Mein Wunschtherapeut: Ein Profil

Seit Kurzem wohne ich in einem alten Haus, Baujahr 1920. Jetzt gab es gerade – offenbar zum ersten Mal – ein ernstes Problem mit der Elektrik. Ein Nachbar, der in einem Haus mit demselben Baudatum lebt, riet mir: »Sie brauchen einen guten Elektriker.« Er sollte mindestens 45 Jahre alt sein, über viel Erfahrung in der Sanierung alter Häuser verfügen und auch schon einmal hier bei uns in der Straße, wo die Häuser alle aus den 20er-Jahren stammen, gearbeitet haben. Er nannte mir den Namen einer Elektrikerfirma, die auch bei ihm seit Jahren die typischen Mängel der Häuser aus dieser Zeit mit großer Kompetenz behoben hat. Es war eine gute Empfehlung: Die defekte Leitung hätte auch schnell einen Brand auslösen können – so viel verstehe auch ich von elektrischen Leitungen und ihren Verschleißerscheinungen. Der Handwerker, der kam, war um die 50, er sah sich die Verteilung an, prüfte die defekte Leitung und sagte, was jetzt zu tun sei. Die zwingend notwendigen Maßnahmen, die er vorschlug, haben mich überzeugt. Wir besprachen den Arbeitsaufwand, die erforderlichen baulichen Maßnahmen, den notwendigen Zeitrahmen und die Kosten, die anfallen würden. Ich habe dann einen Tag über sein Sanierungskonzept unseres Leitungssystems nachgedacht, habe Nutzen und Kosten in Relation gesetzt und den Auftrag erteilt.

Innerhalb von fünf Stunden – viel schneller als gedacht – waren zwei neue Kabelstränge eingezogen, die elektrische Verteilung auf einen guten technischen Stand gebracht – alle Stromkreise funktionieren problemlos und ich kann wieder ruhig schlafen.

Was lässt sich aus dem Geschehen auf die Therapeuten übertragen? Es sind die drei Säulen, die das Fundament jedes Handwerks- und Heilberufes ausmachen: fachliche Kompetenz, Erfahrung und Vertrauen.

Schopenhauer hat gesagt: »Die Freunde nennen sich selbst aufrichtig, die Feinde sind es.« Ich bin kein Feind der Therapeuten, aber ich versuche in allen Kapiteln dieses Buches aufrichtig zu sein, ich schone niemanden, will aber auch niemandem schaden – das brächte uns nicht weiter. Wer mir nach der Lektüre vorwerfen mag, dass ich mit meinen Äußerungen doch nur die Patienten verunsichern würde, denen halte ich vehement entgegen: Wenn ihr, die Therapeuten, nur in der Lage seid, höchstens 10 Prozent der euch anvertrauten Patienten, die unter Depressionen leiden, kompetent und nachhaltig zu behandeln, ihr aber 50 Prozent der Patienten so »therapiert«, dass sie sogar Schäden davontragen, dann ist es an der Zeit, den Schleier des vermeintlichen Erfolges der Therapeuten zu lüften – im Sinne aller Hilfe suchenden Patienten. Schließlich trägt ein mittelmäßiger Therapeut sehr viel mehr zur Verunsicherung der Kranken bei als eine vorab geäußerte Warnung: Achtung, habt im Rahmen eurer Therapie immer die dürftige Zahl von 10 Prozent wirklichem Behandlungserfolg vor Augen, Patienten, seid wachsam und kritisch. Und wenn ihr selbst die Kraft nicht aufbringen könnt, euch gegen irgendwelche dubiosen Behandlungsschritte zu wehren, dann schaltet eure Partner, Angehörigen und Freunde ein. Dabei ist zu beachten – das als Vorwarnung! – dass Therapeuten auf Kritik äußert pikiert reagieren, sie sind schnell beleidigt und lassen dann gern ihren Ärger an den Patienten aus, indem sie ihren großen Werkzeugkasten der Verunsicherung einsetzen nach dem Motto: Es ist doch wohl klar, wer in dieser Situation am längeren Hebel sitzt!

