KAPITEL DREI
Samstag
Sonia
Im Bus überkommt mich eine Erinnerung, als wir an dem Starbucks vorbeifahren, in dem früher unser Süßwarenladen war.
Ein Sommertag. Mitten in einer Hitzewelle. Ich war dreizehn. Wo war meine Mutter an diesem Tag? Sie muss schon als Lehrerin gearbeitet haben, denn ich fühlte mich freier, als wenn sie zu Hause war.
Ich spüre noch, wie mir der Baumwollstoff meines Sommerkleids leicht über die Oberschenkel strich, als ich vom Laden über den Fußweg nach Hause ging. Ich saugte an einem Orangeneis am Stiel. Mit meinen Flipflops blieb ich an den Pflastersteinen hängen, die von den Getränken und dem verkleckerten Eis der anderen Leute ganz klebrig waren. Vom Fluss stieg ein durchdringender, metallischer Geruch auf, gemischt mit Teer und Alkohol. In dieser Gegend hing immer der Geruch von Bier in der Luft, aus den Pubs und den leeren Flaschen von den Leuten, die auf der Ufermauer gesessen und getrunken hatten. Es herrschte Ebbe. Verträumt ging ich an der Anlegestelle in der Nähe unseres Hauses die steile Steintreppe hinunter und lutschte dabei an meinem Eis. Die Wasserpflanzen, die die Stufen oft rutschig machten, waren eingetrocknet. Unten angekommen schleuderte ich die Flipflops von den Füßen und stellte mich ans Ufer. Das Wasser schwappte kühl über meine Füße. Zwischen meinen Zehen quoll Matsch hervor. Ich krallte sie um die kleinen, runden, harten Dinger, die im Schlamm vergraben waren.
»Sonia! Soniiiaaa!«
Aufgeschreckt aus meiner Trance blickte ich auf. Auf dem Fluss balancierten Seb und sein Freund Mark auf dem Rand eines alten, verankerten Lastkahns, nackt bis auf ihre Unterhosen, die schwer vom Wasser schlabberten. Mark gab Seb einen ordentlichen Schubs.
»He, Sonia, Hiiilfe!«, schrie Seb. In gespielter Angst ruderte er mit den Armen, kippte seitlich ins Wasser und verschwand in der Tiefe. Mark brach vor Lachen fast zusammen. Als Seb nach einer Weile nicht nach oben gekommen war, sprang Mark hinterher. Jetzt waren beide in der braunen Brühe untergetaucht, die vor lauter Schmodder kaum die Sonne widerspiegelte. Sekunden verstrichen. Minuten. Nichts durchbrach die kompakte Oberfläche. Mein Herz hämmerte, mein Mund wurde trocken, das Eis klebte an meiner Zunge.
Endlich ein Platschen. Ein Kopf. Mark. Er kletterte auf den Lastkahn und verschwand im Bug.
Immer noch kein Seb.
Ich watete ins Wasser, starrte auf den unbewegten Fluss. Die Anlegestellen runter Richtung Blackwell flirrten vor Hitze. Alles wurde still.
Eine vorüberfahrende Motorbarkasse sandte mir Wellen entgegen, die vor meine Schienbeine schwappten, bevor wieder Stille eintrat. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich bekam keine Luft. Die Welt war stehen geblieben.
Dann endlich ein Wuuusch!
Kurz vor mir tauchte Seb auf, tropfend vor Öl und Flussschmodder. Er wankte auf mich zu, packte mich am Arm und zog mich näher. Erst wehrte ich mich. Ließ den Rest von meinem Eis fallen, grub ihm meine Nägel in die Schultern. Er lachte. Ich wollte ihn treten, aber ich hatte keine Chance, er war viel stärker als ich. Bald reichte mir das Wasser bis an die Oberschenkel, mein Kleid klebte an der Haut. Er zog noch einmal, und ich verlor das Gleichgewicht. Nach der Hitze war das kühle Wasser eine Wohltat. Wild um mich spritzend verfolgte ich ihn, und er zog mich auf: »Oooh, du machst mir ja Angst.«
Mark kam herüber. Beide sprangen auf mich und drückten mir den Kopf unter Wasser. Seb packte meine Beine. Ich schlug um mich, versuchte vergeblich, sie an den Haaren zu reißen, und biss Mark fest in den Arm. Mit einem Schrei ließ er mich los, und ich sog tief die muffige Luft ein, als mein Gesicht wieder im Sonnenschein badete.
