir.«

»Moment«, sagte Kerry. »Wie lange wirst du brauchen, um in Dickens’ Psyche einzudringen?«

»Nicht lange. Kommt drauf an. Vielleicht fünf, zehn Minuten.«

»Und woran werde ich merken, ob es dir gelingt, ihn für euch blind zu machen?«

»Du wirst es merken. Ich werde dich keine zwei Straßen weit kommen lassen mit dem Dreckskerl, wenn ich es nicht schaffe.«

»Kommt nicht in Frage. Ich würde es dir nie verzeihen, wenn du irgendetwas tätest, was Trask –«

»Was habe ich zu verlieren?«, fragte er mit einem herausfordernden Unterton. »Was mich angeht, ist deine Bereitschaft, zu verzeihen, ohnehin nicht besonders groß. Falls ich vor der Wahl stehen sollte, du oder dein Bruder: Rate mal, für wen ich mich entscheiden werde.«

»Kommen Sie, Brad«, drängte George. »Haben Sie noch nie gehört, dass Ehrlichkeit in solchen Situationen völlig überbewertet wird?« Er öffnete die Tür und bugsierte Silver nach draußen. »Im Moment scheinen Brads barbarische Instinkte die Oberhand gewonnen zu haben, Kerry. Ich werde dafür sorgen, dass Sie uns sehen, wenn wir Ihnen folgen, schließlich hat Brad versprochen, Dickens für uns blind zu machen. Ich glaube das zwar nicht so recht, aber es ist eine höchst interessante Situation.«

Interessant? Es war Furcht einflößend, dachte sie.

»Hör mir gut zu.« Sie schaute Silver direkt in die Augen. »Du hast mir gegenüber schon einmal ein Versprechen gebrochen, aber diesmal darf das nicht passieren. Du versprichst mir hier und jetzt, dass du warten wirst, bis ich dir Trask vor die Flinte liefere.«

»Und was ist, wenn du feststellst, dass du ihn nicht beeinflussen kannst? Soll ich dann etwa tatenlos zusehen, wie er euch alle röstet?«

»Dann musst du darauf vertrauen, dass ich eine andere Möglichkeit finde, ihn dazu zu bewegen, dass er sich zur Zielscheibe macht.«

Er starrte sie wortlos an.

»Versprich es mir, Silver.«

Nach einer ganzen Weile sagte er: »Ich verspreche dir, dass ich dir eine Chance geben werde.« Dann schlug er die Tür hinter sich zu.

Das war nicht die Antwort gewesen, die sie erhofft hatte, aber mehr würde sie nicht kriegen. Sich nicht sicher zu sein, ob sie Trask beeinflussen konnte, war schon schlimm genug. Jetzt war auch noch Silver für sie unberechenbar geworden.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es waren erst wenige Minuten vergangen, aber es wurde Zeit, dass sie sich auf den Weg machte. Wusste der Teufel, was Dickens täte, wenn sie nicht rechtzeitig erschien! Auch er war unberechenbar für sie.

Im Moment schien ihr ganzes Leben aus Unberechenbarkeiten zu bestehen.

Der blaue Ford fuhr dreimal um den Häuserblock, vor dem Kerry stand, bevor er anhielt.

»Steigen Sie ein.« Dickens hielt ihr die Beifahrertür auf.

Anschließend nahm er ihr die Handtasche ab, durchwühlte sie und fuhr ihr plötzlich mit einer Hand über Brüste und Arme.

Sie wich vor ihm zurück. »Was soll das?«

»Ich vergewissere mich, dass Sie keine Waffe tragen und dass Sie nicht verkabelt sind.« Er warf einen nervösen Blick auf die Kirche und dann die Straße hinunter.

»Machen wir, dass wir von hier wegkommen. Ich will das möglichst schnell hinter mich bringen.«

»Ich auch.« Sie schlug die Beifahrertür zu. »Wohin bringen Sie mich?«

Er wählte eine Nummer auf seinem Handy. »Ich habe sie.

Nein, niemand zu sehen. Ich habe mich davon überzeugt, bevor ich sie habe einsteigen lassen. Ich kenne mich aus in diesem Geschäft, Trask.«

»Ich will mit ihm reden.«

Achselzuckend reichte Dickens ihr das Handy.

»Sie haben mir versprochen, ich könnte mit meinem Bruder reden, Trask.«

»Ah, ja. Ich hatte befürchtet, er würde sich zieren, doch ich glaube, er hat Ihnen etwas zu sagen.«

Er übergab Jason das Telefon. »Kerry, komm nicht her.

Versuch abzuhauen.«

Jason lebte. Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, wie sehr sie befürchtet hatte, Trask hätte ihn bereits umgebracht.

»Geht es dir gut?«

»Komm nicht her«, wiederholte Jason verzweifelt. »Mein Leben ist es nicht wert –«

Trask nahm ihm das Telefon ab. »Er muss Sie ja sehr lieben.

Er ist ein kluger Mann, und er zweifelt nicht daran, dass sein Leben auf dem Spiel steht. Und jetzt seien Sie brav und machen Sie Dickens keine Schwierigkeiten. Er ist ziemlich nervös, das kann leicht tödlich für Sie enden. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«

Er legte auf.

Sie reichte Dickens das Handy. »Er meinte, Sie wären nervös.

Daraus schließe ich, dass Ihnen das alles kein Vergnügen bereitet. Wäre es nicht viel klüger, mir zu helfen, das Leben meines Bruders zu retten und Trask das Handwerk zu legen?«

»Halten Sie die Klappe!« Er fuhr los. »Ich bin nicht nervös. Es läuft alles wie geplant. Noch heute Nacht wird alles vorbei sein.«

Wo war Silver? Er hatte gesagt, es würde fünf bis zehn Minuten dauern, aber Dickens wirkte bisher völlig normal …

Verdammt, was hatte sie erwartet? Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt eine Veränderung an Dickens bemerken würde, wenn es Silver gelang, in seine Psyche einzudringen. »Man wird Sie schnappen, Dickens.«

»Nein, wird man nicht. Sobald Trask im Flugzeug nach Nordkorea sitzt, bin ich hier weg.« Er bog um eine Ecke und fuhr in Richtung Stadtrand. »Ich werde mit einem Koffer voll Geld in den Sonnenuntergang reiten.«

»Falls Trask nicht auf die Idee kommt, Sie wären das ideale Versuchskaninchen für das nächste Firestorm-Experiment.«

Beiläufig warf sie einen Blick in den Außenspiegel. Enttäuscht registrierte sie, dass die Straße hinter ihnen leer war. Niemand folgte ihnen.

Großer Gott! War irgendetwas schief gegangen? Nicht darüber nachdenken. Wenn Sie allein mit der Situation fertig werden musste, dann würde sie das eben tun.

»Trask ist zu allem fähig. Sie wissen ja, was er mit Joyce Fairchild gemacht hat. Was sollte ihn davon abhalten –«

Ein brauner Lexus mit George am Steuer bog hinter ihnen um die Ecke.

»Fahren Sie dichter auf«, sagte Silver knapp. »Wir dürfen ihn nicht verlieren.«

»Ach?« George hob die Brauen. »Sie werden mir verzeihen, wenn ich nicht durchschaue, wie die Sache funktioniert, aber müssten Sie nicht mitbekommen, wo er hinfährt?«

»Ich möchte meine Energie nicht darauf verschwenden«, erwiderte Silver knapp. »Ich muss mich auch so schon durch dicke Schlammschichten wühlen, um alles Nötige über die Wachen im Umkreis der Farm rauszukriegen.«

»Farm?«

»Da bringt er sie hin. Auf eine Farm. Dickens musste sie für Trask auskundschaften.«

»Dann sollten Sie vielleicht rausfinden, wo die liegt, damit wir vorausfahren und auf sie warten –«

»Herrgott nochmal, so funktioniert das nicht! Ich kenne dieses Arschloch nicht. Bis ich die Kontrolle über ihn übernehmen kann, muss ich mich an kleinen Gedankenfetzen entlanghangeln.«

»Ist ja gut«, sagte George beschwichtigend. »War nur ein Vorschlag. Sie haben Recht, ich weiß nicht, wie es funktioniert.

Wer zum Teufel weiß das schon?«

»Tut mir Leid.« Silver starrte unverwandt auf den Wagen vor ihnen. »Fahren Sie einfach so nah wie möglich an ihn ran und verlieren Sie ihn nicht.«

»Sind Sie sicher, dass er uns nicht sehen wird?«

»Nein, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube es. Ich denke, so viel Kontrolle habe ich bereits gewonnen.«

»Dann ist es riskant.«

»Ja, verdammt.«

»Was ist los?« Dickens sah Kerry misstrauisch an.

Mist! »Nichts.« Hastig wandte sie ihren Blick vom Außenspiegel ab und versuchte ihn abzulenken. »Trask ist unberechenbar, wissen Sie. Der würde jeden umlegen.«

Es funktionierte nicht. Dickens schaute in den Rückspiegel.

Sie erstarrte. Lieber Himmel, George war nur noch wenige Wagenlängen von ihnen entfernt, und er versuchte nicht mal, sich unauffällig zu verhalten.

Dickens zuckte die Achseln und richtete seinen Blick wieder nach vorne. »Halten Sie die Klappe und hören Sie auf, mich verunsichern zu wollen. Das hat sowieso keinen Zweck.«

Und offenbar nahm er den braunen Lexus hinter ihnen nicht wahr.

Silver hatte es geschafft.

