Depression im Alter: Wo bleibt die Empathie?

Gerade einmal 60 Jahre alt, maße ich mir keine Erfahrung mit der Depression im Alter an. Mit gefühlt jüngeren Lebensjahren aber schaue ich auf meine Elterngeneration, von der ja noch viele leben – heute alle älter als 80, einige sogar weit über 90.

Es gibt die faszinierenden alten Menschen, die noch immer ihren Beruf ausüben – Künstler, Unternehmer, Schriftsteller und die vielen, die begeistert Ehrenämter bekleiden – und keinen Tag mit ihrem Dasein hadern. Ihnen erspart das Schicksal den Selbstzweifel und sie hatten das Geschenk der Natur, bis ins hohe Alter lebenswichtige Aufgaben übernehmen zu können – ob selbst gewählt oder übertragen, ist gar nicht wichtig. Es gibt das glückliche Alter und den unbedingten Lebenswunsch, so lange wie möglich hier in dieser Welt zu bleiben. Wie aber verhält es sich mit der Großzahl betagter Menschen, die das Leben als Last empfinden, weil sie jeden Tag vor der Frage des Warum stehen, die keine fordernden Aufgaben haben als allein die, den Tag zu bestehen? Nun kann man einwenden, dass genau das halt Leben ausmacht – einfach da sein und dem Ende entgegenzuleben. Glücklicherweise ist es ja weder terminiert noch wirklich absehbar. Absehbar war es dann erst wirklich für alle Beteiligten, den Sterbenden und die Angehörigen, als der Pfarrer zur Letzten Ölung herbeigerufen wurde. Welche Symbolik! Es ging ja nicht darum, das Ende des Lebens zu besiegeln, sondern vielmehr durch die Salbung von Stirn und Hand noch einmal die ganze Hoffnung in ein Weiterleben zu stärken und die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren. Wie hilfreich diese Form der positiven Suggestion sein kann, zeigen uns heute die erstaunlichen Erfolge der Naturheilkunde.

Was den letzten Lebensabschnitt eines Menschen anging, so war er in früheren Zeiten bis ins 19. Jahrhundert durch tägliche Aufgaben determiniert, so wie das ganze Leben, von der Wiege bis zur Bahre. Es war ein Lebensablauf, in der jede Generation ihren Platz und ihre Aufgaben hatte. In den Großstädten gibt es diese Generationenverpflichtung nicht mehr, weil die Generationen räumlich viel zu weit entfernt leben und bestenfalls Aufgaben auf Zeit übernehmen können. Es geht mir nicht darum, in der meist verklärt dargestellten Vergangenheit zu schwelgen, aber das Leben im Generationenverbund ist heute die Ausnahme: wir steuern unaufhörlich auf die Vereinsamung des Einzelnen zu. Der einsame alte Mensch ist schon heute Realität, bei weiter zunehmender Lebenserwartung wird sich die Situation alter Menschen weiter verschlechtern – verbessern jedenfalls nicht, weil es ein Zurück zu den alten Strukturen mit der sehr viel geringeren Lebenserwartung nicht geben wird.

Nun gibt es selbstverständlich keine unmittelbare Kausalität zwischen Alter und Depression. Wir sollten daher vorsichtig sein, die Lebensphase des Altseins vorschnell mit drohender Altersdepression zu assoziieren, sondern uns vielmehr einmal dem Gedanken überlassen, was es bedeutet, alt zu sein und darüber hinaus auch noch einsam, also ohne die unmittelbare und tägliche physische, mentale und seelische Gegenwart der Familienmitglieder und Freunde. Unzählige literarische Zeugnisse belegen, dass diese so gern verklärte Nähe auch zu äußerst dramatischen Konstellationen geführt hat: Überforderung, Überwachung, Über- und Unterlegenheit, Bevormundung und familiäre Tyrannei. Selbst wenn dieses Szenario mehr Regel als Ausnahme war, so war das mitmenschliche Netzt sicher sehr viel enger, als es heute ist. Als Großvater und Patriarch den Kindern und Enkeln das Leben zur Hölle zu machen, konnte ja auch eine Lebensaufgabe sein – und nicht zu selten mit der Folge eines Herzinfarktes nach dem hundertsten Streitgespräch mit dem Rest der Familie. Damals gab es natürlich auch schon Strategien innerfamiliärer Deeskalation. Eine davon war die bauliche Trennung zwischen Hof als Wirtschaftseinheit und Austragshaus für die Eltern, wenn sie aus dem Register der Hofbesitzer ausgetragen wurden, also die Verantwortung auf die nächste Generation übertragen hatten. Auch das wird nicht immer einvernehmlich geregelt worden sein, aber zumindest gab es ein Ritual, das für den notwendigen Abstand zwischen den Generationen sorgte – und wenn es nur einige Meter waren.