Das nasse Kleid, das im kalten, trüben Wasser gegen meine Haut klatschte. Sebs starke Hände an meinen Knöcheln. Über uns die pralle Sonne.
»Zeit für ein Bier!«, rief Seb und ließ mich los. Er und Mark kraulten los, aber zu den Lastkähnen statt zum Ufer. Ich folgte ihnen und versuchte, kein Flusswasser in den Mund zu bekommen. Angeblich enthielt es Gifte, die einen lähmen konnten. Das Wasser fühlte sich dickflüssig an und klebte auf meiner Haut. Unter der stinkenden Oberfläche war nichts zu erkennen. Da drin kann man Fotos entwickeln, sagten die Leute. Es war kaum noch Wasser, eher eine Chemiebrühe. Beim Schwimmen spürte ich, wie etwas meine Beine streifte. Die kribblige Berührung einer Plastiktüte, einen Knuff von etwas Großem, Schleimigem. Ich versuchte, gar nicht daran zu denken, was mich noch berühren, was an mir lecken könnte. Oder mich sogar fressen.
In der Mitte des Flusses fuhr ein Wasserbus vorbei, dessen Fahrgäste fröhlich winkten. Die Anlegestellen an der Isle of Dogs lagen unter einer dicken, grauen Dunstglocke. An den Lastkähnen versuchte ich mich nach oben zu ziehen, wie die Jungs es getan hatten, aber ich rutschte an der Algenschicht am Rand ab. Ich zog mir Splitter in die Hände und brach mir die Nägel ab, als ich mich an der Seitenwand festkrallen wollte.
»Schwächling!«, rief Mark. »Echt armselig, was, Seb?«
»Lass sie ihn Ruhe«, sagte Seb, und mir ging das Herz auf. Nahe beim Heck fand ich einen Reifen an der Schiffswand, in den ich den Fuß stemmen konnte, um an Bord zu klettern. Die Jungs hatten aus einem alten Fischernetz eine Tasche gebastelt, sie an ein Seil gebunden und darin Bierdosen und Chipstüten mitgebracht. Die Bierdosen hatten sie im Netz ins kühlende Wasser gehängt. Wir legten uns auf den heißen Holzboden, wo uns von draußen niemand sehen konnte, und ließen von der Sonne unsere nasse Kleidung trocknen. Es machte leise Klopf Klopf Klopf, wenn die Kähne zusammenstießen. Dann fuhr ein Polizeiboot vorbei und schlug solche Wellen, dass die Kähne schwankten, knarrten und erschreckend heftig aneinanderknallten und wir herumgeworfen wurden wie in einem Sturm.
Als sie wieder still lagen, gab es nichts außer der Sonne, dem brennend heißen Holz und uns. »Mach mal so«, sagte Seb zu mir und formte mit den Lippen ein O.
Ich tat, was er wollte. Er nahm einen Schluck Bier, beugte sich über mich, presste seine Lippen auf meine und ließ die Flüssigkeit langsam in meinen Mund sickern. Sie schmeckte nach Blech und fühlte sich im Vergleich zu ihm kühl an. Mir wurde komisch, als würden meine Beine in der Sonne schmelzen. Dann wandte sich Seb zu Mark um und tat mit ihm das Gleiche. Danach sollte ich es bei beiden machen. Er wollte sehen, wie sich das anfühlte, sagte er. Ständig war er neugierig darauf, wie sich etwas anfühlen würde. Es war wunderbar, wenn die kalte Flüssigkeit zwischen warmen Lippen herausfloss, und so machten wir weiter und tranken gegenseitig aus unseren Mündern, bis das Bier lauwarm wurde.
