Aber der Arzt hatte die Situation nach wie
vor unter Kontrolle. Nachdem er sich mit dem Direktor der Anstalt
beraten und eine dringende Botschaft an seinen Freund, den
Gouverneur, geschickt hatte, sorgte er dafür, daß den Sträflingen
besondere Belohnungen in Form von Bargeld und Strafnachlaß für den
gefährlichen Dienst auf der Krankenstation gewährt wurden, und
bekam auf diese Weise eine ausreichende Zahl von Freiwilligen
zusammen. Er war jetzt zum Handeln entschlossen und ließ sich durch
nichts beirren. Neue Fälle entlockten ihm nur ein kurzes
Kopfnicken, und er schien keine Müdigkeit zu kennen, während er in
dem riesigen steinernen Haus der Trauer und des Elends von Bett zu
Bett eilte. Innerhalb einer Woche traten vierzig weitere Fälle auf,
und man mußte Pfleger aus der Stadt holen. Clarendon ging in dieser
Phase nur selten nach Hause, schlief oft auf einem Feldbett in den
Räumen des Anstaltsdirektors und opferte sich mit
charakteristischer Hingabe im Dienst an der Medizin und der
Menschheit auf.
Dann kamen die ersten Anzeichen des Sturms
auf, der schon bald über San Francisco hinwegfegen sollte.
Neuigkeiten sprechen sich herum, und die Nachricht von der
Bedrohung durch das Dum-Dum-Fieber verbreitete sich durch die Stadt
wie ein Nebel von der Bucht. Reporter, denen es einzig und allein
um Sensationen ging, ließen ihrer Phantasie freien Lauf und waren
selig, als sie endlich im
Mexikanerviertel einen Fall aufstöberten, den
ein praktischer Arzt dem vielleicht am Geld mehr lag als an der
Wahrheit oder dem Wohl der Bevölkerung als Dum-DumFieber
diagnostizierte.
Das war der Tropfen, der das Faß zum
Überlaufen brachte. Der Gedanke, daß ganz in ihrer Nähe der Tod in
Gestalt einer heimtückischen Seuche lauern könnte, trieb die
Menschen von San Francisco in eine Massenhysterie, und es begann
jener historische Exodus, von dem bald schon das ganze Land
erfahren sollte. Fähren und Ruderboote, Ausflugsdampfer und
Lastkähne, Eisenbahnzüge und Cable Cars, Fahrräder und Kutschen,
Möbelwagen und Handkarren alle verfügbaren Verkehrsmittel mußten
herhalten. Sausalito und Tamalpais entvölkerten sich wegen der Nähe
zu St. Quentin ebenfalls, während in Oakland, Berkeley und Alameda
die Mieten ins Unermeßliche stiegen. Zeltstädte wuchsen aus dem
Boden, und improvisierte Dörfer säumten die verstopften, nach Süden
führenden Hauptstraßen von Millbrae nach San Jose. Viele
versuchten, bei Freunden in Sacramento unterzukommen, während
diejenigen, die aus verschiedenen Gründen gezwungen waren, in der
Stadt zu bleiben, vor Angst wie gelähmt waren und kaum mehr tun
konnten, als die wichtigsten Funktionen der nahezu ausgestorbenen
Stadt notdürftig aufrechtzuerhalten.
Das Geschäftsleben abgesehen von Quacksalbern
mit »Allheilmitteln« und »vorbeugenden Medikamenten« kam fast
völlig zum Erliegen. Die Saloons boten zunächst »medizinische
Getränke« an, stellten aber bald fest, daß die Bevölkerung sich
lieber von Scharlatanen übers Ohr hauen ließ, die sich
professioneller gebärdeten. Auf den merkwürdig stillen Straßen
sahen die Menschen einander ins Gesicht, um mögliche Anzeichen der
Seuche zu entdecken, und die Ladeninhaber ließen kaum noch jemanden
herein, weil ihnen jeder Kunde als eine neue Bedrohung erschien.
Die Rechtspflege brach zusammen, als Richter und Anwälte der Reihe
nach der Versuchung erlagen, sich der Massenflucht anzuschließen.
Selbst die Ärzte verließen in großer Zahl die Stadt, und viele
gaben als Entschuldigung an, sie müßten unbedingt in den Bergen und
an den Seen im nördlichen Teil des Staates Urlaub machen. Schulen
und Colleges, Theater und Cafes, Restaurants und Saloons wurden
geschlossen, und schon nach einer Woche war San Francisco eine
Stadt, in der es nur noch stundenweise Strom und Wasser gab, die
Zeitungen nur noch als Notausgaben erschienen und Pferdebahnen und
Cable Cars die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel waren, die noch
ab und zu fuhren. Das war der Tiefpunkt. Er konnte nicht lange
dauern, denn Mut und
Beobachtungsgabe waren den Menschen nicht
vollständig abhanden gekommen; die Tatsache, daß es außerhalb von
St. Quentin keine Dum-Dum-Fieber-Epidemie größeren Ausmaßes gab,
war zu offensichtlich, als daß man sie auf die Dauer hätte leugnen
können, obwohl es mehrere akute Fälle gab und sich in den
Zeltkolonien vor der Stadt infolge der katastrophalen sanitären
Verhältnisse der Typhus ausbreitete. Die Stadtväter und die
Redakteure der Zeitungen berieten sich und wurden aktiv; sie
bedienten sich derselben Reporter, die so viel zur Entstehung der
Panik beigetragen hatten, nun aber ihre Sensationslüsternheit in
den Dienst der guten Sache stellten. Es erschienen Leitartikel und
fiktive Interviews, in denen versichert wurde, Dr. Clarendon habe
die Krankheit vollständig unter Kontrolle, und es sei absolut
unmöglich, daß sie sich über die Mauern der Haftanstalt hinaus
ausbreite. Durch ständige Wiederholung taten diese Berichte
schließlich ihre Wirkung, und nachdem zuerst einige wenige die
Rückkehr in die Stadt wagten, wurde schon bald ein breiter Strom
daraus. Eines der ersten Symptome für die Normalisierung war der
Beginn einer in den Zeitungen ausgetragenen Kontroverse, in der die
jeweiligen Autoren die Schuld an der Panik den Gruppen oder
Personen anlasteten, die ihrer Meinung nach dafür verantwortlich
waren. Die zurückkehrenden Ärzte richteten Angriffe gegen
Clarendon, versicherten der Öffentlichkeit, daß sie genauso in der
Lage wären, das Fieber im Zaum zu halten, und warfen dem
Anstaltsarzt vor, er habe nicht genug getan, um der Ausbreitung der
Seuche in St. Quentin Einhalt zu gebieten. Clarendon habe, so
behaupteten sie, viel mehr Todesfälle in Kauf genommen, als
unvermeidlich gewesen wäre. Jeder Anfänger wisse, wie man
Ansteckung bei fiebrigen Krankheiten verhindern könne, und falls
dieser berühmte Gelehrte das nicht wisse, so offensichtlich
deshalb, weil er aus wissenschaftlichem Ehrgeiz darauf aus sei, die
Krankheit im fortgeschrittenen Stadium zu studieren, anstatt die
gebotenen Maßnahmen einzuleiten, um die Opfer zu retten. Dieses
Verhalten, so ließen sie durchblicken, mochte vielleicht bei
überführten Mördern in einer Haftanstalt zu rechtfertigen sein,
sicherlich aber nicht in San Francisco, wo ein Menschenleben immer
noch als kostbar und unantastbar gelte. Diese und ähnliche
Argumente wurden immer wieder vorgebracht, und die Zeitungen
druckten alles bereitwillig ab, weil die Schärfe der Polemik, auf
die Dr. Clarendon ja sicherlich reagieren würde, dazu beitrug, daß
die Bevölkerung die Wirren der letzten Wochen vergaß und wieder
Zuversicht gewann.
Aber Clarendon meldete sich nicht zu Wort. Er
lächelte nur, und sein merkwürdiger Assistent Surama ließ noch
öfter als sonst sein dunkles, schildkrötenhaftes Glucksen hören.