Heute ist das Austragshaus – zumindest in den größeren Städten – das Krankenhaus. Dort sterben mehr Menschen als in den eigenen vier Wänden. Ein zynisches Abbild unseres derzeitigen gesellschaftlichen Verständnisses vom Leben bietet der Satz: »Es muss auch ein Leben für die Kinder nach den Eltern geben!« Nur werden die Alten immer älter und so manches »Leben« der Nachfolgegeneration beginnt dann erst mit über 60.

Allerdings muss daraus ja nicht zwangsläufig immer ein Konflikt entstehen. Wenn die Mitglieder der einzelnen Generationen klug miteinander umgehen, dann kann es für alle nur einen großen emotionalen und intellektuellen Zugewinn geben – gleichsam das Geschenk der Erfahrung frei Haus.

Der Schriftsteller und Philosoph Cicero hat vor 2000 Jahren die bis in unsere Tage gültige Schrift »Über das Alter« verfasst. Es ist eine Ode an das Alter, an die Vorzüge, Möglichkeiten und Verpflichtungen. Zitat: »Bei vielen (von den Alten) habe ich (aber) ein Alter ohne Klage kennengelernt; sie bedauerten es gar nicht, von den Banden der Sinneslust befreit zu sein, und sie wurden auch von den Leuten aus ihrer Umgebung nicht verachtet. Doch liegt die Schuld für alle (solche) Klagen beim Charakter, nicht beim Alter. Denn ältere Leute, die gelassen, nicht mürrisch und nicht unfreundlich sind, erleben ein durchaus erträgliches Alter, ein unfreundliches und schroffes Wesen aber macht jedes Alter zur Plage.« Muss man dem noch etwas hinzufügen? Nein, es wäre anmaßend.

Was aber ist mit denen, die nicht in einer derart kommunikativen Gemeinschaft leben, wie es Cicero vergönnt war – trotz aller heute möglichen Vernetzung über Telefon, Handy oder das Skypen? Was ist, wenn die Ansprechpartner fehlen, der tägliche Gedankenaustausch, das tägliche intellektuelle Training, die tägliche Herausforderung, der man sich unbedingt auch im Alter in Bestform stellen möchte – geistig wie körperlich? Dürfen wir von diesen Einsamen tatsächlich die Stärke des selbst gewählten Daseins eines Eremiten erwarten? Wohl kaum. Das Schwungrad des Lebens – Thomas Mann hat einmal die Selbstverständlichkeit unseres täglichen Tuns so benannt – bedarf des stetigen Energieimpulses, so wie der Motor eines Autos: ohne Benzinzufuhr wird er zuerst stottern und dann den Dienst versagen.

Aber woher im Alter jeden Tag den Treibstoff nehmen, der das Schwungrad verlässlich in Gang hält? Seien wir ehrlich: Ist das Ausschlafen am Sonntag nicht deshalb so erquicklich, weil wir einmal der Forderung des Wochentages etwas entgegensetzen können – die Freiheit der Selbstbestimmung? Was aber, wenn der Sonntag wie der Montag ist, wenn es nicht den Pendelschlag zwischen An- und Entspannung mehr gibt, wenn der Rhythmus des Tages nur noch von Hunger und Nichthunger bestimmt ist und irgendwann auch der Appetit abnimmt, gleichsam als Vorbote der Lebensmüdigkeit?

Cicero hatte das Glück, 63 Jahre alt werden zu dürfen. Das war jedoch die Ausnahme, auch wenn einige wenige andere Philosophen seiner Zeit noch älter werden durften. Man muss auch heute kein Philosoph sein – Frau oder Mann –, um freudig gelassen alt zu werden und vor allem zu sein, aber ist es nicht für jeden Menschen ein Geschenk, wenn man noch an dem Schaukeln des Lebens teilnehmen kann und nicht nur zusehen darf, wenn überhaupt? Ein freundliches Wort, eine nette Geste, eine Bitte, eine Aufgabe, die Faszination des Gespräches, der Herzlichkeit, der kleinen, Zustimmung versichernden Berührungen – sind das nicht die Glücksmomente des Tages, die wir uns wünschen, nicht nur im Alter? Im Alter wird es schwerer, sich täglich diesen Treibstoff des Lebens zu besorgen, vor allem dann, wenn die Achtung des Alters nachlässt und die Isolation der alten Menschen zunimmt – da können dann auch keine barrierefreien Gehsteige noch Mut machen, doch auch weiter am Leben teilzunehmen.

