Iris Johansen

Die Spur des

Feuers

s&p 10/2006

Kerry Murphy, Spezialistin für Brandstiftung, bildet mit ihrem Labrador Sam ein phantastisches Team. Niemand weiß, dass Kerry den Hund eigentlich nur zur Tarnung benötigt. Denn seit ihrer Kindheit, als ihre Mutter bei einem Brand ums Leben kam, verfügt sie über die telepathische Fähigkeit, Feuer aufzuspüren. Nun soll Kerry helfen, einem Serienmörder das Handwerk zu legen – einem Psychopathen, der eine Spur von Asche, Verwüstung und grausamen Toden hinterlässt …

ISBN: 978-3-548-26430-1

Original: Firestorm

Aus dem Englischen von Charlotte Breuer und Norbert Möllemann Verlag: Ullstein

Erscheinungsjahr: 1. Auflage Juni 2006

Umschlaggestaltung: Büro Hamburg

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Kerry Murphy fühlt das Feuer – egal wie weit es entfernt ist.

Seit sie als kleines Kind nur knapp den Brand überlebte, der ihre Mutter tötete, verfügt sie über diese unheimliche Gabe.

Mittlerweile hat sie einen Weg gefunden, sie zu nutzen: Sie hilft der Polizei, Fälle von Brandstiftung aufzuklären. Dass es nicht der Spürsinn ihres Labradors Sam ist, dem kein Brandherd verborgen bleibt, ahnt kaum jemand. Auch nicht, welche schrecklichen Alpträume Kerry immer wieder martern. Mit einer Ausnahme … Brad Silver weiß, wie es ist, sich quälenden Bildern nicht entziehen zu können, denn er verfügt ebenfalls über telepathische Fähigkeiten, seit er den Feuertod seines Bruders mit ansehen musste. Nun soll er im Auftrag des FBI Kerry überzeugen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Denn nur gemeinsam können sie einen Killer stoppen, dessen Grausamkeit alles übertrifft, was sie je erlebt haben.

Autor

Iris Johansen schafft mit ihren Psychothrillern immer wieder den Sprung auf die obersten Plätze der Bestsellerlisten der USA und wurde für ihre Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie lebt in der Nähe von Atlanta, Georgia.

Prolog

Sie bekam keine Luft!

»Mama!«

»Ich bin da, mein Schatz.« Kerry spürte, wie ihre Mutter sie in die Arme nahm. »Ich lege dir jetzt ein Tuch aufs Gesicht. Wehr dich nicht.«

Ihre Mutter hustete und Kerry konnte sie bei all dem Knacken und Knistern kaum verstehen.

Knistern?

Feuer! Flammen züngelten an den Vorhängen hoch.

»Alles in Ordnung, Kerry. Wir sind gleich draußen.«

Ihre Mutter ging mit ihr auf die Schlafzimmertür zu.

»Versuch einfach, nicht zu tief einzuatmen.«

»Daddy!«

»Er ist nicht da, hast du das schon vergessen? Aber wir schaffen das schon. Wir beide sind doch ein gutes Team.« Sie öffnete die Tür und wich instinktiv einen Schritt zurück, als ihr schwarzer Rauch entgegenquoll.

»O Gott!« Sie nahm all ihren Mut zusammen und rannte in den Flur hinaus.

Überall Feuer. Die Flammen krochen die Wände hoch, leckten hungrig am Treppengeländer und fraßen sich weiter nach unten.

Ihre Mutter weinte. Tränen liefen ihr über die rußverschmierten Wangen, während sie mit ihr auf dem Arm die Treppe hinuntereilte.

Nicht weinen. Nicht weinen, Mama.

Auf dem Treppenabsatz angekommen, geriet ihre Mutter ins Rutschen und verlor das Gleichgewicht.

Sie stürzten hinunter, schlugen auf die Stufen auf, alles tat weh.

Mama, wo bist du?

In der rauchgefüllten Dunkelheit konnte sie ihre Mutter nicht sehen.

»Mama!«

»Lauf, Kerry. Es ist nicht weit bis zur Tür. Lauf raus und hol Hilfe.«

»Nein, ich will nicht.« Kerry schluchzte und wimmerte. »Wo bist du?«

»Gleich hinter dir. Ich habe mir das Bein verletzt. Du musst auf mich hören! Lauf!«

Ihre Mutter hatte so gebieterisch gesprochen, dass Kerry aufsprang und zur Tür lief.

Frische, kalte Luft.

Sie musste jemanden finden. Sie musste jemanden holen, der ihrer Mama half.

Sie rutschte auf den vereisten Stufen aus und landete auf dem Gehweg.

Sie musste jemanden finden.

Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann unter der Laterne.

Kerry rappelte sich auf und lief auf ihn zu. »Hilfe! Feuer!

Mama …«

Der Mann wandte sich ab und ging fort. Wahrscheinlich hatte er sie nicht gehört.

Sie rannte hinter ihm her. »Bitte! Mama hat gesagt, ich soll –«

Er drehte sich um und sie schaute in sein vom Feuer nur schwach beleuchtetes Gesicht.

Sie schrie.

»Schsch, sei still. Du kannst gar nichts tun.« Er hob seine Hand und sie sah etwas Metallisches in seiner Faust schimmern.

Eine Pistole? Er schlug ihr mit dem Ding auf den Kopf.

Die Nacht explodierte.

1

OAKBROOK WASHINGTON, D. C.

»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Brad.« Cameron Devers schaute ihn mit funkelnden Augen an. »Ich habe nicht die Absicht, tatenlos zuzusehen, wie du dein Talent damit vergeudest, mit diesen Idioten zusammenzuarbeiten. Du bist einer der brillantesten Köpfe, die ich kenne, und ich habe einen Job für dich.«

»Einen, der es dir erlaubt, mich im Auge zu behalten?«

Grinsend lehnte Brad sich in seinem Sessel zurück und streckte die Beine aus. »Es würde dir nichts nützen. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«

»Aber nur, weil du unbedingt einer sein willst. Das tut dir nicht gut. Du verausgabst dich. Sieh dich doch an. Seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du schon wieder abgenommen.«

»Ein bisschen. Die letzten vier Monate waren ziemlich anstrengend.«

»Dann gib den Job auf und komm zu mir.«

»Und dann? Wenn ich mich in deiner Nähe aufhielte, würden die Medien garantiert irgendwann Wind davon bekommen.

Außerdem ist auf mich kein Verlass. Früher oder später würde ich mich über irgendwas aufregen und zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort die Klappe aufreißen und damit deine politische Karriere ruinieren.«

Sein Lächeln verschwand. »Ich habe dir in den vergangenen Jahren schon weiß Gott genug Schaden zugefügt.«

»Ich würde das Risiko eingehen. Ich gehöre seit zwölf Jahren dem Senat an, und wenn meine Karriere allein dadurch ruiniert werden kann, dass du in meiner Nähe bist, dann ist es vielleicht an der Zeit für mich, von der Bühne abzutreten.«

»Nein!«, sagte Brad barsch. Dann fuhr er etwas ruhiger fort:

»Hör zu, Cameron, geh mir nicht auf die Nerven. Alles läuft gut.

Es gibt keinen Grund, irgendwas zu ändern.« Er stand auf und ließ seinen Blick durch die elegante Bibliothek schweifen, die Reichtum und Gediegenheit ausstrahlte. »Das ist nicht meine Welt. Du kannst mich nicht umkrempeln, bloß weil du dein gutes Leben mit mir teilen willst.« Er lächelte. »Außerdem, was würde Charlotte dazu sagen?«

»Sie würde sich schon dran gewöhnen. Sie hat nur ein paar komische Ansichten über dich.«

Brad schaute ihn fragend an.

Cameron verzog das Gesicht. »Sie sagt, du machst sie nervös.

Du bist ihr … unheimlich.«

»So hat sie sich ausgedrückt? Ich hätte nie gedacht, dass irgendjemand deine Frau nervös machen könnte. Vielleicht wirke ich doch einschüchternder, als ich dachte.«

»Sie versteht dich nicht. Aber wie gesagt, sie wird sich dran gewöhnen.«

»Die Mühe kann sie sich sparen. Es ist alles gut so, wie es ist.«

Cameron schwieg einen Moment. »Ist dir je in den Sinn gekommen, dass ich egoistisch bin? Du hast mir gefehlt, Brad.«

Er meinte es ernst. Cameron war immer ehrlich. »Verdammt, Cam, tu mir das nicht an«, sagte Brad kopfschüttelnd. »Du hast mir auch gefehlt. Vielleicht können wir uns einfach demnächst ein bisschen häufiger sehen.«

»Das reicht nicht. Seit dem Horror vom elften September denke ich immer wieder über mein Leben nach, und dabei ist mir eins klar geworden: Freunde und Familie sind die einzigen Werte, die zählen. Ich werde dich nicht wieder einfach so ziehen lassen.«

»Cameron.« Charlotte Devers stand in der Tür, elegant und gepflegt in einem schwarzen Kleid. »Ich möchte dich nicht stören, aber wir kommen zu spät zu dem Dinner in der Botschaft.« Sie lächelte Brad an. »Ihr beide könnt euch weiter unterhalten, wenn wir zurück sind.«

Brad schüttelte den Kopf. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«

»Nein, das wolltest du nicht«, sagte Cameron bestimmt. »Wir werden nur ein paar Stunden weg sein, und ich möchte dich hier antreffen, wenn wir zurückkommen.«

»Wie wär’s mit morgen früh?«, fragte Charlotte. »Ich habe ein Zimmer für dich vorbereitet, Brad.«

Wie immer versuchte Charlotte, die Situation mit diskretem Charme zu retten, dachte Brad. Sie wollte Cameron zum Aufbruch drängen, und sie wollte ein Gespräch zwischen den Brüdern verhindern, bis sie eine Möglichkeit gefunden hatte, Brad unauffällig aus dem Haus zu komplimentieren. Nun, Brad konnte es ihr nicht verdenken. Der Bruder ihres Mannes war ihr längst nicht so wichtig wie Camerons Karriere als Politiker, die sie jederzeit zu schützen suchte.

»Ich gehe nirgendwohin, ehe du mir nicht versprichst, auf mich zu warten.« Cameron blickte Brad in die Augen. »Wirst du hier sein?«

Aus dem Augenwinkel sah Brad, wie sich eine Sorgenfalte auf Charlottes Stirn bildete. Er lächelte durchtrieben. »Ich werde mich keinen Millimeter von der Stelle rühren.«

»Perfekt.« Cameron klopfte ihm auf die Schulter, dann wandte er sich seiner Frau zu. »Komm, Charlotte, bringen wir dieses Dinner hinter uns.« Entschlossen verließ er die Bibliothek.

Charlotte blieb zögernd in der Tür stehen und setzte an, etwas zu sagen.

»Sag’s nicht«, murmelte Brad. »Wir stehen auf derselben Seite.« Dann fügte er hinzu: »Solange du mir nicht auf die Nerven gehst.« Er folgte Cameron in die Diele und sah zu, wie George, der Butler, seinem Bruder in den Mantel half. »Sehr beeindruckend. Ich habe schon seit fünfzehn Jahren keinen Smoking mehr getragen. Sagt dir das vielleicht irgendwas?«

»Es sagt mir, dass du ein verdammter Glückspilz bist.«

Cameron nahm Charlottes Arm und führte sie die Stufen hinunter zu der wartenden Limousine. »Fühl dich wie zu Hause, aber geh noch nicht ins Bett. Du hast mir was versprochen.«

»Heißt das, ich darf mich mit deinem exzellenten Brandy betrinken?«

»Nein. Ich möchte, dass du stocknüchtern bist.« Er lächelte Brad über die Schulter hinweg zu. »Ich habe noch einen Trumpf im Ärmel, und ich will dir von einem Job erzählen, der Anreiz genug sein könnte, um dich hierher zu locken. Er ist genau deine Kragenweite.«

»Gruselig und finster?«, fragte Brad, ohne eine Miene zu verziehen.

»Ich werde mich durchsetzen, Brad.«

»Jetzt ärger ihn nicht, Cam«, sagte Charlotte freundlich. »Brad weiß selbst, was er will.«

»Aber nicht, was das Beste für ihn ist.«

Brad beobachtete, wie sie in die Limousine stiegen. Eigentlich hatte er vorgehabt, zurück ins Haus zu gehen, aber er konnte nicht widerstehen, noch eine Weile dort stehen zu bleiben und Charlotte sehen zu lassen, wie selbstverständlich er sich vor ihrer Tür breit machte. In seinen Sportschuhen, den abgetragenen Jeans und dem alten Sweatshirt wirkte er wie ein Schandfleck in ihrer vornehmen Welt. Seine Schadenfreude war ausgesprochen kindisch, aber das war ihm egal. Normalerweise kümmerte es ihn auch nicht, dass Charlotte es nicht lassen konnte, Cameron dauernd zu manipulieren. Sie war seinem Bruder eine gute Ehefrau, und das war letztlich das Einzige, was zählte. Aber jetzt versuchte sie auch noch, ihn, Brad, zu manipulieren, und das ging ihm gehörig gegen den Strich.

»Soll ich Ihnen einen Kaffee in die Bibliothek bringen, Sir?«, fragte George, der hinter ihm stand.

»Warum nicht?« Er grinste den Butler über die Schulter hinweg an. »Da mein Bruder mir verboten hat, mich an seinem Brandy –«

»Großer Gott!« Georges Augen weiteten sich vor Entsetzen.

Brad fuhr herum und folgte seinem Blick.

»O nein!«

Das Innere der Limousine stand in Flammen. Brad sah, wie Cameron und Charlotte sich wie brennende Vogelscheuchen im lodernden Feuer vor Schmerzen krümmten.

»Verdammt!«

Er rannte die Stufen hinunter und auf den Wagen zu.

ATLANTA, GEORGIA Sechs Monate später Vorsichtig befühlte Kerry die verkohlten Holzbalken, die im Toilettenraum über dem Waschbecken lagen. Sie waren immer noch warm von dem Feuer, das vor zwei Tagen das ganze Restaurant zerstört hatte. Das war nichts Ungewöhnliches.

Manchmal schwelten versteckte Glutnester noch tagelang vor sich hin.

Sam, ihr Labrador, drückte sich winselnd an sie. Er langweilte sich schnell und sie waren nun schon seit über einer Stunde in der ausgebrannten Ruine.

»Sei still.« Sie schob eine Hand unter einen Holzbalken und tastete. »Es dauert nicht mehr lange.«

Da! Mühsam schob sie den Balken beiseite.

»Was gefunden?«, fragte Detective Perry, der hinter ihr stand.

»Schadhafte Kabel?«

»Nein, Benzin«, sagte Kerry. »Das Feuer ist im Toilettenraum ausgebrochen und hat sich von hier aus im ganzen Restaurant ausgebreitet.« Mit einer Kinnbewegung deutete sie auf das schwarze, verschmorte Gerät, das sie unter dem Balken gefunden hatte. »Und in Brand gesteckt wurde es mit Hilfe eines Zeitzünders.«

»Dumm.« Der Detective schüttelte den Kopf. »Ich hätte Chin Li für klüger gehalten. Wenn er die Versicherungssumme kassieren wollte, warum hat er das Feuer dann nicht in der Küche gelegt? Dann wäre seine Theorie, dass das Feuer von selbst ausgebrochen ist, viel überzeugender gewesen. Sind Sie ganz sicher?«

»Sam ist sich sicher.« Sie streichelte das seidig schwarze Fell des Labradors. »Und meistens schließe ich mich seiner Meinung an. Er irrt sich nur ganz selten.«

»Ja, ich habe davon gehört.« Unbeholfen tätschelte Perry dem Hund die Nase. »Ich kapiere nicht, wie diese Spürhunde das machen, aber ich weiß nicht, was ich ohne sie täte. Ich werde wohl nochmal mit Chin Li reden. Eine Schande. Ich dachte, er wär ein netter Kerl.«

»Und nicht dumm?« Kerry stand auf und klopfte sich den Ruß von den Händen. »Dann hat vielleicht jemand anders das Feuer gelegt. Einer, der keinen Zugang zur Küche hatte. Versicherungs-betrug ist nicht immer die richtige Antwort. Nur die leichteste.«

Perrys Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wollen Sie damit andeuten, es ginge mir darum, mir die Sache möglichst leicht zu machen?«

Sie grinste. »Das würde ich mir niemals anmaßen. Aber Sie sollten Chin Li mal fragen, ob er irgendwelche Feinde hat.

Vielleicht Konkurrenten? Und vergessen Sie nicht, dass dies eine Gegend mit hoher Kriminalitätsrate ist – könnte ja auch sein, dass hier Schutzgelderpresserbanden ihr Unwesen treiben, die ein Exempel statuieren wollten.«

»Möglich«, erwiderte Perry. »Es gibt hier ein paar Teenagerbanden, die versuchen, das Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen.«

»Könnten die wissen, wie man einen Zeitzünder bastelt?«

»Jeder, der Zugang zum Internet hat, kann sich jede Art von Information beschaffen. Wollen Sie eine Atombombe bauen?

Gehen Sie ins Internet.«

Sie hatte getan, was sie konnte. Zeit, sich zurückzuziehen, bevor er streitlustig wurde. »Tja, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, werden wir mehr wissen. Sam und ich haben unsere Arbeit hier abgeschlossen.«

Sie lächelte. »Und wir sind erst mal fertig. Schönen Tag noch, Detective.«

»Moment. Das hier ist ein gefährliches Pflaster«, sagte er verlegen. »Wenn Sie warten, bis ich mit Chin Li fertig bin, bringe ich Sie in Ihr Büro.«

»Sehr freundlich von Ihnen, aber ich will gar nicht zurück in die Stadt. Heute ist mein freier Tag und ich möchte ein paar Freunde auf der Feuerwache in Morningside besuchen.«

»Wenn das Ihr freier Tag ist, warum sind Sie dann hier?«

»Weil Sams Nase gebraucht wurde.«

»Dann werde ich Sie und Sams Nase zur Feuerwache fahren.«

Er runzelte die Stirn. »Wieso schicken die Sie überhaupt allein in so eine Gegend? Sie sind so ein kleines, zierliches Persönchen.«

Kerry unterdrückte den Unmut, den seine Bemerkung bei ihr auslöste. Sie war durchschnittlich groß, wusste aber, dass ihr zarter Körperbau sie kleiner erscheinen ließ. Detective Perry war ein netter Kerl, und sie war daran gewöhnt, dass sie bei Männern den Beschützerinstinkt weckte. Sie gab ihm eine Antwort, die er wahrscheinlich akzeptieren würde. »Sam ist mein Beschützer.«

Perry schaute den Labrador skeptisch an. »Er mag vielleicht eine großartige Spürnase haben, aber auf mich wirkt er nicht besonders gefährlich.«

»Das liegt daran, dass er schielt. Aber er ist ein ausgezeichneter Wachhund.« Sie hob die Hand zum Gruß, dann bahnte sie sich vorsichtig durch den Schutt ihren Weg zur Tür.

Sam war vor lauter Freude kaum zu halten und riss sie vorwärts.

»Du Blödmann!«, schalt Kerry. »Willst du, dass wir uns beide den Hals brechen? Ich dachte, du hättest inzwischen dazugelernt.«

Sam rannte auf die Straße und begann zu bellen.

»O Gott!« Ihr lag nicht gerade daran, in dieser Slumgegend die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eilig nahm sie den Hund an die kurze Leine. Sie wusste ebenso gut wie der Detective, dass Sam in etwa so gefährlich wirkte wie ein Koalabär. »Warum habe ich mir eigentlich keinen Schäferhund zugelegt?«, murmelte sie vor sich hin.

Weil sie sich auf den ersten Blick in Sam verliebt hatte, als sie ihn in dem Käfig gesehen hatte. »Gehen wir, Sam. Und halt gefälligst die Klappe, verdammt!«

»Full House.« Grinsend zog Kerry den Teller mit dem Geld zu sich heran, der mitten auf dem Tisch stand. »Das dürfte für diesen Monat für die Miete reichen. Noch ’ne Runde?«

»Vergiss es.« Charlie verzog das Gesicht und schob seinen Stuhl zurück. »Ich bin blank. Ich schneid schon mal die Zwiebeln fürs Abendessen.« Er lächelte gespielt schadenfroh.

»Bœuf Stroganoff. Erinnerst du dich? Die Spezialität der Feuerwache zehn.«

»Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Kann ich bleiben?«

»Nein. Fahr du schön in dein vornehmes Stadtbüro und hol dir was aus eurer versnobten Kantine.«

»Du bist grausam.« Kerry schaute Jimmy Swartz und Paul Corgin fragend an. »Wie steht’s mit euch beiden? Noch ’ne Runde?«

»Ich nicht.« Jimmy stand auf. »Ich muss aufpassen, dass ich nach Feierabend noch genug Geld in der Tasche habe, sonst lässt meine Frau mich nicht ins Haus. Los, komm, Paul, spielen wir eine Runde Poolbillard.«

Er warf Kerry einen strengen Blick zu. »Nun, nein, du kannst nicht mitspielen. Das ist was für echte Feuerwehrleute und nichts für Schreibtischtäter wie dich.«

»Ihr habt doch bloß Angst, dass ich gewinne.« Sie stand auf und folgte Charlie in die Küche. »Du willst mich foltern. Du weißt genau, wie sehr ich auf dein Bœuf Stroganoff stehe.

Komm schon, sei nicht so, lass mich bleiben.«

»Mal sehen.« Charlie reichte ihr einen Beutel Zwiebeln und ein Messer. »Wenn du die Zwiebeln schneidest.«

»Kein Problem«, erwiderte sie strahlend. Sie machte es sich auf einem Hocker vor dem Küchentresen bequem. »Wie geht’s deiner Frau, Charlie?«

»Sie erträgt mich.« Er grinste. »Mehr kann man nach fünfundzwanzig Jahren Ehe nicht verlangen.« Er legte mit Mehl bestäubte Fleischstücke in eine heiße Pfanne.

»Edna sagt, ich soll dir die Hölle heiß machen dafür, dass du sie gebeten hast, Sam in ihre Obhut zu nehmen, während du im Urlaub warst. Sie und die Kinder sind total vernarrt in den Köter. Mir ist allerdings schleierhaft, wie man so ein dämliches Vieh wie deinen Sam ins Herz schließen kann.«

»Jeder mag Sam. Und nicht jeder Hund ist ein Einstein.« Sie nahm sich die nächste Zwiebel vor. »Du magst ihn doch auch.

Er ist einfach liebenswert.«

»Aber jeder hält Sam für Einstein.« Kopfschüttelnd betrachtete Charlie den Hund, der schlafend in der Ecke lag. »Wie es sein kann, dass er ein so exzellenter Spürhund ist und in jeder anderen Hinsicht so bescheuert, ist mir echt ein Rätsel.«

»Er hat eine gute Nase. Er hat ein gutes Herz. Da kannst du nicht von ihm erwarten, dass er auch noch Verstand hat.«

»Ich weiß nur, dass du glücklicherweise die andere Hälfte des Teams bist, sonst würde Sam in der Asche nach Schmetterlingen jagen.«

Da sie das nicht leugnen konnte, wechselte sie das Thema.