Clarendon war jetzt wieder öfter zu Hause, so daß die Reporter
anfingen, das Tor in der großen Mauer zu belagern, die der Arzt um
sein Haus hatte ziehen lassen, anstatt dem Direktor von St. Quentin
auf die Nerven zu gehen. Allerdings erreichten sie hier auch nicht
viel, denn Surama stellte eine unüberwindliche Barriere zwischen
dem Arzt und der Außenwelt dar, selbst wenn es den Reportern einmal
gelang, bis aufs Grundstück vorzudringen. Die Zeitungsleute, die
ins Haus gelassen wurden, bekamen gelegentlich auch Clarendons
absonderliche Dienerschaft zu sehen und beeilten sich, Surama und
die abgehärmten Tibeter ausführlich zu beschreiben. Natürlich
überboten sie sich gegenseitig mit Übertreibungen, und diese
Publizität schadete dem Ansehen des großen Arztes beträchtlich. Die
meisten Menschen hassen ja alles Ausgefallene, und Hunderte, die
Clarendon Herzlosigkeit oder Unfähigkeit zu verzeihen bereit
gewesen wären, verurteilten ihn wegen des grotesken Geschmacks, den
er ihrer Meinung nach dadurch bewies, daß er sich mit dem
rätselhaften Surama und den acht schwarzgekleideten Orientalen
umgab.
Anfang Januar stieg ein besonders
hartnäckiger junger Reporter des Observerüber die acht Fuß hohe,
mit einem Graben versehene Ziegelmauer an der Rückseite des
Clarendon-Grundstücks und besah sich die verschiedenen
Baulichkeiten und sonstigen Anlagen, die vom vorderen Tor aus
gesehen hinter Bäumen verborgen waren. Mit flinken Augen und wachem
Geist nahm der junge Mann alles in sich auf das Rosenspalier, die
Volieren, die Tierkäfige, in denen alle möglichen Säugetiere, von
Affen bis zu Meerschweinchen, zu sehen und zu hören waren, das
stabile, hölzerne Laborgebäude mit seinen vergitterten Fenstern in
der Nordwestecke des Gartens — und ließ seine forschenden Blicke
über das ganze große Grundstück innerhalb der Mauern schweifen. Er
hatte genug gesehen, um einen großartigen Artikel zu schreiben, und
wäre ungeschoren davongekommen, hätte nicht Dick zu bellen
angefangen, Georginas riesiger Bernhardiner. Surama reagierte
sofort, hatte den jungen Mann beim Kragen, bevor dieser auch nur
ein Wort hervorbrachte, schüttelte ihn, wie ein Terrier eine Ratte
schüttelt, und schleifte ihn durch die Bäume in Richtung auf das
Gartentor.
Atemlose Erklärungen und mit zitternder
Stimme vorgebrachte Forderungen, zu Dr. Clarendon gebracht zu
werden, fruchteten nichts. Surama gluckste nur und zerrte sein
Opfer weiter. Der adrette Journalist bekam es nun ernstlich mit der
Angst zu tun und wünschte sich sehnlichst, diese gespenstische
Kreatur möchte etwas sagen, und sei es nur, um zu beweisen, daß sie
wirklich ein Wesen von Fleisch und Blut war und auf diesen Planeten
gehörte. Ihm wurde schrecklich übel, und er vermied es, die Augen
anzuschauen, die auf dem Grund dieser großen schwarzen Höhlen
liegen mußten. Bald darauf hörte er, wie das Gartentor geöffnet
wurde, und erhielt einen gewaltigen Stoß; im nächsten Moment
landete er im schlammigen Wasser des Grabens, den Clarendon längs
der ganzen Mauer um sein Grundstück hatte ziehen lassen. Angst
verwandelte sich in Wut, als er hörte, wie das schwere
Tor
zugeschlagen wurde, und triefnaß rappelte er
sich auf und drohte mit erhobener Faust zu dem abweisenden Portal
hin. Als er sich dann zum Gehen wandte, vernahm er hinter sich ein
leises Quietschen, spürte, wie Suramas tiefliegenden Augen ihm
durch ein Türchen in der Pforte nachsahen, und hörte sein dunkles
Glucksen, das ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Der junge Mann, der, vielleicht nicht ganz zu
Unrecht, der Meinung war, mit unverdienter Grobheit behandelt
worden zu sein, beschloß, sich an dem Mann zu rächen, der dafür
verantwortlich war. Er schrieb ein fiktives Interview mit Dr.
Clarendon, das angeblich in dessen Labor stattgefunden hatte und in
dessen Verlauf er in allen Einzelheiten die Qualen von
Dum-Dum-Fieber-Patienten schilderte, die angeblich in einer Reihe
auf Couches gelegen hatten. Sein Meisterstück war ein Bild von
einem besonders schwer betroffenen Patienten, der nach Wasser
lechzte, während der Arzt ihm ein Glas der funkelnden Flüssigkeit
gerade außer Reichweite hinhielt, um, wie der Journalist schrieb,
die Auswirkungen solcher Entbehrung auf den Verlauf der Krankheit
wissenschaftlich zu untersuchen. Dieser Erfindung folgten ganze
Absätze, in denen der Verfasser sich so ehrerbietig über den Arzt
äußerte, daß das Gift seiner Worte besonders stark wirkte. Dr.
Clarendon sei, so hieß es in dem Artikel, zweifellos der größte und
hingebungsvollste Wissenschaftler der Welt, aber der Wissenschaft
gehe es nicht um das Wohl des einzelnen, und wohl niemand wünsche
sich, daß seine schwersten Leiden verlängert und verschlimmert
würden, nur damit ein Forscher Gewißheit über irgendeine abstrakte
Erkenntnis erlangen könne. Das Leben sei dafür zu kurz.
Im großen und ganzen war der Artikel von
diabolischer Raffiniertheit und dazu angetan, neun von zehn Lesern
gegen Dr. Clarendon und seine angeblichen rücksichtslosen Methoden
aufzubringen. Andere Zeitungen zögerten nicht, den Inhalt zu
kopieren und weiter auszuschmücken sowie eine Serie gefälschter
Interviews zu veröffentlichen, die einander in phantastischen
Verleumdungen zu überbieten suchten. In keinem Fall trat der Arzt
jedoch den Ungeheuerlichkeiten entgegen, die man ihm unterstellte.
Er hatte keine Zeit, sich mit Narren und Lügnern
auseinanderzusetzen, und scherte sich nicht
darum, was der gedankenlose Pöbel, den er verachtete, von ihm
hielt. Als James Dalton ihm in einem Telegramm sein Bedauern
aussprach und ihm Hilfe anbot, antwortete ihm Clarendon in geradezu
verletzender Kürze. Er kümmere sich nicht um das Kläffen der Köter
und habe keine Zeit, ihnen einen Maulkorb anzulegen. Und er sehe
auch keinen Anlaß zur Dankbarkeit gegenüber irgend jemandem, der
sich in eine derart abgeschmackte Angelegenheit einmische.
Schweigend und voller Verachtung widmete er sich weiter seinen
Pflichten.
Aber der junge Reporter hatte mit seinem
Artikel eine Lawine ausgelöst. San Francisco geriet abermals in
Hysterie, diesmal jedoch mehr aus Wut als aus Angst. Besonnenheit
war nicht mehr gefragt, und es kam zwar nicht zu einem neuen
Exodus, jedoch zu einer Herrschaft von Laster und
Rücksichtslosigkeit, die aus Verzweiflung geboren war und an
ähnliche Erscheinungen im Zusammenhang mit der Pest im Mittelalter
erinnerte. Haß richtete sich gegen den Mann, der die Krankheit
entdeckt hatte und bemüht war, sie einzudämmen, und in ihrem
besinnungslosen Rausch vergaß die Öffentlichkeit seine großen
Verdienste um die Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis und
fachte das Feuer des
Ressentiments immer nur weiter an. Man hatte
den Eindruck, daß die Menschen in ihrer Blindheit den Mann selbst
haßten und nicht die Seuche, die ihre von frischen Winden
durchwehte und normalerweise gesunde Stadt überfallen
hatte.