Kerry atmete erleichtert auf. »Ich wollte Sie nur davon abhalten, einen großen Fehler zu begehen. Aber ich werde nicht für taube Ohren predigen.« Sie zwang sich, nicht noch einmal in den Außenspiegel zu sehen. »Wohin bringen Sie mich?«

»Aufs Land.«

»Wohin aufs Land?«

Er zog die Brauen zusammen. »Das darf ich Ihnen nicht sagen.

Trask will, dass es eine große Überraschung für Sie ist. Dieser blöde …«

Zuerst roch sie den Rauch. Es war ein bitterer, scharfer Geruch, der albtraumhafte Erinnerungen in ihr weckte.

Ihr Herz begann zu rasen. Hatte dieser Scheißkerl Firestorm bereits auf Jason losgelassen?

»Rufen Sie Trask an, Dickens.«

Dickens schüttelte den Kopf. »Wir sind gleich da, wenn wir die nächste Kurve hinter uns haben.«

»Dann beeilen Sie sich, verdammt!«

»Fangen Sie nicht an, mich rumzukommandieren«, raunzte er.

»Ich habe es satt, mir dauernd sagen zu lassen, was ich zu tun habe.«

Sie hörte ihm kaum zu. Sie hatten die Kurve schon fast hinter sich, sie konnte das Feuer bereits sehen.

Eine große Scheune, die lichterloh brannte.

Blanke Panik ergriff sie. Jason! »Lassen Sie mich aussteigen.«

»Wie Sie wünschen.« Dickens hatte vor dem Farmhaus gehalten. »Ich habe meine Aufgabe erledigt.«

Sie riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Intensive Hitze schlug ihr entgegen, als sie auf die Scheune zurannte.

»Da ist er nicht, Kerry.«

Sie wirbelte zu dem Mann hinter ihr herum.

Trask war aus dem Haus gekommen und stand auf der Veranda. Er war unverkennbar. Die kindlichen blauen Augen, die sie anschauten, waren dieselben, die sie von dem Foto kannte. Der Feuerschein erhellte sein lächelndes Gesicht, als er die Stufen herunterkam. »Sie glauben anscheinend tatsächlich, ich würde mich selbst um mein Vergnügen bringen, indem ich die Geduld verliere. Aber nachdem ich so lange gewartet habe, möchte ich jeden Augenblick voll auskosten.«

Sie ignorierte sein Geschwätz, reagierte nur auf die erste Aussage.

»Jason ist nicht in der Scheune?«, fragte Kerry.

»Nein. Ich habe sogar das Vieh aus seinem warmen, gemütlichen Stall getrieben. Das ist nur ein Freudenfeuer, um Sie willkommen zu heißen.«

Und um ihr einen Schrecken einzujagen, dachte sie frustriert.

»Wo ist er?«

Mit einer Kopfbewegung deutete Trask auf das Haus.

»In einem Zimmer im ersten Stock, zusammen mit seinem Vater. Die beiden sind wirklich ein Herz und eine Seele. Ich wusste, dass sie gern zusammen sein würden.«

»Ich fahre jetzt«, sagte Dickens und ließ den Motor kurz aufheulen. »Ki Yong erwartet mich ein Stück die Straße hinunter, um mir den Rest meiner Bezahlung zu geben.«

»Aber gern, fahren Sie«, sagte Trask, ohne seinen Blick von Kerry abzuwenden. »Es könnte allerdings sein, dass auch ihn eine Überraschung erwartet«, murmelte er. »Ich bezweifle, dass Ki Yong ihm Geld geben wird. Wahrscheinlich wird er es vorziehen, sich eines potenziellen Zeugen auf endgültigere Art zu entledigen.«

»Sehr gut. Dickens interessiert mich nicht. Ich will Jason sehen.«

»Das werden Sie.« Er schaute zu der brennenden Scheune hinüber. »Aber zuerst möchte ich, dass Sie sich mein Feuer ansehen. Ich habe mir sehr große Mühe damit gegeben und möchte das Ergebnis mit Ihnen gemeinsam genießen.«

Sie folgte seinem Blick zu den lodernden Flammen.

»Erwarten Sie etwa von mir, dass ich dieser Zerstörungswut irgendetwas abgewinne?«

»Vielleicht nicht. Was Sie sehen, ist eine Hülle ohne größere Bedeutung.« Er lächelte. »Aber die Hülle ist nicht so leer, wie Sie glauben.«

Sie erstarrte. »Sie haben mir doch gesagt, Jason wäre nicht da drin. Sie haben gesagt, er wäre im Farmhaus, in einem Zimmer im ersten Stock. Und dass Sie das Vieh hinausgetrieben hätten.«

»Ja, das habe ich allerdings. Aber ich wollte Firestorm nicht beleidigen, indem ich ihm seine Lieblingsnahrung vorenthielt.«

»Was haben Sie getan, Sie verdammter Dreckskerl? Wer ist da drin?«

Er lachte in sich hinein. »Der Besitzer dieser Farm und dessen Frau. Aber keine Sorge, sie haben nicht gelitten. Ich war gezwungen, sie gestern Abend schon zu töten, um nicht zu riskieren, dass sie mir Probleme bereiten.«

Er schüttelte den Kopf. »Schade. Der Gesamteindruck wäre viel intensiver für Sie gewesen, wenn ich Ihnen vor dem eigentlichen Festmahl ein kleines Horsd’œuvre hätte servieren können.«

Eiskalter Schrecken fuhr ihr in die Glieder. Sie schloss die Augen. Sie musste sich dagegen wehren. Sie musste sich gegen ihn wehren, gegen ihn ankämpfen. Solange sie solche Angst hatte, würde sie keine Chance haben, ihn zu beeinflussen.

Sie öffnete die Augen. »Ich habe keine Lust, mir anzusehen, wie Sie diese armen Leute verbrennen. Das ist genauso pervers, wie Sie selbst es sind. Bringen Sie mich zu Jason.«

Trask runzelte die Stirn. »Sie enttäuschen mich.«

Dann erhellte sich sein Gesicht wieder. »Aber ich sollte mich eigentlich nicht wundern. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Sie sich mit mir anlegen würden. Erkennen Sie dieses Haus wieder?«

»Warum sollte ich? Ich bin noch nie hier gewesen.«

»Richtig. Aber was ist mit den Birnbäumen? Was ist mit dem Fluss?«

Der Fluss hinter der Scheune war ihr noch gar nicht aufgefallen. Irgendetwas regte sich in ihrer Erinnerung.

»Was versuchen Sie mir zu sagen?«

»Ich habe Dickens ein altes Zeitungsfoto vom Haus der Krazkys gegeben und ihn gebeten, ein Haus zu suchen, das möglichst ähnlich aussieht.«

»Warum?«

»Weil das wahrscheinlich der erregendste Brand war, den ich je gelegt habe. Das erste Mal ist doch immer etwas Besonderes, meinen Sie nicht? Und seit ich Sie auf den Ruinen des Hauses beobachtet habe, in dem dieser kleine Scheißer verbrannt ist, und seit mir klar ist, wie ähnlich wir uns sind, hat dieser erste Brand eine noch größere Bedeutung für mich gewonnen.« Er trat einen Schritt näher, so dass sie seine Anspannung spüren und das freudige Funkeln in seinen Augen sehen konnte. »Sehen Sie sich das Feuer noch einmal an und lassen Sie es auf sich wirken. Finden Sie das nicht erregend?«

»Nein. Bringen Sie mich zu Jason.«

Er zögerte. »Also gut.« Er wandte sich ab. »Ende des ersten Akts und kein Applaus. Aber es ist ja noch früh. Ich werde Sie schon noch zu begeistern wissen.« Er ging die Verandastufen hinauf. »Kommen Sie. Wir werden ein kleines Familientreffen veranstalten.«

Während sie auf die Veranda stieg, riskierte sie einen kurzen Blick in Richtung Straße. Seit sie den Rauch der brennenden Scheune wahrgenommen hatte, hatte sie den Lexus nicht mehr gesehen.

Jetzt bloß nicht in Panik geraten! Natürlich würden Silver und George sich möglichst unauffällig verhalten, damit die Leute, die das Gelände um die Farm bewachten, sie nicht bemerkten.

Dennoch fühlte sie sich von Gott und der Welt verlassen.

»Da ist er«, sagte George, als Dickens an den Bäumen vorbeifuhr, hinter denen sie geparkt hatten. »Sollen wir ihn jetzt gleich umlegen?«

»Nein. Er ist unterwegs, um sich sein Geld abzuholen. Wir brauchen ihn vielleicht noch, damit er uns zu Ki Yong führt.«

»Wäre es nicht besser, ihn auszuschalten? Wir wissen nicht, wie lange er wegbleiben wird.«

»Nein.« Silver war dabei, hastig ein paar Linien in sein Notizbuch zu zeichnen. »Der ist schon ausgeschaltet.«

George schaute ihn verdutzt an. »Wie bitte?«

»Ich musste ihm Schaden zufügen, um die Informationen zu bekommen, die ich brauchte«, erwiderte Silver abwesend, während er vier Kreuze auf die Seite zeichnete. »Er ist hirntot.«

George schüttelte den Kopf. »Der Mann fährt immerhin dieses Auto.«

»Nein, ich fahre das Auto. Und ich sollte es jetzt am besten irgendwo parken, damit ich mich auf etwas anderes konzentrieren kann.«

»Heiliger Strohsack!«

Silver warf George einen Blick zu. »Sie glauben mir nicht?«

»Doch, ich glaube Ihnen. Gerade das macht mir ja Angst.