»Ich fahre am Wochenende nach Macon, um meinen Bruder Jason zu besuchen. Meinst du, Edna würde Sam nochmal nehmen? Du weißt ja, dass ihm im Auto immer schlecht wird.«

Charlie nickte. »Er hat mir meinen ganzen Suburban voll gekotzt. Und dann sind die Kinder auf mich losgegangen, weil ich ihn angebrüllt hab.« Er zuckte die Achseln. »Klar, bring ihn vorbei. Er ist ja pflegeleicht. Den ganzen Tag tut er nichts anderes als schlafen und fressen und alles zerkauen, was er zwischen die Zähne kriegt. Einschließlich meiner besten Golfschuhe.«

»Ich hab sie dir ja bezahlt.« Sie lächelte. »Danke, Charlie.

Meine Schwägerin ist schwanger, und ich möchte Laura unbedingt nochmal besuchen, bevor sie das Baby bekommt, danach wird sie nämlich keine Zeit mehr für mich haben.«

»Also, ich denke, sie wird sich schon Zeit für dich nehmen. Du bist doch immer ein angenehmer Gast.«

»Danke. Wahrscheinlich hast du Recht.«

»Ich weiß natürlich, wie langweilig die letzten Monate einer Schwangerschaft sein können. Edna hat mich fast zur Verzweiflung gebracht, als sie mit Kim schwanger war.

Allerdings war sie da schon über vierzig, da kann man es einer Frau nicht verdenken, wenn so eine Schwangerschaft sie ein bisschen übellaunig macht.«

»Laura ist achtunddreißig und viel zu glücklich darüber, dass sie endlich ein Kind kriegt, um schlechte Laune aufkommen zu lassen. Aber sie entwickelt einen ausgeprägten Nestbautrieb.«

Kerry lächelte. »Außerdem war Edna auch nicht übellaunig. Sie war nur … ein bisschen reizbar.«

»Du musstest ja nicht mit ihr unter einem Dach leben.«

Er lachte in sich hinein. »Glaub mir, sie war übellaunig. Edna ist es überhaupt nicht gewöhnt, rumzusitzen und die Beine hochzulegen.«

»Also, Laura sitzt jedenfalls nicht untätig herum. Jason hat mir erzählt, sie ist gerade dabei, eine Gartenlaube zu zimmern. Du meinst also, Sam kann bei euch bleiben?«

»Kein Problem.« Sein Lächeln verschwand. »Du solltest zusehen, dass du ein bisschen mehr unter Leute kommst. Was zum Teufel treibt dich dazu, deine Zeit hier auf der Feuerwache zu verbringen und mit ein paar gelangweilten Typen Karten zu spielen?«

»Ich spiele gern Karten, außerdem fühle ich mich wohl bei euch. Auch wenn ihr alle schlechte Verlierer seid.« Sie gab die gehackten Zwiebeln in die Pfanne mit der heißen Butter und begann, die Pilze zu putzen. »Und wenn ich euch nicht auf Trab halten würde, dann wärt ihr in kürzester Zeit ein Haufen von Langweilern.«

»Tja, du hältst uns allerdings auf Trab, das muss man dir lassen.« Er wendete seine Fleischstücke. »Aber du solltest dir ab und zu mal was Hübsches anziehen und dich amüsieren. Hast du denn keine Freunde, verdammt?«

»Es gibt ein paar ehemalige Studienfreunde, mit denen ich noch Kontakt habe, aber ich hab einfach zu viel um die Ohren, um mich mit ihnen zu treffen. Außerdem komme ich gern hierher zu euch. Ich brauche niemand anderen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mach nicht so ein besorgtes Gesicht. Ich gehe ins Theater und ins Baseballstadion und ins Kino. Mann, erst vor einer Woche bin ich mit dir und Edna ins Kino gegangen. Leute, die ihren Beruf lieben, neigen dazu, sich unter Kollegen zu bewegen. Wieso ist das bei mir was anderes?«

»Du bräuchtest jemanden, der sich um dich kümmert.«

»Chauvi.«

»Nein, ich bin kein Chauvi. Jeder sollte jemanden haben. Edna kümmert sich um mich. Ich kümmere mich um sie. Wir beide kümmern uns um unsere Kinder. So sollte das im Leben sein.«

Kerry lächelte. »Da hast du allerdings Recht. Aber manchmal spielt das Leben einfach nicht mit. Seit dem Tod meiner Tante Marguerite bin ich irgendwie zu einer Einzelgängerin geworden.

Nicht dass das vorher vollkommen anders gewesen wäre. Sie hat ihr Bestes getan, aber sie war keine sehr warmherzige Frau. Die einzige Familie, die ich je hatte, seid ihr Jungs hier auf der Feuerwache.« Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Also hört auf, mich dauernd rauszuekeln.«

»Wenn das so ist, dann solltest du irgendwas ändern. Du fehlst uns. Und ich glaube, wir fehlen dir auch. Warum zum Teufel gibst du diesen blöden Job nicht auf und kommst zurück hierher, wo du hingehörst? Du hast das Zeug zu einer großartigen Feuerwehrfrau, Kerry.«

»An dem Tag, als ich hier anfing, hast du aber was ganz anderes gesagt.«

»Ich hatte allen Grund, skeptisch zu sein. Woher sollte ich denn wissen, dass du nicht irgendeine militante Frauenrechtlerin warst, die uns alle in Lebensgefahr bringt, nur um uns was zu beweisen? Du hast ausgesehen, als könntest du noch nicht mal einen Zwergpudel aus einem brennenden Haus tragen.«

»Aber dann habt ihr mitgekriegt, dass ich stärker bin, als ich aussehe. Es ist alles nur eine Frage der Technik. Mir war klar, dass ich mich beweisen musste, und das habe ich getan.«

»Ja, allerdings. Deswegen sage ich dir ja auch, du sollst wieder hierher zurückkommen, wo du hingehörst.«

»An meiner jetzigen Arbeitsstelle bin ich besser aufgehoben.«

Charlie seufzte. »Mit diesem dämlichen Köter. Soviel ich weiß, wollte das Department ihn zuerst gar nicht haben und hat ihn erst akzeptiert, als er nach dem Brand in Wadsworth den entscheidenden Beweis gefunden hat.«

»Die haben eben seine Fähigkeiten nicht erkannt. Ich hab ihn aus dem Tierheim, und er hatte anfangs Schwierigkeiten, sich an die Disziplin zu gewöhnen.«

»Schmetterlinge.«

Sie nickte. »Er lässt sich leicht ablenken.« Sie nahm sich den nächsten Pilz vor. »Aber wenn’s drauf ankommt, habe ich ihn inzwischen ganz gut im Griff und –«

Die Feuersirene heulte los.

»Die Pflicht ruft.« Charlie schaltete den Herd aus und eilte aus der Küche. »Bis später, Kerry.«

Sie folgte Charlie aus der Küche und sah zu, wie er seinen Schutzanzug anlegte. »Ich mache das Stroganoff fertig. Dann können wir essen, wenn ihr zurückkommt.«

»Kommt gar nicht in Frage«, sagte Paul. »Ich erinnere mich noch gut an deine Kochkünste. Wir warten lieber auf Charlie.«

»Du bist auch nicht gerade ein Starkoch«, entgegnete Kerry.

»Aber meinetwegen, dann lasse ich euch eben verhungern. Ich wollte später noch mit Sam die Kinderstation im Grady’s besuchen, das kann ich genauso gut jetzt machen. Ich kann nicht

–« Es war niemand mehr da, der ihr zuhörte. Einen Augenblick später hörte sie den Feuerwehrwagen losfahren.

Gott, wie leer der Raum plötzlich wirkte!

Sie wünschte, sie könnte jetzt mit den anderen im Feuerwehrwagen sitzen, jeder Nerv und jeder Muskel gespannt in Erwartung der Aufgabe, die vor ihnen lag.

Aber es hatte keinen Zweck, sich etwas zu wünschen, was unerreichbar war. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und es war eine gute Entscheidung gewesen. Sie wäre am Ende nur völlig durchgedreht, wenn sie sich nach Smittys Tod nicht zurückgezogen hätte. Es war immer noch alles zu nah, aber sie konnte überleben.

»Los, komm, Sam!«, rief sie in die Küche. »Wir gehen die Kinder besuchen.«

Sam kam nicht.

Als sie in die Küche ging, versuchte er gerade, ein Stück Fleisch unter dem Schrank hervorzuzerren, das Charlie auf den Boden gefallen war.

»Sam.«

Er blickte auf, den Kopf seitlich an den Boden gedrückt. Er wirkte absolut lächerlich.

Kopfschüttelnd lachte sie in sich hinein. »Wenigstens ein kleines bisschen Würde, wenn ich bitten darf. Komm, wir gehen.«

Er rührte sich nicht.

Kerry nahm ein Stück Fleisch aus der Pfanne und warf es ihm zu, woraufhin er sofort aufsprang und es mit dem Maul auffing.

Dann trottete er mit einem Hundegrinsen auf sie zu.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und nahm ihn an die Leine.

»Ich dachte, Spürhunden darf man nie Leckerchen geben, außer wenn sie eine Spur aufgenommen haben.«

Als Kerry sich umdrehte, stand Dave Bellings in der Tür.

Früher, bevor er sich das Bein verletzt hatte, war der jetzige Techniker auch aktiver Feuerwehrmann gewesen. Dann hatte er sich zum Computerfachmann umschulen lassen, der hier und in anderen Feuerwachen der Umgebung die Computer betreute.

»Eigentlich soll man ihnen außer der Reihe keine Belohnungen geben. Aber bei Sam ist das was anderes.« Und sie wäre beinahe erwischt worden. Zum Glück war es nur Dave. »Bei ihm ist das kein Problem.«

»Erfolg gibt einem immer Recht.« Auf dem Weg zur Kaffeemaschine tätschelte Dave kurz Sams schwarzen Kopf.

»Er hat es verdient, verwöhnt zu werden.«

»Wo ist denn das Feuer?«

»In der Lagerhalle von Standard Tire, im Süden der Stadt.

Alarmstufe drei.«

Rauch. Schwarzer, beißender Rauch.

»Mist!«

Dave nickte. »Schlimme Sache. Wir haben Glück, dass wir da nicht mit reinmüssen, Kerry.«

»Ja, wahrscheinlich hast du Recht.«

Überwältigende Hitze. Der Gestank von brennendem Gummi.

Bellings verzog das Gesicht. »Aber wem wollen wir eigentlich etwas vormachen? Wir wären doch beide in diesem Feuerwehrwagen, wenn wir könnten. Wir sind süchtig. Aus welchem anderen Grund würden wir hier dauernd so viel Zeit verbringen, wie wir dürfen?«

»Du hast Recht.« Kerry versuchte zu lächeln. Sie musste so schnell wie möglich von hier fort. »Bis bald, Dave. Wir sehen uns.«

Er legte den Kopf schief. »Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.«

»Das muss an der Beleuchtung liegen. Es geht mir gut.« Eilig ging sie mit Sam nach draußen. Tief durchatmen. Vielleicht kam es ja doch nicht. Aber sie spürte wieder dieses verdammte Prickeln im Nacken. Sie war kaum ein paar Meter die Straße hinuntergegangen, als ihr der stechende Schmerz in den Kopf fuhr.

Schwarzer Rauch über den Reifenstapeln. Der Gestank von brennendem Gummi. Sirenen.

Kerrys Magen verkrampfte sich und sie bekam kaum noch Luft.

Alles würde gut werden. Sie schloss die Augen. Einfach langsam und regelmäßig einatmen.

Sam winselte.

Es ging ihr schon wieder besser. Der Schmerz in ihrem Kopf hatte nachgelassen und war jetzt nur noch ein dumpfes Pochen.

Als sie die Augen öffnete, blickte ihr Hund erwartungsvoll zu ihr auf. »Mach dir keine Sorgen«, murmelte sie. »Ist schon wieder vorbei.«

Das Krankenhaus. Sie war auf dem Weg ins Krankenhaus gewesen, um die Kinder zu besuchen. Es lag nur wenige Straßen weit entfernt, und in ihrem derzeitigen Zustand wagte sie es nicht, sich ans Steuer zu setzen. Sie bog nach links ab und machte sich zu Fuß auf den Weg.

»Es wird alles gut.«

Zumindest hoffte sie das inständig.

Feuer.

Brad Silvers Hände umklammerten das Lenkrad seines Wagens, während er versuchte, das Bild aus seinem Kopf zu verscheuchen.

Er bekam keine Luft.

Er fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor ab.

Durchhalten. Gewöhnlich hörte es nach kurzer Zeit wieder auf.

Herrgott, dieser Geruch!

Dann war es vorbei. Keuchend legte Brad den Kopf auf das Steuer.

Er tastete nach seinem Handy und wählte. »Verdammt, Travis, ich hätte beinahe den Wagen zu Schrott gefahren. Hol mich da raus!«

»Immer mit der Ruhe, Brad«, sagte Michael Travis sanft.

»Wahrscheinlich hat sie einfach Stress. Hält es immer noch an?«

»Nein, aber es kann jeden Moment wieder losgehen. Es wäre nicht das erste Mal. Warum zum Teufel hat sie sich nicht besser im Griff?«

»Ablehnung. Wie nahe bist du an ihr dran?«

»Zwei, drei Kilometer. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Vielleicht ist es das. Vielleicht wurde jemand verletzt.«

»Nein, sie stattet regelmäßig einmal pro Woche der Kinderstation einen Besuch ab. Sie ist nicht in Sorge. Zumindest war sie das nicht vor diesem Zwischenfall. Kannst du irgendwas tun, um sie zu beruhigen?«

»Nein. Ich habe dir gleich gesagt, dass sie unberechenbar ist.

Und verdammt stur. Falls sie anruft und mich um Hilfe bittet, habe ich vielleicht eine Chance. Ansonsten bist du auf dich selbst gestellt.«

»Besten Dank auch«, erwiderte Silver sarkastisch.

»Du bist derjenige, der mir versichert hat, sie würde mir eine große Hilfe sein. Aber du hast vergessen zu erwähnen, dass sie mich womöglich umbringt, bevor wir miteinander fertig sind.«

»Du wusstest von Anfang an, dass sie dich womöglich aus dem Gleichgewicht bringt.«

»Ja, schon, aber so nah bin ich ihr noch nie gewesen.«

»Du kannst es dir immer noch anders überlegen, dann versuchen wir, jemand anderen zu finden.«

Silver dachte darüber nach. Der Gedanke war verlockend.

Kerry Murphy war ein Pulverfass, das jeden Moment explodieren konnte. Er hatte gern alles unter Kontrolle, und die letzten Minuten hatten bewiesen, dass er alle Hände voll damit zu tun haben würde, sie so weit in Schach zu halten, dass sie sich von ihm manipulieren ließ.

»Brad?«

»Ich habe schon zu viel Zeit in sie investiert, um sie einfach aufzugeben. Ich kenne sie fast so gut wie mich selbst.«

»Ja, das stimmt. Wahrscheinlich sogar noch besser als sie sich selbst.«

»Ich werde schon mit ihr fertig.«

»Keine Gewalt. Ich weiß, wozu du fähig bist. Ich will nicht, dass ihr was zustößt.«

»Ich sagte, ich werde mit ihr fertig. Du hältst dich einfach zur Verfügung für den Fall, dass ich Unterstützung brauche.« Dann fügte er grimmig hinzu: »Oder einen Krankenwagen.« Er legte auf, holte tief Luft und fuhr wieder los. Nur noch ein paar Kilometer Autobahn. Wenn er sich konzentrierte, konnte er seine Barrieren lange genug aufrechterhalten, um sie zu erwischen. Danach würde er sich auf sein Gefühl verlassen. Er wollte auch nicht, dass Kerry etwas zustieß, und normalerweise halfen ihm sein Wissen und seine Erfahrung, alle gewalttätigen Impulse unter Kontrolle zu halten. Er hatte längst gelernt, dass Einfühlsamkeit einen wesentlich weiter brachte als Gewalt. Er konnte nur hoffen, dass der bevorstehende Kampf keine Ausnahme sein würde.

Denn dann würde keiner von ihnen beiden überleben.

»Orangensaft?« Melody Vanetti lächelte Kerry an, die im Krankenhausaufenthaltsraum im Schneidersitz auf dem Boden saß. »Sie lesen den Kindern schon seit einer Stunde vor. Sie müssen einen ganz trockenen Hals haben.«

»Danke, Melody.« Kerry nahm das Glas entgegen, das die Schwester ihr reichte. »Im Moment scheinen sie mich alle vergessen zu haben. Sam genießt jetzt ihre Aufmerksamkeit.«

Sie grinste. »Nicht dass mich das wundert. Ich kenne kein Kind auf der Welt, das lieber mit einem Erwachsenen spielt als mit einem Hund.«

»Sie können wunderbar mit Kindern umgehen.« Melody legte den Kopf schief. »Aber Sie sehen erschöpft aus.«

»Ach was«, sagte Kerry. »Mir geht’s gut. Und selbst wenn nicht, würde ich es nicht wagen, mich zu beklagen. Die Kinder hier würden mich nur beschämen.« Ihr Lächeln verschwand.

»Wer ist der neue Junge? Der, der gerade Sam umarmt?«

»Das ist Josh. Er wurde mit schlimmen Verbrennungen an den Armen eingeliefert. Wir behalten ihn noch hier, bis sichergestellt ist, dass nicht seine Großmutter ihm diese Verletzungen beigebracht hat.«

»Entzückend.« Der Junge mochte etwa vier, fünf Jahre alt sein. Er hatte seinen Arm um Sam geschlungen und drückte seinen Kopf gegen den Hals des Hundes. Kerrys Magen verkrampfte sich, als sie die blauen Flecken in seinem Gesicht bemerkte. Aber jetzt lächelte er und das war kein Wunder. Kerry war schon häufiger aufgefallen, dass Kinder auf Sam reagierten, egal wie geschädigt sie waren. »Falls ich helfen kann, lassen Sie es mich wissen.«

»Was könnten Sie denn tun?«

Kerry zuckte die Achseln. »Jemanden auftreiben, der die Wohnung der Großmutter als nicht brandsicher einstuft, so dass sie den Jungen nicht wieder zu sich nehmen kann. Ich weiß nicht. Tun Sie mir einfach den Gefallen und sagen Sie mir Bescheid.«

»Klar. Nett, dass Sie so fürsorglich sind.« Sie ging in Richtung Tür. »Ich muss meine kleinen Patienten versorgen. Ich komme später nochmal her, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«

»Wir kommen schon klar. Und solange Sam in der Nähe ist, kommen die Kinder schon nicht auf dumme Ideen.« Kerry warf einen Blick auf ihre Uhr. In der Reifenhandlung würde mittlerweile alles unter Kontrolle sein. Sie war schon seit einer Stunde hier, ohne in Panik geraten zu sein. Ein dumpfer, pulsierender Kopfschmerz, aber das war nichts Ungewöhnliches. Es war ein großes Feuer, ein gefährliches Feuer. Es war nur natürlich, dass sie das nervös machte und dass sie sich – Rauchgasexplosion.

Eine Eichentür im zweiten Stock.

Rauch. Er kann nichts sehen.

Wer konnte nichts sehen?

Zwei Männer, die die Treppe herauf- und auf die Tür zukamen.

Die brennenden Stufen brachen hinter ihnen zusammen.

Geh zurück. Geh zurück, Charlie.

Es war Charlie. O Gott, sie hatte gewusst, dass es Charlie sein würde.

Sie hatten den zweiten Stock erreicht.

Nicht aufmachen, Charlie.

Rauchgasexplosion.

Er riss die Tür auf.

Der tödliche Feuerschwall.

Feuer. Überall Feuer. Schmerzen. Er hatte schreckliche Schmerzen.

»Kerry?« Melody schaute sie mit besorgter Miene an. »Alles in Ordnung?«

Nein. Schmerz. Schmerz.

Sie sprang auf. »Mir ist schlecht. Ich muss ins Bad.«

Sie rannte den Korridor hinunter.

Schmerz. Schmerz.

Sie musste einen Ort finden, wo sie sich verstecken konnte.

Irgendwo, wo es dunkel war und niemand sie finden konnte.

Wandschrank.

Sie öffnete die Tür, schlüpfte in den Schrank und zog die Tür hinter sich zu. Allein. In dem dunklen Wandschrank war es eng, hier war sie in Sicherheit. Aber was war mit Charlie?

Großer Gott, sie konnte Rauch und verbranntes Fleisch riechen! Sie sank auf die Knie und lehnte sich gegen die Wand.

Schmerz. Schmerz. Schmerz.

2

»Schluss jetzt! Wehren Sie sich!«

Jemand stand in der offenen Tür, dachte sie vage. Ein Mann.

Ein großer Mann. Ein Arzt? Egal.

Schmerz. Schmerz. Schmerz.

Die Tür schlug hinter dem Mann zu und im nächsten Augenblick kniete er neben ihr. »Hören Sie mir zu. Sie müssen sich dagegen wehren.«

»Charlie.«

»Ich weiß.« Er nahm ihre Hände. »Aber indem Sie sich so zerfleischen, können Sie ihm auch nicht helfen.«

»Er hat Schmerzen – Rauchgasexplosion. Tiefer …«

»Und Sie können es nicht aufhalten.« Er holte tief Luft. »Aber ich kann es. Haben Sie keine Angst. Ich werde zu Ihnen durchkommen, ich werde in Ihre Psyche eindringen.«

Wovon redete er?

»Sehen Sie mich an.« Er durchbohrte sie mit seinen dunklen Augen. »Es wird jetzt verschwinden.«

Es würde nicht verschwinden. Der Rauch und das Feuer würden immer da sein. Charlie …

Sie kommen die Treppe rauf, um dich zu holen, Charlie.

Zu spät.

Schmerz. Schmerz.

Plötzlich war der Schmerz verflogen. Kein Rauch mehr. Kein Feuer mehr.

Ein blauer See. Sonnenlicht. Grünes Gras.

Frieden.

»Kommen Sie.« Er war aufgestanden und zog sie auf die Beine. »Wir müssen hier raus. Ich weiß nicht, wie lange ich es aufhalten kann.«

Zwei Hirsche kamen an den See, um zu trinken. Eine sanfte Brise ging durch das hohe Gras.

»Los, kommen Sie!« Er öffnete die Tür und bugsierte sie in den Korridor. »Wir holen Sam und dann fahren wir nach Hause.«

»Charlie …«

»Er ist nicht hier am See. Wir werden später wieder zu ihm gehen.« Er schob sie den Korridor entlang in Richtung Aufenthaltsraum. »Ich werde denen alles erklären und Sie hier rausbringen. Aber wenn wir den Raum betreten, müssen Sie die Kinder anlächeln. Sie wollen sie doch sicherlich nicht ängstigen.«

Nein, Kinder sollten sich nicht ängstigen. Ihre Welt sollte immer voller Sonnenschein sein. Bestimmt wären sie jetzt auch gern an diesem wunderschönen See.

Und plötzlich waren sie da. Sie sah den kleinen Josh lachend durch das hohe Gras laufen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Melody mit sorgenvollem Blick.