Bis etwa zum 50. Lebensjahr empfinden wir das Leben als Goldader, aus der wir nach Belieben schürfen können. Danach spüren wir, dass ohne Investieren die Ausbeute nachlässt. Einige Zeit können wir uns über diesen Lebenszustand hinwegtäuschen, meinen, auf wieder bessere Erträge in der Zukunft setzen zu können, um dann festzustellen, dass es tatsächlich Zeit wird, uns aktiv um den Erhalt unserer Goldmine Leben zu kümmern und in Geist und Körper zu investieren, damit die Erträge aus unserem Wohlbefinden möglichst lange stabil bleiben.

Was aber, wenn wir spüren, dass wir gar nicht mehr investieren wollen oder dass jede bisherige Investition ohne positives Ergebnis geblieben ist? Nicht aus Nachlässigkeit oder Hybris, sondern weil sich keine Möglichkeiten mehr auftun, zu geben und zu nehmen? Stichwort »Einsamkeit«. Einsamkeit ist nagend wie Hunger und Durst. So wunderbar erfrischend ein Glas Wasser in der Hitze ist, so lebensnotwendig ist der Spiegel eines Gegenübers, eines Menschen, der uns der Notwendigkeit des Daseins versichert – in Empathie und ehrlichem intellektuellen Interesse.

Das Alter annehmen zu können, ist für mich nicht allein eine Frage des Charakters, sondern der persönlichen Lebensumstände. Wer täglich von Kindern, Enkeln, Freunden, Nachbarn und Gästen umgeben ist – und nicht nur auf den Postboten wartet –, erfährt das wohltuende Elixier der Geborgenheit, der Sinnhaftigkeit seines Daseins und die Freude, dazuzugehören und unverzichtbarer Antrieb für das große Schwungrad einer lebendigen Gegenwart zu sein.

Es ist hohe Zeit, alten Menschen, denen ihr Dasein als Treibstofflieferant des Lebens versagt ist – aus welchen Gründen auch immer –, liebevoll die Hand zu reichen. Alter ist kein Kausalitätsimpuls für eine Depression. Natürlich gibt es die klassische Depression auch im Alter. Dann müssen wir sie als Gesellschaft ebenso ernst nehmen wie jede Krebserkrankung, an der schließlich die meisten von uns sterben.

Wir dürfen aber nicht länger zulassen, dass nachlassende Vitalität und eine gewisse Lebensmüdigkeit zu den scheinbar typischen Symptomen des Altwerdens gehören – so wie es die betagten Patienten jeden Tag in ihrem Lebensumfeld, in der Familie und der Praxis ihres Hausarztes erfahren.

Alte Menschen sind eine Goldgrube – an Wissen, Erfahrung und Herzlichkeit. Wir müssen nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, um Zugang zu den Schätzen zu finden. Wünschten wir uns eines Tages nicht genau das? Menschen, die uns als kostbar wahrnehmen, als interessant und wichtig?

So unglaublich komplex unser Gehirn auch sein mag, so simpel reagiert es doch auf gewisse Impulse. Einer davon ist Belohnung. Tierversuche zeigen immer wieder, wie schnell die Kreatur auf belohnende Reize reagiert, wie sie alle Fähigkeiten einsetzt, um möglichst viele davon in der jeweiligen Versuchsanordnung zu erleben. Ich spreche von Mäusen. Aber verhalten wir Menschen uns etwa anders? Jeder positiv verlaufene Karriereweg basiert auf der Folge immer wieder gesteigerter Belohnungsrituale: Position, Geld, Macht, Einfluss.

Ob wir die Erfolge in der Medizin zur Lebensverlängerung jedes Einzelnen als Geschenk oder am Ende doch als Bürde empfinden, hängt allein davon ab, welchen Belohnungsritualen wir noch im Alltag ausgesetzt sind – und wenn es die eigenen sind. Aber in diese Regionen der Lebensweisheit gelangen wohl nur wenige von uns.