Manche Ärzte anderer Fachrichtungen empfinden das Einholen einer Zweitmeinung auch als Angriff auf ihre Kompetenz und reagieren beleidigt, in Therapeutenkreisen ist der Begriff der Zweitmeinung geradezu verpönt – die eine Krähe hackt der anderen doch kein Auge aus. Dass eine derart bornierte Haltung nicht gerade dem kollegialen Austausch und damit dem Patienten dient, ist eindeutig, illustriert aber auch das Verständnis solcher Therapeuten gegenüber ihren Patienten.

Es versteht sich von selbst, dass mein Wunschprofil eines Psychotherapeuten anders aussieht. Das, was einen guten Handwerker auszeichnet, gilt auch für einen Therapeuten: Kompetent, erfahren und vertrauenswürdig soll er sein. Das klingt so selbstverständlich, ist es aber nicht. Unter kompetent verstehe ich nicht allein die ärztliche und psychologische Kompetenz, sondern meine ein Persönlichkeitsbild, das ohne jede pathetische Selbstinszenierung auskommt. Jedwede Form zur Schau getragener Bedeutung ist auffällig und meist auch zweifelhaft. So wie ein guter Künstler es nicht nötig hat, sich als solcher zu verkleiden, so kann ein Therapeut gern ein Bild von sich geben wollen – das tun wir alle –, aber bitte nicht das eines Therapeuten. An dieser Stelle sei eine Verallgemeinerung des negativen Typs des Therapeuten erlaubt: bedeutungsschwerer Bart nach Freud’schem Schnittmuster, die dazugehörige Brille, eine genialisch anmutende Haartracht, lang, kurz, mit Zopf, eine sich selbst karikierende Kleidung oder auch die so gern gepflegten Macken wie starrer Blick, leichtes Entrücktsein oder das beiläufige Spielen mit einem Stein in der Hand als Symbol der Wahrheitssuche. All das kombiniert mit einer exaltierten Wortwahl und Stimmbetonung vom Deklamieren bis zum affektierten Nuscheln weist auf ein Persönlichkeitsdefizit des Therapeuten hin. Warum hat der dieses Spektakel eigentlich nötig?

Nach meinem Verständnis ruht ein guter Therapeut in sich, hat einen offenen, interessierten Blick, lädt spontanemotional ein, ohne fraternisieren zu wollen, ist ernsthaft, ohne bereits das Unheil hinter dem unruhigen Blick des Patienten zu signalisieren, kurz: er ist so und verhält sich so, wie wir selbst andere behandeln, wenn wir frei von Krankheit und Leid sind – unverkrampft und selbstbewusst, ohne jeden Anflug von Überheblichkeit.

Wer unter Depressionen leidet und zum Patienten wird, hat häufig ein erstaunliches Gespür, was die Marotten anderer Menschen angeht, geradezu seismografisch. Wie gern würde er über oder sogar mit seinem Therapeuten über dessen so offensichtliche Spleenigkeit reden, aber das kann er in seiner Rolle des Geschwächten natürlich nicht. Nach seiner Genesung und hoffentlich einem Therapeutenwechsel wird er es aber tun, das ist gewiss. Und er wird sagen: Wie konnte ich nur so lange auf das dürre Rollenspiel dieses Therapeuten hereinfallen!