Wissen die Leute bei der CIA, dass Sie zu so was fähig sind?«

»Nein. Halten Sie mich für einen Idioten? Ich habe denen gegeben, was ich ihnen geben wollte. Informationen sind eine Sache, die Kontrolle einer Psyche eine andere. Die würden mich entweder als ihr Werkzeug missbrauchen oder mich als Bedrohung betrachten. Wobei ich Letzteres für wahrscheinlicher halte. Das würde ich bestenfalls ein paar Monate lang überleben.«

»Wenn Sie also den Wagen parken und sich aus Dickens’

Kopf zurückziehen, wird er dann sterben?«

»Nicht sofort. Ich werde mich nicht vollständig zurückziehen, damit er noch halbwegs am Leben bleibt. Wir werden ihn vielleicht später noch brauchen.«

»Ich weiß nicht, ob mir die Vorstellung gefällt, einen –«

George suchte nach dem richtigen Wort. »Einen Zombie zu benutzen. Ich würde mich lieber auf mich selbst verlassen.

Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich übernehmen, was auch immer Sie für Dickens vorgesehen haben.«

»Wie Sie wünschen.«

»Danke.« Er betrachtete das Blatt, auf dem Silver herumkritzelte. »Was haben die Kreuze zu bedeuten?«

»Eine Wache am Flussufer hinter der Scheune, der nach Booten Ausschau hält.« Er zeigte auf das nächste Kreuz. »Ein Scharfschütze mit einer Springfield hinter dem Schuppen auf der Rückseite des Hauses.« Er zeigte auf ein drittes Kreuz. »Und dieser hier steht in etwa sechshundert Metern Entfernung von hier an der Zufahrt zur Farm.«

»Und das letzte Kreuz?«

»Ki Yong mit seinem Fahrer. Er wartet zwölf Kilometer von hier entfernt auf Trask. Sobald der seine Party hier beendet hat, bringt Ki Yong ihn zum Flughafen und setzt ihn in ein Flugzeug nach Pjöngjang.«

»Und das haben Sie alles von Dickens erfahren?«

Silver zuckte die Achseln. »Es war ziemlich schwierig. Wenn es einfacher gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht keinen großen Schaden zufügen müssen.« Seine Lippen spannten sich.

»Was ich aber wahrscheinlich ohnehin getan hätte.« Er warf einen Blick auf die Landkarte. »Wir müssen uns in Bewegung setzen. Welchen Wachmann wollen Sie als Erstes ausschalten?

Den, der die Straße überwacht?«

George nickte, während er die Wagentür öffnete und ausstieg.

»Und dann den am Flussufer. Sie übernehmen den Scharfschützen, anschließend werden wir uns gemeinsam Trask vorknöpfen.«

»Erst wenn Kerry ihn uns als Zielscheibe präsentiert.«

Silver ging neben George her. »Wir bleiben draußen und warten, bis wir ihn klar ins Visier kriegen. Ich habe es ihr versprochen.«

George verzog spöttisch die Mundwinkel. »Und wie lange gedenken Sie, das Versprechen zu halten, wenn Sie sehen, dass Trask zur Gefahr für sie wird?« Er hob eine Hand. »Schon gut.

Sie brauchen mir keine Antwort zu geben. Ich will nicht, dass Sie sich aufregen und am Ende auf die Idee kommen, mir

›Schaden zuzufügen‹.«

»Das würde ich nie tun.«

George sah ihn von der Seite an. »Nein, das glaube ich eigentlich auch nicht. Tun Sie mir den Gefallen und warten Sie auf mich, bevor Sie auf Trask schießen. Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich glaube, ich habe eine größere Chance, ihn beim ersten Versuch zu erwischen.«

»Wenn Sie früh genug da sind.«

»Gott, dieser Zeitdruck!« Er beschleunigte seine Schritte.

»Wir dürfen nicht länger als fünf Minuten brauchen, um den ersten Wachmann zu erledigen. Dann ist der Weg zum Haus frei.«

»Wo sind sie?« Kerry schaute sich in dem ärmlichen Wohnzimmer um, als sie das Haus betraten. Die Fenster standen offen, so dass schwarzer Rauch ins Zimmer drang und diesem einen seltsam unwirklichen Anstrich gab. »Wo ist Jason?«

»Oben.« Trask, der bereits auf halber Treppe war, bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Ich bin sicher, die beiden werden sich sehr freuen, Sie zu sehen. Vor allem Ihr Vater. Er scheint äußerst verzweifelt zu sein und bereit, sich an jeden Strohhalm zu klammern, in der Hoffnung, Ihren Bruder zu retten. Kein sehr intelligentes Verhalten, wenn ich das bemerken darf.

Andererseits legen Sie dasselbe Verhalten an den Tag. Sobald Gefühle im Spiel sind, verabschiedet sich der Verstand, nicht wahr?« Er öffnete eine Tür im ersten Stock. »Ich habe ihnen das Schlafzimmer gegeben. Für Menschen, die einem nahe stehen, kann nichts gut genug sein, nicht wahr, Kerry?« Er trat zur Seite. »Bitte, treten Sie ein.«

Sie zögerte.

»Sie fürchten eine unangenehme Überraschung? Vielleicht zwei hübsche Leichen?« Trask lächelte. »Sie werden es erst wissen, wenn Sie nachsehen.«

Sie zwang sich, ins Zimmer zu gehen.

Keine Leichen. Gott sei Dank, sie lebten!

Ihr Vater lag auf dem Bett, mit Händen und Füßen an die Bettpfosten gefesselt, Jason saß gefesselt auf einem Stuhl vor dem Fenster.

»Du hättest nicht kommen sollen, Kerry«, sagte Jason. Seine Stimme klang heiser, sein Gesicht war bleich. »Ich hab dir gesagt, du sollst nicht kommen.«

»Es ist gut, dass sie gekommen ist«, sagte Ron Murphy. »Sie ist für das hier verantwortlich.« Er wandte sich an Trask. »Sie haben sie und Sie haben mich. Jetzt können Sie Jason doch laufen lassen.«

»Himmel!« Jason sah ihn entsetzt an. »Glaubst du im Ernst, ich würde ohne euch einfach hier rausgehen? Wenn du eine Chance hast, hier rauszukommen, dann sieh zu, dass du sie wahrnimmst, Kerry.«

»Spar dir deinen Atem. Trask hat nicht die Absicht, einen von uns hier lebend rauszulassen.« Sie schaute Trask an. »Habe ich Recht?«

»Bedauerlicherweise ja.« Trask lächelte. »Obwohl ich wirklich glaube, dass wir beide seelenverwandt sind, und obwohl ich immer noch auf einen Durchbruch hoffe, würde ich zu viel Zeit brauchen, um Sie zu testen, damit ich mir Ihrer sicher sein könnte. Und leider lässt Ki Yong mir keine Zeit.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich werde mir den Luxus Ihrer Gesellschaft leisten, während Firestorm Ihren Vater und Ihren Bruder vertilgt, aber Sie wird leider dasselbe Schicksal ereilen, bevor ich heute Abend von hier aufbreche.«

Das verräterische Funkeln in Trasks Augen, als er auf die Uhr gesehen hatte, jagte ihr Angst ein. Womöglich lief ihr die Zeit davon.

Sie musste ihn unbedingt aufhalten, sie musste Silver und George eine Chance geben, sich rechtzeitig in Position zu bringen.

»Gestatten Sie mir ein paar Minuten mit den beiden allein, bevor es so weit ist?«

Nach kurzem Zögern zuckte Trask mit den Schultern.

»Warum nicht? Es könnte den Genuss noch steigern.« Er ging zur Tür. »Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde.«

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, lief sie zum Nachttisch und zog die Schublade auf. Keine Schere, verdammt!

Nichts, was scharf genug war, um die Seile durchzuschneiden.

»Was machst du da?«, fragte ihr Vater.

»Ich suche nach etwas, womit ich eure Fesseln durchschneiden kann.«

Wenn sie das Fenster einschlug, würde Trask es hören, bevor sie dazu kam, sich eine Scherbe zu schnappen … Sie ging an den Schreibtisch und öffnete die oberste Schublade. Nichts.

»Versuch, mit Trask zu verhandeln«, sagte Ron Murphy. »Du hast noch nicht mal versucht, mit dem Mistkerl zu reden. Jason ist dein Bruder. Rette ihn.«

»Halt die Klappe, Dad!«, fauchte Jason. Dann sagte er zu Kerry: »Wenn du eine Möglichkeit findest, hier rauszukommen, hau ab. Denk nicht an mich.«

»Sei nicht bescheuert. Ich liebe dich. Ich werde euch hier rausbringen.«

»Ich habe es nicht verdient, dass du dein Leben für mich opferst.«

»Von wegen!« Während sie eine andere Schublade durchwühlte, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu: »Außerdem bringt Laura mich um, wenn ich zulasse, dass dir was zustößt.

Ich habe nicht vor –«

»Dachte ich’s mir doch, dass Sie keine Zeit mit Gefühlsduselei vergeuden würden, wenn Sie Gelegenheit bekämen, etwas zu unternehmen«, sagte Trask, der plötzlich wieder im Zimmer stand. »Sehen Sie, wie gut ich Sie kenne? Lassen Sie die Finger von dem Schreibtisch und kommen Sie mit.« Er nahm eine kleine Fernbedienung aus der Tasche. »Ich möchte Firestorm jetzt noch nicht loslassen, es sei denn, Sie zwingen mich dazu.