Ich möchte, dass wir uns als Gesellschaft der Verantwortung stellen und dem Alter die Priorität in der Wertschätzung einräumen, die es verdient hat. Atmosphärisch müssen wir das jetzt tun, jeden Tag, denn die demografische Entwicklung wird uns schon bald dazu zwingen – Ausblenden dürfen wir diese statistische Realität nicht länger. Das Stigma Altersdepression wird die Situation nur verschlimmern, weil die große Zahl alter Menschen, denen wir die Teilnahme an einem sinnerfüllten Leben verweigern, uns mit der Keule Demenz, Hilfsbedürftigkeit, teurer medizinischer Versorgung und durch ihre schlichte passive Gegenwart abstrafen werden. Sollte ich eines Tages einer von ihnen sein, dann habe ich hoffentlich noch ein Quäntchen Restlebenskraft, mich für ein würdiges Leben im Alter einsetzen zu können: einem Leben, das nicht nur geduldetes Dasein bedeutet, sondern akzeptierte, geschätzte und notwendige Gegenwart.

Für all das habe ich kein Erfolgsrezept. Aber ich habe meine Eltern erlebt, andere mir vertraute Alte, die mit großer Disziplin jeden Tag ihr Leben ausfüllen wollten, aber wegen mangelnder Impulse von außen – Schwerhörigkeit, Sehschwäche, Gebrechlichkeit, Einsamkeit – von dem Belohnungsritual erlebter Gegenwart sich irgendwann ausgeschlossen gefühlt haben. Dann wird Leben zur Last. Und nicht zu oft zur Qual. Die vielen Suizide im Alter sprechen eine deutlich anklagende Sprache.

Für mich ist jedes Mittel recht, einem alten oder auch nur alternden Menschen die Möglichkeit zu geben, über eine unterstützende Medikation dem eigenen seelischen Schwungrad wieder zu guter Lebenskraft zu verhelfen. Hier sehe ich gerade für die Psychiatrie eine große Daseinsberechtigung durch medikamentöse Unterstützung alter Menschen. Von den Therapeuten muss die Botschaft an die Internisten ausgehen: Wir können helfen und wir können euch zeigen, wie ihr helfen könnt. Alte Menschen und Psychiatrie passen in der Selbstwahrnehmung nicht zusammen. Hausarzt und Internist dagegen sind meist seit Langem schon vertraute Gesprächspartner – ihnen also fällt die Aufgabe zu, die meist nur kleinen seelischen Blessuren ihrer Patienten medikamentös zu verbinden. Nichts anderes macht der Hausarzt bei seinem Patientenspektrum jeden Tag, wenn es um eindeutige Befunde bei somatischen Problemen geht. Aber die Seele? Damit sind die meisten überfordert.

Bei all dem dürfen wir nicht vergessen, welcher emotionale Ballast gerade in Deutschland mit den Wörtern »Psychiatrie« und »Antidepressiva« verbunden wird. Spontane Reaktion so mancher alter Menschen: »Jetzt soll ich wohl zum Erbfall werden. Ich bin aber nicht verrückt!«

Psychotherapie im Alter halte ich für absolut unsinnig – ein anspruchsvolles Buch – Philosophie! –, jede Partie Bridge und Mensch-ärgere-dich-nicht mit den Enkeln sind für das seelische Wohlbefinden zielführender. Aber ein sensibles Heranführen durch Hausärzte, Psychologen und Psychiater an das Phänomen Lebensunlust im Alter und das überzeugende Angebot, medikamentös behutsam helfen, besser: im Sinne von erneuter Lebensfreude begleiten und unterstützen zu können, muss die Botschaft sein. So selbstverständlich, wie nach einer Gallenblasenoperation oder einem frühen Oberschenkelhalsbruch alles getan wird, dass die Patienten schnellstmöglich wieder ihren gewohnten Alltag leben können. Hier ist kompetente Rehabilitation selbstverständlich. Aber bei der gebrochenen Seele verweigern wir diese so unverzichtbaren therapeutischen Maßnahmen zur Wiedereingliederung ins Leben. Dabei wissen wir längst, zu welch enormen Leistungen alte Menschen wieder fähig sind, wenn sie die notwendige Zeit in einer geriatrischen Klinik verbringen konnten. Auch volkswirtschaftlich ist jede Form erfolgreicher Rehabilitation ein Gewinn, aber das scheinen inzwischen so abstrakte Größen zu sein, dass wir sie als Gesellschaft gedanklich lieber ausblenden.