»Ich bin ins Bad gegangen, um nach Ihnen zu sehen, aber Sie waren nicht da.«

»Sie ist ein bisschen mitgenommen«, sagte der Mann, während er sie stützte. »Ich habe sie im Korridor getroffen und bin ein bisschen mit ihr an die frische Luft gegangen.« Lächelnd streckte er seine Hand aus. »Sie sind Schwester Vanetti? Kerry hat mir erzählt, wie liebevoll Sie mit den Kindern umgehen. Ich bin Brad Silver. Ich arbeite mit Kerry zusammen.«

Melody schüttelte ihm die Hand, schaute Kerry jedoch immer noch stirnrunzelnd an. »Meinen Sie, sie sollte vielleicht einen Arzt konsultieren?«

»Das habe ich ihr auch vorgeschlagen, aber sie will unbedingt nach Hause. – Stimmt’s, Kerry?«

Zu Hause war, wo der See war. Zu Hause war, wo die Kinder auf der Wiese spielten.

»Kerry?«

Sie nickte. »Ich möchte nach Hause.«

»Dann hole ich jetzt Sam.« Silver ging zu den Kindern hinüber und hockte sich neben Josh.

Wie konnte das sein, wo sie doch sah, dass Josh am See herumtollte? Wahrscheinlich redete Silver mit einem anderen kleinen Jungen.

»Ich muss deinen Freund jetzt mitnehmen«, sagte er zu dem kleinen Jungen, der aussah wie Josh. »Aber ich verspreche dir, dass er dich wieder besuchen kommt.«

Er legte dem kleinen Jungen eine Hand auf die Schulter.

»Es ist alles in Ordnung.« Er lächelte die anderen Kinder an, als er mit Sam auf Kerry zuging. »Kerry kommt nächste Woche wieder. Sie muss jetzt leider gehen.« Er nickte Melody zu.

»Danke für alles. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich sie nach Hause gebracht habe, und gebe Ihnen Bescheid, wie es ihr geht.«

Dann bugsierte er Kerry aus dem Aufenthaltsraum hinaus und weiter den Korridor entlang.

Der Himmel über dem See bewölkte sich. Oder war es ferner Rauch?

Kein Rauch. Die Antwort kam sofort und ganz deutlich.

Sonnenlicht. Spielende Kinder. Blauer, hoch gewachsener Rittersporn auf dem Hügel. Wie schön und stolz der Rittersporn blühte …

Sie stiegen aus dem Aufzug und Silver führte sie in Richtung Parkplatz. »Nur noch ein paar Minuten, Kerry.« Er öffnete die Tür des schwarzen Lexus. »Los, rein mit dir, Sam!« Sam sprang in den Wagen und machte es sich auf dem Rücksitz bequem.

Dann hielt Silver die Beifahrertür für Kerry auf. »Ich bringe Sie auf dem schnellsten Weg nach Hause.«

Lächelnd half er ihr in ein Boot, das am Steg lag. Dann tauchte er die Ruder in das glitzernde blaue Wasser.

Er hielt vor ihrem Haus und griff nach ihrer Handtasche. »Ich brauche Ihre Hausschlüssel.« Er nahm den Schlüsselbund heraus, ließ Sam aus dem Auto und stieg die Stufen zur Veranda hoch.

Sie fuhren unter den überhängenden Ästen einer Trauerweide hindurch, und sie sah, wie die zarten Zweige sich im Wasser spiegelten. Der Mann lächelte sie an. Wärme. Sicherheit.

Freude. » Kerry. « Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aus dem Boot zu helfen. » Kommen Sie mit. «

Wohin? Das spielte keine Rolle. Wo auch immer er sie hinführte, dort würde es schön sein. Sie nahm seine Hand.

Sie stiegen die Stufen hinauf. Sam lief ungeduldig auf der Veranda hin und her. Silver ließ ihn ins Haus, bevor er Kerry sanft in die Eingangsdiele schob. Dann folgte er ihr hinein, schloss die Tür, lehnte sich dagegen und holte tief Luft. »Gott sei Dank!«

Wieder zogen Wolken über dem See auf, bemerkte sie unruhig. Das gefiel ihr nicht …

»Keine Wolken, sondern Rauch«, sagte Silver. »Ich kann es nicht länger von Ihnen fern halten. Es ist Rauch und er wird dichter. Aber er kann Ihnen nichts mehr anhaben. Dieser Teil ist vorbei, Kerry. Ich gehe jetzt raus. Ich werde versuchen, mich langsam und vorsichtig zurückzuziehen, aber es wird schmerzhaft sein.«

Rauch wirbelte um sie herum wie Nebel, verdunkelte den See und die Trauerweide und die Kinder. Und hinter dem Rauch …

Feuer.

Charlie!

Sie begann zu schreien.

»Ganz ruhig.« Silver fasste sie an den Schultern. »Sie wussten, dass es kommen würde. Akzeptieren Sie es.«

»Er ist tot. Charlie ist tot.«

Silver nickte. »Ja. Er ist vor etwa fünf Minuten gestorben.«

Erfüllt von Trauer und Entsetzen, schloss Kerry die Augen.

»Woher wissen Sie das?« Sie öffnete die Augen wieder und riss sich von ihm los. »Und was zum Teufel machen Sie in meinem Haus?«

»Ich habe verhindert, dass Sie sich verraten. Und gehen Sie mir jetzt bloß nicht auf die Nerven!«, fügte er barsch hinzu. »Ich bin im Moment zu gestresst, um Mitgefühl zu empfinden.

Glauben Sie etwa, das wäre leicht für mich gewesen? Ich hätte Sie natürlich in diesem Wandschrank hocken lassen können, bis jemand Sie gefunden hätte. Aber bis dahin wären Sie garantiert reif für die Klapsmühle gewesen.«

»Verschwinden Sie! Ich weiß nicht, wer Sie sind, und es interessiert mich auch nicht.« Sie trat ans Telefon. »Ich muss auf der Feuerwache anrufen.«

»Um zu erfahren, was Sie schon wissen? Charlie ist tot. Der andere Mann, den Sie auf der Treppe gesehen haben, wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Er wird wahrscheinlich überleben.« Er holte tief Luft. »Und Sie ahnen doch längst, wer ich bin. Oder zumindest, was ich bin.«

»Gehen Sie. Vielleicht ist Charlie ja gar nicht tot. Es muss nicht wahr sein.« Sie wählte die Nummer der Feuerwache und Dave nahm ab. »Dave, ich hab gehört, dass es Probleme gegeben hat –«

»O Gott, Kerry!« Seine Stimme zitterte. »Charlie. Was für ein

… Ich habe ihn dreißig Jahre lang gekannt. Er wollte im Frühjahr in den Ruhestand gehen. Warum musste es unbedingt ihn –«

Sie legte auf. Mehr konnte sie nicht ertragen. Sie lehnte sich gegen die Wand, Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Ich gebe Sam etwas Wasser und setze Kaffee auf«, sagte Silver ruhig. »Kommen Sie, sobald Sie sich beruhigt haben. Die Küche ist am Ende des Flurs, richtig?«

Er wartete nicht auf eine Antwort.

Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen.

Vielleicht sollte sie Edna anrufen und sie fragen, ob sie Beistand brauchte. Nein, nicht jetzt. Womöglich hatte man Edna noch gar nicht benachrichtigt. Kerry legte den Kopf auf die Arme und ließ ihren Tränen freien Lauf. Charlie hatte Tränen verdient …

Sie hörte, wie Silver in der Küche etwas zu Sam sagte. Dieser Fremde tat, als wäre er hier zu Hause, dennoch fühlte sie sich nicht bedroht. Vielleicht war sie noch zu benommen, um Angst zu empfinden.

Oder vielleicht sorgte er geschickt dafür, dass sie keine Angst bekam. Allein der Gedanke war beängstigend.

Darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken. Im Moment war sie zu aufgewühlt, um sich mit irgendetwas auseinander zu setzen.

Sie würde sich ein bisschen Zeit lassen, um ihre Fassung wiederzugewinnen, bevor sie zu ihm in die Küche ging. Nur ein bisschen die Augen schließen und all den Schmerz und Kummer vergessen …

Sie schlief.

Silver stand in der Tür und betrachtete sie, wie sie zusammengekauert auf dem Sofa lag. Er wusste, dass sie nicht lange schlafen würde. Sie war mit zu viel Grauen konfrontiert worden und musste sich von der Wucht des Erlebten erholen. Er hatte es oft genug erlebt.

Mit ihrem zerzausten kastanienbraunen Haar und den glatten, weichen Zügen wirkte sie beinahe kindlich. Aber sie war kein Kind. Sie war zäh und halsstarrig und sie würde ihm noch die Hölle heiß machen.

Also sollte er lieber kein Mitleid mit ihr haben. Er würde versuchen, ihr etwas als Gegenleistung zu geben, doch zweifellos würde er Kerry Murphy benutzen.

Es stand zu viel für ihn auf dem Spiel, als dass er jetzt einfach gehen konnte.

Erst eine Stunde später wachte Kerry auf. Anschließend dauerte es noch eine Viertelstunde, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie aus dem sicheren Wohnzimmer in die Küche gehen und sich mit Silver befassen konnte. Falls das sein richtiger Name war. Woher sollte sie wissen, ob irgendetwas, was er ihr erzählte, der Wahrheit entsprach? Er war in einem Moment in ihr Leben hineingeplatzt, als sie sich besonders verletzlich gefühlt hatte, und für sie noch immer eine schattenhafte Gestalt.

Sie blieb in der Tür stehen. Er saß am Küchentisch und telefonierte und wirkte alles andere als schattenhaft. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, war etwa Mitte dreißig und kräftig gebaut. Ja, Kraft war das Schlüsselwort, das ihn am besten beschrieb. Er strahlte Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein aus. Der Eindruck war überwältigend. Es spielte keine Rolle, dass er ausgewaschene Jeans und ein altes Sweatshirt trug und seine Gesichtszüge alles andere als attraktiv waren, vor allem jetzt, da er stirnrunzelnd in den Telefonhörer lauschte. Als er aufblickte und sie sah, sagte er hastig: »Ich rufe dich zurück, Gillen.« Dann legte er auf und erhob sich. »Setzen Sie sich. Ich bringe Ihnen eine Tasse Kaffee.«

»Ich hole mir selbst eine.« Sie trat an den Küchenschrank.

»Schließlich ist das hier mein Haus.«

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.« Er setzte sich wieder an den Tisch. »Ich wollte Ihnen nur einen Gefallen tun.

Schließlich habe ich versprochen, nett zu Ihnen zu sein.« Er schaute sie mit funkelnden Augen an. »Und das war bisher nicht gerade einfach.«

Sie sah ihn fassungslos an. »Es interessiert mich nicht die Bohne, ob Sie nett zu mir sind oder nicht. Ich kenne Sie nicht und will Sie auch nicht kennen lernen. Ich habe heute einen guten Freund verloren. Ich möchte, dass Sie von hier verschwinden und mich in Frieden lassen.«

»Das geht leider nicht.« Er trank einen Schluck Kaffee.

»Ich brauche Sie, glauben Sie mir. Wenn ich wüsste, dass ich die gleiche Art Hilfe woanders bekommen könnte, wäre ich längst weg. Ich habe eine harte Woche hinter mir und Sie machen mir das Leben noch zusätzlich schwer. Setzen Sie sich, dann können wir reden.«

»Ich will nicht reden.« Sie schenkte sich Kaffee ein und wartete, bis ihre Hand nicht mehr so stark zitterte und sie die Tasse hochheben konnte. »Ich war ziemlich daneben, aber wenn ich mich recht erinnere, waren Sie freundlich zu mir. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass Sie einfach so in mein Leben eindringen können. Wenn Sie nicht gehen, werde ich die Polizei rufen.«

»Sie wollen die Polizei doch gar nicht rufen. Alle Fragen, die deren Leute mir stellen würden, könnten unangenehme Konsequenzen für Sie haben.« Dann fügte er hinzu: »Und Sie werden mich erst los, wenn Sie sich hinsetzen und mir zuhören.«

Zögernd schaute sie ihn an. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren, aber es gab da etwas, was sie unbedingt wissen musste, etwas, was sie mit Angst erfüllte.

Langsam ging sie an den Tisch und setzte sich. Aber noch brachte sie es nicht fertig, die Frage zu stellen, die ihr auf den Nägeln brannte. Stattdessen erkundigte sie sich: »Woher wussten Sie, dass ich in diesem Wandschrank war?«

»Sie haben einen Notruf ausgesandt, der mir fast das Hirn zum Bersten gebracht hat.« Er musterte ihr Gesicht.

»Sie haben Angst vor mir.«

»Ich habe keine Angst.«

»Sie haben keine Angst, dass ich Sie ausrauben oder vergewaltigen könnte. Sie haben Angst davor, dass ich in Ihre Welt eindringe.« Er schüttelte den Kopf. »Keine Bange, das tut viel zu weh.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Von wegen!« Erneut schüttelte er den Kopf. »Man hat mir schon gesagt, dass Sie ziemlich stur sind und gern die Augen vor gewissen Dingen verschließen. Ich hatte mir vorgenommen, geduldig und einfühlsam mit Ihnen umzugehen, aber Sie haben mich völlig aus dem Konzept gebracht. Sie müssen diesen Charlie wirklich sehr gemocht haben.«

»Natürlich mochte ich ihn. Er war ein wunderbarer Mensch.«

»Aber nicht besonders scharfsinnig. Er mochte Sie, aber er hat nie gemerkt, wie Sie Sam benutzt haben.«

Sie zuckte zusammen. »Sam?«

Silver seufzte. »Also gut, überspringen wir das und wenden uns den offensichtlichen Dingen zu. Sam ist ein netter Hund, aber als Spürhund bei Brandschäden eine komplette Niete. Der würde noch nicht mal ein Beefsteak in einer Metzgerei finden.«

»Sie sind verrückt. Jeder weiß, dass er der beste Spürhund im Südosten ist.«

»Weil Sie wollten, dass jeder das glaubt. Sie wollen nicht, dass jemand die Wahrheit erfährt.« Er schaute sie nachdenklich an.

»Niemand soll erfahren, dass Sie wissen, wie und wo ein Feuer gelegt wird, weil Sie sehen, wie es passiert.«

»Sie sind ja vollkommen übergeschnappt. Halten Sie mich etwa für eine Pyromanin?«

»Nein. Ich glaube, dass Sie aufgrund eines Erlebnisses, das mit Feuer zu tun hatte, ein ganz besonderes parapsychologisches Talent entwickelt haben. Sobald Sie sich einem Ort nähern, an dem ein Feuer gelegt wurde, empfangen Sie ganz bestimmte Schwingungen, manchmal können Sie sogar sehen, wie es passiert. Wenn Leute, denen Sie nahe stehen, mit dem Feuer zu tun haben, brauchen Sie noch nicht mal in der Nähe zu sein.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »So wie bei Ihrem Freund Charlie. Sie haben die Schwingungen empfangen und konnten sich nicht dagegen wehren.«

Rauch. Die Tür im zweiten Stock. Rauchgasexplosion.

»Ganz ruhig«, sagte Silver leise. »Jetzt ist alles vorbei.«

Sie holte tief Luft. »Sie scheinen sich einzubilden, eine ganze Menge über mich zu wissen. Wer sind Sie? Sind Sie eine Art Reporter?«

»Nein, und ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem zu verraten, auf welche Weise Sie Sam benutzen. Das ist allein Ihre Sache.«

»Gott sei Dank.« Sie versuchte zu lächeln. »Denn im Grunde ist es lächerlich. Niemand würde mir diesen Hokuspokus abkaufen.«

»Da gebe ich Ihnen Recht. Wir leben in einer sehr sachlichen Welt ohne Raum für Phantasie. Ich kann sehr gut verstehen, warum Sie sich schützen. Sie wollen, dass Brandstifter ihre verdiente Strafe bekommen, gleichzeitig wissen Sie, dass man Sie auslachen würde, wenn Sie keine Möglichkeit hätten, dem, was Sie sehen, Glaubwürdigkeit zu verleihen.« Er tätschelte Sams Kopf.

»Auftritt des Superspürhundes Sam. Sie hätten sich allerdings einen aussuchen können, der ein bisschen überzeugender wirkt.«

»Ich brauche Ihr Verständnis nicht. Und Sam ist genau richtig für mich.« Sie befeuchtete sich die Lippen und schaute in ihre Kaffeetasse. »Und wenn Sie mir jetzt genug von Ihren wilden Mutmaßungen unterbreitet haben, würden Sie vielleicht die Güte haben, mir zu erklären, warum Sie hier sind?«

»Ich habe einen Job für Sie.«

»Was für einen Job?«

Er musterte sie einen Moment lang. »Sie sind noch nicht so weit. Sie würden das Angebot nur ablehnen.«

Er stand auf, zog die Schlüssel seines Mietwagens aus der Hosentasche und warf sie auf den Tisch. »Benutzen Sie den Lexus, wenn Sie ihn brauchen. Ich lasse Ihren SUV von der Feuerwache hierher schleppen. Ich melde mich wieder.«

Sie funkelte ihn wütend an. »Wagen Sie es nicht, einfach so zu gehen! Ich will Antworten.«

Er lächelte schwach. »Im Moment gibt es nur eine Antwort, die Sie wirklich interessiert. Und zwar die Antwort auf die Frage, die zu stellen Sie sich nicht getraut haben.« Ganz leise fuhr er fort: »Der See. Er war schön, nicht wahr? Es hat mich große Anstrengung gekostet, ihn für Sie so schön erscheinen zu lassen. Und, nein, Sie sind nicht dabei, verrückt zu werden.« Er legte eine Visitenkarte auf den Tisch und ging auf die Tür zu.

»Da steht meine Handynummer drauf. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«

»Warten Sie, verdammt! Wer hat Sie geschickt?«

Er schaute sie über die Schulter hinweg an. »Michael Travis.«

Einen Augenblick später hörte sie die Haustür ins Schloss fallen.

Sie fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Es war fünf Jahre her, dass sie Michael zum letzten Mal gesehen hatte, und damals hatte sie sich geschworen, ihm nie wieder zu begegnen. Sie hatte geglaubt, er wäre aus ihrem Leben verschwunden.

Nicht in Panik geraten. Sie hatte Michael vor all den Jahren die Tür vor der Nase zugeschlagen und das konnte sie wieder tun.

Aber würde ihr das auch bei Brad Silver gelingen? Sie hatte das Gefühl, dass er ein ganz anderes Kaliber war als Michael.

Weniger geduldig, rücksichtsloser, direkter.

Woher wusste sie das?, fragte sie sich plötzlich. Er war doch ein Fremder.

O Gott, der See!

Vielleicht besaß sie einfach genug Menschenkenntnis, um seinen Charakter einzuschätzen. Die Verbindung, die sie zu ihm spürte, musste nicht unbedingt etwas Absurdes sein.

Doch, es war absurd. Er war absurd. Wenn es ihm gelungen war, das zu tun, was sie glaubte, dass er getan hatte, dann war er noch abgedrehter als sie.

Aber sie war nicht abgedreht. Sie hatte gelernt, mit ihrem Problem umzugehen. Und daran hatte sich nichts geändert. Sie konnte Silver zum Teufel schicken und ihr Leben wieder in die Hand nehmen. Doch als Erstes musste sie dafür sorgen, dass er sich von ihr fern hielt, und das bedeutete, dass sie Travis anrufen und ihn auffordern musste, Silver zurückzupfeifen.

Sie holte tief Luft, nahm das Telefon und tippte die Nummer ein, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gewählt hatte.

»Was zum Teufel soll das, Michael?«, fragte sie, als Travis sich meldete.

»Kerry?«

»Du weißt ganz genau, dass ich es bin. Ich hab dir damals gesagt, du sollst dich aus meinem Leben raushalten, und das hieß auch, dass du mir keinen von deinen Bewunderern auf den Hals hetzen sollst, um mir das Leben schwer zu machen.«

»Ich nehme an, du sprichst von Brad Silver? Wenn du ihn besser kennen würdest, dann wäre dir klar, dass er niemandes Bewunderer ist. Silver ist sein eigenes Gesetz.«

»Aber du hast ihn geschickt. Du hast ihm von mir erzählt.«

»Ja. Ich habe mir die Sache lange überlegt, doch dann bin ich zu dem Schluss gelangt, dass es nötig war. Er braucht dich.«

»Blödsinn! Pfeif ihn zurück, Michael. Ich will ihn nicht in meiner Nähe haben.«

»Das könnte schwierig werden.« Er seufzte. »Du bist sehr aufgebracht. Was hat er denn getan?«

»Er ist … seltsam.«

»Aber er ist nicht dumm. Er hätte sich nicht verraten, wenn es nicht absolut notwendig gewesen wäre. Was ist passiert?«

»Ich habe keine Lust, weiter mit dir zu reden.« Sie hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Sag Silver einfach, er soll sich von mir fern halten.«

»Was hat er denn getan?«

Blauer See, Rittersporn, spielende Kinder.

»Ich glaube, du weißt, was er getan hat. Er ist genau wie du und Melissa und all die anderen Leute, von denen du mir erzählt hast.« Sie biss sich auf die Lippe.

»Nein, er ist nicht wie ihr. Er ist … anders.«

»Ja, das stimmt. Er ist ein Controller.«

»Controller?« Wut stieg in ihr auf. »Ich weiß nicht, wovon zum Teufel du redest. Ist das eins von deinen bescheuerten Psychospielen? Dabei mache ich nicht mit, Michael.« Ihre Wut wurde von Panik abgelöst, und sie flüsterte: »Mein Gott, ich wusste nicht mal, dass es Menschen wie ihn überhaupt gibt.«

»Schsch. Ich bin sicher, er hatte nicht die Absicht –«

»Ich will das nicht hören.«

»Er hat dir Angst gemacht.« Michael seufzte. »Wenn du es mich erklären ließest, würdest du einsehen, dass er nicht so übel ist, wie du glaubst.«

»Er ist noch schlimmer. Er ist ein Albtraum. Mach, dass er aus meinem Leben verschwindet.« Damit legte sie auf.

Controller. Allein das Wort machte ihr Angst, bedrohte es doch ihren Freiheitssinn und ihre Individualität. Doch nun, da sie gewarnt war, würde er keine Chance haben, sein Spiel zu wiederholen, falls er noch einmal auftauchte. Ihr Wille war stark genug, um sich gegen Silver – Nicht über ihn nachdenken. Sie hatte wichtigere Dinge zu tun, als sich über Silver oder Michael oder deren bekloppte Freunde den Kopf zu zerbrechen. Sie musste sich um ihr eigenes Leben kümmern. Nicht über ihn nachdenken. Sie wählte Ednas Nummer. Nach dem sechsten Läuten nahm sie ab. »Edna, hier ist Kerry. Wenn dir im Moment nicht nach Reden zumute ist, sag mir einfach, ich soll auflegen.