Der junge Reporter erlag der Versuchung, mit
dem neronischen Feuer zu spielen, das er selbst entfacht hatte, und
setzte dem Ganzen die Krone auf. Eingedenk der schimpflichen
Behandlung, die er von dem skeletthaften Diener des Arztes erduldet
hatte, schrieb er einen meisterhaften Artikel über das Haus und die
Umgebung von Dr. Clarendon unter besonderer Hervorhebung von
Surama, von dem er sagte, sein bloßer Anblick genüge schon, um auch
den Gesündesten fiebern zu lassen. Er bemühte sich, den hageren
Gluckser lächerlich und zugleich dämonisch erscheinen zu lassen,
wobei ihm letzteres offenbar besser gelang, denn ihn selbst erfaßte
jedesmal eine Welle des Abscheus, wenn er nur an die kurzen
Augenblicke dachte, da er dieser Kreatur nahe gewesen war. Er
sammelte alle Gerüchte, die über den Mann im Umlauf waren,
verbreitete sich über dessen angeblich übermenschliche
Gelehrsamkeit und deutete dunkel an, Dr.
Clarendon müsse den Mann in einer gottlosen Gegend des
geheimnisvollen, uralten Erdteils Afrika aufgestöbert
haben.
Georgina, die alle Berichte in den Zeitungen
aufmerksam verfolgte, litt sehr unter diesen Angriffen auf ihren
Bruder, doch James Dalton, der häufig zu Besuch kam, gab sich die
größte Mühe, sie zu trösten. In dieser Hinsicht war er warmherzig
und aufrichtig, denn er wollte nicht nur die Frau trösten, die er
liebte, sondern auch die Verehrung zum Ausdruck bringen, die er
immer für das nach den Sternen greifende Genie empfunden hatte, das
in seiner Jugend sein bester Freund gewesen war. Er sprach zu
Georgina davon, daß Größe stets von Neid begleitet sei, und zählte
ihr auf, wie viele überragende Köpfe schon von besinnungslosen
Massen in den Schmutz getreten worden seien. Die Angriffe, so
argumentierte er, seien der klarste Beweis für die Größe ihres
Bruders.
»Aber sie schaden ihm trotzdem«, erwiderte
sie. »Um so mehr, als ich weiß, daß Alf wirklich unter ihnen
leidet, so gleichgültig er sich auch geben mag.« Dalton küßte ihr
die Hand, eine Geste, die damals in besseren Kreisen noch nicht aus
der Mode gekommen war.
»Auch ich leide darunter, um so mehr, als ich
weiß, wie sehr du und Alf darunter leidet. Doch laß den Mut nicht
sinken, Georgie, wir werden das mit vereinten Kräften
durchstehen!«
So kam es, daß Georgina sich immer mehr auf
die Kraft des stahlharten,
unnachgiebigen Gouverneurs verließ, der ihre
Jugendliebe gewesen war, und sich ihm immer mehr mit ihren Ängsten
und Befürchtungen anvertraute. Die Angriffe in der Presse und die
Seuche waren nicht das einzige. Auch im Haus gab es Dinge, die ihr
gar nicht gefielen. Surama, der sich gegenüber Mensch und Tier
gleichermaßen grausam zeigte, flößte ihr unsäglichen Abscheu ein,
und sie wurde das Gefühl nicht los, daß er auf irgendeine
unerfindliche, heimtückische Art Alfred schaden wollte. Auch die
Tibeter konnte sie nicht leiden und fand es äußerst merkwürdig, daß
Surama sich mit ihnen verständigen konnte. Alfred wollte ihr nicht
sagen, wer oder was Surama war, hatte ihr aber einmal stockend
erklärt, er sei viel älter, als man es normalerweise für möglich
halten würde, und habe Geheimnisse ergründet und Dinge erlebt, die
ihn für jeden Wissenschaftler, der die Rätsel der Natur zu
ergründen suche, zu einem unschätzbaren Kollegen machten.
Ihre Unruhe bewog Dalton zu noch häufigeren
Besuchen bei den Clarendons, obwohl er merkte, daß Surama seine
Anwesenheit zutiefst mißbilligte. Der gespenstische Knochenmann
starrte ihn immer auf ganz eigentümliche Weise aus seinen
tiefliegenden Augenhöhlen an, wenn er ihn einließ, und begann oft,
wenn er nach dem Besuch das Gartentor hinter ihm schloß, auf eine
monotone Weise zu kichern oder zu glucksen, die Dalton schaudern
ließ. Dr. Clarendon interessierte sich unterdessen offenbar für
nichts außer seiner Arbeit in St. Quentin, wohin er jeden Tag mit
dem Boot fuhr, nur von Surama begleitet, der das Ruder bediente,
während der Arzt las oder seine Notizen ordnete. Dalton war diese
regelmäßige Abwesenheit des Hausherrn willkommen, gab sie ihm doch
Gelegenheit, erneut um Georginas Gunst zu werben. Wenn er länger
blieb und mit Alfred zusammentraf, begrüßte dieser ihn jedoch stets
freundlich. Für James und Georgina stand es nach einer gewissen
Zeit fest, daß sie sich verloben würden, und sie warteten nur eine
günstige Gelegenheit ab, um es Alfred mitzuteilen.Der Gouverneur,
der sich nie mit halben Sachen
zufriedengab und in seiner Treue nicht
erlahmte, scheute keine Mühe, um den Gerüchten über seinen alten
Freund entgegenzutreten. Presse und Öffentlichkeit bekamen diesen
Einfluß zu spüren, und es gelang ihm sogar, Wissenschaftler an der
Ostküste zu interessieren, von denen viele nach Kalifornien kamen,
um die Seuche und das Serum zu studieren, das Clarendon zur Abwehr
der fieberhaften Krankheit entwickelte. Diese Ärzte und Biologen
erhielten jedoch nicht die Auskünfte, die sie sich erhofften, so
daß mehrere von ihnen enttäuscht wieder heimfuhren. Nicht wenige
von ihnen schrieben feindselige Artikel gegen Clarendon, in denen
sie ihn einer unwissenschaftlichen und nur auf persönlichen Ruhm
bedachten Einstellung ziehen und andeuteten, er halte seine
Methoden geheim, weil er letzten Endes nur darauf aus sei, sich auf
höchst unkollegiale Weise persönlich zu bereichern. Andere kamen
glücklicherweise zu einem günstigeren Urteil und schrieben
begeistert über Clarendon und seine Arbeit. Sie hatten die
Patienten gesehen und konnten beurteilen, wie glänzend er die
gefürchtete Krankheit im Zaum hielt. Seine Zurückhaltung im
Hinblick auf das Gegengift hielten sie für durchaus gerechtfertigt,
weil eine voreilige Veröffentlichung womöglich mehr geschadet als
genutzt hätte. Clarendon selbst, den viele von ihnen schon von
früher her kannten, beeindruckte sie mehr denn je, und sie zögerten
nicht, ihn auf eine Stufe mit Jenner, Lister, Koch, Pasteur,
Metschnikoff und all den anderen zu stellen, die ihr Leben in den
Dienst der Pathologie und der Menschheit gestellt hatten. Dalton
hob Alfred alle Zeitschriftenartikel auf, in denen Positives über
ihn stand, und brachte sie oft persönlich vorbei, was ihm
gleichzeitig einen Vorwand lieferte, Georgina zu besuchen. Diese
Artikel entlockten Clarendon jedoch höchstens ein verächtliches
Lächeln, und im allgemeinen warf er sie Surama zu, dessen tiefes,
beunruhigendes Glucksen beim Lesen der ironisch-amüsierten Reaktion
des Arztes auffallend ähnelte.