»Berühr meine Zunge mit deiner«, sagte Seb, also tat ich es. Mark sah zu. Seb schlang seine Zunge um meine und küsste mich lang und heftig. Er schmeckte nach Bier und Fluss.
»Das ist ja eklig«, meinte Mark, und Seb löste sich von mir und küsste stattdessen ihn. Danach hielt Mark die Klappe.
»Ich tauche jetzt unter den Booten durch«, sagte Seb.
»Nicht, Seb. Wieso willst du das machen?«
»Wieso will man irgendwas machen? Ich will sehen, ob ich es kann.«
»Und wenn dir auf halbem Weg die Luft ausgeht?«
»Stell dich nicht so an.«
Mark stand lachend auf und sagte: »Du spinnst«, als Seb ins Wasser sprang und unter den Kähnen verschwand.
»So ein gehirnamputierter Blödmann«, lästerte Mark, während wir auf der anderen Seite auf Seb warteten. Ich wollte, dass er ruhig war. Ich wollte selbst die Luft anhalten, bis Seb zurück war, um sicher zu sein, dass man das konnte. Um sicher zu sein, dass Seb leben würde.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis er auftauchte und den Kopf schüttelte, um das Wasser aus den Ohren zu bekommen. Dann packte er die Reling und war blitzschnell auf das Boot geklettert.
»Na los, du bist dran«, sagte Seb, und Mark, der nicht so mutig war, redete sich damit heraus, er müsse nach Hause. Wir sahen ihm nach, als er zum Ufer schwamm. Dann sollte ich mich auf Seb legen.
»Zieh das Kleid aus«, befahl er. Ich gab ihm eine Ohrfeige.
»Autsch!« Er drehte den Kopf zur Seite und sagte: »Mach schon.«
»Nur wenn du deine Unterhose ausziehst.«
»Abgemacht.«
Er streifte seine Hose ab, ich schälte mich aus meinem Kleid. Weil ich noch nicht so weit entwickelt war, um einen BH zu tragen, lag ich mit nacktem Oberkörper auf ihm, und wir schienen miteinander zu verschmelzen, unsere Körper fügten sich perfekt aneinander. Wir waren wie Teile eines 3D-Puzzles, die nur zusammen ein vollständiges, makelloses Ganzes ergaben. An dieses Gefühl erinnere ich mich am deutlichsten, als ich dem gleichen Weg folge, den ich damals über den Fußweg zu unserem Haus gelaufen bin. An unsere vereinten Körper, warm von der Sonne, leicht klebrig von den Abwässern im Fluss und nach Schlamm riechend.
Ich habe Seb geliebt, das muss ich wohl nicht erst sagen. Für mich war er das schönste Wesen, das es gab. An diesem Tag auf dem Lastkahn habe ich auf sein Gesicht hinabgeblickt und mich gefragt, wie jemand so vollkommen geschaffen sein konnte. Er hatte große, mandelförmige, blaue Augen und Lippen, die ständig so rot aussahen, als hätte er gerade Erdbeereis am Stiel gegessen. Seine Mundwinkel zeigten nach unten, als wären ihm alle Menschen zu dumm, als würde er darauf warten, dass die Welt endlich mit ihm gleichzog. Ich spürte seine kantigen Hüftknochen, die sich direkt unter meinen in mein Fleisch drückten, seine warme Haut über den Rippenbögen, die sich zwischen meine fügten, und meine noch kaum weiche Brust, die sich an seine schmiegte.