Aber ich dachte, ich könnte mit Sam rüberkommen und dir die Kinder ein bisschen abnehmen.«

»Er ist tot, Kerry«, sagte Edna benommen. »Ich kann es noch gar nicht begreifen.«

»Soll ich rüberkommen, Edna?«

»Ja, ich glaube, das wäre gut. Ich hab es den Kindern noch gar nicht gesagt. Das muss ich natürlich tun, aber was soll ich ihnen bloß sagen?«

»Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Vielleicht kann ich das übernehmen.«

»Nein, das ist meine Aufgabe. Wie kann ich ihnen klar machen, dass er nicht mehr nach Hause kommen wird? Es ist nicht richtig. Er war so ein guter Mann.«

»Ich bin unterwegs.« Sie legte auf und erhob sich. Es würde eine schreckliche Nacht werden, aber zumindest konnte sie versuchen zu helfen. Sie füllte Sams Fressnapf. Der Himmel wusste, wann sie dazu kommen würde, ihn zu füttern, wenn sie es nicht jetzt gleich tat. »Hier, dein Abendessen, Sam. Du hast jede Menge Arbeit vor dir. Charlies Kinder werden dich brauchen.«

Kerry Murphy trat aus dem Haus. Sie hatte Mühe, den schwarzen Labrador so weit im Zaum zu halten, dass er sie nicht die Verandastufen hinunterriss. Es war das erste Mal, dass Trask sie richtig zu Gesicht bekam. Als Silver sie zu seinem Wagen gebracht hatte, war er selbst zu weit am anderen Ende des Krankenhausparkplatzes gewesen, und vor dem Mistkerl musste er sich in Acht nehmen. Sie war schlank, so wie Helen. Aber Helen war dunkelhaarig gewesen, mit wunderschönen braunen Augen. Diese Frau hatte blaue Augen und kastanienbraunes Haar, das in dem schwachen Licht der Verandalampe rötlich schimmerte.

Feuerrot.

Seine Hände umklammerten das Steuerrad.

Sie stieg zusammen mit dem Hund in Silvers Lexus. Die Zeit lief ihm davon. Er musste eine Entscheidung treffen. Sollte er sie jetzt gleich töten?

Sie musste Silver sehr wichtig sein, sonst wäre er nicht so weit gefahren, um sie zu treffen. Womöglich irrte er sich, andererseits war es vielleicht besser, eine Waffe zu zerstören, bevor sie jemand gegen ihn benutzte.

Nein, bisher wusste er nichts über Kerry Murphy, er kannte nur ihren Namen, den er auf dem Briefkasten gelesen hatte.

Vielleicht war es auch gar nicht nötig, dass er seine Zeit an sie vergeudete. Er musste zurück nach Washington und sich auf seine nächste Zielperson vorbereiten. Dann, wenn alles erledigt war, konnte er zurückkommen und sich gründlicher über Kerry Murphy informieren. Und falls sie sich mit Silver einließ, würde er sie auf die übliche Weise liquidieren.

Bis dahin würde er abwarten und beobachten.

Auf dem Weg zum Hotel erhielt Silver einen Anruf von Michael Travis. »Kerry hat mich gerade angerufen und mir die Hölle heiß gemacht. Daraus schließe ich, dass du Kontakt zu ihr aufgenommen hast.«

»Allerdings. Aber was ich davon haben werde, bleibt noch dahingestellt.«

»Was hast du denn mit ihr gemacht?«

»Herrgott nochmal, ich hab ihr nichts getan! Wozu auch? Ich brauche sie.«

»Du könntest sie aus Versehen verletzt haben! Du bist nicht gerade ein Ausbund an Geduld, zudem bewegst du dich im Moment selbst auf dünnem Eis.«

»Wenn du dir solche Sorgen machst, warum bist du dann nicht mitgekommen, um dich liebevoll um sie zu kümmern?«

»Weil sie mir gesagt hat, ich soll mich aus ihrem Leben raushalten.«

»Dasselbe hat sie mir auch gesagt.« Silver fuhr auf den Parkplatz des Marriott Hotels. »Sie hat heute einen guten Freund bei einem Brand verloren.«

»Mist!«

»Du sagst es. Ich musste schneller vorgehen als beabsichtigt, und jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr Zeit zu lassen, bis sie sich wieder gefasst hat.«

»Der Präsident hat heute Nachmittag angerufen. Ich soll ihn zurückrufen und Bericht erstatten. Er erwartet Antworten.«

»Ich auch. Du kannst nicht alles haben. Wenn ich sie bedränge, richte ich womöglich nur Schaden an.« Er überlegte.

»Aber ich wüsste wirklich verdammt gerne, warum Präsident Andreas das Risiko eingeht, uns zu engagieren. Wenn die Medien irgendwie Wind davon bekommen, werden sie sich auf ihn stürzen. Denen ist er doch sowieso viel zu sauber.«

»Er schätzt die Situation als kritisch ein.«

»Und er glaubt, wir können ihm helfen. Wie kommt er auf die Idee? Hat er Grund zu der Annahme, wir könnten etwas erreichen?«

»Fährst du zurück nach Washington?«

Es war klar, dass Travis keine Fragen beantworten würde, die Andreas betrafen. Er war ein geheimnistuerischer Mistkerl und würde nie das Vertrauen missbrauchen, das jemand in ihn setzte.

Nun, er, Silver, hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Travis hatte über die Jahre auch eine Menge von seinen Geheimnissen für sich behalten. »Nein, ich bleibe hier in der Gegend, bis es mir gelingt, sie auf meine Seite zu ziehen. Sie wird erst mal ein paar Tage damit beschäftigt sein, die trauernde Witwe zu trösten. Ich kann vorerst nicht mehr tun, als sie im Auge zu behalten.« Er holte tief Luft. »Gott, sie hat unglaubliche Fähigkeiten, Michael.«

»Ich hab dir schon vor fünf Jahren gesagt, dass sie viel versprechend ist. Und anstatt ihr Talent zu unterdrücken, nutzt sie es. Zwar macht sie nicht ausgiebig davon Gebrauch, aber sie muss es verfeinert haben.«

»Sie kann Trask finden. Verdammt, ich weiß, dass sie ihn finden kann!«

»Falls er sie nicht tötet.«

»Richtig. Falls er sie nicht tötet.«

»Ich wäre äußerst betrübt, wenn du das zuließest, Silver. Ich hätte dir nie Zugang zu Kerry verschafft, wenn du mir nicht ein Versprechen gegeben hättest.«

»Und ich werde es halten«, erwiderte Silver knapp. »Geh mir nicht auf die Nerven. Ich rufe dich wieder an und halte dich auf dem Laufenden. Falls du irgendwas Wichtiges von Andreas erfährst, lass es mich wissen.«

Er legte auf.

Er konnte es Michael nicht verübeln, dass er ihm misstraute.

Besser als jeder andere wusste er, welche Wut Silver umtrieb.

Verdammt, manchmal misstraute er sich fast selbst. Würde er Kerry Murphys Tod in Kauf nehmen, wenn er dafür Trask in die Finger bekam?

Himmel, er wusste es nicht.

Als Kerry Charlies Haus verließ, um zur Beerdigung zu gehen, erhielt sie einen Anruf von ihrem Bruder Jason.

»Wie geht es Edna?«

»Den Umständen entsprechend. Ihre Schwester Donna ist gestern Abend aus Detroit gekommen. Das ist gut so, die beiden stehen sich sehr nahe.«

»Und wie geht es dir?«

»Ich bin traurig – was dachtest du denn?«

»Reg dich nicht auf. Ich mache mir nur Sorgen.«

»Es geht mir gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich wieder aus der Bahn gerate. Das wird nicht wieder passieren.«

»Ich weiß. Aber ich finde, du brauchst ein paar Tage Ruhe.«

Sie hörte jemanden im Hintergrund reden, dann lachte Jason.

»Laura ist anderer Meinung. Sie meint, du sollst herkommen und ihr helfen, die Gartenlaube fertig zu stellen, so wie du es versprochen hast. Sie braucht dich für die Anstreicharbeiten.

Von den Farbdämpfen wird ihr immer schlecht.«

»Sag ihr, ich komme morgen. Jetzt, wo Donna hier ist, braucht Edna mich nicht mehr. Eine Schwester ist immer besser.«

»Stimmt.« Er überlegte. »Dad ist letzte Woche auf dem Weg nach Florida kurz vorbeigekommen. Er hat sich nach dir erkundigt.«

»Wirklich?« Das Thema gefiel ihr nicht. »Ich muss auflegen.

Edna wartet. Wir sehen uns morgen, Jason.«

»Er ist auch dein Vater, Kerry. Du kannst ihm nicht ewig Vorwürfe machen.«

»Ich mache ihm keine Vorwürfe. Ich will ihn einfach nur nicht sehen. Sag Laura, sie soll nur ja keinen Farbpinsel anrühren.

Gemeinsam kriegen wir diese Gartenlaube schon fertig.« Sie legte auf und holte tief Luft. Jason nutzte jede Gelegenheit für einen Versuch, sie und ihren Vater wieder zusammenzubringen.

Er begriff es einfach nicht. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt.

Sie gab ihrem Vater nicht die Schuld, aber der Kontakt mit ihm brachte den Schmerz zurück und das Gleichgewicht ins Wanken, das sie sich so mühsam erkämpft hatte. Sie konnte es sich nicht leisten, dieses Gleichgewicht wieder zu verlieren.

»Können wir Sam mitnehmen, Kerry?«

Als sie sich umdrehte, sah sie Gary, Charlies zehnjährigen Sohn, die Treppe herunterkommen. Er trug einen blauen Anzug und eine Krawatte, sein Gesicht war blass und angespannt. Der Arme! Nach den Tränen in der ersten Nacht hatte er tapfer die Fassung gewahrt, aber das würde ein schlimmer Tag für ihn werden.

Es würde für alle ein schlimmer Tag werden.

»Ich glaube, auf Beerdigungen sind Hunde nicht unbedingt erwünscht, Gary«, erwiderte sie sanft. »Und man kann sich nicht immer darauf verlassen, dass Sam sich ordentlich benimmt.«

»Das wäre Dad egal.« Gary schluckte. »Er mochte Sam. Er hat zwar immer über ihn geschimpft, aber Sam hat ihn auch immer zum Lachen gebracht. Ich glaube, Kim hätte ihn gern dabei. Sie ist erst sechs und – Sam würde es irgendwie leichter für sie machen.«

Und für Gary würde er es auch leichter machen. Ein vertrautes Tier zu berühren war für die meisten Kinder ein großer Trost.

»Ich werde deine Mutter fragen, ob ich herkommen und ihn holen kann, sobald der Gottesdienst vorbei ist und wir auf den Friedhof gehen. Aber du und Kim, ihr müsst beide dafür sorgen, dass er keinen Unsinn anstellt. Versprochen?«

Gary nickte. »Er ist bestimmt brav. Schließlich ist er klug. Er versteht bestimmt, dass Dad –« Seine Augen füllten sich mit Tränen und er eilte an Kerry vorbei zur Tür hinaus. »Kim wird sich freuen, dass Sam mitkommt. Sie ist noch ein Kind …«

Auch Kerrys Augen brannten, als sie Gary auf die Veranda folgte. Gary war ebenfalls noch ein Kind. Zwei großartige Kinder, die ihren Vater verloren hatten und nun ohne den warmherzigen, starken Mann aufwachsen mussten, der Charlie gewesen war …

Nicht an die Zukunft denken. Im Moment bestand ihre Aufgabe darin, Edna und die Kinder durch diesen schrecklichen Tag zu begleiten.

Leb wohl, Charlie.

Kerry warf die Rose, die man ihr gegeben hatte, auf den Sarg und trat einen Schritt zurück.

Kim und Gary klammerten sich an die Hände ihrer Mutter, und Tränen strömten ihnen übers Gesicht, als sie ihre Rosen auf den Sarg warfen. Dann grub Kim ihre freie Hand in Sams Nackenfell. Gott sei Dank benahm der Hund sich ordentlich.

Kerry war froh, dass die Beerdigung fast vorüber war. Lange hätte sie nicht mehr durchgehalten. Sie riss ihren Blick vom Sarg los. Lieber wollte sie Charlie so in Erinnerung behalten, wie sie ihn gekannt hatte. Es war besser – Sie zuckte zusammen.

In einiger Entfernung des Grabs stand jemand im Schatten einer mächtigen Eiche. Er war halb hinter dem Baumstamm verborgen und benahm sich, als wollte er nicht gesehen werden.

Einbildung. Jeder hatte Charlie gemocht und er hatte keine Geheimnisse gehabt. Warum sollte sich jemand hinter einem Baum verstecken, damit niemand sah, dass er zur Beerdigung gekommen war? Und doch war sie sich beinahe sicher, dass – Er war weg. Eben war er noch da gewesen, jetzt war er im Gebüsch verschwunden.

»Kann ich mit dir und Sam im Auto zurückfahren?«, fragte Gary, der neben ihr stand.

Sie nickte. »Selbstverständlich. Wenn es deiner Mutter recht ist.«

»Ich hab sie schon gefragt.« Gary schob seine Hand in ihre.

»Sie und Tante Donna müssen sich um Kim kümmern. Sie werden mich nicht vermissen.«

»Deine Mutter wird dich sicherlich vermissen. Sie braucht euch beide, dich und Kim. Ihr müsst jetzt alle zusammenhalten.«

Gary nickte. »Ich werde meine Mom beschützen.«

Er drückte ihre Hand etwas fester. »Ich werde ganz bestimmt alles tun, was mein Daddy sich von mir gewünscht hätte. Aber nicht heute. Okay?«

Sie nickte. Ebenso wie Edna hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie Garys Bedürfnisse nicht wahrgenommen hatte. Er musste mit seiner Trauer fertig werden, und die überwältigende Fürsorge, die ihm entgegengebracht wurde, hielt ihn davon ab.

»Das hat alles Zeit. Niemand drängt dich. Geh Sam holen, dann fahren wir los.«

Sie blickte ihm nach, wie er zu seiner Mutter lief, dann schaute sie noch einmal zu der Eiche hinüber.

Niemand zu sehen.

Warum machte sie das nervös? Es musste keine vernünftige Erklärung geben. Vielleicht war es einfach jemand gewesen, der auf dem Friedhof arbeitete und die Beerdigung nicht stören wollte. Oder irgendein Verrückter, der sich auf Friedhöfen herumtrieb und seine makabre Freude an der Trauer anderer hatte.

Silver.

Durchaus möglich. Sie hatte den Mann nicht genau sehen können. Es war nur ein flüchtiger Eindruck gewesen von einem großen Mann in einer dunkelblauen Windjacke und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf.

Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass Silver sich hinter einem Baum verstecken würde, um sie zu beobachten. Er war viel zu ungeduldig, viel zu dreist. Doch wer zum Teufel konnte es dann gewesen sein? Was Silver anging, konnte sie nur Vermutungen anstellen, außerdem hatte sie bewusst jeden Gedanken an ihn verdrängt, seit er vor drei Tagen ihr Haus verlassen hatte.

Das änderte jedoch nichts daran, dass er ihr als Erster eingefallen war, als sie den Mann hinter dem Baum gesehen hatte.

Denn es gab niemanden, der sie so nervös machte wie Brad Silver.

»Lass uns fahren, Kerry.« Gary war mit Sam an der Leine zurückgekommen. »Alle brechen auf.« Er schaute zum Grab hinüber und flüsterte: »Aber wir verlassen ihn nicht wirklich, nicht wahr? Mom sagt, er wird immer bei uns sein.«

»Da hat deine Mutter Recht.« Sie nahm ihn bei der Hand und sie gingen gemeinsam in Richtung Ausgang.

»Solange wir die Erinnerung an ihn aufrechterhalten. Hab ich dir eigentlich mal erzählt, wie ich deinen Dad kennen gelernt habe? Er war fuchsteufelswild, weil ich den Platz eines seiner Kumpel einnehmen sollte, der in einen anderen Bezirk versetzt worden war …«

3

»Verschwinde endlich!« Über ihre Schulter hinweg warf Kerry Laura einen strengen Blick zu. »Du hast mich hergebeten, um diese verdammte Gartenlaube anzustreichen, weil dir von den Farbdämpfen schlecht wird. Und jetzt kann ich dich nicht von hier fern halten.«

Laura reichte ihr ein Glas Limonade. »Ich dachte nur, du könntest was Kühles zu trinken brauchen.« Sie warf einen kritischen Blick auf das hölzerne Gitterwerk, das Kerry gerade anstrich. »Und ich wollte dir raten, nicht zu –«

»Laura.«

»Okay, tut mir Leid«, sagte Laura verlegen. »Jason hat mir gesagt, ich soll dich in Ruhe lassen. Aber ein paar gut gemeinte Ratschläge können doch nicht schaden, dachte ich. Schließlich bist du eine vernünftige Frau, die –«

»Die gern selbst entscheidet, was sie tut.« Kerry lächelte.

»Und jetzt geh, bevor du anfängst zu kotzen. Das würde ich nämlich als echte Schikane betrachten.«

»Es geht mir gut.« Laura zog die Nase kraus. »Ich habe ein paar Kräcker gegessen, bevor ich rausgekommen bin, um dir meine guten Ratschläge angedeihen zu lassen. Die Kräcker beruhigen meinen Magen ganz gut. Außerdem hab ich mich einsam gefühlt. Du bist hergekommen und hast auf der Stelle mit der Arbeit angefangen. Du hättest dir ruhig ein bisschen Zeit zum Plaudern nehmen können, dann hätte ich dir erzählen können, wie Pete mich misshandelt.« Sie tätschelte ihren runden Bauch. »Er tritt mich die ganze Nacht.«

»Du hast es doch so gewollt.«

»Stimmt auch wieder.« Laura lächelte strahlend. »Drei Jahre lang hab ich darauf gewartet. Gehofft. Gebetet. Ich habe jedes Hormonpräparat genommen, das auf dem Markt zu finden ist.«

»Ich weiß.« Kellys Augen funkelten. »Und das alles bloß, um mich zur Tante zu machen. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Jason ist gerade vorgefahren.« Laura lief ins Haus und rief Kerry über die Schulter hinweg zu: »Er hat ein bisschen früher Feierabend gemacht, weil ich ihn angerufen habe, um ihm zu sagen, dass du schon da bist.«

Kerry lächelte, als sie hörte, wie die Fliegengittertür zuschlug und Laura durchs Haus lief und Jason schon von weitem begrüßte. Im achten Monat schwanger und immer noch ein Wirbelwind. Ein warmer, sonniger Wirbelwind …

Falls ein solches Phänomen existierte. Andererseits war Laura ein ganz eigenes Phänomen. Das war sie schon immer gewesen

»Ich hab gehört, du ruinierst die Gartenlaube meiner Frau.«

Jason kam die Verandastufen herunter. »Sie möchte, dass ich dir zur Hand gehe.«

»Himmel, Herrgott, du hast doch keine blasse Ahnung vom Anstreichen, Jason.« Sie tauchte ihren Pinsel in die Farbe. »Das weiß Laura ganz genau.«

Er kam auf sie zu. »Wo ist Sam?«

»Ich hab ihn bei Ednas Kindern gelassen. Sie brauchen ihn.

Und jetzt zieh dir deinen guten Anzug aus und hilf mir beim Anstreichen. Deine Frau macht mir das Leben verdammt schwer. Sie kommt dauernd raus und krittelt an meiner Arbeit rum.«

»Es wurmt sie einfach, dass sie das nicht selbst machen kann.

Tut mir Leid, dass ich nicht hier war, als du angekommen bist.

Ich hatte geschäftlich in Valdosta zu tun.«

»Kein Problem.«

»Wie geht es denn Charlies Frau und den Kindern?«

»Nicht besonders gut. Aber sie kommen zurecht.«

»Und du? Geht es dir einigermaßen?«

»Den Umständen entsprechend.«

»Dad macht sich Sorgen um dich. Er wollte dir gern helfen.«

Sie zuckte zusammen. »Wie denn? Indem er mich wieder in dieses Sanatorium steckt?«

Jason runzelte die Stirn. »Er dachte damals, es wäre das Beste für dich. Du hast dauernd halluziniert. Du brauchtest ärztliche Pflege.«

»Und mich in ein Sanatorium zu stecken war natürlich viel leichter, als das mit mir zusammen durchzustehen. Weißt du, wie oft er mich in dem ganzen Jahr besucht hat, das ich dort war? Zwei Mal. Wenn du mich nicht so oft besucht hättest, wäre ich mir vorgekommen wie eine Vollwaise.«

»Er hat sich unwohl gefühlt in deiner Gegenwart. Schon als kleines Mädchen warst du ziemlich aufsässig, und nachdem er dich ins Sanatorium eingeliefert hatte, warst du so wütend auf ihn, dass du überhaupt nicht mehr zu bändigen warst.«

»Ich war nicht verrückt. Ich hatte einfach nur ein paar Probleme. Er hätte mir Zeit lassen sollen, selbst damit zurechtzukommen.«

»Er hatte Angst, die Halluzinationen könnten eine Folge des Komas sein, in dem du als Kind gelegen hattest. Er fühlte sich verantwortlich.«

»Er hatte ein schlechtes Gewissen.«

»Du gibst ihm also doch die Schuld.«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich will einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben.« Sie wünschte, er würde aufhören, auf dem Thema herumzureiten. Wenn er sich einmal an etwas festgebissen hatte, konnte Jason ziemlich hartnäckig sein. Sie schaute ihn an und rang sich ein Lächeln ab. »Vielleicht solltest du dich lieber umziehen und mir helfen. Zu zweit kriegen wir das hier bis zum Abendessen fertig.«

»Ja, gleich«, erwiderte er ernst. Offenbar war er noch nicht fertig. »Die Ärzte haben dir doch wirklich geholfen. Vor allem der Psychiater, dieser Dr. Travis. Zwei Monate nachdem der deine Behandlung übernommen hatte, warst du draußen.

Vielleicht hat Dad also doch die richtige Entscheidung getroffen.«

Sie war entlassen worden, weil Michael Travis ihr gesagt hatte, was sie dem Krankenhauspersonal erzählen sollte, damit die sie für geheilt hielten. »Stimmt, ich gebe zu, dass Travis für meine Entlassung gesorgt hat. Über alles andere können wir uns weiter streiten.«

Jason schwieg einen Moment. »Was ich mich immer gefragt habe … Gibst du auch mir die Schuld?«

»In den ersten Wochen im Sanatorium ja, da hab ich dir auch die Schuld gegeben. Ich fühlte mich verraten. Aber dann begriff ich, dass du seine Entscheidung unterstützt hast, weil du mich liebst, und deine Liebe war mir zu wichtig, um sie über Bord zu werfen, bloß weil du einen Fehler gemacht hattest.«

»Es war kein Fehler. Du musst selbst zugeben, dass du jetzt gesund und normal bist.«

»Vollkommen normal.« So normal, wie sie je sein würde.

»Können wir das Thema jetzt beenden und einfach Lauras Gartenlaube streichen? Ich bin hergekommen, um euch zu besuchen, nicht um mir Vorträge halten zu lassen.«

Er nickte und wandte sich zum Gehen. »Tut mir Leid. Aber Dad ist einfach so ein netter Kerl. Ich finde, du verpasst was, wenn du dich so gegen ihn abschottest.«

Sie schaute ihm nach, als er den Rasen überquerte und ins Haus ging. Es war nur natürlich, dass Jason dachte, sie würde zu kurz kommen. Die zwei Jahre, die sie nach dem Tod ihrer Mutter im Koma gelegen hatte, war er mit ihrem Vater allein gewesen, und die Tatsache, dass Kerry sich von der Welt zurückgezogen hatte, hatte Vater und Sohn noch enger zusammengeschweißt. Dann, nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war sie noch eine ganze Weile in einem Rehabilitationszentrum untergebracht gewesen. Jason war zehn Jahre älter als Kerry und stark geprägt durch seine Zeit mit seinem Vater. Später waren sie beide auf privaten Internaten gewesen und hatten die Ferien bei ihrer Tante Marguerite in Macon verbracht. Kerry konnte sich nur schwach an die wenigen Besuche erinnern, die ihr Vater ihnen in all den Jahren abgestattet hatte. Er war charmant, charismatisch und lustig gewesen, solange Jason dabei war. Doch sobald er mit ihr allein war, benahm er sich hölzern und linkisch.