An einem Montagabend Anfang Februar erschien
Dalton mit der festen Absicht, Clarendon um die Hand seiner
Schwester zu bitten. Georgina selbst empfing ihn am Gartentor, und
auf dem Weg zum Haus blieb er stehen, um den großen Hund zu
tätscheln, der angelaufen kam und ihm freundlich die Pfoten auf die
Brust legte. Es war Dick, Georginas geliebter Bernhardiner,und
Dalton war froh über die Zuneigung des Tiers, das ihr soviel
bedeutete.
Dick wedelte begeistert mit dem Schwanz und
drehte den Gouverneur halb herum, als er mit einem kurzen, leisen
Bellen von ihm abließ und durch die Bäume auf das Labor zulief. Er
verschwand jedoch nicht, sondern blieb gleich wieder stehen, sah
sich um und bellte erneut leise, als wollte er Dalton auffordern,
ihm zu folgen. Georgina, die Spaß daran hatte, sich den
spielerischen Launen ihres riesigen vierbeinigen Freundes zu fügen,
forderte James mit einer Kopfbewegung auf, ihr zu folgen, damit sie
nachsähen, was der Hund wollte. So gingen sie beide langsam hinter
ihm her, während er erleichtert in den hinteren Teil des Gartens
trottete, wo sich das Dach des Laborbaus als Silhouette vor dem
Sternhimmel über der hohen Ziegelmauer abhob.
An den Rändern der dunklen Gardinen vor den
Fenstern schimmerte Licht durch; Alfred und Surama waren also bei
der Arbeit. Plötzlich kam von drinnen ein leises, unterdrücktes
Geräusch wie der Schrei eines Kindes, ein klagender Ruf:
»Mama! Mama!« Dick bellte, und James und
Georgina zuckten erschrocken zusammen. Dann lächelte Georgina
jedoch, weil ihr die Papageien einfielen, die Clarendon immer für
Versuchszwekke hielt, und sie tätschelte Dick den Kopf, zum
Zeichen, daß sie ihm nicht böse war, weil er sie und Dalton
irregeführt hatte, oder um ihn darüber zu trösten, daß er sich
selbst hatte täuschen lassen.
Während sie langsam zum Haus zurückgingen,
erzählte Dalton ihr von seinem Entschluß, an diesem Abend mit
Alfred über ihre Verlobung zu sprechen, und Georgina erhob keine
Einwände. Sie wußte, ihr Bruder würde nicht eben begeistert sein,
seine treue Haushälterin und Gefährtin zu verlieren, glaubte
jedoch, er sei ihr so herzlich zugetan, daß er ihr kein Hindernis
in den Weg legen würde.
Später am Abend kam Clarendon mit federnden
Schritten und offenbar in besserer Laune als gewöhnlich ins Haus.
Dalton, der in dieser Stimmung ein gutes Omen erblickte, faßte noch
zusätzlich Mut, als der Arzt ihn mit einem kräftigen Händedruck und
der Frage begrüßte: »Na, Jimmy, was macht die Politik?« Er warf
einen Blick auf Georgina, die sich daraufhin entschuldigte, während
die beiden Männer sich hinsetzten und über alles mögliche zu reden
anfingen. Nach und nach, inmitten vieler Erinnerungen an die
gemeinsame Jugendzeit, arbeitete sich Dalton zu seinem Thema vor,
bis er sich schließlich ein Herz faßte und unumwunden seine Frage
stellte. »Alf, ich möchte Georgina heiraten. Haben wir deinen
Segen?« Dalton behielt seinen alten Freund genau im Auge und sah,
wie ein Schatten über sein Gesicht fiel. Die dunklen Augen blitzten
einen Augenblick auf und verhüllten sich dann wieder, und
gleichzeitig gab sich Clarendon Mühe, wieder ein gleichmütiges
Gesicht zu machen. Also war doch die Wissenschaft oder der Egoismus
am Werk.
»Du bittest um etwas Unmögliches. Georgina
ist nicht mehr dasselbe flatterhafte Geschöpf wie vor Jahren. Sie
hat jetzt eine Aufgabe im Dienste der Wahrheit und der Menschheit,
und ihr Platz ist hier. Sie hat sich entschieden, ihr Leben meiner
Arbeit zu widmen, dem Haushalt, der meine Arbeit ermöglicht, und
sie kann jetzt nicht einfach einer Laune folgen und mich im Stich
lassen.«
Dalton wartete ab, ob der Freund noch etwas
sagen würde. Derselbe alte Fanatismus Menschheit gegen Individuum
-, und der Arzt stellte ihn offenkundig über das Lebensglück seiner
Schwester! Nach einer Weile wagte er eine Entgegnung. »Aber hör
doch, Alf, willst du damit sagen, du brauchst Georgina so nötig für
deine Arbeit, daß du sie zur Sklavin und Märtyrerin machen mußt? Wo
bleibt dein Gefühl für die Proportionen, Mann! Wenn es um Surama
oder sonst jemanden ginge, der dir unmittelbar bei deinen Versuchen
hilft, würde ich es ja verstehen, aber Georgina ist ja letzten
Endes nur deine Haushälterin. Sie will meine Frau werden und sagt,
daß sie mich liebt. Hast du das Recht, sie zu hindern, ihr eigenes
Leben zu führen? Hast du das Recht …«
»Das reicht, James!« Clarendon war
kreidebleich geworden. »Ob ich das Recht habe, in meiner eigenen
Familie zu bestimmen, geht einen Außenseiter nichts an.«
»Außenseiter das kannst du zu einem sagen,
der …« Dalton schnürte sich die Kehle zusammen, als die stählerne
Stimme des Arztes ihn wieder unterbrach.
»Ein Außenseiter in meiner Familie, und von
heute an auch ein Außenseiter in meinem Haus. Dalton, deine
Anmaßung geht ein bißchen zu weit! Guten Abend, Gouverneur!«
Clarendon ging hastig aus dem Raum, ohne seinen Freund nocheines
Blickes zu würdigen.
Dalton zögerte noch unschlüssig, als Georgina
hereinkam. Es war ihr anzusehen, daß sie mit ihrem Bruder
gesprochen hatte, und Dalton nahm impulsiv ihre Hände. »Nun,
Georgie, was meinst du? Ich fürchte, du wirst dich zwischen Alf und
mir entscheiden müssen. Du weißt, was ich für dich empfinde du
weißt, was ich schon damals für dich empfand, als dein Vater gegen
mich war. Wie lautet diesmal deine Antwort?«
»James, Liebster«, erwiderte sie langsam.
»Glaubst du mir, daß ich dich liebe?« Er nickte und drückte ihr
erwartungsvoll die Hände.
»Wenn du mich auch liebst, dann wirst du noch
eine Zeitlang warten. Denk nicht mehr an Alfs Taktlosigkeit. Er
kann einem leid tun. Ich kann dir jetzt nicht alles sagen, aber du
weißt, wie beunruhigt ich bin über die Belastung durch seine
Arbeit, die Kritik und dieses glotzende, gackernde Monstrum Surama!
Ich habe Angst, er könnte zusammenbrechen ich kann besser
beurteilen als jemand, der nicht zur Familie gehört, wie sehr ihn
das alles mitnimmt. Ich sehe es, denn ich habe ihn mein Leben lang
beobachtet. Er verändert sich, beugt sich langsam unter seiner
schweren Bürde, und um es zu verbergen, gibt er sich besonders
schroff. Du verstehst mich doch, Liebster, nicht wahr?«
Sie hielt inne, und Dalton nickte erneut und
drückte eine ihrer Hände an seine Brust.
»Dann versprich mir bitte. Liebster, geduldig
zu sein«, schloß sie. »Ich muß ihm beistehen. Ich muß! Ich
muß!«
Dalton sagte eine Zeitlang nichts, senkte
jedoch den Kopf wie in ehrerbietiger
Verneigung. Diese hingebungsvolle Frau hatte
mehr von Christus als er es je bei einem Menschen für möglich
gehalten hätte; und angesichts solcher Liebe und Treue brachte er
es nicht übers Herz, sie zu drängen.