Äußere Erscheinung und Habitus sind an sich noch keine Beurteilungskriterien für die Qualität eines Arztes oder Psychologen, es sei denn, sie weichen in ihrer Skurrilität zu weit von unseren Erfahrungen im Umgang mit Menschen des eigenen sozialen Umfeldes ab. Skurril oder nicht, entscheidend ist die Wirkung, die ein Therapeut auf sein Gegenüber hat. Der Kellner eines teuren Restaurants, der sich vornehmer gibt als sein Gast, ist ein unsensibler, schlechter Kellner. Aber auch er trägt Verantwortung, nämlich die für den notwendigen wirtschaftlichen Erfolg seines Restaurants. Eine vergleichbare Verantwortung in Habitus, Kleidung und Ausstrahlung trägt der Therapeut: Er sollte ein Menschenfänger sein und nicht wie eine Vogelscheuche wirken. Er muss keinesfalls dem habituellen und modischen Mainstream entsprechen, er sollte vielmehr die wohltuende Sicherheit des erfahrenen Handwerkers ausstrahlen. Der schicke Blaumann mit Namenslabel allein ist noch keine Garantie für handwerkliche Qualität. Die zeigt sich erst im kompetenten Agieren, so wie es der Elektriker bei mir bewiesen hat.

Die Frage, ob Mann oder Frau mein Wunschprofil vom Therapeuten erfüllt, ist nicht leicht zu beantworten. Ich kenne hochkomplex agierende Ärztinnen und Therapeutinnen ebenso wie ihre männlichen Kollegen. Auch in der manchmal skurrilen Selbstdarstellung unterscheiden sie sich nicht, als gäbe es den vereinbarten Kodex des therapeutischen Unisexverhaltens.

Wenn ich von der typischen biografischen Situation eines Menschen ausgehe, der wirklich und ernsthaft einer Psychotherapie bedarf, dann begegnen sich zwei mit ganz unterschiedlichem Kräftepotenzial. Männer sind nun einmal ungern unterlegen, können sich aber in dieser hoffentlich temporären Rolle einem Mann leichter öffnen als gegenüber einer Frau – unabhängig von Alter, Status und erotischer Ausstrahlung. Wie weit jemand seine eigene Intimität mitteilen will, gerade wenn es um sexuelle Fragen geht, muss er selbst entscheiden. Es sollte aber keine therapeutischen Tabuzonen geben, schließlich geht es nicht um Selbstdarstellung sondern um Genesung. Es gibt hochwirksame Psychopharmaka, die als Nebenwirkung eine sehr starke Einschränkung der Libido und der Erektionsfähigkeit nach sich ziehen. Es gibt Alternativen, aber das Phänomen einer erektilen Dysfunktion kann nun einmal nur ein Mann kennen und ich selbst würde mich in diesem Kontext in einem therapeutischen Gespräch mit einem Mann wohler fühlen. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Ich habe die angesprochenen Themen der vermeintlichen Äußerlichkeit bewusst so breit ausgeführt, weil jeder Patient sich in dieser biografisch schwierigen Situation selbst zurechtfinden und wohlfühlen muss, um auch weiterhin an die Sinnhaftigkeit eines Weiterlebens glauben zu können.

Ist die Schwelle des Einstiegs in die Behandlung überwunden, gab es erste kleine Signale der Hoffnung und der Zuversicht, dann bestimmt der zweite Schritt, ob es sich tatsächlich um das von mir zu skizzierende Wunschprofil handelt oder nur um den oft trostlosen therapeutischen Alltag, in dem sich beide Seiten nichts wirklich zu geben haben. Nur: Leiden tut allein der Patient.

Was wünscht er sich und was erwartet er im besten Falle, wenn er überhaupt noch Hoffnung und die Kraft für Erwartungen aufbringen kann? Nur eines, und das so schnell wie möglich: befreit sein von der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit in der Depression – und ebenso bei jedem anderen seelischen Leiden.

Sein Problem hat ja zwei Seiten: den seelischen Schmerz auf der einen und das Abgeschnittensein vom Leben auf der anderen. Es geht ihm um Lebenszeit, ob nun in der Jugend oder im Berufsleben, dem er jetzt als Patient nicht mehr angehört, und natürlich um Zukunftsängste – wer hat die heute nicht?

Mein Wunschtherapeut weiß um diese existenzielle Problematik und leitet drei Schritte der Zuversicht ein: die klare Diagnose, das darauf abgestimmte Behandlungskonzept und einen Mut machenden Zeitplan – keine Versprechungen, aber ein abschätzbares Zeitkontingent für die Therapie.