Ihre Schuld? Vielleicht. Sie erinnerte sich, wie sie ihn manchmal angestarrt hatte, als wäre er irgendein seltenes Tier.

Sie hatte sich in seiner Gegenwart nie entspannen können. Dann, als erst die Albträume und dann die Visionen gekommen waren, hatte er sie in das Sanatorium in Milledgeville gesteckt und damit jede Aussicht auf ein inniges Vater-Tochter-Verhältnis zerstört.

Sie machte sich wieder daran, das Gitterwerk zu streichen.

Es spielte keine Rolle. Sie hatte Jason und Laura und ihre Freunde auf der Feuerwache. Sie brauchte keine Vaterfigur in ihrem Leben. Schon gar nicht Ron Murphy. Sollte er sich allein mit seinen Schuldgefühlen gegenüber ihr und ihrer Mutter herumplagen. Und wegen jener grauenvollen Nacht in Boston.

Kerry lachte und scherzte ausgelassen. Sie wirkte entspannter, als Silver sie je erlebt hatte. Ihr Bruder stand am Grill und briet Hamburger, während Laura Murphy, hochschwanger, an einem Picknicktisch saß und zufrieden ihre neue Gartenlaube betrachtete.

Silver ließ sein Fernglas sinken. War es der richtige Zeitpunkt, hinzugehen, an die Tür zu klopfen und mit Kerry zu reden? Sie war ruhig und beinahe gelassen. Das Trauma der vergangenen Tage schien verblasst. Vielleicht sollte er die günstige Gelegenheit nutzen und sich wieder ins Spiel bringen.

Nein, er würde ihr diesen ruhigen Abend noch gönnen.

Wenn er sie erst einmal in den Albtraum hineingezogen hatte, in dem er lebte, würde sie vorerst keine ruhige Minute mehr haben.

»Der Präsident.« Melissa reichte Michael Travis das Telefon und flüsterte kaum hörbar: »Ziemlich sauer.«

Das wunderte Travis nicht. Im Verlauf der letzten drei Tage hatte Andreas zunehmend die Geduld verloren. »Guten Tag, Mr President. Ich hatte vor, Sie heute Abend anzurufen und Sie auf den neuesten Stand zu bringen.«

»Bringen Sie mich jetzt auf den neuesten Stand«, erwiderte Andreas knapp. »Was zum Teufel ist los? Ist Silver mit Däumchendrehen beschäftigt? Ist ihm nicht klar, wie dringend diese Angelegenheit ist?«

»Doch, das ist ihm durchaus bewusst. Aber er bemüht sich, sie auf rücksichtsvolle Weise zur Kooperation zu bewegen.«

»Während er sich in Diplomatie übt, muss ich mich mit der Verwüstung auseinander setzen, die dieser Verrückte verbreitet.

Gestern Abend ist Tim Pappas von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gerast. Der Wagen ist explodiert und Pappas verbrannt, bevor ihn jemand retten konnte.«

»Mist!«

»Genau. Ich hatte Pappas versichert, er wäre nicht in Gefahr.

Ich mag es nicht, als Lügner dazustehen. Und es macht mich wütend, dass ein anständiger Mann zu Tode kommt, bloß weil wir Trask nicht zu fassen kriegen.«

»Silver wird ihn finden. Es gibt niemanden, der motivierter wäre als er.«

»Das ist der einzige Grund, warum ich ihm traue.«

Andreas überlegte. »Diese Frau, brauchen wir sie wirklich so dringend?«

»Entweder sie oder jemanden wie sie. Und ich bin noch nie jemandem begegnet, der ihr spezielles Talent besitzt.«

»Aber sie weigert sich zu kooperieren?«

»Das wissen wir noch nicht. Vor fünf Jahren wollte sie mit mir und meiner Gruppe nichts mehr zu tun haben. Sie ist sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht und darauf, ein normales Leben zu führen.«

»Da hat sie aber schlechte Karten.«

»Bisher hat sie das sehr gut hingekriegt. Sie ist klug und sehr geschickt darin, ihre Spuren zu verwischen.«

»Sie haben mir nie einen vollständigen Bericht über sie gegeben. Erzählen Sie mir von ihr.«

»Ihre Mutter ist bei einem Hausbrand ums Leben gekommen, als Kerry sechs war. Der Brandstifter hat Kerry damals einen Schlag auf den Kopf versetzt, woraufhin sie zwei Jahre im Koma lag. Nachdem sie aus dem Koma erwacht war, konnte sie die Person, die das Feuer gelegt hatte, nicht identifizieren. Ihr Vater, Ron Murphy, und ihre Mutter lebten zu dem Zeitpunkt, als das Feuer ausbrach, in Scheidung, und der Vater hatte Kerrys Bruder Jason zu einem Jagdausflug nach Kanada mitgenommen.

Murphy arbeitet als freiberuflicher Journalist und lebt nie lange an ein und demselben Ort. Die Kinder waren die meiste Zeit im Internat oder bei ihrer Tante. Als Kerry zwanzig war, bekam sie Albträume von Feuersbrünsten und die üblichen Visionen, woraufhin ihr Vater sie in ein Sanatorium gesteckt hat. Und da habe ich mich eingeschaltet. Ich hatte sie schon beobachtet, seit einer meiner Informanten mir von ihr berichtet hatte. Ich dachte, sie könnte eine von uns sein.«

»Die Komata.«

»Ja. Ich habe Unterlagen gefälscht und mich in dem Sanatorium als Gastanalytiker ausgegeben. Es ist mir zwar gelungen, sie trotz ihrer Wut und Verwirrung ein bisschen zu beruhigen, aber mehr wollte sie auf keinen Fall mit mir zu tun haben. Sie sagte, sie bräuchte meine Hilfe nicht und sie wolle nicht als Verrückte durchs Leben gehen.«

»Verständlich.«

»Ich verstehe das sehr gut, ich habe sie sogar in ihrer Meinung unterstützt. Deswegen habe ich auch anfangs gezögert, Silver ihren Namen zu geben, als er mich um Rat gebeten hat.«

Andreas antwortete nicht gleich. »Hätte er Sie zwingen können, den Namen preiszugeben?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, Silver ist sich nicht einmal selbst darüber im Klaren, welche Macht er wirklich besitzt. Aber vielleicht will er es auch gar nicht so genau wissen.«

»Meinen Berichten zufolge ist er … bemerkenswert.«

»Und das beschreibt womöglich nur die Spitze des Eisbergs.«

Travis rieb sich die Schläfe. »Keine Sorge. Er wird schon nicht gefühlsduselig werden. Ich bin überzeugt, dass er Kerry Murphy für uns gewinnt.«

»Und zwar am besten möglichst bald«, sagte Andreas.

»Verdammt bald. Ich will nicht schon wieder auf eine Beerdigung gehen.«

»Ich werde ihm von Ihrem Unmut berichten.«

»Als würde ihn das beeindrucken! Er lässt sich offenbar nicht leicht einschüchtern. Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte er und legte auf.

Feuer!

Mama konnte nicht raus. Sie war verletzt. Sie musste Hilfe holen.

Der Mann auf der anderen Straßenseite.

Hilf meiner Mama. Bitte, hilf meiner Mama.

Sie wusste, dass er ihr nicht helfen würde.

Immer wieder, immer wieder.

Aber sie musste es versuchen. Sie rannte über die Straße.

» Bitte, sie braucht Hilfe. «

Sie schaute in sein Gesicht.

Kein Gesicht. Kein Gesicht. Kein Gesicht.

Sie schrie.

Kerry fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es wehtat. Alles in Ordnung. Sie stand nicht auf der Straße in Boston. Sie befand sich in Jasons Gästezimmer in Macon.

Nur ein Traum.

Nur? Es war derselbe Traum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte. Aber er war seit Monaten nicht wiedergekommen, daher hatte sie schon gehofft, sie wäre endlich davon befreit.

Wahrscheinlich hatte Charlies Tod den Albtraum wiederkehren lassen.

Aber es spielte keine Rolle, was der Auslöser war. Der Traum war wieder da, und wenn sie wieder einschlief, würde er sie erneut heimsuchen. Das Muster war immer das gleiche. Der Traum kam jedes Mal zurück, sobald sie in Tiefschlaf fiel.

Manchmal ging das tagelang so weiter, bis sie restlos erschöpft war.

Sie konnte nicht einfach im Bett liegen bleiben und riskieren, dass sie einschlief und der Traum sie aufs Neue überfiel.

Sie warf die Decke zurück und stand auf. Sie würde nach unten gehen, ein Glas Milch trinken, sich auf die Veranda setzen, die kühle Nachtluft genießen und sich beruhigen. Und vielleicht, vielleicht würde sie Glück haben und der Traum würde so weit verblassen, dass er sie nicht wieder heimsuchte.

Schön wär’s.

Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht, dann schlich sie leise nach unten in die Küche. Sie bemühte sich, möglichst kein Geräusch zu machen, denn wenn Jason aufwachte, würde er sie prompt wieder ins Kreuzverhör nehmen, und das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie hatte ihm erzählt, die Albträume, die sie seit ihrer Kindheit gequält hatten, wären Vergangenheit. Ein frommer Wunsch.

Sie nahm sich ein Glas Milch, ging nach draußen und setzte sich auf die Verandastufen. An ihren nackten Beinen fühlte sich das Holz kühl an und es duftete nach Geißblattblüten. Sie holte tief Luft. Das war Normalität. Das war Realität. Die schattenhafte Gestalt in ihrem Traum war nur ein Trugbild ihrer Einbildung.

Aber es war keine Einbildung. Er war irgendwo da draußen. Er hatte das grauenhafte Verbrechen begangen und lief immer noch frei herum, frei, weitere Leben zu zerstören. Ihre Schuld. Ihre Schuld.

Nicht an ihn denken. Sie musste ihr Leben leben. Sie musste aufhören, sich selbst zu bestrafen. Schließlich war sie keine Märtyrerin. Ihre Mutter hätte nicht gewollt, dass sie sich die Schuld gab. Sie hob ihr Glas und trank einen Schluck Milch.

Die Gartenlaube schimmerte weiß im Mondlicht. Sie würde sie morgen früh noch einmal streichen müssen, doch im Moment sah sie richtig gut aus. Laura hatte die Laube wirklich gut hingekriegt – »Darf ich Platz nehmen?«

Sie erstarrte und schaute zu dem Mann hinüber, der ein paar Meter von ihr entfernt im Garten stand.

Brad Silver. Wut stieg in ihr auf. »Nein, dürfen Sie nicht.

Halten Sie sich aus meinem Leben fern.« Ihre Hand umklammerte das Milchglas. »Was zum Teufel haben Sie hier mitten in der Nacht zu suchen? Das ist ein Privatgrundstück.«

»Sie haben mich geweckt.« Er setzte sich neben sie auf die Stufe. »Ihre Schuld. Wenn Sie nicht so durcheinander wären, hätte auch ich es wesentlich leichter.«

»Was soll das heißen, ich habe Sie geweckt?«

»Wie oft haben Sie solche Träume? In den vergangenen sechs Monaten kann ich mich nur an einen oder zwei Fälle erinnern.«

»Wie kommen Sie dazu –« Sie holte tief Luft. »Wer sind Sie und was machen Sie seit einem halben Jahr mit mir?«

»Ich mache gar nichts mit Ihnen, außer dass ich Sie beobachte.

Ich musste mich mit Ihnen beschäftigen, nachdem ich zu dem Schluss gelangt war, dass Sie die einzig Richtige für uns sind.

Travis hat mir von Anfang an gesagt, dass wir Sie brauchen, aber ich treffe gern meine eigenen Entscheidungen.«

»Sie beobachten mich?« Sie befeuchtete ihre Lippen.

»Sie lesen meine Gedanken. Sie sind einer von Michaels verrückten Freunden, nicht wahr?«

Er verzog das Gesicht. »Als Sie ihn angerufen haben, hat er Ihnen wahrscheinlich erzählt, dass ich nicht ganz normal bin.

Was genau hat er gesagt?«

»Er meinte, Sie wären ein Controller.« Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Sie haben meine Gedanken beeinflusst, als Charlie starb. Wie haben Sie das gemacht?«

»Erfahrung. Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich es schaffen würde, die Verbindung zwischen Ihnen zu unterbrechen und sie durch ein falsches Bild zu ersetzen. Sie sind sehr stark.«

»Aber Sie haben es geschafft, Sie Mistkerl!«

»Weil Sie es selbst nicht geschafft haben. Wenn Sie sich damals von Travis hätten anleiten lassen, hätten Sie es vielleicht gar nicht nötig gehabt, sich wie ein verwundetes Tier in diesem Wandschrank zu verkriechen.«

»Ich will nichts davon hören.«

Sie wollte aufstehen, doch er packte sie am Arm und hielt sie auf. »Es ist mir egal, ob Sie das hören wollen oder nicht. Ich habe mich geduldig im Hintergrund gehalten und Ihnen Zeit gelassen, sich von dem Trauma zu erholen, das Sie durch den Tod Ihres Freundes erlitten haben. Aber jetzt werde ich Ihnen sagen, was ich Ihnen zu sagen habe, und Sie werden mir zuhören.«

»Den Teufel werde ich tun!« Sie funkelte ihn wütend an. »Und lassen Sie mich gefälligst los!«

»Das werde ich. Mir liegt nichts daran, Sie anzufassen.« Er hielt ihrem Blick stand. »Aber Sie werden mir zuhören, denn wenn Sie es nicht tun, werde ich Ihren Bruder wecken und ihm nicht nur von Ihren Träumen erzählen, sondern auch, woher ich von den Träumen weiß. Ich glaube kaum, dass es Ihnen recht wäre, wenn er zu dem Schluss käme, dass seine Schwester einen Sprung in der Schüssel hat.«

»Sie Scheißkerl!«

»Tja, das bin ich tatsächlich. Aber das ändert gar nichts. Es sollte Sie nur umso mehr davon überzeugen, dass ich tue, was ich sage.«

Er meinte es ernst. Sie wandte sich ab. »Okay, reden Sie.«

»Ich möchte, dass Sie für mich einen Auftrag übernehmen.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil Sie verrückt sind«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, »und weil Sie auch mich zu einer Verrückten machen wollen. Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben. Das habe ich Michael Travis schon vor fünf Jahren gesagt.«

»Ich brauche Sie nicht zu einer Verrückten zu machen, weil Sie es schon sind. Als Sie aus dem Koma erwacht sind, haben Sie etwas mitgebracht. Sie wissen es, aber Sie weigern sich, sich damit auseinander zu setzen.«

»Ich habe mich damit auseinander gesetzt«, erwiderte sie aufgebracht. »Ich mache es mir zunutze. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich mich mit ein paar Verrückten wie Ihnen und Michael Travis zusammentue. Ich will ein normales Leben führen.«

»Pech für Sie. Seit Sie aus dem Koma erwacht sind, gehören Sie einem ziemlich exklusiven Club an. Ihr Talent ist verdammt selten und ich brauche es.«

»Sie können mich mal.«

»Travis hat Sie gehen lassen. Er hätte damals darauf bestehen können, dass Sie ihm etwas schuldig sind, nachdem er Ihnen erklärt hat, mit welchen Tricks Sie Ihre Entlassung aus dem Sanatorium erwirken können, aber das hat er nicht getan. Hat er jemals versucht, Sie zu rekrutieren?«

»Rekrutieren?«

»Das falsche Wort? Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er hat gesagt, ich wäre nicht verrückt, er meinte, die Visionen bedeuteten, dass ich parapsychologische Kräfte besitze und dass ich lernen müsse, so gut es geht damit zu leben. Er hat gesagt, ich wäre nicht die Einzige, es gäbe noch andere, die, nachdem sie als Kinder aus einem Koma erwacht sind, parapsychologische Fähigkeiten entwickelt haben. Er sagte, er und seine Frau versuchten, diese Leute ausfindig zu machen und ihnen zu helfen.«

»Weil Michael und Melissa dasselbe durchgemacht haben wie Sie.«

Sie nickte. »Das hat er mir auch erzählt. Er meinte, wenn ich zu ihnen nach Virginia käme, würden sie mir helfen, bewusst damit umzugehen.« Ihre Lippen spannten sich. »Aber ich brauchte ihre Hilfe nicht. Das Einzige, was ich wissen wollte, war, dass ich nicht verrückt bin. Mit allem anderen kann ich umgehen. Ich habe mir ein angenehmes Leben aufgebaut.«

»Obwohl Sie behindert sind.«

»Sie ticken ja nicht richtig. Ich bin nicht behindert.«

»Sie haben den Job bei der Feuerwehr hingeschmissen, weil Sie Angst hatten. Angst ist eine starke Behinderung.«

»Ich habe keine Angst.«

»Nicht vor Feuer. Aber Sie haben Angst, noch einmal die Hölle zu erleben, durch die Sie gegangen sind, als Smitty Jones bei diesem Brand vor zwei Jahren ums Leben gekommen ist.«

»Smitty?«

»Sie haben mit ihm zusammen die Ausbildung gemacht und waren beide auf der zehnten Wache stationiert. Sie standen einander sehr nahe. War er Ihr Geliebter?«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Wissen Sie es etwa nicht?«

»Ich dringe nicht ins Privatleben von Menschen ein, schließlich habe ich auch ein gewisses Ethos.«

»Blödsinn!«

»Ich bin weit genug eingedrungen, um zu erfahren, dass es sich um eine sehr tiefe Beziehung handelte und Sie an seinem Tod beinahe zerbrochen wären. Hatten Sie dieselbe Verbindung zu ihm wie zu Charlie?«

Sie antwortete nicht.

»Ich glaube schon. Aber es muss Ihnen gelungen sein, die Verbindung zu unterbrechen, bevor er starb. Das war Ihr Glück.

Wenn es Ihnen nicht gelungen wäre, die Kontrolle wiederzugewinnen und sich zu befreien, hätte er sie wahrscheinlich mit in den Tod gerissen.«

»Ich wäre gestorben?«, flüsterte sie.

»Ich glaube, dass Ihnen das klar war. Deswegen haben Sie sich instinktiv ausgeklinkt.«

Sie wandte sich ab. »Vielleicht.«

»Aber weil Sie so etwas nicht noch einmal erleben wollten, sind Sie aus der Feuerwehr ausgeschieden. In der Hoffnung, in Sicherheit zu sein, wenn Sie nicht in der Nähe des Feuers wären.« Er schüttelte den Kopf. »Aber so funktioniert das nicht, Kerry. Nicht wenn eine emotionale Verbindung besteht.«

»Ich musste es versuchen«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Smitty war mein Freund, mein bester Freund. Ich glaube, mit der Zeit wären wir uns sogar noch näher gekommen. Aber die Zeit war uns nicht vergönnt. Er ist gestorben, ich konnte es nicht ertragen, dasselbe noch einmal …«

»Es ist die Hölle«, sagte er heiser. »Glauben Sie etwa, Sie wären die Einzige? Glauben Sie, wir anderen hätten noch nie so etwas erlebt? Das ist Schicksal.«

»Es ist nicht mein Schicksal. Ich will nichts damit zu tun haben.« Sie schaute ihn wieder an. »Und auch nicht mit Ihnen.

Michael hat mir erzählt, dass es alle möglichen mehr oder weniger ausgeprägten Fähigkeiten gibt, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass es einen Menschen wie Sie gibt. Sie sind ein Scheusal.«

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Leute so auf mich reagieren.

Manch einer findet es erträglich, dass jemand seine Gedanken lesen kann, aber nicht, dass ich die Gedanken beeinflusse und verändere.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe gelernt, damit zu leben. Sie werden feststellen, dass das Scheusal Ihnen sehr nützlich sein kann.«

»Ich will Sie nicht benutzen. Ich will, dass Sie verschwinden.«

»Sie haben sich noch gar nicht angehört, was ich für Sie tun könnte.«

»Nichts. Es gibt gar nichts, was Sie je für mich tun könnten.«

»Im Gegenteil. Ich kann Ihnen geben, was Sie sich schon Ihr Leben lang wünschen.« Er schaute ihr in die Augen. »Er hat ein Gesicht, wissen Sie. Und irgendwo tief in Ihrem Innern wissen Sie, wie er aussieht. Bisher ist es Ihnen nur noch nicht gelungen, sich durch den Horror jener schrecklichen Nacht bis zu Ihrer Erinnerung vorzukämpfen.«

»Und Sie sind angeblich in der Lage, das für mich zu tun?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nachdem ich aus dem Koma erwacht bin, hat die Polizei es mit allem, einschließlich Hypnose, versucht, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Doch die Erinnerung war einfach weg. Die Gehirnerschütterung und das Koma hatten es vollkommen ausgelöscht.«

»Nicht endgültig. Die Erinnerung ist lediglich verborgen. Ich kann Ihnen helfen, sie wieder auszugraben. Es wird nicht leicht werden, aber ich kann es schaffen.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Wenn ich mich erinnern könnte, hätte ich es längst getan. Glauben Sie etwa, ich wünschte mir nicht sehnlichst, dass dieser Scheißkerl endlich bestraft wird? Er hat meine Mutter umgebracht. Er hat sie in dem brennenden Haus sterben lassen.« Ihre Stimme bebte. »Man hat mir später erzählt, dass man nur noch ihr Skelett gefunden hat, nachdem es der Feuerwehr endlich gelungen war, das Feuer zu löschen.«

»Wenn es Ihnen wichtig genug wäre, ihn zu finden, würde die Erinnerung zurückkehren.«

»Blödsinn!« Sie stand auf. »Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie mir helfen können, und selbst wenn Sie es könnten, würde ich es niemals wagen, mich mit Ihnen einzulassen.«

»Weil Sie fürchten, ich könnte Ihre Gedanken beeinflussen.

Ich verspreche Ihnen, das nicht zu tun. Normalerweise dringe ich nie ohne Erlaubnis in jemandes Gedanken ein.«

»Ach ja? Wie zum Beispiel, als ich in dem Wandschrank hockte?«

»Das war unumgänglich. Ich wollte nicht, dass Sie einen Nervenzusammenbruch erleiden, bevor ich Gelegenheit habe, Ihnen meinen Vorschlag zu unterbreiten.«

Sie starrte ihn ungläubig an. So kalt, so hart. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Ein Nervenzusammenbruch wäre Ihnen wirklich ungelegen gekommen.«

»Allerdings.« Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.

»Ich habe keine Zeit, um mir jemanden zu suchen, der dasselbe Talent besitzt wie Sie. Tut mir Leid, wenn es Sie enttäuscht, dass es mir an Zartgefühl mangelt. Die Sache ist zu wichtig, und ich muss zu schnell und entschlossen handeln, als dass ich mir die Zeit nehmen könnte, Sie mit Schmeicheleien zu überlisten.

Außerdem halte ich Sie für zu ehrlich und geradeheraus, Sie würden es ohnehin nicht zu schätzen wissen, wenn ich Ihnen Honig ums Maul schmiere.«

»Da haben Sie Recht, ich bin geradeheraus. Und deswegen sage ich Ihnen geradeheraus: Ich lehne Ihr Angebot ab. Scheren Sie sich zum Teufel!«

»Sind Sie nicht einmal neugierig zu erfahren, was ich eigentlich von Ihnen will?«

»Nein.« Das war gelogen. Sie war wirklich neugierig. Das war doch nur natürlich.