Die Worte der Trauer und des Abschieds waren
kurz, und James, dessen blaue Augen feucht waren, sah kaum den
hageren Alten, als ihm das Tor zur Straße geöffnet wurde. Doch als
es hinter ihm ins Schloß fiel, hörte er das grauenerregende
Glucksen, das er nun schon so gut kannte, und wußte, daß Surama da
war, Surama, den Georgina den bösen Geist ihres Bruders genannt
hatte. Während er sich mit festen Schritten entfernte,beschloß
Dalton, wachsam zu sein und beim ersten Anzeichen von Gefahr zu
handeln.
Während die Epidemie noch in aller Munde war,
schwelten in San Francisco die Ressentiments gegen Clarendon immer
weiter. Tatsächlich gab es außerhalb des Zuchthauses nur wenige
Fälle, und diese waren zum größten Teil auf die
mexikanische Unterschicht beschränkt, die
wegen der schlechten sanitären Verhältnisse für Krankheiten jeder
Art anfällig war, aber den Politikern und der Bevölkerung reichte
das schon, um die Angriffe von Clarendons Feinden für
gerechtfertigt zu halten. Da jedoch Dalton nach wie vor nichts auf
Clarendon kommen ließ, besannen sich die Unzufriedenen, die
medizinischen Dogmatiker und die Mitläufer auf die Gesetzgebung,
brachten sehr geschickt die Feinde Clarendons und die alten Gegner
des Gouverneurs unter einen Hut und bereiteten ein Gesetz vor,
demzufolge die Zuständigkeit für die Besetzung mittlerer und
unterer Positionen im Staatsdienst vom Gouverneur auf die
unmittelbar betroffenen Gremien übergehen sollte.
In dieser Angelegenheit entwickelte kein
Lobbyist größere Aktivität als Clarendons leitender Assistent Dr.
Jones, der von Anfang an auf seinen Vorgesetzten eifersüchtig
gewesen war und nun eine Möglichkeit sah, die Dinge in seinem Sinne
zu beeinflussen; er war seinem Schicksal dankbar dafür, daß er mit
dem Vorsitzenden des Anstaltsrats verwandt war, ein Umstand, dem er
auch seine jetzige Position verdankte. Falls das neue Gesetz
durchkam, würde man Clarendon zweifellos entlassen und ihn an seine
Stelle setzen; auf dieses Ziel arbeitete er nun mit aller Kraft
hin. Jones hatte alle Eigenschaften, die Clarendon fehlten -er war
ein geborener Politiker und ein Opportunist, wie er im Buche steht,
und stellte seinen eigenen Vorteil jederzeit über den Dienst an der
Wissenschaft. Er war unbemittelt und deshalb auf eine gut dotierte
Stellung aus, ganz im Gegensatz zu dem
wohlhabenden und finanziell unabhängigen
Gelehrten, den er verdrängen wollte. Mit rattenhafter Schläue und
Hartnäckigkeit arbeitete er daran, dem großen Biologen, der sein
Vorgesetzter war, das Wasser abzugraben, und wurde eines Tages mit
der Nachricht belohnt, das Gesetz sei verabschiedet worden. Von da
an war der Gouverneur nicht mehr für Ernennungen zuständig, und
über die medizinische Leitung von St. Quentin hatte nun der
Anstaltsrat zu bestimmen.
Clarendon hatte von all diesen Intrigen
nichts mitbekommen. Er, der ganz in seinen administrativen und
wissenschaftlichen Arbeiten aufging, war blind für den Verrat, den
»dieser Esel Jones« an ihm beging und taub für den Klatsch in
der
Gefängnisverwaltung. Er hatte noch nie in
seinem Leben Zeitung gelesen, und durch den Bruch mit Dalton hatte
er seine letzte Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Mit der
Naivität eines Einsiedlers hätte er sich nie träumen lassen, daß
seine Position gefährdet war. Angesichts von Daltons Loyalität und
seiner Bereitschaft, selbst schweres Unrecht zu verzeihen, wie er
sie dem alten Clarendon gegenüber bewies, der seinen Vater an der
Börse ruiniert hatte, war natürlich eine Entlassung durch den
Gouverneur ausgeschlossen, und der Arzt konnte sich in seiner
politischen Ahnungslosigkeit auch keinen plötzlichen Machtwechsel
vorstellen, der dazu geführt hätte, daß ein anderer über sein
Verbleiben im Amt hätte entscheiden können. Deshalb lächelte er
auch nur zufrieden, als Dalton nach Sacramento ging, überzeugt, daß
seine Stellung in St. Quentin ebenso sicher sei wie das Verbleiben
seiner Schwester in seinem Haushalt. Er war es gewöhnt zu bekommen,
was er wollte, und bildete sich ein, daß sein Glück ihm immer noch
treu sei.
In der ersten Märzwoche, ein oder zwei Tage
nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes, erschien der Vorsitzende
des Anstaltsrats in St. Quentin. Clarendon war nicht im Hause, aber
Dr. Jones schätzte sich glücklich, den prominenten Besucher -der
außerdem sein eigener Onkel war durch die große Krankenstation zu
führen, einschließlich der Isolierstation für die Fieberkranken,
die durch Presse und Panik so berühmt geworden war. Inzwischen
gegen seinen Willen zu Clarendons Glauben bekehrt, daß die
Krankheit nicht ansteckend sei, versicherte Jones seinem Onkel
lächelnd, er habe nichts zu fürchten und ermunterte ihn, sich die
Patienten genau anzusehen, vor allem einen zum Skelett abgemagerten
Kranken, der früher ein wahrer Kraftprotz gewesen war und, wie
Jones durchblicken ließ, langsam und unter Qualen sterbe, weil
Clarendon ihm nicht die richtige Medizin verabreiche.»Willst du
damit sagen«, rief der Vorsitzende, »daß Dr. Clarendon sich
weigert, dem Mann zu geben, was er braucht, obwohl er weiß, daß er
ihm damit das Leben retten könnte?«
»Genau das«, zischte Dr. Jones, verstummte
jedoch jäh, als kein anderer als Clarendon persönlich eintrat.
Clarendon begrüßte Jones mit einem kalten Nicken und musterte mit
unverhohlenem Mißfallen den Besucher, den er nicht kannte. »Dr.
Jones, ich dachte. Sie wüßten, das dieser Patient auf keinen Fall
gestört werden darf. Und habe ich nicht angeordnet, daß Besucher
nur mit meiner ausdrücklichen Erlaubnis eingelassen werden
dürfen?«
Aber der Vorsitzende mischte sich ein, bevor
sein Neffe ihn vorstellen konnte. »Entschuldigen Sie, Dr.
Clarendon, aber trifft es zu, daß Sie sich weigern, diesem Mann die
Medizin zu verabreichen, die ihn retten würde?«
Clarendon sah ihn mit eisigem Blick an und
antwortete ihm mit stahlharter Stimme.
»Das ist eine impertinente Frage, Sir. Ich
trage hier die Verantwortung, und Besuche sind nicht erlaubt. Bitte
verlassen Sie auf der Stelle den Raum.«
Der Vorsitzende, dem die Situation Spaß zu
machen begann, legte mehr Spott und Anmaßung in seine Antwort, als
nötig gewesen wäre.
»Sie irren sich, Sir! Ich, nicht Sie, habe
hier zu befehlen. Vor Ihnen steht der Vorsitzende des Anstaltsrats.