Ich möchte gern noch etwas Zeit mit Ihnen genießen.«

Kerry erstarrte, als sie die Fernbedienung in seiner Hand sah.

Dann ging sie langsam auf ihn zu. »Und wo ist Firestorm?«

»Einsatzbereit im Van.«

»Warum sollten Sie dann jetzt auf den Knopf drücken? Dann würden Sie ja mit uns zusammen verbrennen.«

»Ich weiß, wo Firestorm als Erstes zuschlagen wird. Ich hätte noch ausreichend Zeit, unbeschadet das Haus zu verlassen.« Er deutete auf die Tür. »Nach Ihnen, Kerry. Wir werden es uns im Wohnzimmer gemütlich machen und ein bisschen plaudern, dabei werde ich Sie ansehen und meine Vorfreude auskosten.«

Er warf einen Blick auf die Fernbedienung. »Ich schätze, bei Ihnen kommt allmählich auch ein wenig Vorfreude auf.«

17

Langsam.

Ganz ruhig bleiben.

Ihn nicht erschrecken.

Vorsichtig näherte sich Silver dem Wachmann hinter dem Schuppen. Der Mann war groß und schlaksig und offenbar ziemlich nervös. Er ging unruhig auf und ab, den Blick auf das Haus geheftet.

Würde er in seine Psyche eindringen können?

Er probierte es.

Wahrscheinlich würde es ihm gelingen, doch der Wachmann war kein leichtes Opfer, er würde vielleicht zu lange brauchen.

Silver wusste nicht, wie viel Zeit ihnen noch blieb.

Er wusste nicht, wie viel Zeit Kerry noch blieb.

Es hatte keinen Zweck, zu versuchen, in seine Psyche einzudringen. Er musste ihn einfach so erledigen.

Schnell und lautlos. Sich von hinten anschleichen und dem Mistkerl das Genick brechen, bevor er sein Gewehr heben konnte.

»Setzen Sie sich.« Trask zeigte auf das Sofa. »Machen Sie es sich bequem.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ein kleiner Scherz«, sagte Trask. »Aber ich möchte, dass Sie sich so wohl wie möglich fühlen.«

Kerry hustete. »Dann machen Sie das Fenster zu. Wie können Sie diesen Rauch ertragen?«

»Ich genieße den Rauch.« Trask setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. »Sie werden sich schon noch daran gewöhnen. Das Feuer ist zu weit weg, um gefährlich zu werden.«

»Wie beruhigend!«

»Ich habe kein Interesse daran, Ihnen Angst zu machen. Ich habe gewonnen, und ich hoffe, dass ich ein großzügiger Sieger bin.«

»Wenn Sie großzügig wären, würden Sie Jason und meinen Vater freilassen.« Sie konnte nicht länger warten. Egal wie sehr sie sich vor dem fürchtete, was sie tun musste. Sie musste sich konzentrieren. In das Grauen eindringen, das er seinen Verstand nannte, und mit ihm verschmelzen. Sie holte tief Luft.

Hässlichkeit. Finsternis. Feuer. Verbranntes Fleisch.

Sie flüchtete vor dem Morast. Gott, sie würde es nicht schaffen!

»So weit reicht meine Großzügigkeit nicht«, sagte Task. »Ich habe mich zu lange auf diesen Augenblick gefreut. Außerdem kann ich es nicht ausstehen, wenn man mich besiegt. Genauso wenig, wie ich es ertragen kann, gedemütigt zu werden.«

» Verdammter Streber! « Tim Krazky saß grinsend auf ihm.

» Heulsuse! « Er ließ von ihm ab und blickte in die Runde der Mitschüler, die ihnen zuschauten, dann wandte er sich wieder an Trask. » Los, geh nach Hause zu deiner Mama, du Arschloch! «

Rache. Rache. Rache.

Brennendes Fleisch. Schreie. Hitze.

Freude.

»Sie sagen ja gar nichts«, bemerkte Trask. »Glauben Sie mir etwa nicht?«

Sie musste reden. Wenn sie nichts sagte, könnte er die Geduld verlieren und sie die Zeit, die sie brauchte.

Der Geruch von brennendem Fleisch.

Reden? Sie war so tief in seine Visionen verstrickt, dass sie kaum noch normal funktionieren konnte. Tod und Hass und brennendes Fleisch waren so sehr Teil seiner Erinnerung und seines Strebens, dass sie sich seiner Psyche nicht nähern konnte, ohne sich davon überwältigt zu fühlen. Am liebsten hätte sie die Flucht davor ergriffen.

Sie musste bleiben, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Und dann nach dem richtigen Pfad suchen. So hatte Silver es ihr beigebracht. Sie durfte kein Feigling sein. Sie musste sich zwingen, es zu tun, den richtigen Pfad zu finden.

Aber sie musste Trask am Reden halten, während sie sich konzentrierte. Beinahe panisch suchte sie nach einem Gesprächsthema. Natürlich: das Element, das sein Leben bestimmte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Leute wagen, Sie zu demütigen. Aber als Sie das Haus der Krazkys angezündet haben, waren Sie noch ein Kind. Sie hätten eine simplere Methode finden können, um ihn zu bestrafen.«

»Es gibt nichts Simpleres als Feuer.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Nichts Saubereres. Nichts Schöneres.«

Ein kleines Mädchen, das mit den Fäusten gegen das Fenster schlug und versuchte, aus dem Haus zu gelangen.

Sie musste seine Erinnerung ausblenden. Das Hässliche überwinden. Versuchen, den richtigen Pfad zu finden. Falls es einen gab …

»Was glauben Sie wohl, warum die meisten Leute größten Wert darauf legen, einen offenen Kamin in ihrem Haus zu haben?«, fragte Trask. »Jeder ist fasziniert von den Flammen und von der Vorstellung, er könnte das Feuer beherrschen. Aber das ist reine Dummheit. Das Feuer wartet nur auf einen unachtsamen Augenblick, um zurückzuschlagen.« Er betrachtete die Fernbedienung in seiner Hand. »Ich bin der Einzige, der das Feuer beherrscht.«

Der Pfad führte nirgendwohin. Sie musste es mit einem anderen probieren. Und ihn am Reden halten. »Firestorm. Aber beherrschen Sie Firestorm wirklich oder beherrscht es vielmehr Sie?«

»Firestorm ist mein Werk.« Er runzelte die Stirn. »Natürlich bin ich derjenige, der die Kontrolle in der Hand hat.«

»Das glaube ich nicht.«

Sie hatte einen neuen Pfad gefunden! Er war tiefer und gewundener. Sie musste sich beeilen. Lieber Gott, lass es den richtigen Pfad sein!

»Glauben Sie, was Sie wollen.« Er entspannte sich wieder.

»Ich verstehe, dass Sie Firestorm für allmächtig halten. Ich habe es absichtlich so ausgelegt, und zwar von dem Augenblick an, als mir klar wurde, dass, wer das Feuer beherrscht, gottähnlich ist. Es geschieht nicht oft, dass ein Mensch Gelegenheit bekommt, Gott zu spielen.«

Sie war tiefer denn je in seine Psyche eingedrungen. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich den richtigen Pfad gefunden. Sie musste schneller vorgehen. Und beten, dass sie nicht auf eine Barriere treffen würde. »Und wie spielt man Gott?«

»Es ist eine Frage der Macht. Steht nicht schon in der Bibel, dass die Welt durch Feuer zerstört werden wird?«

Er schnippte mit den Fingern. »Ich bin in der Lage, das zu tun.«

Sie war angekommen. Jetzt musste sie anfangen, Einfluss auf ihn auszuüben. Was hatte Trask als Letztes gesagt? Sie musste darauf antworten. »Sie überschätzen Firestorm. Das kann es nicht leisten.«

»Noch nicht. Geben Sie mir noch fünf Jahre, dann wird es ausgereift sein. Die ultimative Macht. Sie wären beeindruckt. Zu schade, dass Sie das nicht mehr erleben werden.«

Sie wappnete sich. Würde sie es schaffen? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Sie machte einen ersten Versuch.

Er schien nichts zu bemerken. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es bedaure, dass Sie –«

Vorschlagen, nicht verlangen, hatte Silver gesagt.

Noch ein Versuch.

Rauch. Schwindel.

Trask schüttelte den Kopf, wie um wieder klar denken zu können. »Der Rauch, der durchs Fenster kommt, wird immer dichter.«

Danke, lieber Gott. »Ach, das hatte ich noch gar nicht bemerkt.«

Rauch. Brennen in der Lunge. Brennen in den Augen.

»Normalerweise fällt es mir auch nicht auf. Normalerweise …

genieße ich den Rauch.«

»Ich hole mir ein Glas Wasser, dann werde ich mich wieder besser fühlen.« Er stand auf, trat an den Schrank und füllte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe. »Trinken. Das ist das Einzige, wozu Wasser etwas taugt, wissen Sie. Im Prinzip verabscheue ich Wasser.«

Kratzen im Hals. Würgen.

Er begann zu husten. »Verdammt! Ich kann nicht mal …

schlucken. Vielleicht sollte ich doch lieber das Fenster schließen. Eigentlich schade.« Er ging auf das Fenster zu.

Erstickungsangst. Brennen in der Lunge.

»Verflucht, ich bekomme … keine Luft.« Er stopfte die Fernbedienung in die Hosentasche und machte sich am Fenster zu schaffen.

Weitermachen.

Stechende Schmerzen in der Lunge.