»Ich möchte, dass Sie ein Monster finden. Ein Monster, neben dem sich der Mann, der Ihre Mutter auf dem Gewissen hat, wie ein Waisenkind ausnimmt.«

»Wer ist es?«

Silver schüttelte den Kopf. »Erst brauche ich Ihre Zusage. Ich habe Travis versprochen, nichts preiszugeben, solange ich mich nicht vergewissert habe, dass Sie die Angelegenheit vertraulich behandeln. Manch einer würde Ihnen sagen, es sei Ihre patriotische Pflicht, Ihre Unterstützung zuzusagen. Ich pfeife auf patriotische Pflichten.« Sein Gesichtsausdruck war steinhart.

»Ich will nur, dass Sie ihn finden.«

»Und ich lasse mir weder von Ihnen noch von der Regierung oder von sonst irgendjemandem meine Pflichten erklären.« Sie öffnete die Fliegengittertür. »So, jetzt haben Sie mir also Ihr Anliegen unterbreitet und ich lehne ab. Und jetzt verschwinden Sie!«

Er schüttelte den Kopf. »Das war erst die Einleitung. Mir war klar, dass Sie nicht sofort einwilligen würden. Aber ich werde nicht lockerlassen, bis Sie zustimmen.«

»Wenn ich Sie irgendwo in meiner Nähe sehe, rufe ich die Polizei.«

Er stand auf. »Dann werden Sie mich eben nicht sehen. Aber ich werde da sein. Denken Sie darüber nach. Der Scheißkerl, der Ihre Mutter getötet hat, hält Sie immer noch gefangen. Wären Sie nicht gern frei? Würden Sie ihn nicht gern in der Hölle braten sehen?«

»Auf diese Frage haben Sie noch nicht mal eine Antwort verdient.«

»Dann lassen Sie mich die Flamme zünden, die ihn in die Hölle schickt«, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme, während er sie mit seinem Blick durchbohrte.

»Glauben Sie mir. Ich kann es tun.«

In diesem Augenblick glaubte sie ihm beinahe. Jeder einzelne Muskel seines Körpers schien mit Spannung geladen zu sein.

Gott, sie hatte seine Willenskraft schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt, aber jetzt wurde ihr klar, dass sie nur die Oberfläche wahrgenommen hatte.

Umso mehr Grund, jeden Kontakt mit ihm zu meiden. Selbst wenn er die Fähigkeit, die sie so abstoßend fand, nicht einsetzte, war er ihr viel zu eindringlich und beredsam. Und doch machte er keinen Versuch, die Skrupellosigkeit und den Egoismus zu verbergen, Eigenschaften, die offenbar Teil seines Charakters waren. Er war ein Fremder, der sie in seine Dienste nehmen wollte, und sie konnte ihm weder vertrauen noch glauben. »Sie können mir nicht helfen. Leben Sie wohl, Mr Silver.«

Er lächelte. »Einen Moment lang hatte ich Sie beinahe so weit, stimmt’s?«

»Nie im Leben.«

Er nickte. »Doch. Sie waren drauf und dran, nachzugeben. Sie wollen das haben, was ich Ihnen geben kann, aber Sie haben Angst. Das ist verständlich. Aber das war harte Arbeit für mich.

Es erleichtert mich, zu wissen, dass ich mich nicht auf radikalere Methoden werde verlegen müssen.«

Sie zuckte zusammen. »Radikalere Methoden?«

»Machen Sie sich keine Gedanken. Gute Nacht, Kerry.« Er warf einen Blick auf die Gartenlaube. »Die Laube haben Sie ordentlich angestrichen. Aber Sie werden noch einmal drübergehen müssen.«

»Ich weiß. Das mache ich morgen früh.«

»Und Sie werden morgen früh nicht zu müde sein. Sie werden gut schlafen«, sagte er, ohne seinen Blick von der Gartenlaube abzuwenden. »Ich weiß, Sie fürchten, der Albtraum könnte wiederkehren, aber das wird nicht passieren.«

»Wie bitte?«

Er schaute sie an. »Ein kleines Geschenk von mir. Eine Anzahlung auf zukünftige Dienste.« Er wandte sich zum Gehen.

»Und eine kleine Demonstration dessen, was ich für Sie tun kann.«

»Was zum Teufel soll das heißen? Ich will keine Geschenke von Ihnen. Ich will, dass Sie sich aus meinem Leben –«

Er war schon verschwunden.

Gott sei Dank!, dachte Kerry, als sie ins Haus zurückging und die Küchentür verriegelte. Sie bemerkte, dass sie zitterte. Mit seinem Gerede von dem Monster, das sie finden sollte, hatte er sie genauso erschüttert wie beim ersten Mal, als sie ihm begegnet war.

Sie hatte genug mit ihren eigenen Dämonen zu tun, sie brauchte nicht auch noch nach seinen zu suchen. Seine so genannten Geschenke waren mehr als suspekt. Vor allem wenn er in der Lage war, ihre Wahrnehmung der Realität zu verdrehen, so wie er es schon einmal getan hatte. Sie wollte immer noch nicht recht glauben, dass es eine solche Fähigkeit geben konnte. Die bloße Vorstellung machte ihr Angst. Am liebsten hätte sie sich die Bettdecke über den Kopf gezogen, so wie sie es als Kind immer getan hatte. Die vernünftige Alternative, jetzt, wo sie erwachsen war, bestand darin, Silver wie die Pest zu meiden. Zum Glück hatte sie ihm nicht nachgegeben.

Sie haben Angst, der Albtraum könnte wiederkehren, aber das wird nicht passieren.

Doch auch das machte ihr Angst. Es reichte nicht, dass er über ihre Albträume Bescheid wusste, er behauptete auch noch, er könnte sie verhindern. Ihr war … als würde er in ihrem Leben herumpfuschen.

Doch das würde sie nicht zulassen. Wahrscheinlich bediente er sich der Methode der positiven Beeinflussung, in der Hoffnung, damit Glück zu haben. Aber die Albträume kehrten immer wieder zurück, und sie waren so intensiv, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, dass irgendetwas sie aufhalten konnte.

Er macht Sie immer noch zu seiner Gefangenen.

Nicht an Silver denken. Sie würde sich ins Bett legen und dafür sorgen, dass sie nicht einschlief. Denn sie wusste, dass die Albträume wiederkehren würden, egal was er gesagt hatte.

Rauch.

Brennen in der Lunge.

Wenn sie die Augen öffnete, würde sie die Flammen sehen, da war sie sich ganz sicher.

Silver hatte gelogen. Warum war sie so schrecklich enttäuscht? Es bewies lediglich, dass ihr Wille stark genug war, um jeder Beeinflussung durch ihn zu widerstehen.

Knisternde Flammen.

Gleich würde ihre Mutter ins Zimmer kommen und sie wecken.

Hitze.

Mama!

Sie riss die Augen auf.

Flammen fraßen die Vorhänge des großen Zimmers wie hungrige Kobolde.

Gästezimmer?

Jasons Gästezimmer. Kein Traum.

Feuer!

Sie sprang aus dem Bett und rannte in den Flur.

Dichter schwarzer Rauch.

»Jason! Laura! Raus hier!«

»Bin schon unterwegs.« Die Tür zum Schlafzimmer der beiden stand offen, und Jason führte Laura, die in eine Decke gehüllt war und sich schwer auf ihn stützte, hinaus. »Sie ist verletzt. Sie hat versucht, die Flammen in den Vorhängen zu ersticken, dabei hat ihr Nachthemd Feuer gefangen.«

»Nach unten. Bring sie raus hier.« Überall im Haus züngelten Flammen. Der reine Wahnsinn. Kein Muster. Kein Zusammenhang. Das Treppengeländer. Dann der Tisch in der Diele.

O Gott!, die Haustür war plötzlich ein Inferno.

»Die Küchentür.« Kerry schob die beiden vor sich her zur Rückseite des Hauses. »Schnell.«

Bitte, lieber Gott, nicht die Küchentür. Lass sie durch die Küchentür entkommen.

Die Küchenschränke brannten lichterloh, und das Feuer war so heiß, dass die Küchengeräte bereits schmolzen.

Aber die Küchentür war immer noch unberührt vom Feuer.

Kerry riss die Tür auf. »Los, raus!«

Das brauchte sie Jason nicht zu sagen. Ehe sie sich’s versah, war er mit Laura die Treppen hinunter und auf halbem Weg durch den Garten. Kerry stürzte hinter den beiden her. »Leg sie hin. Ich will sie mir ansehen.«

»Sie hat Schmerzen.« Tränen liefen über Jasons Wangen. »Sie hat gestöhnt, als ich sie die Treppe runtergetragen habe.«

»Aber sie lebt.« Kerry schluckte, als sie Lauras Arme und Schultern untersuchte. Großer Gott! »Bleib bei ihr. Halte sie in den Armen. Ich gehe nach nebenan und rufe die Polizei und die Feuerwehr.«

»Beeil dich. Um Himmels willen, mach schnell!«

Kerry lief in Richtung Gartentor. Sie musste so schnell wie möglich Hilfe holen.

Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz in ihre Schläfen, und sie musste sich am Tor festhalten, um nicht zu fallen.

Monster. Monster. Teuflisches Grinsen.

Er saß am Steuer eines braunen SUV etwa einen Block weit entfernt und betrachtete die Flammen, die das Haus zerstörten.

Er liebte den Anblick von Feuer. Sie waren der Beweis seiner Macht. Nein, es waren die Toten, die seine Macht bewiesen. Das Feuer war nur seine Waffe.

Aber dieses Feuer war kein richtiger Erfolg. Er musste die kleine Antenne verbessern. Aus dieser Entfernung hatte er keine Kontrolle, und er war sich nicht sicher, ob Kerry Murphy in dem Feuer umgekommen war. Nun, es gab eine Möglichkeit, sich Gewissheit zu verschaffen.

Er ließ den Motor an und fuhr los. Zeit, zu verschwinden, bevor das letzte Feuerwerk …

Er drückte den Knopf an dem Fernzünder, den er in der Hand hielt.

Kerry vernahm ein Zischen, das sich anhörte wie das saugende Geräusch eines Tornados.

Innerhalb weniger Sekunden wurde Jasons Haus restlos zerstört.

4

»Lassen Sie das verdammte Tor los.« Silver versuchte, ihre verkrampften Hände von dem Metall zu lösen. »Sie müssen hier weg. Hier fliegen überall Funken rum.«

»Laura«, murmelte sie benommen. »Notarzt.«

»Hab ich schon benachrichtigt.« Er bugsierte sie in Richtung Straße. »Sie bleiben auf der Straße und nehmen Feuerwehr und Notarzt in Empfang, in der Zwischenzeit bringe ich Jason und Laura von dem Funkenflug weg.«

Sie schüttelte den Kopf, um den pochenden Schmerz zu lindern, dann ging sie in Richtung Straße. Laura. Sie mussten Laura unbedingt retten.

Nicht an das Monster denken.

Silver betrat das Wartezimmer im Krankenhaus und reichte Kerry eine Tasse Kaffee. »Wie geht es ihr?«

»Sie wird durchkommen.« Kerry trank einen Schluck Kaffee.

»Aber sie wissen noch nicht, was mit dem Baby ist. Sie versuchen, es zu retten.«

»Ich werde gute Gedanken denken.« Er setzte sich neben sie.

»Stand sie kurz vor der Geburt?«

»Im achten Monat. Der Kleine hat wahrscheinlich eine Chance.« Sie schaute auf die Uhr. »Sie sind schon seit zwei Stunden zugange. Man sollte meinen –«

»Es ist ein Junge?«

Sie nickte. »Sie wollten ihn Pete nennen.« Sie holte tief Luft.

»Sie werden ihn Pete nennen. Ich will nichts Negatives denken.

Gott wird nicht zulassen, dass Laura und Jason ihr Baby verlieren. Sie haben sich das Kind so sehr gewünscht. Drei Jahre lang hat Laura versucht, schwanger zu werden. Falls es überhaupt nicht klappen sollte, wollten sie ein Kind adoptieren.

Aber dann geschah das Wunder. Zumindest für die beiden war es ein Wunder.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Hoffnung ist etwas Wunderbares.«

Sie schaute ihn an. »Wissen Sie, was da im OP vor sich geht?

Immerhin wussten Sie von dem Brand.«

Er schüttelte den Kopf. »Das wusste ich nur, weil es mit Ihnen zu tun hatte. Es funktioniert nicht immer auf dieselbe Weise.«

»Ach, Sie haben Grenzen?« Ihre Mundwinkel zuckten. »Das wundert mich ja direkt.«

»Wir haben alle unsere Grenzen. Wir arbeiten mit dem, was uns zur Verfügung steht. Das wüssten Sie, wenn Sie mit Travis kooperiert hätten.« Er blickte in seine Tasse.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Kerry. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun.«

»Und ich nehme an, der Mann, der Jasons Haus angezündet hat, wollte mir auch nicht wehtun.« Sie befeuchtete ihre Lippen.

»Er hat das richtig genossen. Er war … abscheulich. Es hat ihm regelrecht Leid getan, dass er nicht nahe genug am Geschehen war, um das brennende Fleisch zu riechen.«

Silver erstarrte. »Sie hatten Verbindung zu ihm?«

Sie nickte. »Er war Ihr Monster, nicht wahr? Er hat die ganze Zeit an Sie gedacht, während er das Feuer beobachtete.«

»Ja, ich bin mir sicher, dass er es war. Niemand sonst ist in der Lage, auf diese Weise einen Brand auszulösen.«

»Es war ganz seltsam.« Sie rieb sich die Schläfen. »Es gab überhaupt keinen Zusammenhang. Alle möglichen Möbelstücke schienen ganz von allein Feuer zu fangen.«

»Ja.«

»Und dann die letzte Explosion …« Sie schaute ihn an.

»Warum? Warum hat er Jasons Haus angezündet?«

»Wahrscheinlich beobachtet er Sie, weil er fürchtet, ich könnte Sie überreden, mir zu helfen.«

»Er hat also versucht, Laura, Jason und mich zu töten, bloß weil er mich mit Ihnen zusammen gesehen hat?«

»Diesem Typen ist es gleichgültig, wie viele Menschen bei einem Brand ums Leben kommen. Das dürfen Sie bei Trask nie vergessen.«

»Sie wissen also, wer das getan hat? Sie kennen seinen Namen?«

»Ich kenne seinen Namen. Aber ich kann ihn nicht finden. Er ist äußerst geschickt darin, seine Spuren zu verwischen. Er ist sehr intelligent, eine Art Genie.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er ist wahnsinnig. Er liebt das Feuer, als wäre es sein Baby. Aber er ist wütend auf Sie … und er hat Angst vor Ihnen.«

Silver schwieg eine Weile. »Offenbar haben Sie heute Nacht eine Menge von ihm empfangen.«

»Aber nicht mit Absicht. Er hat mich regelrecht bombardiert.

Er hat Gift und Galle gespuckt.« Sie schloss die Augen. »Es hat mir den Magen umgedreht. Laura …«

»Das alles tut Ihnen sehr weh«, sagte er leise. »Ich kann Ihnen helfen. Sie brauchen mir nur die Erlaubnis dazu zu geben.«

Sie riss die Augen auf. »Wagen Sie es nicht! Mein Schmerz gehört mir. Er ist ein Zeichen dafür, dass ich lebe und funktioniere. Wenn ich ein Beruhigungsmittel haben wollte, um den Schmerz auszublenden, dann würde ich mich an einen Arzt wenden und nicht an einen Möchtegern …«

»Ist ja schon gut. War nur ein Angebot.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Manchmal fällt es mir schwer, einzuschätzen, was richtig ist.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Benehmen Sie sich einfach wie ein ganz normaler Mensch.«

»Ich bin ein ganz normaler Mensch. Zumindest meistens. Soll ich Ihnen was zu essen besorgen?«

»Nein. Von Ihnen will ich nichts –«

»Wir haben ihn verloren, Kerry.« Jason stand in der Tür, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Er war tot. Wie soll ich das bloß Laura beibringen?«

»O nein!« Kerry sprang auf und warf sich in seine Arme. »O

mein Gott, es tut mir so Leid, Jason! Ich habe von ganzem Herzen gehofft –«

»Ich auch.« Er drückte sie fest an sich. »Ich kannte ihn, Kerry.

Wir haben immer mit ihm gesprochen. Es war, als gehörte Pete schon zur Familie. Laura … Wie soll ich es ihr bloß –«

»Ich komme mit dir. Wir machen es gemeinsam. Wenn du möchtest.«

Er nickte. »Du bist immer für mich da, wenn ich dich brauche.

Aber wenn du …« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was du tun könntest. Ich weiß nicht, was irgendjemand tun könnte.«

Sie bugsierte ihn in Richtung Korridor. »Als Allererstes müssen wir mit Laura sprechen. Sie möchte bestimmt, dass du da bist, wenn sie aufwacht.« Sie wischte sich mit der Faust die Tränen aus dem Gesicht. »Über alles andere werden wir später nachdenken.«

Jason nickte. »Zuerst Laura.«

»Genau.« Sie legte einen Arm um seine Taille und öffnete die Tür. Über die Schulter hinweg sagte sie zu Silver: »Sie bleiben hier. Egal wie lange es dauert, ich möchte Sie hier vorfinden, wenn ich zurückkomme.«

»Ich werde nirgendwo hingehen.« Er schaute ihr direkt in die Augen. »Warum sollte ich? Ich wette, dieser Scheißkerl Trask hat mir die Arbeit abgenommen.«

Erst drei Stunden später kehrte Kerry ins Wartezimmer zurück.

»Gehen wir«, sagte sie knapp.

Er stand auf. »Darf ich fragen, wohin?«

»Ich brauche eine Dusche, was zu essen und was anderes zum anziehen als diesen Krankenhauskittel, den die Schwester mir verpasst hat.«

»Was ist mit Ihrem Bruder?«

»Er will Laura nicht allein lassen. Sie haben ihm erlaubt, hier im Krankenhaus zu übernachten.«

»Sie wollen nicht bei ihm bleiben?«

»Im Moment braucht er niemanden außer Laura. Ich würde nur ihren privaten Kummer stören.« Sie ging in Richtung Tür.

»Wo wohnen Sie?«

»Im Marriott.« Er nahm sein Handy aus der Tasche.

»Ich buche ein Zimmer für Sie und für morgen eins für Ihren Bruder. Einverstanden?«

Sie nickte. »Ich weiß nicht, ob er es in Anspruch nehmen wird, aber es ist eine gute Idee. Was ist mit was zum Anziehen?«

»Ich werde veranlassen, dass der Krankenhausladen etwas früher aufmacht, und dort ein paar Sachen für Sie kaufen, damit Sie mit dem Nötigsten versorgt sind, bis wir Ihre Sachen aus Atlanta geholt haben.«

»Ich frage Sie erst gar nicht, auf welche Weise Sie das veranlassen wollen.«

»Kein Hokuspokus.« Er nahm ihren Ellbogen. »Simple Bestechung.«

Kerry hatte bereits geduscht und war gerade dabei, sich die Haare zu föhnen, als Silver zwei Stunden später an ihre Tür klopfte.

Er war ebenfalls frisch geduscht und umgezogen und reichte ihr eine Plastiktüte. »Das Badetuch steht Ihnen ausnehmend gut, aber in diesen Klamotten werden Sie sich wohler fühlen. Hose, Sweatshirt und Make-up. Unterwäsche hatten sie leider nicht.

Aber ich habe den Pagen in die Mall geschickt, um welche zu besorgen.«

»Ich nehme an, Sie kennen meine Größe.«

»BH 75 B, Slip 36.« Er setzte sich in den Sessel am Fenster.

»Ich habe den Zimmerservice bestellt. Suppe, ein paar Sandwiches und Kaffee. Okay?«

Sie nickte. »Mir ist alles recht.« Sie ging mit der Plastiktüte ins Bad und schloss die Tür. Wenige Minuten später kam sie bekleidet mit einer braunen Hose und einem grünen Sweatshirt wieder heraus. »Schuhe?«

»Die kommen zusammen mit der Unterwäsche. Sportschuhe in Größe achtunddreißig. New Balance, nicht Nike.«

Ihre Unterkiefer spannten sich. »Sie wissen wohl alles über mich.«

»Nein. Aber es ist schwer, solche Details nicht wahrzunehmen.«

»Als Sie mich beobachtet haben. Haben Sie eine Ahnung, wie wütend mich das macht?«

»Natürlich. Mich würde es auch wütend machen.« Er lächelte schwach. »Wenn Ihre Haare sich so kräuseln, sehen Sie aus wie Little Orphan Annie. Sehr attraktiv. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich solche Mühe geben, sie zu glätten.«

»Weil ich nicht die kleine Waise Annie bin. Ich bin eine erwachsene Frau, und ich möchte mögen können, was ich bin.«

Sie setzte sich ihm gegenüber. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mich täuscht und in meine Privatsphäre eindringt.«

»Das sagten Sie bereits.«

»Weil Sie auf die allerunangenehmste Weise in meine Privatsphäre eingedrungen sind. Das kotzt mich an.«

Er nickte.

»Und dass Sie dieses Monster in unser Leben gebracht haben, werde ich Ihnen nie verzeihen. Ihre Schuld ist nur wenig geringer als die des Mannes, der das Feuer gelegt hat.«

»Das akzeptiere ich.« Ihre Blicke begegneten sich.

»Aber ich glaube, Sie wissen, wer auf Ihrer Hitliste an erster Stelle steht.«

»Und Sie stehen direkt an zweiter Stelle«, erwiderte sie kühl.

»Ich bin alles, was Sie verabscheuen. Ich bin ein richtiger Scheißkerl. Aber Sie würden nicht mit mir reden, wenn Sie nicht einen guten Grund dafür hätten. Also, sagen Sie mir, warum ich hier bin.«

»Ich will Antworten.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich will dieses Schwein, das Jasons Sohn auf dem Gewissen hat.«

»Dachte ich’s mir. Sie sind eine sehr gefühlvolle Frau und Sie haben eine ausgeprägte mütterliche Seite.«

»Hören Sie auf, mich zu analysieren. In Wirklichkeit wissen Sie nichts über mich.«

Er zuckte die Achseln.

Augenblicklich wurde sie wütend. »Sie verdammter Mistkerl!

Alles, was Sie wissen, ist gestohlen. Ich fühle mich, als hätten Sie mich beraubt.« Sie holte tief Luft, um ihre Wut zu unterdrücken. »Aber das wird nicht wieder passieren. Wenn ich Ihnen helfe, diesen Trask zu finden, dann müssen Sie mir versprechen, dass Sie nie wieder tun, was Sie mit mir gemacht haben, als Charlie starb.«

»Ich verspreche es.«

»Und Sie werden nicht … in meine Privatsphäre eindringen.«

»Nie wieder ohne Ihre Erlaubnis.«

»Und die werden Sie niemals bekommen.«

»Vielleicht. Manche Situationen erfordern radikale Maßnahmen.« Er schüttelte den Kopf, als sie etwas sagen wollte. »Aber ich werde nicht wieder ungebeten in Ihre Privatsphäre eindringen. Normalerweise tue ich das sowieso nicht. Halten Sie mich etwa für einen verdammten Spanner? Es ist sehr ungemütlich, bis ich mich mit allen Ecken und Winkeln auskenne.«

»Ecken und Winkel?«

»Außerdem haben Sie sich mit einer Schutzmauer umgeben.