Ich muß Ihnen außerdem mitteilen, daß ich Ihre Tätigkeit als eine
Bedrohung für das Wohlergehen der Häftlinge betrachte und Sie zum
Rücktritt auffordern muß. Ab sofort wird Dr. Jones die medizinische
Leitung übernehmen, und falls Sie bis zu Ihrer formellen Entlassung
noch hierbleiben möchten, müssen Sie sich seinen Anordnungen
fügen.«
Das war Wilfred Jones’ großer Augenblick. Das
Leben bescherte ihm nie wieder einen solchen Höhepunkt, und wir
sollten es ihm nicht verargen, daß er diesen auskostete. Er war
schließlich kein schlechter Charakter, sondern nur ein
Durchschnittsmensch, und hatte das Gesetz der Durchschnittsmenschen
befolgt, um jeden Preis den eigenen Vorteil wahrzunehmen. Clarendon
stand wie vom Donner gerührt und sah den anderen an, als hielte er
ihn für verrückt, bis ihn dann der Ausdruck des
Triumphes auf Dr. Jones’ Gesicht überzeugte,
daß tatsächlich etwas passiert sein mußte. Er war von eisiger
Höflichkeit, als er antwortete.
»Ich bezweifle nicht, daß Sie der sind, als
der Sie sich ausgeben, Sir. Doch zum Glück kam meine Ernennung vom
Gouverneur des Staates und kann deshalb auch nur von ihm widerrufen
werden.«
Der Vorsitzende und sein Neffe starrten ihn
verblüfft an, denn solche Weltfremdheit hatten sie nicht für
möglich gehalten. Dann erfaßte der ältere Mann die Situation und
erklärte ausführlich die Zusammenhänge.
»Wenn sich herausgestellt hätte, daß die
laufenden Berichte Ihnen unrecht tun«, schloß er, »hätte ich die
Maßnahme noch hinausgeschoben. Aber der Fall dieses bedauernswerten
Mannes und Ihr arrogantes Auftreten lassen mir keine Wahl. Tatsache
ist nun mal …« Aber Dr. Clarendon unterbrach ihn mit schneidender
Stimme.
»Tatsache ist nun mal, daß ich hier der
Direktor bin, und ich muß Sie auffordern,
diesen Raum sofort zu verlassen.«
Der Vorsitzende wurde rot vor Wut und explodierte.
»Was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Ich
werde Sie hinauswerfen lassen. Unverschämtheit!«
Aber er konnte nur noch diesen Satz sagen.
Durch die Beleidigung jählings in ein Bündel Haß verwandelt, schlug
der schlanke Wissenschaftler mit beiden Fäusten in einem Ausbruch
übernatürlicher Kraft zu, deren ihn niemand für fähig gehalten
härte. Und ebenso übernatürlich wie seine Kraft war seine
Zielsicherheit, die nicht einmal ein Boxchampion hätte übertreffen
können. Beide Männer, der Vorsitzende und Dr. Jones, wurden voll
getroffen. Der eine mitten ins Gesicht, der andere auf die
Kinnspitze. Sie stürzten um wie gefällte Bäume und blieben
unbeweglich und bewußtlos liegen. Clarendon jedoch, wieder ganz
Herr seiner selbst, nahm Hut und Stock und ging hinaus auf sein
Boot, wo ihn Surama erwartete. Erst als er in dem fahrenden Boot
saß, gab er der furchtbaren Wut, die ihn verzehrte, hörbaren
Ausdruck. Mit verzerrtem Gesicht beschwor er Verwünschungen von den
Sternen und den Abgründen hinter den Sternen herab, so daß sogar
Surama schauderte, ein altes Zeichen machte, das in keinem
Geschichtsbuch enthalten ist, und sogar zu glucksen
vergaß.
Georgina suchte ihren gekränkten Bruder zu
besänftigen, so gut sie konnte. Er war geistig und physisch
erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich auf die Couch in der
Bibliothek geworfen. In diesem düsteren Zimmer hatte die treue
Schwester Stück für Stück die fast unglaubliche Neuigkeit erfahren.
Ihre Tröstungen waren spontan und zärtlich, und sie machte ihm
klar, welch einen gewaltigen, wenn auch unbeabsichtigten Tribut an
seine Größe die Angriffe, die Verfolgung und die Entlassung
darstellten. Er hatte versucht, die Angelegenheit mit dem Gleichmut
zu betrachten, den sie predigte, und es wäre ihm wohl auch
gelungen, wenn nur seine persönliche Würde im Spiel gewesen wäre.
Doch der Verlust seiner
Arbeitsmöglichkeiten als Wissenschaftler war
mehr, als er zu ertragen vermochte, und er seufzte immer wieder bei
dem Gedanken, daß er nur noch drei Monate im Gefängnis gebraucht
hätte, um endlich das langgesuchte Mittel zu finden, das den
endgültigen Sieg über alle fiebrigen Erkrankungen bedeutet
hätte.
Georgina versuchte dann, ihn auf andere Weise
aufzuheitern, und sagte ihm, der Anstaltsrat werde sicher wieder
nach ihm schicken, falls die Seuche nicht zurückging oder sogar mit
neuer Kraft ausbrach. Aber auch das fruchtete nichts, und Clarendon
antwortete ihr nur in bitteren, ironischen kleinen Sätzen, deren
Tonfall nur allzu klar werden ließ, wie abgrundtief verzweifelt er
war.
»Nachlassen? Wieder ausbrechen? Oh, es wird
schön nachlassen! Jedenfalls werden sie denken, es hätte
nachgelassen. Die glauben doch alles, egal, was passiert!
Ignoranten sehen nun mal nichts, und Pfuscher sind keine Entdecker.
Dieser Sorte zeigt die Wissenschaft nie ihr Gesicht. Und die nennen
sich Ärzte. Aber das beste ist doch, daß dieser Esel Jones jetzt
den Chef spielen will!« Er brach ab und lachte so dämonisch, daß
Georgina schauderte.
Es folgten wahrhaft trübe Tage im Haus der
Clarendons. Tiefe, durch nichts zu lindernde Niedergeschlagenheit
hatte den sonst so unermüdlichen Geist des Arztes erfaßt, und er
hätte sogar die Nahrung verweigert, wenn Georgina sie ihm nicht
aufgedrängt hätte. Sein großes Notizbuch mit den Ergebnissen
seiner
Untersuchungen lag ungeöffnet auf dem Tisch
in der Bibliothek, und seine kleine goldene Spritze mit
Anti-Fieber-Serum, ein von ihm selbst konstruiertes kleines Gerät
mit einem Reservoir an einem breiten goldenen Fingerring, das durch
einen einzigartigen Druckmechanismus betätigt wurde, lag unbeachtet
in einem kleinen Lederkästchen daneben. Energie, Ehrgeiz und das
Verlangen nach Forschung und Beobachtung schienen in ihm erstorben
zu sein, und er erkundigte sich nicht einmal nach seinem Labor, in
dem Hunderte von Bakterienkulturen in ihren säuberlich aufgereihten
Phiolen auf ihn warteten.
Die zahllosen Tiere, die er für seine
Versuche hielt, spielten, lebendig und wohlgenährt, in der
Frühlingssonne, und wenn Georgina durch das Rosenspalier zu den
Käfigen hinausging, empfand sie ein seltsam unpassendes
Glücksgefühl. Sie wußte freilich, wie unbeständig dieses Glück sein
würde, denn sobald ihr Bruder wieder arbeitete, würden alle diese
kleinen Lebewesen zu Märtyrern der
Wissenschaft gemacht werden. Sie sah deshalb
in der Untätigkeit ihres Bruders so etwas wie ein ausgleichendes
Moment und redete ihm zu, die Ruhe, die er so bitter nötig hatte,
noch eine Zeitlang zu genießen. Die acht tibetischen Diener gingen
lautlos umher und verrichteten ihre Arbeit so tadellos wie eh und
je. Georgina sorgte dafür, daß die Ordnung im Hause nicht unter dem
Nichtstun des Hausherrn zu leiden hatte.