Stand er jetzt gut sichtbar am Fenster? Was, wenn es ihm gelang, das Fenster zu öffnen und sich wieder in seinen Sessel zu setzen? Himmel, was war, wenn Silver nicht genug Zeit hatte, um ihn zu erschießen?

Weitermachen.

»Mist!« Trask ließ den Fenstergriff los. »Der Griff ist heiß, verdammt!«

»Was hatten Sie denn erwartet, wenn Sie dauernd mit dem Feuer spielen? Da müssen Sie doch damit rechnen, dass Sie sich irgendwann verbrennen.« Sie musste dafür sorgen, dass seine Hände beschäftigt waren und er die Fernbedienung nicht wieder aus der Hosentasche zog.

»Versuchen Sie’s halt noch mal.«

»Sind Sie verrückt?« Er trat vom Fenster weg. »Ich kann den Griff nicht mit bloßen Händen anfassen. Vielleicht sollten wir lieber nach draußen gehen. Da wird der Rauch nicht so schlimm sein.«

Aber wenn er sich bewegte, würde es Silver schwerer fallen, ihn zu treffen, verdammt.

»Kommen Sie.« Er ging zur Haustür. »Los, bewegen Sie sich!«

»Beinahe hätte ich ihn erwischt.« George fluchte vor sich hin, als Trask aus seinem Blickfeld verschwand. »Noch zwei Sekunden und ich hätte ihn erledigen können.«

»Behalten Sie das Fenster im Auge«, sagte Silver. »Er wird sich wieder zeigen.«

»Wie Sie wollen. Ich wünschte, ich wäre mir so sicher wie Sie«, murmelte George. »Manchmal kriegt man nur eine Chance.«

Er war sich auch nicht ganz so sicher, dachte Silver. Wenn Kerry die Kontrolle verloren hatte, würde sie vielleicht nicht in der Lage sein, sie wiederzugewinnen. Sein Instinkt sagte ihm, es wäre besser, dieses verdammte Wartespiel zu beenden und das Haus zu stürmen.

Er würde ihr noch eine Chance geben. Er würde ihr vertrauen.

Er hoffte inständig, dass er keinen Fehler machte.

»Worauf warten Sie noch?« Trask schaute sie über seine Schulter hinweg an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, wir gehen nach draußen.«

»Ich komme ja schon.« Langsam stand sie auf. Sie musste ihn dazu bewegen, im Haus zu bleiben. Sie wusste nicht, was er tun würde, wenn er erst einmal die Veranda erreicht hatte.

Verdammt, womöglich würde er auf die Idee kommen, Firestorm von seinem Van aus zu aktivieren. Sie durfte auf keinen Fall in Panik geraten. Sie würde es schaffen.

»Nach draußen zu gehen ist wahrscheinlich das Beste.« Sie ging auf ihn zu. »Ich kriege auch kaum noch Luft. Glauben Sie, draußen ist der Rauch weniger dicht?«

»Er kann nicht –« Er musste husten. Weitermachen.

Schmerzende Lunge. Brennende, tränende Augen.

Er blieb stehen. »Vielleicht sollten wir doch lieber im Haus bleiben. Hier an der Tür ist er dichter.«

»Aber was wollen Sie dann machen?«

Das Fenster. Das Fenster.

»Das, was ich von Anfang an hätte tun sollen. Ich werde das verdammte Fenster schließen.« Er schnappte sich ein Deckchen vom Wohnzimmertisch und trat ans offene Fenster. »Mit dem Lappen schaffe ich es vielleicht.«

»Ja, das ist eine gute Idee.«

»Was ist los?« Er schaute sie über die Schulter hinweg an, blieb jedoch am Fenster stehen. »Was gibt’s da zu grinsen?«

»Grinse ich?« Falls sie grinste, dann vor Genugtuung. »Ja, warum wohl? Vielleicht weil Sie doch nicht so mächtig sind wie Gott.«

»Sie haben ja überhaupt keine –«

Er brach ab, als die Kugel ihn in die Brust traf.

»Nein!« Er klammerte sich am Fensterrahmen fest.

»Scheiße!« Er sackte zu Boden, doch noch während seine Knie unter ihm nachgaben, versuchte er, die Fernbedienung aus seiner Hosentasche zu holen. »Ich werde nicht zulassen –«

Kerry stürzte auf ihn zu, schlug seine Hand weg und schnappte sich die Fernbedienung. »Das Spiel ist aus, Sie Dreckskerl!«

»Verdammtes Miststück!«, flüsterte er. »Sie werden nicht gewinnen. Ich werde Sie nicht –«

»Ich habe schon gewonnen. Sie sind ein toter Mann, Trask.«

Sein Hass war überwältigend. Selbst in seinen letzten Minuten hatte er keine Angst vor dem Tod. Nur Feuer und Dunkelheit und Rachedurst.

Schwindel.

Gift.

Feuer.

»Raus jetzt!« Das war Silvers Stimme. Silver stand neben ihr.

»Was zum Teufel hast du noch in seinem Kopf zu suchen?

Mach, dass du da rauskommst!«

Sie kam nicht von ihm los. Die schiere Macht des Bösen im Zentrum von Trasks Psyche hielt sie fest.

»Lass ihn los!«, schrie Silver.

Trasks Augen wurden glasig, aber sie spürte, dass er irgendwie

begriff. Er lächelte. »Sie … sind … gefangen. Hab Ihnen ja gesagt … ich würde … gewinnen. Sie kommen … mit mir.«

»Von wegen!« Silver stellte sich zwischen sie. »Halt durch, Kerry.«

Sie schrie vor Schmerz, als sie losgerissen wurde und hinaus in die Dunkelheit taumelte.

»Alles in Ordnung, Kerry. Wach auf, verdammt!«

Als sie die Augen öffnete, sah sie Silver, der sich über sie beugte. »Ich bin … wach.« Sie setzte sich auf und schaute Trask an. Seine Augen waren weit offen, aber sein Gesicht hatte sich im Todeskampf verzerrt. »Tot?«

»Mausetot.« Silver stand auf und half ihr auf die Beine.

»Möge er in der Hölle schmoren.«

Sie fühlte sich schwach auf den Beinen und musste sich einen Moment lang an Silver festhalten. »Nein, kein … Höllenfeuer.

Das … würde ihm zu sehr gefallen.«

»Setz dich.« Er musterte sie. »Es geht dir immer noch nicht gut.«

»Besser, als es mir ginge, wenn du mich diesem Scheißkerl nicht entrissen hättest.« Sie ließ sich in den Sessel sinken. »Wo ist George?«

»Nachdem er das erste Mal versucht hat, Trask zu erschießen, ist er unterwegs, um sich Ki Yong vorzunehmen.« Silver zögerte. »Ich sollte ihm besser folgen. Es könnte sein, dass er meine Hilfe braucht.«

»Tu das. Ich ruhe mich ein paar Minuten aus, dann befreie ich Jason und meinen Vater. Die beiden sind oben im Schlafzimmer und sie sind gefesselt. Aber keine Sorge, ich schaffe das schon.«

Er schaute sie durchdringend an. »Ja, das wirst du.«

Er ging zur Tür. »Ich werde nicht lange weg sein.

Wahrscheinlich komme ich nicht mal rechtzeitig, um George zu helfen. Er arbeitet sehr schnell.«

Nachdem er gegangen war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Himmel, fühlte sie sich schwach!

Sie ließ sich noch ein paar Minuten Zeit, um ihre Kräfte zu sammeln. Sie war völlig erschöpft. Kaum vorstellbar, dass es vorbei war, dass das Böse, das Trask verkörpert hatte, vom Erdboden getilgt war.

Aber Jason wusste nicht, dass die Gefahr vorüber war, und es war nicht fair, ihn im Ungewissen zu lassen.

Langsam stand sie auf und schleppte sich in die Küche. Sie musste ein Messer finden, um die Fesseln der beiden durchzuschneiden. Wo war die Besteckschublade? In der Küche schien der Rauch dichter zu sein. Sie öffnete drei Schubladen, bis sie ein Messer fand.

Kaum hatte sie das Messer in der Hand, hörte sie es.

Knistern.

Über ihr, in der Küchendecke.

Es kam von oben, wo das Schlafzimmer lag.

Sie erstarrte. »Nein!«

Sie stürzte aus der Küche und rannte die Treppe hinauf.

Überall Rauch. Nicht aus der Scheune, sondern im Haus!

Sie werden nicht gewinnen, hatte Trask gesagt. Der Scheißkerl hatte dafür gesorgt, dass Firestorm automatisch in Gang gesetzt wurde, wenn er nicht rechtzeitig auf den Knopf drückte.

Flammen züngelten am Treppengeländer, genauso wie in Jasons Haus in Macon.

Nein, es war eher so wie bei dem Feuer in ihrem Haus vor all den Jahren.

Mama, wo bist du?

Hinter dir, Kerry. Hol Hilfe.

Ich will dich nicht allein lassen.

Warum erinnerte sie sich jetzt daran? Sie war kein kleines Mädchen mehr. Sie war nicht hilflos. Sie konnte Jason retten.

Sie rannte auf die Schlafzimmertür zu, aus deren Rahmen schon die Flammen züngelten.

Rauch. Zu viel Rauch. Sie schützte ihr Gesicht mit den Händen.

Keine Zeit. Sie riss die Schlafzimmertür auf. Die Vorhänge und der Teppich vor dem Fenster standen in Flammen.