»Leg dich unter mich«, sagte er nach einiger Zeit, also drehten wir uns herum. Vage kam mir der Gedanke, dass ich ihn vielleicht aufhalten sollte. Ich wand mich unter ihm und versuchte, ihn von mir zu stoßen. Aber ich erinnere mich bis heute an das warme Holzdeck des Kahns unter meinem Rücken, während er mich in den Armen hielt, und an das Geräusch seines Atems in meinem Ohr.
Besorgt und angespannt erreiche ich das Flusshaus. Was, wenn Jez schon aufgewacht ist? Wenn er gegangen ist, bevor ich mich ordentlich verabschieden konnte? Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen.
In meiner Manteltasche umklammere ich Mutters Flurazepam und reibe mit dem Daumen darüber. Ich laufe die Stufen in den ersten Stock hinauf, dann die steile Treppe zu dem Absatz vor dem Musikzimmer. Durch die schmalen Oberlichter unter der Decke fällt Licht herein. Als ich die Klinke herunterdrücke und die Tür öffne, wage ich kaum zu hoffen.
Er ist da. Noch immer benommen, aber er hat die Augen geöffnet.
Ich gehe direkt zu ihm und setze mich auf das Bett.
»Du bist umgekippt.«
»Was?«
»Gestern Abend. Nach ein paar Gläsern Wein zu viel.«
Ich betrachte ihn. Ein Prinz, der aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Er versucht, den Kopf zu heben, runzelt die Stirn und gibt es schließlich auf.
»Ist schon gut. Du bist im Flusshaus. Weißt du noch?«
»Ach du Scheiße!«
»Keine Sorge. Wir trinken alle mal zu viel, das kannst du mir glauben. Das kann jedem passieren.«
»Wie spät ist es? Mein Zug geht um halb elf.«
»Ach, halb elf ist längst vorbei! Aber es fahren noch genug andere Züge. Wir sagen allen Bescheid, aber eins nach dem anderen.«
»Mir ist schlecht.«
Das Licht ist ihm zu grell, er kneift die Augen zusammen und stützt sich auf einen Ellbogen.
»Du musst etwas trinken. Hier.«
Ich nehme das Glas vom Nachttisch, halte es ihm an die Lippen und beobachte, wie sie feucht werden, als er einen Schluck trinkt. Ein Wassertropfen verfängt sich in den knabenhaften Stoppeln auf seiner Oberlippe. Er funkelt silbrig, bevor Jez ihn ableckt.
»Verdammt. Was zum Teufel haben wir gestern Abend getrunken?«
Obwohl er den Stimmbruch längst hinter sich hat, hört er sich nicht wie ein Erwachsener an. Seine Stimme klingt noch kindlich. Er schließt die Augen und lässt den Kopf wieder auf das Kissen sinken.
»Du fängst dich schon wieder. In einer halben Stunde bringe ich dir Bagels und Kaffee. Da drin kannst du duschen.« Ich deute mit dem Kopf auf das angeschlossene Badezimmer. »Wie trinkst du deinen Kaffee?«
Er sieht wieder zu mir auf, das Gesicht zerknautscht, aber die Haut noch ganz fein, wie gewellte Seide. Volle Lippen. Mick-Jagger-Lippen. Sängerlippen. Irgendwann, das kann ich schon sehen, wird er diese Falten zwischen Nase und Lippen bekommen, die Rocksänger haben. Seb hätte sie auch bekommen.
»Stark. Nicht zu viel Milch. Zwei Löffel Zucker.«
Es ist schön dazustehen und ihn anzusehen, doch ich will ihn nicht beunruhigen.
»Ich gehe runter und mache Frühstück.«
»Ich habe Alicia gar keine SMS geschickt. Meine Mutter habe ich auch nicht angerufen«, sagt er, als ich an der Tür bin. Ein Glück, denn es erinnert mich an das Handy in seiner Lederjacke, die in der Küche über einer Stuhllehne hängt.