Clarendon, der seinen Ehrgeiz und seine
Forschungen gegen Müßiggang in Pantoffeln und Hausmantel
eingetauscht hatte, ließ es sich gefallen, daß Georgina ihn wie ein
Kind behandelte. Er lächelte nur traurig, wenn sie ihn bemutterte,
und folgte ihr aufs Wort. Eine Atmosphäre heiterer, beinahe
glücklicher Gelassenheit durchzog das Haus, in die nur Surama eine
dissonante Note brachte. Er war offenbar
todunglücklich und hatte für Georginas
Heiterkeit oft nur mürrische, mißgünstige Blicke übrig. Die
vielfältigen Experimente im Labor waren seine einzige Freude
gewesen, und er litt darunter, daß er nun nicht mehr die zum Tode
verurteilten Tiere packen, sie in seinen Fängen ins Labor bringen
und mit heißen, brütenden Blicken und bösem Glucksen zusehen
konnte, wie sie nach und nach mit aufgerissenen, rotgeränderten
Augen und geschwollener Zunge im schaumbedeckten Maul ins Koma
fielen.
Der Anblick der sorglosen Kreaturen in ihren
Käfigen trieb ihn jetzt anscheinend zur Verzweiflung, und er kam
oft zu Clarendon, um ihn zu fragen, ob er irgendwelche Befehle
hätte. Wenn sich dann zeigte, daß der Arzt immer noch apathisch war
und nicht daran dachte, seine Arbeit fortzusetzen, entfernte er
sich leise fluchend und böse Blicke in alle Richtungen werfend und
schlich sich wie auf Katzenpfoten in seine Unterkunft im
Kellergeschoß, wo man ihn dann bisweilen einen Singsang in tiefen,
gedämpften Rhythmen anstimmen hörte, der auf blasphemische Weise
fremdartig war und unbehagliche Erinnerungen an allerlei gottlose
Riten weckte. Dies alles ging Georgina zwar auch auf die Nerven,
beunruhigte sie aber bei weitem nicht so wie die fortgesetzte
Untätigkeit ihres Bruders. Sie machte sich Sorgen, weil dieser
Zustand nun schon so lange dauerte, und büßte nach und nach die
Heiterkeit ein, die den Laborassistenten so aufgebracht hatte.
Selbst medizinisch gebildet, erschien ihr der Zustand ihres Bruders
aus neurologischer Sicht als höchst unbefriedigend, und der völlige
Mangel an Interesse und Aktivität beunruhigte sie nun genauso wie
früher sein fanatischer Eifer. Würde schleichende Melancholie aus
diesem hochintelligenten Menschen schließlich einen harmlosen
Schwachkopf machen?
Gegen Ende Mai trat dann eine
unvorhergesehene Änderung ein. Georgina erinnerte sich auch lange
danach noch an jede Einzelheit im Zusammenhang mit diesem Ereignis,
beispielsweise an so triviale Details wie das Paket, das Surama am
Tag zuvor aus Algier bekommen hatte und das einen höchst
unangenehmen Geruch verströmte, oder das schwere, plötzlich
aufziehende Gewitter, das, eine
ausgesprochene Seltenheit in Kalifornien, in
dieser Nacht losbrach, als Surama gerade mit dröhnender Bruststimme
lauter und intensiver als sonst seine rituellen Gesänge
anstimmte.
Es war ein schöner Tag gewesen, und sie hatte
im Garten Blumen für das Speisezimmer gepflückt. Als sie wieder ins
Haus kam, sah sie ihren Bruder vollständig angezogen in der
Bibliothek am Tisch sitzen und abwechselnd seine Notizen in seinem
dicken Laborjournal vergleichen und mit raschen, sicheren
Federstrichen neue Einträge machen. Er war
munter und vital, und seine
Bewegungen waren von erfreulicher
Geschmeidigkeit, wenn er ab und zu eine Seite umwandte oder nach
einem Buch griff. Erfreut und erleichtert, brachte Georgina rasch
ihre Blumen ins Eßzimmer und kehrte dann gleich zurück, doch als
sie in die Bibliothek kam, stellte sie fest, daß ihr Bruder nicht
mehr da war. Sie konnte sich natürlich denken, daß er im Labor
arbeitete, und war überglücklich, daß er offenbar seine alte
Tatkraft wiedergefunden hatte. Da sie wußte, daß es zwecklos
gewesen wäre, mit dem Mittagessen auf ihn zu warten, aß sie allein
und stellte ihm etwas warm, für den Fall, daß er irgendwann
zurückkäme. Aber er kam nicht. Er hatte viel nachzuholen und war
immer noch in dem großen, mit dicken Bohlen verkleideten Labor, als
sie einen Spaziergang durch das Rosenspalier machte.
Während sie zwischen den duftenden Blüten
dahinschritt, sah sie, wie Surama gerade wieder Versuchstiere aus
den Käfigen holte. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte ihn nicht
so oft gesehen, denn sie mußte jedesmal schaudern, doch gerade
dieses Grauen hatte ihre Augen und Ohren für alles geschärft, was
mit ihm zusammenhing. Er ging immer ohne Hut im Garten umher, und
die völlige Haarlosigkeit seines Kopfes ließ diesen noch mehr wie
einen Totenschädel erscheinen. Jetzt hörte sie ein leises Glucksen,
als er einen kleinen Affen aus seinem Käfig an der Wand nahm und
ins Labor trug, die langen, knochigen Finger so grausam in das Fell
des Tieres gekrallt, daß dieses in panischer Angst aufschrie. Der
Anblick war ihr zuwider, und sie machte auf der Stelle kehrt. Alles
in ihr lehnte sich gegen die Herrschaft auf, die diese Kreatur über
ihren Bruder erlangt hatte, und es kam ihr der bittere Gedanke in
den Sinn, daß die beiden ihre Rollen als Herr und Diener beinahe
vertauscht hatten.
Es wurde Nacht, ohne daß Clarendon ins Haus
zurückgekehrt wäre, und Georgina schloß daraus, daß er mit einem
seiner langwierigen Experimente beschäftigt war, bei denen ihm
stets jedes Zeitgefühl abhanden kam. Sie wollte nicht zu Bett
gehen, ohne vorher mit ihm über seine überraschende Genesung
gesprochen zu haben, doch dann sah sie ein, daß es keinen Zweck
hatte, auf ihn zu warten, schrieb ein paar fröhliche Worte auf
einen Zettel, den sie auf den Bibliothekstisch stellte, und ging zu
Bett. Sie war noch nicht ganz eingeschlafen, als sie die Haustür
aufund wieder zugehen hörte. Das Experiment dauerte also doch nicht
die ganze Nacht! Um dafür zu sorgen, daß ihr Bruder noch etwas aß,
bevor er zu Bett ging, stand sie auf, warf einen Morgenrock über
und ging zur Bibliothek hinunter, blieb jedoch vor der angelehnten
Tür stehen, als sie drinnen Stimmen hörte. Clarendon und Surama
sprachen miteinander, und sie wollte warten, bis der Laborassistent
ging. Surama machte jedoch keine Anstalten, sich aus dem Zimmer zu
entfernen; im Gegenteil, aus dem erhitzten Tonfall schloß sie, daß
es sich um eine wichtige Unterredung handelte, die wohl noch eine
Weile dauern würde. Obwohl sie die beiden nicht hatte belauschen
wollen, verstand Georgina hin und wieder einen Satz und meinte,
einen düsteren Sinn herauszuhören, der ihr Angst einjagte, obwohl
sie nicht genau verstand, worum es ging. Die nervöse, schneidende
Stimme ihres Bruders fesselte mit beunruhigender Hartnäckigkeit
ihre Aufmerksamkeit.
»Aber die Tiere«, sagte er gerade, »reichen
nicht mal mehr für einen Tag, und du
weißt doch, wie schwer es ist, kurzfristig
größere Mengen zu beschaffen. Ich finde, es ist Unsinn, so viel
Zeit mit minderwertigem Material zu verschwenden, wo man doch mit
etwas mehr Sorgfalt auch menschliche Exemplare bekommen könnte.«
Georgina wurde schwindlig bei dem Gedanken, was das bedeuten
konnte, und mußte sich an dem Regal im Flur festhalten. Surama
antwortete mit der tiefen, hohlen Stimme, in der alles Böse aus
tausend Epochen und von tausend Planeten mitzuschwingen
schien.