Jason hing schlaff auf dem Stuhl, aber er war noch bei Bewusstsein. »Mach, dass du rauskommst, Kerry!«

»Nicht reden. Versuch, flach zu atmen.« Sie durchtrennte seine Fesseln.

Das Feuer sprang von den Vorhängen aufs Bett über, die Bettdecke brannte schon.

»Kümmer dich … um Dad«, flüsterte Jason.

Sie warf einen Blick auf ihren Vater.

Ein Mann unter der Laterne.

Blaue Augen.

»Erst wenn ich dich befreit habe.«

»Das ganze Bett wird gleich in Flammen stehen. Kümmer dich um ihn!«

»Ich bin … gleich so weit.« Endlich hatte sie alle Fesseln durchgeschnitten.

Er riss ihr das Messer aus der Hand und sprang auf.

Im nächsten Augenblick stand er am Bett und durchschnitt die Fesseln seines Vaters. Kerry eilte ihm zu Hilfe. Dann lud Jason sich seinen Vater auf die Schultern und trug ihn wankend und hustend die Treppe hinunter.

Kerry schnappte sich ein Tuch vom Schaukelstuhl, hielt es sich vors Gesicht und folgte den beiden. Im Erdgeschoss loderte das Feuer.

Der Rauch war so dicht, dass sie Jason nicht mehr sehen konnte.

Wo war er?

Dann sah sie ihn.

Sie schrie.

Jason stand in Flammen, dennoch klammerte er sich an seinen Vater.

»Lass ihn fallen, Jason. Wirf dich auf den Boden!« Sie riss ihren Vater aus Jasons Armen, warf die Decke über Jason und versuchte, die Flammen zu ersticken.

»Nein«, sagte er mit halb erstickter Stimme. »Zu spät. Rette …

ihn.« Er taumelte rückwärts gegen das brennende Geländer.

»Musst ihn … retten. Ich muss …« Das Geländer gab nach und er stürzte in die Flammen.

»Jason!«

Sie musste zu ihm gelangen. Es schien aussichtslos, aber vielleicht hatte sie noch eine Chance …

Sie lief die Treppe hinunter, doch dann blieb sie plötzlich stehen.

Rette ihn. Du musst Dad retten, hatte Jason gesagt.

Aber sie brauchte ihn nicht zu retten. Nicht wenn sie keine Chance hatte, Jason zu retten.

Doch, sie musste ihn retten.

Sie packte ihren Vater unter den Armen und schleppte ihn die Treppe hinunter.

Rauch. Dunkelheit. Züngelnde Flammen im Wohnzimmer.

Und Jason mitten in einem dieser tödlichen Flammenherde.

Sie machte sich etwas vor. Es gab keine reelle Chance.

Niemand konnte diesen Flammen lebend entkommen.

Wahrscheinlich war er schon tot.

»Ich nehme ihn.« Silver war plötzlich neben ihr und nahm ihr ihren Vater ab. »Mach, dass du hier rauskommst.«

Sie drehte sich noch einmal um. Sie musste es wenigstens versuchen. Sie lief auf das Feuer zu. »Jason. Ich kann ihn nicht hier liegen lassen. Ich muss –« Sie blieb stehen, als die Treppe krachend zusammenbrach.

Oder war sie von einem Pistolengriff am Kopf getroffen worden?

Der Mann unter der Laterne. ja, das war es. Feuer.

Mama.

Mama, die nicht gerettet werden konnte.

Versuch es! Lauf!

Aber der Weg über die Straße zu der Laterne hin war wie ein endlos langer Tunnel.

Zu spät.

Ein Pistolengriff, der sie am Kopf traf.

Blaue Augen …

Gelbe Wände. Weiße Laken. Eine dicke Krankenschwester, die mit geübten Händen die Sauerstoffflasche neben ihrem Bett justierte.

Krankenhaus.

»Wo …« Sie quakte wie ein Frosch.

Die Schwester drehte sich zu ihr um und lächelte.

»Hallo, ich bin Patti. Sie haben bestimmt Durst.« Sie schob Kerry einen Strohhalm zwischen die Lippen und hielt ihn fest, während Kerry daran saugte. »Sie sind im Krankenhaus von Macon und es geht Ihnen den Umständen entsprechend gut. Ein paar Verbrennungen ersten Grades und eine leichte Rauchvergiftung. Sie haben Glück gehabt. Das muss ein ziemlich schlimmes Feuer gewesen sein.«

Jason stand in Flammen, als er ins Feuer stürzte. Kerry schloss die Augen, als die Erinnerung wiederkehrte.

»Ja.«

Das Lächeln der Schwester verschwand. »Na ja, Glück gehabt ist vielleicht übertrieben, aber es gibt Leute, die sich um Sie kümmern. Mr Silver hat das Wartezimmer nicht verlassen, seit man Sie hergebracht hat. Soll ich den Arzt fragen, ob er Sie besuchen darf? Er macht gerade seine Visite.«

»Noch nicht. Was ist mit … meinem Bruder?«

Die Schwester antwortete nicht auf die Frage. »Ich glaube, Sie sollten lieber mit dem Arzt sprechen.«

Weil die Schwester ihr nicht selbst sagen wollte, dass Jason tot war, dachte Kerry. »Ist mein Vater auch hier im Krankenhaus?«

Die Schwester nickte. »Auf demselben Korridor. Es geht ihm gut. Er wird noch heute entlassen.«

»Würden Sie ihn bitten, mich zu besuchen?«

»Jetzt?«

»Ja, bitte.«

»Ich glaube, das ist eine gute Idee.« Die Schwester ging zur Tür. »Ich werde den Arzt fragen.«

Jason.

Kerry schloss die Augen, als ihr Tränen in die Augen traten und über die Wangen liefen.

»Du wolltest mich sprechen?«

Als sie die Augen öffnete, sah sie ihren Vater in der Tür stehen. Er sah gar nicht so gut aus, wie die Schwester ihr eingeredet hatte. Er war blass und wirkte erschöpft und …

gebrochen.

»Ist Jason tot?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Ja. Du hast einen Fehler gemacht. Du hättest nicht mich, sondern ihn retten sollen.«

»Ich habe es versucht. Aber er wollte es nicht. Er hat dich die Treppe runtergetragen.«

Er zuckte zusammen. »Das hat mir niemand gesagt.«

»Niemand außer mir wusste es. Das Letzte, was er gesagt hat, war, dass ich dich retten soll.« Sie schluckte. »Er hat dich sehr geliebt.«

»Ich ihn auch.«

»Ich weiß.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Du hast ihn so sehr geliebt, dass du ihn sein Leben lang geschützt hast.«

Er erstarrte. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Er hat das Feuer gelegt, in dem meine Mutter ums Leben gekommen ist. Jason war der Mann, der unter der Laterne gestanden und zugesehen hat, wie das Haus abbrannte.«

»Du bist ja verrückt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war Jason.«

Er starrte sie an. »Du erinnerst dich daran?«

»Heute Nacht habe ich mich wieder erinnert.« Ihr Kinn bebte.

»Ich hatte immer gehofft, du wärst es gewesen. Aber du warst es nicht. Jason hat das Feuer gelegt. Jason hat mir die Pistole auf den Kopf geschlagen. Ich will nur wissen, warum. Warum hat er das getan?«

»Er wollte dir nicht wehtun. Er hat dich geliebt. Er war nur ein verwirrter Teenager.« Seine Kiefermuskeln spannten sich. »Es war meine Schuld. Meine und die von diesem Miststück Myra.

Wir haben ihn völlig durcheinander gebracht. Du warst damals noch ein kleines Kind, aber er war ein Teenager und wusste, was los war. Er ist immer ein sensibler Junge gewesen, und diese ganze Streiterei … Daran ist er fast zerbrochen.«

»Und deswegen hat er seine eigene Mutter umgebracht?«

»Er wollte sie nicht umbringen. Ich hatte ihm erzählt, deine Mutter und du, ihr wärt übers Wochenende zu deiner Tante nach Macon gefahren. Ich hatte angenommen, dann würde es ihm leichter fallen, sich von Myra zu trennen und mit mir nach Kanada zu kommen.«

»Wenn ihr in Kanada wart, wie ist er dann nach Boston gekommen?«

»Ich musste kurz weg wegen eines Auftrags, als wir in einer Hütte in der Nähe von Toronto waren. Es sollte nur für ein paar Tage sein, aber das war die Gelegenheit für ihn. Später hat er mir erzählt, er hätte das mit dem Feuer schon geplant, bevor wir nach Kanada aufgebrochen waren. Er hatte das Benzin in der Laube hinter dem Haus versteckt. Nachdem er mich zum Flughafen gebracht hatte, ist er mit meinem Mietwagen nach Boston gefahren. Es ist ganz leicht, die Grenze von Kanada in die USA zu überqueren, ohne kontrolliert zu werden. Und Jason ist schon immer ein kluger Junge gewesen.«

»Sehr, sehr klug«, sagte Kerry tonlos.