»Alles zu seiner Zeit«, sage ich ihm. »Erst mal musst du auf die Beine kommen.« Ich ziehe die Tür hinter mir zu und bleibe stehen, bis ich höre, wie er ins Badezimmer geht und das Wasser andreht.
In der Küche denke ich gar nicht erst nach. Ich angle das Handy aus seiner Tasche, gehe nach draußen und überquere den Weg zum Fluss. Zum Glück kommt die Flut, so dass der Uferstreifen nicht trocken ist, sondern rötlich braunes Wasser gegen die Mauer schwappt. Als hinter mir ein paar Touristen vorbeigehen, lehne ich mich an die Mauer und beobachte die Kähne, die sanft aneinanderstoßen. Ich warte, bis die Touristen außer Sichtweite sind, bevor ich das Handy in der Tiefe verschwinden lasse.
Als ich mit Kaffee und Bagels zu Jez zurückkehre, steht er mit Jeans, aber ohne Hemd im Zimmer und reibt sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Es duftet nach der Zitronengrasseife, die ich ins Bad gelegt habe. Unter dem Handtuch hervor sieht sich Jez das Frühstückstablett an. Ich habe Kaffee in dem italienischen Espressoding gemacht, das ich immer für Kaffeeliebhaber benutze, Toast aus Biobrot, Bagels und ein Schälchen mit meiner Marmelade mitgebracht.
»Setz dich. Du musst was essen«, sage ich. Er lässt sich auf das Bett plumpsen. Er hat breite Schultern, aber die Knochen sind noch zart. Vor ihm liegt noch eine weite Entwicklung. Eine winzig schmale Linie zieht sich über seinen Bauch, weil er sich vornüberbeugt.
Er legt zwei Bagelhälften zusammen und beißt ein großes Stück ab. Lehnt sich gegen das Kissen und schlürft etwas Kaffee, dann verputzt er den restlichen Bagel mit wenigen weiteren Bissen. Die Sonne, die durch die Oberlichter über den Bücherwänden strömt, wärmt das Zimmer. Es ist angenehm. Mehr als angenehm. Luxuriös. Bei mir hat er es wirklich gut getroffen.
»Du musst nicht gehen, weißt du«, sage ich. »Ich habe heute nichts vor. Du kannst gerne bleiben. Spiel etwas Gitarre, entspann dich, und ich buche nachher eine Fahrkarte für den Eurostar für dich. Aber das musst du natürlich wissen.«
Abwägend sieht er mich an.
»Für die Fahrt bin ich wirklich etwas durch den Wind, aber störe ich Sie denn nicht?«
Ich lächle. »Überhaupt nicht.«
»Alicia ist bestimmt sauer, dass ich sie gestern versetzt habe. Und ich sollte meiner Mum sagen, wo ich bin. Ich wollte heute zurückkommen.«
»Das ist aber rücksichtsvoll!«, sage ich.
Und ich bin wirklich überrascht. Kit habe ich in diesem Alter angebettelt, mir zu sagen, wo sie war, und sie hat es trotzdem nie gemacht. Wenn ich sie anrufen wollte, hatte sie ihr Handy immer ausgestellt, oder der Akku war leer. Und wenn ich geschimpft habe, weil sie sich nicht gemeldet hat, hatte sie angeblich kein Guthaben auf ihrer Karte.
»Ich gehe runter und hole mein Handy«, sagt er.
Es ist zu spät, um ihn aufzuhalten, und ich will ihm keine Angst machen. Mir bleibt nichts anderes übrig als zuzusehen, wie er das Musikzimmer verlässt und die Treppe hinuntergeht. Ich gehe ein enormes Risiko ein, um sein Vertrauen zu gewinnen. Nichts würde ihn davon abhalten, mein Haus und mein Leben für immer zu verlassen. Ich rede mir ein, ich sollte es als Test sehen, damit ich weiß, woran ich bei ihm bin. Ich muss wissen, dass er genauso sehr hierbleiben will, wie ich ihn bei mir behalten möchte.