Es wäre ziemlich schwierig, darüber zu springen.«

»Aber nicht unmöglich?«

Er machte ein finsteres Gesicht. »Typisch, dass Sie mich das fragen, wo ich mir gerade alle Mühe gebe, Sie zu beruhigen.«

»Sie könnten es also tun?«

»Vielleicht. Ich bin ziemlich gut.« Dann fügte er hinzu: »Aber wie ich bereits sagte, ich habe gewisse ethische Prinzipien. Als mir klar wurde, wie sich mein spezielles Talent auswirkt, musste ich mir eine Art Berufsethos zulegen. Sonst hätte ich mich womöglich zu einem echten Scheusal entwickelt.« Er machte ein wissendes Gesicht.

»Leider passiert es trotzdem häufiger, als mir lieb ist, dass ich bei jemandem in Ungnade falle. Ich bin nicht wie Travis. Ich gerate in Wut und schlage blind zurück.«

»Wenn Sie wirklich versuchen, mich zu beruhigen, stellen Sie sich nicht besonders geschickt an.«

»Aber ich gebe etwas von mir preis, damit Sie mich kennen lernen. Und …« Ihre Blicke begegneten sich. »Sie haben mir gesagt, wie sehr Sie es hassen, getäuscht zu werden. In der Hinsicht haben Sie bei mir nichts zu befürchten. Sie bekommen, was Sie sehen. Ich habe Ihnen mein Versprechen gegeben und ich werde es halten.«

»Falls ich Ihnen nicht den letzten Nerv raube.«

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich, wenn wir ein Team sind.«

Es klopfte an der Tür.

»Zimmerservice«, sagte Silver und stand auf, um zu öffnen.

»Wenn Sie erst mal was gegessen haben, werden Sie sich schon besser fühlen. Sie sind ein bisschen unterzuckert, und wenn Sie keine Proteine bekommen, macht Sie das ziemlich gereizt.«

»Ich bin nicht unter …« Sie beließ es dabei. Es war nur eine kleine Stichelei und sie hatten wichtigere Dinge zu überlegen.

»Im Moment bin ich ohnehin gereizt – mit oder ohne Proteine.

Das ist mein gutes Recht.«

»Stimmt.« Er schob den Servierwagen ins Zimmer und stieß die Tür mit dem Fuß zu. »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen. Aber ein ordentliches Frühstück tut trotzdem gut.«

Es tat wirklich gut. Erst als sie anfing zu essen, merkte sie, was für einen Hunger sie hatte. Innerhalb weniger Minuten hatte sie ihre Suppe aufgegessen und ein Sandwich verschlungen.

»Sind Sie schon ein bisschen weniger zittrig?« Silver schenkte ihr Kaffee ein.

Sie würde niemals zugeben, dass sie vorher zittrig gewesen war. »Es geht mir gut.« Sie hob ihre Tasse. »Sie haben kaum was gegessen.«

»Während Sie geduscht haben, habe ich die Minibar in meinem Zimmer geplündert.« Er füllte seine Tasse.

»Ich habe eine Leidenschaft für Cashewkerne.«

»Wirklich? Ich hätte nie gedacht, dass Sie für irgendwas eine Leidenschaft haben.«

»Da irren Sie sich. Aber Sie haben natürlich ein Recht auf Ihre Meinung. Und wahrscheinlich fühlen Sie sich sicherer, wenn Sie mich für durch und durch kalt und rational halten.« Er lächelte.

»Ich habe eine Leidenschaft für alles Mögliche. Ich bin ganz verrückt nach NASCAR-Rennen, ich liebe Baseball, Tauchen, Opern, Hunde und Blondinen wie Gwyneth Paltrow. Nur leider habe ich kaum Zeit für all diese schönen Dinge.«

»Weil Sie zu sehr damit beschäftigt sind, in Dingen herumzuschnüffeln, die Sie nichts angehen?«

»Genau.«

»Und warum können Sie Trask dann nicht finden?«

»Aha, wir sind wieder beim Thema.« Er hob seine Tasse an die Lippen. »Ich kann ihn nicht spüren, seine Schwingungen nicht aufnehmen. Außerdem besitze ich nicht Ihr spezielles Talent.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nicht versucht haben, einen von Ihren parapsychologischen Kumpeln zu rekrutieren, der seine Schwingungen aufnehmen kann.«

»Oh, das habe ich tatsächlich. Ohne Erfolg. Also musste ich mich auf altmodische Detektivmethoden verlegen, aber auch dabei ist nichts herausgekommen.«

»Warum haben Sie sich dann nicht an jemanden gewandt, der mehr Erfahrung in diesen Dingen hat? Die Polizei zum Beispiel?«

»Das haben wir. Wir haben uns an die Polizei gewandt, ans FBI, ans ATF, an den Geheimdienst. Aber niemand konnte uns weiterhelfen.«

»Und warum sollten diese Regierungsbehörden an der Ergreifung von Trask interessiert sein?«

Silver schwieg einen Moment. »Habe ich Ihre feste Zusage, dass Sie mir helfen?«

»Wenn Trask der Mann ist, der Jasons Haus angezündet hat, ja.«

»Ich glaube, Sie wissen, dass er es ist.«

Ja, sie wusste es. Die Gefühle und Erinnerungen waren unverkennbar gewesen. Sie hatte nicht alle Bewusstseinsfetzen entziffern oder auch nur erkennen können, doch die Abscheulichkeit, der Hass auf Silver waren ganz deutlich gewesen. »Warum hasst er Sie so sehr?«

»Ich hätte ihn mehrmals beinahe geschnappt. Er hält sich gern für unantastbar. Das braucht er für sein Ego.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe sein Profil analysiert, und ich glaube voraussagen zu können, wie sein Charakter sich unter dem Druck ganz bestimmter Umstände verändern würde.«

»Unter was für Umständen? Und aus welchem Grund würde sich irgendeine Regierungsbehörde einschalten?«

»James Trask war der Leiter eines vom

Verteidigungsministerium subventionierten wissenschaftlichen Projekts. Vor etwa einem Jahr wurde das Programm gestrichen und Trask und die anderen Wissenschaftler wurden entlassen.

Außer sich vor Wut, packte er seine Sachen, schüttelte den CIA-Mann ab, der ihn beschattete, und verschwand von der Bildfläche.«

»Warum hat die CIA ihn denn beschatten lassen?«

»Weil er über Informationen verfügt, die für fremde Regierungen verlockend sein könnten. Bloß weil wir beschlossen haben, das Firestorm-Projekt nicht weiterzuverfolgen, heißt das noch lange nicht, dass sich andere Länder nicht dafür interessieren.«

»Firestorm?«

»Trask arbeitete an einer funkgesteuerten Methode der Selbstentzündung. Diese Methode verändert die Moleküle, so dass intensive Hitze entsteht. Er behauptete, damit sowohl ein kleines, einzelnes Objekt als auch – mit einem stärkeren Sender

– eine ganze Stadt in Brand setzen zu können.« Mit grimmiger Miene fügte er hinzu: »Es bliebe nichts als buchstäblich verbrannte Erde.«

»So hat er auch das Haus niedergebrannt, stimmt’s?«

Sie erinnerte sich an die seltsame Art und Weise, wie sich das Feuer in Jasons Haus ausgebreitet hatte. »Er hatte seine Methode bereits vollständig entwickelt, als das Projekt gestoppt wurde.«

Silver nickte. »Ganz genau. Er hat damals nicht nur im Labor, sondern auch zu Hause daran getüftelt. Den anderen Wissenschaftlern gab er immer nur die nötigsten Informationen, um selbst die Kontrolle zu behalten. Aus diesem Grund wurde er als Sicherheitsrisiko eingestuft. Er wollte nicht, dass sein Werk in irgendeinem verriegelten Aktenschrank verschwand. Er wollte, dass seine Methode zum Einsatz kam, er strebte nach Anerkennung. Nachdem er sich abgesetzt hatte, wurde das Labor mitsamt allen Daten, die die anderen Wissenschaftler gesammelt hatten, in die Luft gesprengt. Der Befehl aus dem Weißen Haus lautete, das Projekt niemals ans Tageslicht geraten zu lassen.«

»War es so gefährlich?«

»Etwa so gefährlich, als würde man eine Mutation des Pockenvirus in einer Stadt freisetzen. Nur schneller. Mit dieser Methode könnte man eine Stadt von der Größe Atlantas innerhalb von zwei Stunden zerstören. Das Feuer würde so intensiv sein, dass es keine Möglichkeit gäbe, es zu löschen.«

»Mein Gott!«

Silver nickte. »Andreas wollte eine so gefährliche Waffe nicht auf die Menschheit loslassen. Es gibt schon genug Massenvernichtungswaffen.«

»Das hätte er sich überlegen sollen, bevor er das Projekt unterstützt hat.«

»Er kann nicht jedes einzelne Projekt genau im Auge behalten.

Es war das Lieblingsprojekt einiger Senatoren, die der Meinung sind: je mehr, desto besser. Sie haben die Subventionen in anderen Etatposten versteckt. Als Andreas von der Brisanz des Projekts erfuhr, hat er es sofort gestoppt. Doch Trask hatte seine CDs bereits in Sicherheit gebracht und war damit untergetaucht.

Er war voller Zorn, ein bisschen verrückt und wollte Rache.«

»Hat er versucht, seine Informationen an andere Regierungen zu verkaufen?«

»Einige ausländische Quellen haben das zumindest behauptet.

Uns liegen Informationen vor, nach denen Trask mit Ki Yong verhandelt, einem der einflussreichsten Männer in der Regierung Nordkoreas. Aber zurzeit gehen seine Bemühungen nicht in erster Linie in diese Richtung.« Silver atmete tief aus.

»Im Moment nimmt er ehemalige Mitarbeiter an dem Projekt aufs Korn sowie Regierungsmitglieder, die seiner Meinung nach dafür verantwortlich sind, dass er zum Opfer geworden ist.«

»Wie bitte?«

»Im vergangenen Jahr wurden sechs Wissenschaftler, die an dem Projekt beteiligt waren, ermordet. Sie sind alle verbrannt.«

»Aber warum tut er das?«

»Wir nehmen an, dass er fürchtet, diese Wissenschaftler könnten das Projekt Firestorm noch einmal neu entwickeln. Er will es jedoch für sich allein haben.«

»Und seine Opfer aus Regierungskreisen?«

»Rache. Drei Senatoren und ein Mitglied des Repräsentantenhauses haben Andreas auf das Projekt aufmerksam gemacht und ihn davon überzeugt, dass es gestoppt werden musste.« Seine Lippen spannten sich.

»Bisher wurden zwei Senatoren und ein Mitglied des Repräsentantenhauses ermordet.«

»Verbrannt?«

Er nickte. »Und Trask kümmert es nicht, ob die Leute, die er umbringt, allein sind, wenn er einen Anschlag auf sie verübt.

Cameron Devers saß zusammen mit seiner Frau im Auto, als der Wagen in Flammen aufging. Edwards war mit seinem kleinen Sohn auf dem Weg zu einem Baseballspiel. Sie wurden beide getötet.«

»Das wundert mich nicht. Jason und Laura waren ihm auch egal.« Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. »Und sogar das ungeborene Baby.«

»Richtig. Es ist gut, dass Sie von vornherein wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Ich sagte Ihnen ja bereits, er ist ein Monster.«

Sie nickte. »Sie ahnen ja gar nicht … Gott, wie grauenhaft

…!« Mühsam riss sie sich von der Erinnerung los. »Aber ich begreife nicht, wieso er noch immer auf freiem Fuß ist, obwohl so viele Leute nach ihm suchen. Er muss seine Opfer doch irgendwie ausspionieren und sich ihnen nähern, um sie zu töten.«

Silver nickte langsam. »Das stimmt. Womöglich hat er Helfer.«

»Was für Helfer?«

»Das müssen wir noch herausfinden. Vielleicht finden wir dann eine Schwachstelle.«

»Warum ich? Er war sich nicht mal sicher, ob ich Ihnen helfen würde. Und selbst wenn er davon überzeugt gewesen wäre –

weiß er, warum Sie ausgerechnet mich um meine Unterstützung gebeten haben?«

Silver schüttelte den Kopf. »Für ihn genügt es schon, dass ich Sie als Mitarbeiterin gewinnen will. Dann hat er wahrscheinlich einiges über Sie herausgefunden und weiß, wie erfolgreich Sie in Ihrem Beruf sind. Das reicht ihm völlig. Sie löschen Feuer, das macht Sie zum Feind.«

»Ja, das ergibt einen Sinn. Das Feuer ist sein Baby …«

»So sieht er das tatsächlich?«

Sie nickte. »Und ich verstehe inzwischen auch, warum. Wie lange arbeitet Trask schon an dieser

Selbstentzündungsmethode?«

»Seit fünfzehn Jahren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das muss schon viel früher angefangen haben. Vielleicht … fünfundzwanzig Jahre?«

»Er ist erst knapp über vierzig.«

»Trotzdem. Er muss sich schon länger damit beschäftigen.«

Sie trank ihren Kaffee aus und stand auf. »Wo fangen wir also an?«

»Wir fahren nach Washington. Dort hat er die Liste seiner Todeskandidaten noch nicht abgearbeitet. Das erhöht unsere Chancen, ihn zu schnappen.«

»Wissen Sie, ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihnen wirklich helfen kann. Ich habe nie begriffen, wie das Ganze funktioniert. Ich kann nichts kontrollieren oder initiieren.«

»Sie wissen jetzt schon mehr über ihn als ich. Mit ein bisschen Erfahrung werden Sie vielleicht lernen, ihn aufzustöbern.« Er schwieg einen Moment. »Und vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen.«

»Nein.«

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Ich möchte nur, dass Sie es versuchen.«

»Und ich will auf keinen Fall, dass Jason und Laura noch einmal in Gefahr geraten. Die beiden haben schon genug durchgemacht.«

»Ich werde für ihre Sicherheit sorgen.«

»Und ich soll Ihnen vertrauen? Bisher haben Sie kaum Erfolge aufzuweisen.«

»Okay, ich bin nicht perfekt. Aber ich habe Washington bereits informiert und veranlasst, dass die beiden Personenschutz bekommen, und zwar rund um die Uhr. Ich verspreche Ihnen, sie werden nicht länger in Gefahr sein. Ich möchte ebenso wenig wie Sie, dass ihnen ein Leid geschieht.«

Seine Worte wirkten aufrichtig. »Danke.«

Er zuckte die Achseln. »Es tut mir verdammt Leid, dass Trask den Tod des Babys verursacht hat. Ich hatte keine Ahnung, dass er mir nach Atlanta gefolgt war.«

»Sie hätten es wissen müssen. Er betrachtet Sie als Bedrohung.

Und er muss jede Bedrohung zerstören, die Firestorm gefährdet.« Sie wandte sich ab. »Ich rufe kurz im Krankenhaus an und erkundige mich nach Laura. In der Zwischenzeit können Sie für heute Abend zwei Flüge von Atlanta nach Washington buchen.«

»Wir sollten lieber direkt von hier aus ein Privatflugzeug nehmen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe noch ein paar Dinge in Atlanta zu erledigen. Und ich möchte Sam abholen. Trask soll ruhig denken, ich wäre bloß eine Brandermittlerin mit einem besonders talentierten Hund. Dann komme ich ihm vielleicht nicht ganz so gefährlich vor.«

»Gute Idee.«

»Weiß er Bescheid über … Weiß er von Ihrer besonderen Fähigkeit?«

»Das bezweifle ich. Aber ich sagte ja bereits, dass ich nicht in seinen Kopf gelange.«

»Warum stellen Sie dann eine so große Bedrohung für ihn dar?«

»Cameron Devers war mein Bruder.« Er lächelte bitter. »Und Trask weiß ganz genau, was Rache bedeutet.«

Als die Tür sich hinter Silver schloss, atmete Kerry tief durch. In was für einen Wahnsinn war sie da geraten? Doch es war kein Wahnsinn. Wahnsinn wäre es, Trask weiter frei herumlaufen zu lassen und tatenlos zuzusehen, wie er Leid und Schmerz über andere Menschen brachte.

Also sollte sie lieber aufhören, die Entscheidung, die sie bereits getroffen hatte, in Frage zu stellen. Zunächst ging es nur darum, sich selbst so gut wie möglich zu schützen, indem sie sich so viele Informationen beschaffte, wie sie konnte. Sie nahm das Telefon und wählte Michael Travis’ Nummer.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir tut, was mit deinem Bruder und seiner Frau passiert ist«, sagte Travis, als er das Gespräch entgegennahm. »Es ist einfach grauenhaft.«

»Ja, allerdings. Ich nehme an, Silver hat dich angerufen und dir alles erzählt. Aber vielleicht sollte ich von so was gar nicht ausgehen. Vielleicht hast du ja einen von den parapsychologischen Freaks aus deiner bescheuerten Gruppe auf mich angesetzt.«

»Silver hat mich angerufen. Er wollte mich informieren und hat mich gebeten, bei den Behörden Personenschutz für deine Familie anzufordern. Und die Leute in unserer Gruppe sind keineswegs bescheuert. Wir sind ganz einfach Menschen, die versuchen zu überleben. Keiner von uns hat um diese besondere Fähigkeit gebeten. Und keinem von uns würde es einfallen, sie zu missbrauchen. Sie ist eher ein Fluch als ein Geschenk, wie du wohl weißt. Einige von uns sind deswegen wie du in einem Sanatorium gelandet. Einige begingen Selbstmord. Und einige haben diese Fähigkeit lange verborgen und insgeheim geglaubt, sie wären verrückt.«

»Bis Michael Travis als der große Retter erschien.«

»Ich versuche nur zu helfen«, erwiderte er ruhig. »Ich habe das alles am eigenen Leib erfahren.«

Sie schwieg einen Moment lang. »Ja, mir hast du geholfen.

Und ich habe mich nie dafür bedankt. Ich war einfach so wütend darüber, dass man mich nach all den Jahren im Koma in ein Sanatorium gesteckt hatte, so dass ich nichts anderes wollte, als ein normales Leben zu führen. Ich wollte über niemanden reden oder nachdenken, von niemandem hören, der so war … wie ich.«

»Aber ich glaube, inzwischen bist du bereit, dir etwas über uns anzuhören.« Er lachte in sich hinein. »Und dass du bereit bist anzuerkennen, dass du nicht die Einzige bist, die über eine solche Fähigkeit verfügt, betrachte ich als wichtigen Durchbruch.«

»Dann freu dich darüber. Aber ich werde mich eurer Gruppe niemals anschließen. Ich komme schon allein mit meinem Problem zurecht.«

»Wir auch. Und unsere Gruppe ist auch nicht besonders organisiert. Wir treffen uns, weil es uns gut tut, uns mit Leuten auszutauschen, die unser Problem verstehen. Das ist ein Segen, denn meistens sind wir uns nicht mal sicher, ob wir uns selbst verstehen. Auch wir legen Wert auf Unabhängigkeit und Privatsphäre, und keiner von uns würde je auf die Idee kommen, diese Grenzen zu verletzen.« Er holte tief Luft. »Außer wenn einer von uns durchdreht und für uns andere zur Gefahr wird.«

»Durchdreht?«

»Einige in unserer Gruppe sind stabiler als andere, so wie in jedem sozialen Gefüge. Das psychische Gleichgewicht ist immer dann besonders gefährdet, wenn man unter Druck steht, so wie wir. Und es besteht immer die Möglichkeit, dass jemand, der abstürzt, das Vertrauen bricht und uns alle einer Situation aussetzt, in der wir verletzt und gedemütigt werden können.«

Dann fügte er hinzu: »Das Letzte, was wir brauchen könnten, wäre ein Artikel in der Newsweek über uns.«

»Und was macht ihr mit jemandem, der plötzlich durchdreht?«

Travis lachte. »Wir bringen ihn jedenfalls nicht um. Gott, bist du misstrauisch! Wir versuchen, ihm zu helfen, so gut wir können. Wir bestimmen ein oder zwei Leute aus der Gruppe, die sich um solche Fälle kümmern. Und in den meisten Fällen geht das gut.«

»Und wenn nicht?«

»Dann bitten wir Silver, aus Washington herzukommen und es zu versuchen. Wenn er nicht gerade mit einem wichtigen Projekt beschäftigt ist, nimmt er sich die Zeit.«

»Wenn? Ich hätte gedacht, er würde alles stehen und liegen lassen. Ist er nicht dein Freund?«

»Nein. Wir respektieren einander, aber ich würde ihn nicht als Freund bezeichnen.«

»Aber er gehört zu deiner Gruppe.«

»Nein, er ist genau wie du. Er legt allergrößten Wert auf seine Unabhängigkeit. Nicht ich habe ihn gefunden, er hat mich gefunden. Doch im Gegensatz zu dir wollte er sein Potenzial voll ausschöpfen. Als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, arbeitete er bei einer Expertenkommission an der Georgetown University, an einem geheimen, privat finanzierten Projekt zur Erforschung von parapsychologischen Fähigkeiten. Er war in Kontakt mit einem meiner weniger stabilen Leute gekommen, der drauf und dran war, psychotisch zu werden. Daraufhin rief er mich an und fragte mich, ob ich wolle, dass er dem Mann wieder auf die Beine half. Anfangs habe ich gezögert, aber schließlich habe ich eingewilligt.«

»Und hat er dem Mann geholfen?«

»Ja. Jim ist zwar nicht völlig normal – wer ist das schon –, aber er wird nicht in der Psychiatrie enden. Ich kann dich mit ihm bekannt machen, wenn du möchtest.«

»Weil Silver ihm eine Gehirnwäsche verpasst hat?«

»Nein, weil Silver ihn weitgehend von seinem Gift befreit und ihm geholfen hat, wieder klarer zu sehen. Er ist sehr behutsam mit Jim umgegangen. Nur deswegen fühle ich mich nicht unwohl dabei, ihn ab und zu um Hilfe zu bitten.«

»Ich würde mich mit Händen und Füßen gegen seine Hilfe sträuben.«

»Es sei denn, du wärst drauf und dran, durchzudrehen. Jim hat keinen Groll auf Silver.«

»Vielleicht hätte er einen Groll auf Silver, wenn der ihm nicht eingeflüstert hätte, keinen zu haben. Woher willst du wissen, dass er das nicht getan hat?«

»Ich weiß es nicht. So viel weiß ich nicht über Silvers Fähigkeiten. Aber ich weiß, dass er für Jim ein Gottesgeschenk war. Deswegen habe ich ihm deinen Namen gegeben, als er sich an mich gewandt hat, um mich zu fragen, ob ich jemanden kenne, der ihm helfen könnte.«

»Aha, du warst ihm was schuldig. Mein Kopf auf einem silbernen Tablett?«

»Im Moment scheint dein Kopf ja noch ziemlich intakt zu sein.«

»Aber Lauras Baby ist tot.«

»Ja, doch dafür ist Trask verantwortlich, nicht Silver. Und ich habe lange darüber nachgedacht, bevor ich ihm deinen Namen gegeben habe. Aber ich bin sicher, dass er dir erzählt hat, wie wichtig es ist, Trask zu ergreifen, bevor er sein Wissen an eine fremde Macht verkaufen kann.«

»Ja. Er hat mir auch erzählt, dass Trask seinen Bruder ermordet hat.«

»Seinen Halbbruder. Aber ich glaube, die beiden standen sich sehr nahe. Seit Devers’ Tod ist er wie besessen.«

Sie musste an die wilde Entschlossenheit in Silvers Augen denken. »Das glaube ich dir aufs Wort.« Sie überlegte. »Er hat mir versprochen, nicht in … meine Privatsphäre einzudringen.