»Hör auf, ihm die Schuld zu geben!«, fauchte ihr Vater. »Er wollte niemandem wehtun. Ich sag dir doch, er dachte, es wäre niemand im Haus. Er wusste, dass ich nicht wollte, dass sie das Haus bekam. Er wusste, wie viel mir das Haus bedeutete. Er hat es für mich getan.«

»Aber das Haus war nicht leer. Das hat er spätestens gewusst, als ich auf ihn zugelaufen kam. Er hätte unsere Mutter retten können.«

»Wahrscheinlich war es da schon zu spät.«

»Er hätte es wenigstens versuchen können.«

»Er ist in Panik geraten. Er stand unter Schock.« Als sie ihn unverwandt anstarrte, fuhr er heiser fort: »Für dich ist es leicht, ihn zu verurteilen. Ich sage dir, ich habe ihm das angetan. Myra und ich. Kannst du dir vorstellen, wie viele Jahre lang er sich gequält hat? Während du im Koma gelegen hast, bin ich mit Jason von einem Psychiater zum nächsten gerannt. Er wollte zur Polizei gehen und gestehen. Er wollte bestraft werden. Aber das konnte ich nicht zulassen. Die hätten ihn für etwas eingesperrt, an dem ich die Schuld trug.«

»Also hast du ihn dazu gebracht, dass er das Geheimnis für sich behält?«

»Er hatte ein anständiges Leben verdient. Es war nicht seine Schuld.«

»Nicht in deinen Augen. Ich glaube, er ist mit der Schuld nie fertig geworden. Als er versucht hat, dein Leben zu retten, wollte er um keinen Preis aufgeben. Ich glaube, er hätte es einfach nicht ertragen können, noch eine Leiche im Keller zu haben. Er hat etwas gesagt – Ich muss – Er konnte den Satz nicht beenden, aber er wollte wohl sagen, dass er etwas gutmachen musste.«

»Er war ein guter Junge.« Sie sah Tränen in den Augen ihres Vaters. »Und er wollte dir nie wehtun. Immer und immer wieder hat er zu mir gesagt, er müsste eigentlich im Koma liegen, nicht du.«

»Womit hat er mich geschlagen? Ich dachte, es wäre eine Pistole.«

Ron Murphy schüttelte den Kopf. »Es war ein Stück Bleirohr aus der Laube, in der er das Benzin gehortet hatte. Er konnte sich nicht mal erinnern, warum er es überhaupt aufgehoben hatte. Wahrscheinlich hat er sich einfach zu Tode gefürchtet vor dem, was er vorhatte zu tun.« Er holte tief Luft. »Als du aus dem Koma aufgewacht bist, hat er sich alle Mühe gegeben, um dir der beste Bruder auf der Welt zu sein. Das kannst du nicht leugnen.«

»Ja, er war mir ein guter Bruder. Niemand hätte fürsorglicher und liebevoller sein können.«

»Siehst du? Er konnte nicht … Es war meine Schuld.«

Er wandte sich ab. »Und an seinem Tod bin ich ebenfalls schuld. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte Trask ihn nie in die Finger gekriegt.« Plötzlich wandte er sich ihr wieder zu. »Du meinst, ich wäre dir kein guter Vater gewesen. Dass Jason immer nur alles für dich getan hätte.«

Er reckte sein Kinn vor. »Nun, vielleicht war es so. Ich hatte ihm gegenüber eine Pflicht zu erfüllen. Tut mir Leid, aber für dich war kein Raum mehr.«

Sie schaute ihn wortlos an.

»Die Beerdigung findet übermorgen statt«, murmelte er. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Kerry schloss die Augen, als ihr erneut die Tränen kamen. Sie wusste nicht, ob sie um ihre Mutter weinte oder um Jason oder um den Vater, den sie nie gehabt hatte. Vielleicht weinte sie um sie alle drei.

Gott, tat das weh!

Gegen Morgen schlief sie schließlich ein.

Als sie wenige Stunden später aufwachte, saß Silver neben ihrem Bett und hielt ihre Hand.

»Schick mich nicht weg!«, sagte er barsch. »Denn ich werde nicht gehen. Ich werde dir nicht auf die Nerven fallen. Ich werde einfach nur … bei dir sein.«

Er war auf diese ganz besonders intime Weise bei ihr und noch wollte sie sich ihm nicht verschließen. Die Nähe schenkte ihr Trost. »Du weißt von … Jason?«

»Wie sollte ich es nicht wissen? Von dem Augenblick an, als du festgestellt hattest, dass das Haus brannte, hat deine Psyche regelrecht um Hilfe geschrien. Deswegen bin ich zurückgekommen.« Seine Lippen spannten sich. »Und du hast überhaupt nicht mehr aufgehört zu schreien. Erst als du hier im Krankenhaus aufgewacht bist, klang es eher wie das Weinen eines Kindes. Glaubst du, ich hätte draußen bleiben können, während du dich so quälst?«

Sie versuchte zu lächeln. »Na ja, jedenfalls hast du nicht versucht, mich in Ordnung zu bringen.«

»Ich war in Versuchung. Aber dann hättest du keine Chance auf Heilung gehabt. Du musst den Schmerz aushalten, der gehört zum Heilungsprozess.«

»Ja. Ich … habe Jason geliebt, Silver.«

»Das weiß ich. Ich denke, wir wissen beide, warum du dich nicht erinnern wolltest, wer das Haus deiner Eltern in Brand gesetzt hat. Du konntest es nicht ertragen, dass derjenige, den du am meisten geliebt hast, für das Feuer verantwortlich war.«

»Ich kann es immer noch nicht ertragen.« Jetzt bloß nicht in Tränen ausbrechen. Sie wechselte das Thema.

»Was ist mit Ki Yong?«

»Um den und dessen Fahrer hat George sich gekümmert. Auf sehr effiziente und sehr tödliche Weise. Ich habe Travis angerufen und ihn gebeten, ein paar Leute herzuschicken, die die Leichen verschwinden lassen, damit es keinen diplomatischen Skandal gibt.«

»Und Firestorm?«

»Zerstört. Wir suchen immer noch nach Trasks Unterschlupf, um möglicherweise noch vorhandene Dokumente einzusammeln und zu vernichten. In seinem Van haben wir ein paar Tankstellenquittungen gefunden, die uns vielleicht weiterhelfen können. Wenn nicht, müssen wir einfach weitersuchen.«

»Die müssen alles finden. Wenn jemand anders … Das wäre der Weltuntergang …«

»Sie werden alles finden. Keine Sorge. Am besten, du schläfst noch ein bisschen.«

»Mach ich. Ich will nicht wach bleiben. Ich bin so traurig …«

»Ich weiß.« Er drückte ihre Hand. »Das wird vorübergehen.«

»Ich hoffe es«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Gleich nach der Beerdigung fahre ich zurück nach Atlanta. Kannst du jemanden bitten, mir Sam so bald wie möglich nach Atlanta zu bringen? Ich muss arbeiten.«

Er nickte. »Ich bringe ihn dir.«

Sie schüttelte den Kopf.

Er zuckte die Achseln. »Es war ein Versuch. Ist in Ordnung.

Ich lasse dir ein bisschen Zeit.« Er holte tief Luft. »Wie lange?«

»Ich kann dir nicht sagen … Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre es besser, wenn wir beide unserer eigenen Wege gingen.«

»Nein, verdammt! Das ist unakzeptabel. Wie lange?«

»Hör auf, mich zu drängen.«

»Warum?« Seine Mundwinkel zuckten. »Ich bin schließlich verdammt gut darin. Es ist die Facette meines Charakters, die du zu schätzen gelernt hast.« Er stand auf. »Aber du bist im Moment nicht zurechnungsfähig. Ich werde dich in Ruhe trauern lassen.«

Sie wandte sich ab. »Und ich will versuchen, die Verbindung zu lösen.«

Er zuckte zusammen. »Blödsinn!«

»Wir sollten beide frei sein.«

»Dann musst du das übernehmen. Mir gefällt es so, wie es ist.«

»Warum? Du hast doch selbst gesagt, du könntest es nicht ausstehen, an jemanden gebunden zu sein.«

»Du weißt, warum.« Er beugte sich vor, fasste sie am Kinn und drehte ihr Gesicht so, dass sie ihm in die Augen sehen musste. »Wenn du es dir eingestehst. Und jetzt sag mir: Wie lange möchte ich an dich gebunden sein? Wie viele Jahre? Auf wie viele verschiedene Weisen?«

Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Zum ersten Mal gewährte er ihr vollen Zugang. Er war ganz offen, verletzlich und einsam. Gott, wie einsam er war!

Der Augenblick schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Silver brach ihn schließlich ab, indem er sich von ihr abwandte. »Ich werde mich von dir fern halten, solange ich es ertrage.« Er verließ das Zimmer.

Gott, sie heulte ja schon wieder! Das ergab alles keinen Sinn.

Er war hart und ungehobelt und dominant, ein Leben mit ihm würde ihr nie die Normalität bescheren, nach der sie sich all die Jahre gesehnt hatte. Der Versuch, sich gänzlich von ihm zu lösen, war richtig gewesen. Es war die vernünftige Lösung.

Und dieses Gefühl des Verlassenseins würde mit der Zeit nachlassen.

Eine lange Schlange von Autos verließ den Friedhof, als Kerry auf die Limousine zuging, wo Laura und ihr Vater beieinander standen und sich unterhielten.

Sie durfte nicht zu dem Zelt hinübersehen, unter dem der Sarg verborgen war. Sie musste ihren Blick auf Laura heften. Sie würde das durchstehen.

Laura drehte sich um, als Kerry sich näherte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, sie wirkte mitgenommen und … alt.

»Es war ein schöner Gottesdienst, nicht wahr? So viele Menschen haben ihn geliebt …« Laura versagte die Stimme und sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie atmete tief durch, dann fuhr sie fort: »Ron hat mir gerade erzählt, wie mutig Jason war.