Diese wenigen Minuten sind eine Qual. Ich kann mich kaum rühren. Kein Geräusch entgeht mir, als er unten nach seinem Handy sucht. Falls er zur Küchentür gehen sollte, ohne sich zu verabschieden, werde ich es merken. Ich werde hinunterlaufen und ihn bitten, mit mir ein paar Möbel umzustellen, bevor er geht. Und als braver Junge, der er ist, wird er mir die Bitte nicht abschlagen können. Ich darf ihn nicht verlieren.
Reglos lehne ich mich gegen die Tür, als eine andere Erinnerung in mir wach wird. Ebenfalls ein Abschied. Wir waren in einer Garage. Es roch nach Benzin, Öl und Erwachsenenschweiß. Jemand warf einen Koffer in den Kofferraum. Ich sehe Sebs Gesicht so klar und deutlich vor mir, als wäre er jetzt hier. Das Grinsen auf seinen Lippen. Dieser Blick, den ich so gut kenne, die Verachtung für Autorität getarnt mit süffisantem Charme.
»Wir müssen los. Steig ein, Seb.«
Er lachte über meine Wut, als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Dann sah er zu mir hoch und zeigte mir mit einem Schulterzucken, dass er nicht gehen würde, wenn er es nicht müsste.
»Dann tu es nicht, Seb«, sagte ich. »Geh nicht. Lass dich nicht dazu zwingen.«
Die Autotüren knallten zu. Ich zog an dem Griff, aber die Tür war schon verriegelt, und Seb schnallte sich an. Als er wieder aufblickte, konnte ich ihm ansehen, dass er sich schon veränderte, dass er sich schon damit abfand und sich sogar ein wenig darauf freute, was ihn erwartete.
»Nicht, Seb! Gib nicht nach!«
»Mein Gott, kannst du sie nicht beruhigen? Sonst tut sie sich oder jemand anderem noch weh. Halt sie fest. Wir müssen los.«
Mein Schreien und Treten würden mich nicht weiterbringen, das wusste ich, aber etwas anderes blieb mir nicht. Jemand packte meinen Arm und zog mich von dem Auto weg. Dann sprang der Motor an, und der Wagen schoss rückwärts aus der Garage. Seb sah mich nicht an. Er starrte geradeaus, seiner Zukunft entgegen, als hätte er mich in diesem Moment schon vergessen.
Nicht nur die Trennung von ihm war unerträglich, sondern auch das schreckliche Gefühl, dass es gar nicht so weit gekommen wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte, wenn ich meine Verzweiflung nicht gezeigt und keinen Riesenfehler begangen hätte.
Als ich endlich Schritte auf den Holzstufen höre, rauscht eine warme Woge der Erleichterung und Dankbarkeit durch mich. Jez kommt freiwillig zurück. Mir fällt der Schlüssel auf, der von innen in der Tür steckt. Ich lasse ihn in meine Tasche gleiten.
Ich räume etwas auf und sehe nach, ob im Badezimmer ein frisches Handtuch liegt und Seife und Toilettenpapier reichen. Ein paar Einwegrasierer von Bic, die ein Gast vor ein paar Jahren vergessen hat, platziere ich auf der Ablage, damit Jez weiß, dass er sie gern benutzen kann. Als er hereinkommt und sich auf das Bett setzt, muss ich mich beherrschen, damit ich ihn nicht umarme und ihm danke, dass er mich nicht verlassen hat.
»Es ist nicht da«, sagt er. »Komisch, ich weiß genau, dass ich es gestern noch hatte. Hoffentlich hat es mir niemand geklaut.«
»Willst du meines benutzen?«
»Ich kenne Alicias Nummer nicht auswendig, sie war gespeichert.« Ich wusste, dass er das sagen würde. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich meine Mutter anrufen.«
»Wer könnte denn sonst Alicias Nummer haben?«
»Vielleicht Barney.«
»Hör zu, ich rufe Helen an. Sie kann allen Bescheid sagen. Auch deiner Mutter.«
»Cool«, sagt er mit einem Lächeln. Seine Zähne blitzen weiß, seine Augen sind sanftbraun wie Kastanien.