Ist das wirklich zu viel verlangt? Nein, ein klares Nein. Alle medizinischen Disziplinen können heute sehr präzise Aussagen über einen Behandlungsverlauf machen – in der Chirurgie ist der Krankenhausaufenthalt, ob Jung oder Alt, inzwischen genormt. Und wo steht in dieser Planbarkeit die Psychologie und die Psychiatrie? Weit abgeschlagen in zeitlichen Nirwanavorstellungen zweifelhafter Therapieschulen.

Ein guter Therapeut macht keine Gehirnwäsche, um den Kranken möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren – das sind Vorwürfe, die sich längst selbst erledigt haben, aber noch immer in der vermeintlichen Gutmensch-Therapeutenszene herumgeistern.

Mein Wunschtherapeut ist ein guter Handwerker, er wägt Aufwand und Nutzen ab, macht klare Terminangaben, spricht offen über Kosten und das Zeitkontingent vor Ort, also der Seelenheilung, das auch Beeinträchtigungen mit sich bringt. Was anderes ist eine gute Therapeutenarbeit?

Psychologie und Psychiatrie haben im Vergleich zu anderen medizinischen Verfahren und Therapien die geringsten Erfolge aufzuweisen. Das hat schon der Philosoph Karl Jaspers – selbst Arzt in der Psychiatrie zu Zeiten Freuds! – immer wieder mahnend dargelegt: Psychiatrie ist keine Wissenschaft, sondern bedeutet die Zugehörigkeit zu einem Geheimbund. Ist es ein Wunder, dass Karl Jaspers sich dann schon bald folgerichtig der Philosophie verschrieben hat? Für die Psychiatrie hatte er kein gutes Wort mehr übrig.

 

Mein Wunschtherapeut? Ein Mensch. Ein Mensch, der das Dasein liebt und alles zu tun bereit ist, dass es anderen, die an sich selbst leiden – nichts anderes ist die Depression –, möglichst schnell zu sich selbst und ins Leben zurückfinden.

Ich wünsche mir Therapeuten – Frau oder Mann –, die bereit sind, die Fesseln dogmatischer Therapiekonzepte abzustreifen, vorbehaltlos. Das erlebte Leben des Patienten muss Priorität haben, mit oder ohne medikamentöse Begleitung. Wer Medikamente in der Psychotherapie verweigert, macht sich der Körper- und Seelenverletzung schuldig. Ob es dafür einen Straftatbestand gibt, weiß ich nicht, nur zu gern würde ich ihn einführen.

Noch einmal, mein Wunschtherapeut? Jemand, der bereit ist zu sagen, dass auch er im sokratischen Verständnis nichts wirklich über das Phänomen Depression weiß, dass er aber all sein umfangreiches Wissen zum Wohle seines Patienten einsetzen wird – den ganzen Kosmos des Wirksamen, therapeutisch-ärztliche Magie eingeschlossen. Diese Magie kann sich aber nur entfalten, wenn der Therapeut mit seinem Patienten auf Augenhöhe agiert, also das biografisch-gesellschaftliche Profil seines Gegenüber nicht nur kennt, sondern es auch akzeptiert. Wer scheinbar über alle guten Gaben des Lebens verfügt, kann ebenso therapiebedürftig sein wie jemand, der mit seinem Auskommen hadert. Viele Therapeuten haben Vorbehalte gegen die seelischen Wunden reicher Patienten. Wer die unterschwellige Ablehnung seines Therapeuten gegenüber seiner seelischen Not spürt, sollte sich nicht scheuen, den Therapeuten zu wechseln. Niemand in der Therapeutenschaft wird solche Vorbehalte zugeben, aber es gibt sie – Missgunst ist auch bei Psychologen und Psychiatern nicht unbekannt.

Ich habe das Glück, wieder gesund sein und handeln zu können. Was anderes ist Leben? Ja, für mich heiligt das Leben die eingesetzten Mittel – das ist die Maxime, die ich von einem Wunschtherapeuten erhoffe. Ist das zu viel verlangt?