Er war ein echter Held.«

Kerry schaute ihren Vater an. Er wirkte beinahe so gebrochen wie Laura. »Ja.«

»Aber ich habe auch so immer gewusst, was für ein wunderbarer Mann Jason war.« Sie schüttelte Ron Murphy die Hand. »Danke, dass du so nett zu mir warst. Ich weiß, es ist dir nicht leicht gefallen, darüber zu sprechen; aber zu wissen, was sich in der Nacht abgespielt hat, bedeutet mir eine Menge.«

»Ruf mich an, wenn ich irgendwas für dich tun kann. Jason hätte gewollt, dass ich mich um dich kümmere.«

Er schaute Kerry an und sagte mit zitternder Stimme: »Leb wohl, Kerry.« Dann ging er eilig zu seinem Wagen, der hinter der Limousine stand.

Kerry wandte sich an Laura. »Soll ich dich ins Hotel begleiten?«

Laura schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich fahre zu meiner Mutter. Vielleicht kann ich ein bisschen in ihrem Garten arbeiten. Ich muss mich beschäftigen und in einem Garten ist so viel Leben und so viel neues Werden.«

Sie versuchte zu lächeln. »Komisch, wie es uns immer zurück zu unserer Mutter zieht, wenn etwas Tragisches passiert, nicht wahr? Wir haben uns nicht sehr weit entwickelt seit den Zeiten, als wir noch in Höhlen lebten.«

»Ich denke, das ist eine gute Idee, zu deiner Mutter zu fahren.«

Kerry umarmte ihre Schwägerin. »Ich melde mich in ein paar Tagen bei dir.«

Laura nickte. »Ja, tu das.« Sie stieg in die Limousine. »Aber nicht jetzt. Lieber später …«

Kerry schaute ihr nach, als sie wegfuhr. Leben und neues Werden. Selbst in ihrer Verzweiflung versuchte Laura, einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Kerry wünschte, sie wäre in ihrem Trauerprozess auch schon so weit.

»Kerry?«

Als sie herumfuhr, sah sie Carmela in der Nähe stehen. »Was in aller Welt machst du denn hier?«

Carmela antwortete nicht, sondern schaute zu dem grünen Baldachin hinüber, der das Grab überdeckte.

»Was für ein Mist! Es tut mir so Leid, Kerry.«

»Danke. Sehr nett von dir, dass du hergekommen bist.«

Carmela trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Na ja, ich bin eigentlich nicht gekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken. Ich kann Beerdigungen irgendwie nicht ausstehen.«

»Ich auch nicht. Also, warum bist du gekommen?«

»Um mich um Sie zu kümmern.«

»Wie bitte?«

»Mr Silver meinte, Sie bräuchten jemanden, der sich um Sie kümmert. Er hat gesagt, dass Sie im Moment ziemlich allein sind und dass das schrecklich für Sie ist. Er hat gesagt, Rosa und ich müssten uns jetzt um Sie kümmern.« Als Kerry etwas darauf entgegnen wollte, fiel sie ihr ins Wort. »Ich hab Ihnen ja gesagt, ich bin Ihnen was schuldig. Ich wollte Ihre Hilfe nicht umsonst haben. Ich kann alles Mögliche. Zum Beispiel putzen und kochen. Bald mache ich meinen Führerschein, dann kann ich für Sie einkaufen fahren. Ich gehe jetzt wieder zur Schule, aber Rosa kann auch helfen.«

Kerry schüttelte verwirrt den Kopf. »Silver hat dich geschickt?«

Carmela nickte. »Er hat uns gestern Abend abgeholt und hierher gebracht. Er meinte, eigentlich hätte er mich woanders unterbringen wollen, aber so wäre es besser. Er wusste, dass ich keine Lust hatte, bei Fremden zu wohnen. Es gibt nicht viele Leute, denen ich vertraue.«

Sie leckte sich die Lippen. »Also hab ich gesagt, das geht klar, ich kümmere mich um Sie. Rosa und ich haben unsere Sachen gepackt und Mr Silver hat uns hier abgeliefert.«

»Und wo ist Rosa?«

Mit einer Kopfbewegung deutete Carmela in Richtung Straße.

»Ich hab ihr gesagt, sie soll mit Sam am SUV auf uns warten.

Können wir jetzt gehen? Rosa kann Friedhöfe nicht ausstehen.«

Rosa oder Carmela? »Friedhöfe machen einen traurig, aber sie machen keine Angst.«

»Egal. Können wir jetzt gehen?«

Silver hatte kein Recht, ihr das anzutun, verdammt! Er versuchte, sich in ihr Leben einzumischen, sie »in Ordnung zu bringen«.

»Ist schon okay. Machen Sie sich nichts draus«, sagte Carmela. »Mr Silver hat sich geirrt, stimmt’s? Sie wollen uns nicht haben, nicht wahr?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Weil wir Ihnen Leid tun.« Sie reckte ihr Kinn vor. »Tja, das können Sie sich sparen. Wir kommen auch allein zurecht.«

Stolz, Angst und Trotz, all das lag in Carmelas Gesichtsausdruck.

Und die Ahnung von Leben und Wiedergeburt.

»Nein, Silver hat sich nicht geirrt.« Kerry nahm Carmelas Arm und ging mit ihr zu ihrem Wagen. »Ich brauche euch wirklich.

Ich bin eine miserable Hausfrau, deshalb werde ich euch hart rannehmen. Und Sam wird euch die Wände hochtreiben. Ihr habt keine Ahnung, wie viel Dreck der machen kann.« Sie ging schneller, als sie Rosa erblickte. »Und ich habe einen Garten, den ich fürchterlich vernachlässigt habe. Ich möchte etwas Schönes pflanzen. Wie gut eignet ihr beide euch denn als Gärtnerinnen?«

Epilog

OAKBROOK

Elf Monate später

»Das wurde allmählich Zeit, dass Sie hier aufkreuzen.«

George strahlte sie an, als er die Haustür weit öffnete.

»Ich war schon drauf und dran, das Weite zu suchen. Brad ist so unausstehlich wie ein Löwe mit einem Stachel in der Tatze.«

»Und was gibt’s Neues?« Kerry lächelte ihn an. »Machen Sie sich auf was gefasst! Ich werde etwas tun, was Ihr Feingefühl verletzen wird.« Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn.

Er seufzte. »Manche Menschen lernen nie, was sich gehört.«

»Ich habe mich nicht ordentlich verabschiedet, also begrüße ich Sie ordentlich, für mich gehört sich das. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich Sie noch hier antreffen würde, George.«

»Warum nicht? Was ich einmal angefangen habe, bringe ich auch zu Ende. Alles andere würde gegen meinen Ordnungssinn verstoßen.«

»Ich dachte, Sie wären hier fertig.«

Er schüttelte den Kopf. »Aber ich habe den Eindruck, dass es bald so weit sein könnte. Wie geht es unserer kleinen Carmela?«

»Sehr gut. Carmela und Rosa gehen beide zur Schule und schlagen sich wacker. Ich weiß gar nicht, was ich ohne die Mädels gemacht hätte. Es gibt nichts Besseres als Teenager, um einen vom Grübeln über die Vergangenheit abzulenken. Die leben ausschließlich im Hier und Jetzt.«

»Genau das hat Silver sich gesagt, als er die beiden zu Ihnen geschickt hat.«

»Ich weiß.« Sie lugte an ihm vorbei in Richtung Bibliothek.

Er war da. Sie konnte ihn spüren.

Und bald würde sie ihn sehen, ihn berühren.

»Ich schätze, ich bin hier im Moment überflüssig«, bemerkte George. »Haben Sie Gepäck mitgebracht?«

»Nur Sam.« Sie war bereits unterwegs durch die Diele.

»Würden Sie ihn bitte aus dem Wagen holen?«

»Mit Vergnügen. Ich träume schon seit Monaten davon, dass er mich endlich wieder mit seinen riesigen Pfoten besudelt und mit seiner schlabbrigen Zunge ableckt.«

Kerry blieb vor der Tür zur Bibliothek stehen. Es war albern, so ängstlich zu sein. Sie wusste, was sie da drin erwartete.

Sie öffnete die Tür.

»Meine Güte, du hast ja verdammt lange gebraucht!«, sagte Silver grimmig, als er sich vom Fenster abwandte. »Wenn ich nicht so geduldig wäre wie Hiob, dann würdest du jetzt richtig Ärger kriegen.«

Sie musste laut lachen. »Geduldig? Du? Willst du etwa leugnen, dass du mich schon seit drei Wochen zu drängen versuchst?«

Er schwieg einen Augenblick. »Na ja, vielleicht ein bisschen.

Aber du hättest mich jederzeit ausschließen können.«

»Ja, das hätte ich. Und ich hätte es tun sollen. Du wirst lernen müssen, die Entscheidung mir zu überlassen. Du hast Glück, dass ich meinen Entschluss schon vorher gefasst hatte.«

Er zuckte zusammen. »Entschluss?«

»Ja, ich habe mich entschlossen, mich nicht länger von dir einschüchtern zu lassen, sondern mich gegen dich zu behaupten.

Und ich habe mir gesagt, dass es keinen Grund gibt, mir nicht zu nehmen, was ich haben will.«

»Und was willst du haben?«

Sie lächelte ihn an. »Sag du’s mir.« Sie ging auf ihn zu. Gott, sie liebte ihn wirklich. Sie liebte seine raue Art, seine Schutzbarrieren und seine Verletzlichkeit, die er niemals irgendjemandem außer ihr zeigen würde.

»Komm rein und sieh nach.«

Er schaute sie an und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Wenn du gestattest.«

Verbunden.