»Das Angebot von gestern gilt noch, du kannst alles ausprobieren, wenn du möchtest. Da sind ein Aufnahmegerät und drei Gitarren, auf denen du spielen kannst. Probier doch mal die Zwölfsaiter aus.«
»Eine Zwölfsaiter! Damit habe ich gerade angefangen.«
»Da steht auch ein Verstärker für die E-Gitarre.«
Mit ausholender Geste deute ich auf die wunderbaren Instrumente und Geräte, die ihm zur Verfügung stehen. Greg hat jahrelang die Ausstattung des Musikzimmers aufgestockt und seinem alten Traum von einer Karriere als Gitarrist nachgehangen, während er in der Medizin so weit aufgestiegen ist, dass er reichlich Geld für den neuesten musikalischen Schnickschnack hatte, aber keine Zeit zum Spielen. Auf meine Bitte hin hat er das Zimmer sogar schallisoliert. Ein junger, talentierter Gitarrist wie Jez hätte sich keine bessere Bleibe wünschen können.
»Wenn du willst, rufe ich ein paar der Kontakte an, von denen ich erzählt habe. Vielleicht können sie dir einen Plattenvertrag oder so was beschaffen.«
»Ist ja irre. Wenn das Barney und Theo hören!«
Ich lächle. Jez braucht mich, genau wie Seb mich gebraucht hat, auch wenn er es nie zugeben wollte.
»Was glauben Sie, wann sie kommen?«
»Wer?«
»Ihre Kontakte. Was sind das für Leute? Manager?«
»Als Erster ist mir ein Opernsänger eingefallen. Aber er kennt jeden in der Branche. Auch ein paar Bandmanager. Überlass das ruhig mir.«
»Fett.« Er grinst. »Wo ist eigentlich Ihr Mann?«
»Greg? Er ist unterwegs. Die Arbeit.«
»Er ist bestimmt ein guter Musiker.«
»Ach, weißt du, das ist ein Kapitel für sich. Mittlerweile kommt er kaum noch zum Spielen.«
»Heißt das, die ganzen Sachen werden nicht benutzt? Sie stehen hier nur rum?«
»Es gibt ja noch Kit. Aber sie ist jetzt an der Uni.«
»Ja, richtig, Kit. Sie war mit Theo in einer Klasse, bevor wir nach Paris gezogen sind.«
»Stimmt.«
Einen Moment lang schweigen wir, während er aufsteht, zum Verstärker geht und an den Knöpfen herumdreht. Dann wendet er sich um.
»Dann sind Sie ja ganz allein hier.«
Ich zögere, bevor ich antworte.
»Nur im Moment. Ich gehe nicht gern aus dem Haus. Auch wenn Greg mich oft bittet, ihn zu begleiten.«
»Krass«, sagt er. »Ich würde hier auch nicht weggehen wollen. Dieses Zimmer ist der Hammer.« Er geht zu den Fenstern hinüber. »Von hier aus kann man alles sehen. Besser als vom London Eye! Canary Wharf, Docklands. Die O2-Arena. Das ist so cool.«
Er sagt das, als hätte ich vielleicht noch nie selbst hinausgesehen. Als müsste er mir diese Dinge erst zeigen. Ich finde das reizend. Ich staple das Frühstücksgeschirr auf dem Tablett, und als er Gregs Plattensammlung durchsieht, will ich gehen.
»Sonia.« Bei der Tür bleibe ich stehen und drehe mich um. »Danke.« Wir lächeln uns an.
Ich gehe hinaus. Draußen starre ich kurz die Tür an, bevor ich mich entscheide. Dann ziehe ich sie zu, drehe den Schlüssel herum und gehe nach unten.