Altersdepression? Diese Zuschreibung eines Menschen ist eine Bankrotterklärung derer, die sie attestieren – in erster Linie für die Hausärzte, vor allem aber für unser Gesundheitssystem. Alte Menschen erbitten Zuwendung. Zuwendung kostet Zeit, eine Zeit, die den Ärzten nicht bezahlt wird. Fassen wir uns doch endlich an die eigene Nase: Wir blenden das Faktum Altern aus, wir schauen weg, weil wir uns so ohnmächtig fühlen. In der eigenen Familie mag es noch das eine oder andere liebevolle Miteinander geben, aber es wird zunehmend die Ausnahme sein, wenn wir nicht endlich kommunikative Strukturen schaffen, bei denen das Prinzip von Austausch und Belohnung im Mittelpunkt steht. Natürlich können wir uns selbst beschenken – Schokolade, Wein, gute Musik –, aber das kleine unerwartete Geschenk des Nachbarn, der Enkel und der Freunde hat einen sehr viel größeren Effekt, uns seelisch im Wortsinne zu berühren. So wie Geschenk und Zufall uns faszinieren, so verhält es sich auch mit Einsatz und Belohnung. Bleibt diese zu lange aus, lässt unser Interesse an der Sache nach. Die Folge ist, dass wir verzagen, also betrübt sind, oder, eine andere Bedeutung des Wortes: wir fürchten uns und werden ängstlich. Immer dann also, wenn die positiven Lebensimpulse ausbleiben, reagiert unser Gehirn – unsere Seele? – mit einer gewissen Verwirrung und Ängstlichkeit.

Es gibt Menschen, die sich nach einem Schockerlebnis nie wieder erholen, wir nennen das Trauma. Die Erfahrung einer nicht aufzubrechenden Einsamkeit stelle ich mir auch traumatisch vor: die erschütternde Erkenntnis, ganz allein auf mich selbst geworfen zu sein. Mit Depression hat das nichts zu tun, vielmehr mit Lebensangst – wie lange halte ich mich selbst in dieser Hilflosigkeit noch aus?

Die Wirtschaft hat »die Alten« längst als Markt erkannt, aber leider stets mit einem Produktangebot, das eher mitleidiges Begleiten als lebensaktive Menschen im Fokus hat. Welche Fehleinschätzung!

Viele Menschen leiden im Berufsleben unter Mobbing, auch Schüler. Zuerst wehren sie sich, ist aber der Angreifer übermächtig, vor allem wenn er als Gruppe auftritt, dann setzt eine Fluchtbewegung als selbstverständlich instinktiver Impuls ein – gefolgt von Angst, Angst vor erneuten Angriffen. Die Folgen sind dann der soziale Rückzug, Lebensverweigerung und irgendwann eine Desorientierung, welchen lohnenden Platz im Leben es überhaupt noch geben kann. Desorientierung und Depressiongehen dann eine verhängnisvolle Verbindung ein – nicht zwingend, aber eben doch häufig. Wann die Schwelle im Rahmen eines solchen seelischen Erlebens zur Depression überschritten wird und warum, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass es den Weg heraus aus der Verzweiflung und dem Dunkel des Lebens gibt. Worte allein sind oft nicht eindrucksvoll genug, um einen Menschen zurück ins Leben zu holen. Frühere Enttäuschungen wirken wie ein Radiergummi bei guten Worten, unser Gehirn bilanziert dann lieber die schlechten Erfahrungen, der gerade positiv erlebte Zuspruch wird nicht wirklich ernst genommen. Medikamente können den Radiergummieffekt vorübergehend ausschalten. Warum also nutzen wir ihn nicht?

Ich kann jeden verstehen, der im Alter einsam, irgendwann lebensmüde wird und die Welt zu fliehen sucht. Das Leben heute gehorcht anderen Gesetzen als denen zur Zeit des Cicero und ein gutes Leben bis ans Ende ist nicht unbedingt eine Frage des Charakters. Wer so urteilt, hat die heutige Welt nicht verstanden oder er blendet sie zynisch und egoistisch aus. Nur: Wer einmal in ein mürrisches Fahrwasser geraten ist, wird seinen Kurs nicht mehr ändern können. Da stimme ich Cicero zu.

Wenn der Mensch wirklich ein soziales Wesen ist – was mir zunehmend zweifelhafter erscheint –, dann sollte er sich im ureigenen Interesse auch einem sozialen Leben verpflichtet fühlen, was in der Wortbedeutung nichts anderes heißt, als gesellig zu sein. Gesellig? Ja, gesellig. Es würde uns allen guttun. Nur dann begreift auch der Egozentriker irgendwann, wie tödlich Einsamkeit sein kann. Und wir hätten das, wonach wir uns doch alle so sehr sehnen: eine bessere Welt.