Kann ich ihm vertrauen?«

Travis zögerte. »Ich glaube schon. Er ist ein unberechenbarer Typ, aber ich konnte mich bisher immer auf ihn verlassen.«

»Das klingt aber nicht besonders ermutigend.«

»Mehr kann ich dir nicht dazu sagen. Außerdem bist du eine unabhängige Frau. Du kannst dir selbst ein Urteil bilden.«

»Kann ich ihn aufhalten, falls er sein Wort nicht hält?«

»Vielleicht. Wenn du dich sehr konzentrierst. Wenn du wachsam bist und ihn zurückweist, sobald er irgendeine Grenze überschreitet. Du bist sehr stark. Es ist durchaus möglich.«

»Vielen Dank auch«, erwiderte sie sarkastisch.

»Mehr kann ich dir dazu nicht mitgeben. Wie gesagt, ich kenne mich mit seinem speziellen Talent nicht aus. Er spricht nicht darüber. Er tut einfach, was er zu tun hat. Aber du tust dir selbst einen Gefallen, wenn du ihm vertraust.«

»Das wäre etwa so, als würde ich darauf vertrauen, dass es in Afghanistan keine Landminen gibt.«

Travis lachte in sich hinein. »So groß ist die Gefahr sicherlich nicht. Möchtest du, dass ich mit ihm rede?«

»Würde das etwas nützen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dann halt dich einfach zur Verfügung für den Fall, dass ich mit Silver nicht zurechtkomme und du mir einen Typ wie ihn schicken musst, der mir hilft.«

»Es gibt niemanden wie ihn. Er ist der einzige Controller, dem ich je begegnet bin. Er ist absolut einzigartig.«

»Und zwar auf mehr als eine Weise. Mach’s gut, Michael. Ich wünschte bloß, du hättest Silver nie meinen Namen verraten.«

»Wirklich? Aber dann hättest du nie von Trask erfahren. Dein ganzes Leben lang kämpfst du jetzt schon gegen diese Perversen, die überall Feuer legen, und jetzt hast du den König der Brandstifter an der Angel. Löst denn die Vorstellung, ihn zur Strecke zu bringen, keinerlei Jagdfieber bei dir aus?«

Jagdfieber? Sie musste an die Ohnmacht und das Entsetzen denken, die sie empfunden hatte, als sie in Trasks Welt gerissen worden war. Es waren Gefühle, die sie vorher nie gekannt hatte.

Nein, sie war nicht wild darauf, das noch einmal zu erleben, auch wenn sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb.

Es war nicht Jagdfieber, was sie empfand.

Es war Angst.

5

Trask fuhr gerade durch Atlanta, als sein Handy klingelte.

»Ich habe schon seit über einer Woche nichts mehr von Ihnen gehört«, sagte Ki Yong, als Trask sich meldete. »Ich habe das Gefühl, Sie missbrauchen meine Geduld.«

»Ich hatte zu tun.«

»Das hat Dickens mir auch schon gesagt. Er wird allmählich nervös.«

»Sein Problem. Sie haben mir einen Profi versprochen, und ich erwarte, dass er sich wie ein Profi aufführt.«

»Er wurde mir wärmstens empfohlen«, erwiderte Ki Yong.

»Ich weiß, dass Sie in den Vereinigten Staaten gewisse Prioritäten haben, und Sie können nicht behaupten, ich würde nicht kooperieren. Aber ich werde von oben unter Druck gesetzt.

Sie erwarten die Lieferung von Firestorm – und zwar bald.«

»Sie werden es bekommen.«

»Nicht wenn Sie getötet oder verhaftet werden. Sie spielen ein gefährliches Spiel. Ich habe Ihnen schon mehrfach angeboten, Ihre Verpflichtungen in den USA zu übernehmen und alle Ihre offenen Rechnungen für Sie zu begleichen. Ich will Sie aus den USA heraus und in Sicherheit wissen.«

Sicherheit? Wenn Ki Yong Firestorm erst einmal in den Fingern hatte, würde er sich einen Dreck um Trasks Sicherheit scheren. Und genau aus diesem Grund musste er äußerste Vorsicht walten lassen. »Dickens reicht mir als Unterstützung.

Ich will nicht, dass sich irgendjemand in meine Angelegenheiten einmischt.« Und dass irgendjemand ihn und sein Baby um das Vergnügen brachte, das sie beide verdient hatten. »Es wird nicht mehr lange dauern.«

»Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Geduld ein Ende hat und der Preis zu hoch wird.«

»Nicht für Firestorm. Ich habe Ihnen auf dieser Insel im Pazifik gezeigt, wie effektiv das Verfahren ist. Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie sehr beeindruckt. Sie meinten, es würde Jahre dauern, bis auf der Insel wieder etwas wachsen könne.« Er beschloss, in die Offensive zu gehen. »Hören Sie also auf zu bluffen. Sie wollen das Projekt unbedingt haben. Ich melde mich, sobald ich bereit bin, die USA zu verlassen.«

Ki Yong schwieg eine Weile, Trask konnte seine Unzufriedenheit regelrecht spüren. »Verlieren Sie nicht zu viel Zeit.« Er legte auf.

Arroganter Mistkerl! Trask steckte sein Handy in die Jackentasche. Als Ki Yong sich noch eingebildet hatte, ihn manipulieren zu können, war er höflich und zuckersüß gewesen.

Tja, diese Illusion war ihm schnell geraubt worden, und es gefiel ihm gar nicht, dass Trask die Bedingungen diktierte. Sein Pech.

Trask hatte die Sache unter Kontrolle, die anderen sollten gefälligst springen, wenn er mit den Fingern schnippte. Er hatte die Macht.

Er hatte das Baby.

Aber das Baby hatte in der vergangenen Nacht keine gute Leistung gezeigt, dachte er. Er war der Meinung gewesen, er hätte die kleine Satellitenschüssel perfektioniert, trotzdem war die Sache im Haus der Murphys aus dem Ruder gelaufen.

Offenbar würde er einige größere Veränderungen vornehmen müssen, bevor er mit Ki Yong in Verhandlung trat.

Und Kerry Murphy hatte Firestorm überlebt. Diese Erkenntnis war eine bittere Pille für ihn. Bisher war sie ihm nur lästig gewesen, eine mögliche Bedrohung, doch jetzt war sie das Symbol für sein Versagen, für das Versagen seines Babys. Wut breitete sich in ihm aus wie Säure.

Nur die Ruhe bewahren. Die Wut ebenso unter Kontrolle halten, wie er Firestorm unter Kontrolle hatte. Im Krankenhaus in Macon hatte er seinen Fehler nicht ausbügeln können. Es wäre zu gefährlich gewesen, solange Silver sie pausenlos bewachte. Aber er würde dafür sorgen, dass sich andere Gelegenheiten ergaben.

Bis dahin würde er an Kerry Murphy denken und sich ausmalen, auf welche spektakuläre Weise das Baby sie zerstören würde.

»Danke, dass du uns Sam dagelassen hast«, sagte Edna und nahm Kerry in die Arme. »Er war den Kindern ein großer Trost.«

»Er hat es bestimmt genossen. Wahrscheinlich habt ihr ihn total verwöhnt.«

»Wir haben’s versucht.« Edna zögerte. »Und danke für alles andere, Kerry. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.«

»Kommst du jetzt allein zurecht? Oder kann ich noch irgendwas für dich tun?«

Edna schüttelte den Kopf. »Donna ist hier, die Kinder lieben sie. Es wird uns bald wieder gut gehen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Na ja, vielleicht nicht richtig gut, aber wir werden überleben. Das müssen wir ja schließlich, nicht wahr?«

Kerry nickte. »Du bist wunderbar. Charlie wäre stolz auf dich.« Sie zögerte. »Komm mal kurz mit raus auf die Veranda.«

»Wie?«

»Komm einfach mit.« Kerry öffnete die Tür und ging voraus.

»Ich weiß, es ist der falsche Zeitpunkt, aber vielleicht ist er es auch nicht. Nicht für die Kinder.« Sie zeigte auf den riesigen Köter, der am Verandapfosten festgebunden war. »Das ist Sandy. Ich habe ihn so genannt, weil er so aussieht wie der Hund in Annie. Ich habe ihn aus dem Tierheim.«

»Ein Hund?«

»Wenn du erst mal den ganzen Dreck abschrubbst, wird garantiert einer zum Vorschein kommen. Er ist ganz freundlich und stubenrein – hoffe ich. Sieh es einfach so. Es wird für die Kinder eine Herausforderung sein, einen Hund zu –«

»Ich weiß nicht …« Edna runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher –«

»Wenn du ihn nach ein paar Tagen nicht mehr haben willst, ruf mich einfach an, dann suche ich ein anderes Zuhause für ihn.« Sie drückte Edna einen Kuss auf die Wange und ging mit Sam die Stufen hinunter.

»Alles in Ordnung?«, fragte Silver, der am Steuer des SUV

saß. »Sie wirkt nicht gerade begeistert.«

»Er ist ein lieber Hund. Edna ist die geborene Mutter und er wird sie ein bisschen beschäftigen. Es hat mir einfach so Leid getan, Sam den Kindern wegzunehmen.«

»Sie streichelt ihn«, bemerkte Silver. »Ganz vorsichtig.

Vielleicht klappt’s ja.«

»Ich hoffe es.« Kerry wischte sich die Augen, als sie die hintere Seitentür des Wagens öffnete und Sam bedeutete hineinzuspringen. »Wissen Sie was? Das Leben ist beschissen.

Charlie ist tot und seine Familie trauert. Sie werden nie darüber hinwegkommen.«

»Die Zeit heilt alle Wunden.«

»Wahrscheinlich.« Sie stieg ein und schlug die Beifahrertür zu. »Jedenfalls versuche ich mir einzureden, dass es so ist.« Sam hatte die Pfoten auf die Sitzlehne gelegt und versuchte, ihre Wange zu lecken. »Setz dich, du alberner Kerl.« Dann wandte sie sich wieder an Silver.

»Wir können jetzt fahren.«

»Alles erledigt? Was haben Sie getan, als ich Sie eben kurz an Ihrem Büro abgesetzt habe?«

»Ich habe einen der Brandspezialisten um einen Gefallen gebeten. Einer der kleinen Jungen im Krankenhaus soll diese Woche entlassen werden und zu seiner Großmutter zurückkehren, doch die Stationsschwester vermutet, dass die Großmutter ihn misshandelt. Ich musste ein bisschen Zeit gewinnen, damit die Sache von behördlicher Seite untersucht werden kann.«

»Der kleine Josh.«

Sie lächelte bitter. »Wieso wundert es mich nicht, dass Sie das wissen? Sie haben ihn sogar in dem kleinen Märchen auftreten lassen, das Sie für mich inszeniert haben.« Mit einer ungehaltenen Geste hielt sie ihn davon ab, dazu etwas zu sagen.

»Haben Sie schon unsere Flüge gebucht?«

»Selbstverständlich.« Er fuhr los. »Auf dem Flughafen Hartsfield wartet ein Privatflugzeug auf uns. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie Ihren Hund bei sich in der Kabine haben wollen.«

Sie nickte. »Er kann es nicht ausstehen, in diesen Transportkäfigen eingesperrt zu sein. Ich glaube, sie erinnern ihn ans Tierheim.«

»Ein Sensibelchen.« Silver warf einen kurzen Blick auf den Hund. »Na ja, ein zufriedener Hund ist manchmal genauso nützlich wie ein kluger Hund.«

»Er ist klug … manchmal. Vor allem, wenn es ums Fressen geht.« Sie nahm ihr Handy aus der Tasche. »Ich muss meinem Chef Bescheid sagen, dass ich mir ein paar Wochen freinehme.«

Sie verzog das Gesicht. »Er wird nicht gerade begeistert sein, nachdem ich gerade erst so viel Zeit bei Edna und den Kindern verbracht habe.«

»Ich habe Travis bereits gebeten, in Washington anzurufen, damit man Ihnen von dort aus ein bisschen den Weg ebnet.« Er schaute sie von der Seite an. »Wie geht es Ihrem Bruder und seiner Frau?«

»Den Umständen entsprechend. Und wenn Sie schon mal dabei sind, Fäden zu ziehen: Könnten Sie vielleicht eine ordentliche Wohnung auftreiben, wohin Jason Laura mitnehmen kann, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird?«

»Kein Problem. Ich dachte, für die ersten ein, zwei Wochen wäre ein gutes Hotel das Beste. Danach besorgen wir ihnen ein nettes kleines Haus. Okay?«

Sie nickte. »Sie haben offenbar an alles gedacht.«

»Mir liegt daran, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen.«

Dann fügte er hinzu: »Ich schätze, Sie wären eher skeptisch, wenn ich auch noch sagen würde, ich möchte, dass Sie so glücklich und zufrieden wie möglich sind.« Er lächelte grimmig.

»Schließlich bin ich ja ein Scheusal.«

»Hat Sie das getroffen?«

»Vielleicht.« Er dachte darüber nach. »Ich glaube schon. Ich bin daran gewöhnt, aber es kommt durchaus vor, dass ein Wort oder ein besonders boshafter Angriff meine Schutzmauern durchbricht.«

Sie schwieg eine Weile. »Wenn Sie in den Gedanken von Menschen herumpfuschen, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn man Sie dafür verabscheut. Es gibt keine unangenehmere Art des Eindringens in die Privatsphäre.«

»Ich wundere mich auch nicht. Mich würde es auch wütend machen«, erwiderte er müde. »Glauben Sie etwa, das macht mir Spaß? Sie haben ja keine Ahnung, wie viel Dreck die Leute in ihrem Kopf verbergen. Die Köpfe mancher Menschen sind die reinsten Jauchegruben.«

»Dann halten Sie sich aus meinem raus.«

Er lächelte. »Ihr Kopf ist bemerkenswert sauber. Na ja, ein paar unterdrückte sexuelle Wünsche und Phantasien, aber im Großen und Ganzen ist Ihre Gedankenwelt sauber, ehrlich und hell. Meistens war es ein Vergnügen, Ihre Gedankenwelt zu erkunden. Die einzigen Probleme für mich waren Ihre Albträume und die Schutzmauern, hinter denen Sie sich verbarrikadierten, wenn Sie an den Tod Ihrer Mutter dachten.

Das war eine Mischung aus einem Ritt auf einem Tornado und dem Eingeschlossensein in einem Sarg.« Er warf ihr einen Blick zu. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie das für Sie ist. Sie hätten sich von Travis helfen lassen sollen.«

»Ihre Meinung interessiert mich nicht und ich brauche keine Krücke.«

»Eine kleine Stütze, bis man lernt, auf den eigenen Füßen zu stehen, ist keine Schwäche.«

»Sprechen Sie aus Erfahrung?«

Er verzog das Gesicht. »Nein, ich war zu durcheinander und zu stur, um mir helfen zu lassen. Aber Sie sollten tun, was ich Ihnen sage, nicht was ich Ihnen vorlebe. Das ist gesünder. Das Leben wäre viel einfacher für mich gewesen, wenn ich anfangs jemanden wie Michael Travis zur Seite gehabt hätte.«

»Er hat mir gesagt, Sie gehörten eigentlich nicht zu seiner Gruppe.«

Er schüttelte den Kopf. »Das Einzige, was ich mit Travis und seinen Freunden gemeinsam habe, ist die Tatsache, dass ich meine Fähigkeit auf dieselbe Weise entwickelt habe wie sie. Ich wurde mit dreizehn Jahren bei einem Autounfall verletzt und habe anschließend fast ein Jahr lang im Koma gelegen.

Nachdem ich aus dem Koma erwacht war, hielten mich lange Zeit alle für normal. Alle bis auf mich. Ich wusste, dass ich verkorkst war, aber ich wollte nicht, dass jemand davon erfuhr.

Ich glaubte, ich würde in die Gedankenwelt anderer Menschen gesogen. Ich dachte, ich wäre drauf und dran, verrückt zu werden, und ich wollte jede Minute meines Lebens voll auskosten, bis man mich in die Irrenanstalt steckte. Meine Eltern waren zu sehr damit beschäftigt, die politische Karriere meines Bruders Cam zu unterstützen, um sich groß um mich zu kümmern. Die haben mich also meinen Weg gehen lassen. Und mein Weg bestand darin, jeden denkbaren Exzess auszuleben und Dinge, die nicht verfügbar waren, zu erfinden.« Er schüttelte den Kopf. »Von wegen schwarze Schafe.«

»Michael meinte, Sie und Ihr Bruder hätten sich sehr nahe gestanden. Es wundert mich, dass er nicht versucht hat einzugreifen.«

»Das hat er. Er hat es unermüdlich versucht, aber ich wollte nicht auf ihn hören. Irgendwann hatte ich mir lange genug in meiner Heimat die Hörner abgestoßen und fing an, in der Welt herumzureisen. In Tanger bin ich dann endgültig abgestürzt und war kurz davor, nach Hause zurückzukehren und mich freiwillig in die Anstalt einweisen zu lassen.«

»Was hat Sie davon abgehalten?«

»Mein Ego. Ich habe mir gesagt, dass jemand, der in jeder Hinsicht so normal ist wie ich, nicht verrückt sein kann, bloß weil er in die Gedankenwelt anderer Menschen gesogen wird.

Also habe ich mir ein halbes Jahr Zeit gegeben, um damit herumzuexperimentieren und festzustellen, ob ich tatsächlich bekloppt war oder ob es sich um eine parapsychologische Fähigkeit handelte. Das war ein interessantes halbes Jahr. Ich konnte von Glück sagen, dass ich danach nicht vollkommen psychotisch war. Sie würden sich wundern, wie viele Leute total verkorkst und pervers im Kopf sind, und ich bin einigen Exemplaren davon begegnet. Manchmal konnte ich nur überleben, indem ich ihre Wirklichkeit in Phantasien verwandelt und so verändert habe, dass ich mich davon befreien konnte.«

»So wie Sie es mit mir gemacht haben.«

Er nickte. »Aber die Phantasien für diese Leute mussten viel schmutziger und komplexer sein. Ich hatte vorher nicht geahnt, dass das zu meiner Fähigkeit gehörte, aber aus purer Not heraus habe ich mich in dieser Technik zum Experten entwickelt.«

»Was ist nach diesem halben Jahr passiert?«

Er antwortete nicht gleich. »Das scheint Sie ja alles sehr zu interessieren. Versuchen Sie, einen Galgen zu finden, an dem Sie mich erhängen können?«

»Ich suche nach einer Möglichkeit, mich zu schützen. Ich will Sie nicht bestrafen, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

Außerdem werde ich Sie vielleicht brauchen, um Trask zu finden.«

»Da bin ich ja erleichtert.« Er bog in den Flughafenparkplatz ein. »Es macht mir nichts aus, Ihnen meine Vergangenheit zu offenbaren, wenn es Sie glücklich macht. Was möchten Sie wissen? Ah, ja, Sie wollten wissen, was ich nach dem halben Jahr gemacht habe, nachdem ich mein Handwerk erlernt hatte.«

»Handwerk?«

»Handwerk, Kunstfertigkeit, Talent. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich lernen musste, die Sache zu kontrollieren, den Wahnsinn in den Griff zu kriegen, wenn ich nicht wirklich verrückt werden wollte.

Also habe ich angefangen, mich nach Gruppen umzusehen, in denen sich Leute mit übersinnlichen Fähigkeiten zusammengetan hatten, und nach wissenschaftlichen Projekten, von denen ich etwas lernen konnte. Ich musste mit äußerster Vorsicht an die Sache herangehen, damit niemand merkte, dass ich auf übersinnlichem Weg von außen Einblick gewinnen konnte. Und auf meiner Suche stieß ich auf Michael und Melissa Travis. Sie waren keine Scharlatane und machten einen ehrlichen Eindruck auf mich, aber soweit ich das beurteilen konnte, gab es in ihrem Umkreis niemanden, der dieselbe spezielle Fähigkeit besaß wie ich, daher waren sie mir keine richtige Hilfe. Ich hatte große Hoffnungen in das Projekt der russischen Regierung gesetzt, doch das hat mir auch nichts gebracht. Ich habe einfach nirgendwo eine Gruppe oder ein Forschungsprojekt gefunden, an dem jemand wie ich beteiligt war.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, bemerkte sie trocken.

»Also war ich gezwungen, mein Talent auf eigene Faust zu entwickeln. Schließlich habe ich mich einer parapsychologischen Expertengruppe an der Georgetown University angeschlossen und dort meine Nische gefunden.«

»Was denn für eine Nische?«

Er lächelte. »Alles von Spionage über Zusammenarbeit mit der Homeland Security bis zu ehrenamtlicher Arbeit in psychiatrischen Kliniken.«

Sie hob die Brauen. »Himmel, Sie sind ja ein richtiger Held und Wohltäter!«

»Gott bewahre! Das alles diente nur dem Zweck, mein Talent zu erweitern, damit ich meine Gabe unter Kontrolle hatte und nicht umgekehrt. Ich wollte mich nie wieder so hilflos fühlen wie in den ersten Monaten, nachdem ich aus dem Koma erwacht war.« Er schaute sie an. »Ich denke, das werden Sie nachvollziehen können.«

Das konnte sie allerdings, dennoch wollte sie auf keinen Fall zugeben, dass sie etwas mit ihm verband.

»Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber ich habe nie geglaubt, ich würde wahnsinnig werden. Ich dachte einfach, ich müsste das, was sich in meinem Kopf abspielte, irgendwie in den Griff kriegen.«

»Nun, unsere Fähigkeiten unterscheiden sich ein wenig. Ihr Talent machte sich in unregelmäßigen Abständen bemerkbar, ich dagegen konnte meinem nicht entkommen. Ich musste mich jeden Tag von neuem damit auseinander setzen. Bis ich gelernt hatte, meine Begabung zu kontrollieren, hatte ich keine Ahnung, in wessen Psyche ich als Nächstes hineingezogen wurde.«

Bei der Vorstellung, wie das sein musste, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Gott, das, was sie mit Trask erlebt hatte, war nur ein kleiner Abklatsch von dem gewesen, was er durchgemacht haben musste, und es war der Stoff, aus dem die Albträume sind. »Ja, das ist natürlich etwas anderes.« Himmel, jetzt hatte sie schon Mitleid mit ihm!, das war ganz sicher ein Riesenfehler. Niemand hatte weniger Mitgefühl verdient als Brad Silver. Er hatte sich seinem Problem gestellt und eine Lösung gefunden, doch das war keine Entschuldigung dafür, dass er in ihre Privatsphäre eingedrungen war.

»Aber ich habe Sie nirgendwo hineingesogen.«

»Stimmt.« Er parkte den Wagen und öffnete die Tür. »Sie sind das Opfer und ich bin der Böse. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie mir vergeben.«

»Das ist auch gut so.« Sie sprang aus dem SUV und ließ Sam heraus. »Denn ich habe vor, Sie noch ein bisschen zappeln zu lassen.« Sie ging in Richtung Terminal. »Los, komm, Sam!«

»Mir ist gerade was eingefallen. Wie gut verträgt Sam das Fliegen?«