»Sachte, sachte — was für ein Kind du doch
bist in deiner Hast und Ungeduld. Alles mußt du überstürzen. Wenn
du einmal so lange gelebt hast wie ich, so daß dir ein ganzes
Menschenleben wie eine Stunde vorkommt, wird dir ein Tag oder eine
Woche oder ein Monat auch nicht mehr so wichtig sein! Du arbeitest
zu schnell. Du hast genug Exemplare für eine ganze Woche in den
Käfigen, wenn du dir die Arbeit vernünftig einteilst. Du könntest
sogar mit dem älteren Material anfangen, du dürftest es nur nicht
übertreiben.«
»Was heißt hier übertreiben«, kam wie aus der
Pistole geschossen die Antwort. »Ich habe eben meine eigenen
Methoden. Ich will unser eigenes Material nicht verwenden, wenn es
nicht unbedingt sein muß, denn sie sind mir lieber so, wie sie
sind. Außerhalb solltest du dich vor ihnen in acht nehmen du weißt
ja, was für Messer diese schlauen Teufel mit sich herumtragen.«
Suramas tiefes Glucksen war zu hören.
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Die Bestien
müssen ja auch mal essen, oder? Jedenfalls kann ich dir jederzeit
einen greifen, wenn du einen brauchst. Aber laß dir Zeit jetzt, wo
der Junge weg ist, sind es nur noch acht, und ohne St. Quentin wird
es schwierig werden, neue in größerer Zahl zu bekommen. Ich rate
dir, mit Tsanpo anzufangen. Er nützt dir am wenigsten, so wie er
ist, und…«
Doch das war alles, was Georgina hörte. Wie
gelähmt von einer schrecklichen Angst vor den Gedanken, die dieses
Gespräch in ihr wachrief, wäre sie beinahe an der Stelle, wo sie
stand, auf den Boden gesunken. Unter Aufbietung ihrer letzten Kraft
schleppte sie sich die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Was für ein
Spiel spielte Surama, dieses bösartige Ungeheuer? In was zog er
ihren Bruder hinein? Welche monströsen Tatsachen verbargen sich
hinter diesen kryptischen Äußerungen? Tausend Phantome der
Dunkelheit und Bedrohung tanzten vor ihren Augen, und ohne
Hoffnung, Schlaf finden zu können, warf sie sich aufs Bett. Ein
Gedanke ragte diabolisch aus allen anderen hervor, und sie schrie
beinahe laut auf, als er sich ihr mit aller Macht ins Gehirn
brannte. Zu guter Letzt war die Natur ihr doch gnädiger, als sie
befürchtet hatte. Eine tiefe Ohnmacht schloß ihr die Augen, und sie
wachte bis zum Morgen nicht mehr auf. Auch gesellte sich kein neuer
Alptraum zu dem, den das mitgehörte Gespräch ihr verursacht
hatte.
Die Morgensonne brachte eine Linderung der
Spannung. Was in der Nacht geschieht, wenn man müde ist, erreicht
das Bewußtsein oft in verzerrter Form, und Georgina sagte sich, daß
ihr Gehirn Teile einer normalen medizinischen Unterredung
merkwürdig eingefärbt haben mußte. Anzunehmen, daß ihr Bruder, der
einzige Sohn des sanftmütigen Frances Schuyier Clarendon, brutaler
Opferungen im Namen der Wissenschaft schuldig sein könnte, wäre
Verrat an ihrem eigenen Blut gewesen, und so beschloß sie, ihren
Bruder nicht auf diese Sache anzusprechen, um sich von ihm nicht
wegen ihrer überschäumenden Phantasie auslachen lassen zu müssen.
Als sie am Frühstückstisch erschien, stellte sie fest, daß Alfred
schon gegangen war, und bedauerte, nicht einmal an diesem zweiten
Morgen Gelegenheit zu finden, ihn zu seiner neu erwachten Tatkraft
zu beglückwünschen. So verzehrte sie schweigend ihr Frühstück, das
ihr die alte Margarita, die mexikanische Köchin, servierte, las die
Morgenzeitung und setzte sich dann mit einer Näharbeit ans
Wohnzimmerfenster, von wo aus sie den großen Garten überblicken
konnte. Draußen war alles ruhig, und sie sah, daß die letzten
Tierkäfige geleert worden waren. Der Wissenschaft war gedient, und
in der Kalkgrube lag alles, was von den einst so hübschen und
lebhaften kleinen Tieren übriggeblieben war. Dieses Gemetzel hatte
sie schon immer betrübt, aber sie hatte nie Einwände erhoben, da
sie wußte, daß alles zum Wohle der Menschheit geschah. Als
Schwester eines Wissenschaftlers, so sagte sie sich immer, war man
so etwas Ähnliches wie die Schwester eines Soldaten, der tötet, um
seine Landsleute vor ihren Feinden zu beschützen.
Nach dem Mittagessen nahm Georgina wieder
ihren Platz am Fenster ein, und sie hatte eine Zeitlang emsig
genäht, als ein Pistolenknall draußen im Garten sie erschrocken aus
dem Fenster sehen ließ. Nicht weit vom Labor sah sie die
gespenstische Gestalt Suramas mit einem Revolver in der Hand, und
sein
Totengesicht verzerrte sich zu einem
absonderlichen Ausdruck, während er höhnisch über eine kauernde
Gestalt in einem schwarzen Seidenanzug lachte, die ein langes,
tibetisches Messer in der Hand hielt. Es war der Diener Tsanpo, und
als sie sein verschrumpeltes Gesicht erkannte, mußte Georgina
wieder daran denken, was sie am Abend ungewollt mitangehört hatte.
Die blanke Messerklinge blitzte in der Sonne, und plötzlich
belferte Suramas Revolver erneut los. Das Messer fiel dem Mongolen
aus der Hand, und Surama glotzte gierig auf seine zitternde,
verängstigte Beute hinab. Im nächsten Augenblick sprang Tsanpo mit
einem raschen Blick auf seine unverletzte Hand und das
herabgefallene Messer auf und rannte wieselflink vor dem
herannahenden Laborassistenten davon aufs Haus zu. Surama war
jedoch noch schneller und erwischte ihn mit einem einzigen Satz und
packte ihn an der Schulter. Einen Moment lang wollte sich der
Tibeter zur Wehr setzen, aber Surama packte ihn wie ein Tier am
Genick, hob ihn hoch und trug ihn zum Labor. Georgina hörte, wie er
in sich hineinlachte und den Mann in seiner eigenen Sprache
verhöhnte, und sie sah das vor Angst verzerrte und zuckende Gesicht
des Opfers. Als sie jählings begriff, was sich da abspielte,
überwältigte sie unsagbares Grauen, und sie fiel zum zweitenmal
innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, war das Zimmer
vom goldenen Licht der Abendsonne durchflutet. Georgina hob die
herabgefallenen Nähsachen auf und legte sie in den Korb zurück.
Böse Zweifel quälten sie, aber schließlich kam sie doch zu der
Überzeugung, daß die Szene, die ihr das Bewußtsein geraubt hatte,
nur allzu real gewesen sein mußte. Ihre schlimmsten Befürchtungen
waren also grausige Wahrheit. Sie hatte nicht die leiseste
Vorstellung, wie sie sich verhalten sollte, und war insgeheim
dankbar, daß ihr Bruder nicht auftauchte. Sie mußte mit ihm
sprechen, aber nicht jetzt. Sie konnte jetzt mit niemandem
sprechen. Und als sie mit Schaudern an die monströsen Vorgänge
hinter den vergitterten Laborfenstern dachte, kroch sie ins Bett
und verbrachte eine lange, schlaflose, angsterfüllte
Nacht.
Als sie am nächsten Morgen übernächtigt
aufstand, sah Georgina den Arzt zum erstenmal seit seiner Genesung.
Er gab sich aufgeregter Geschäftigkeit hin, pendelte zwischen Haus
und Labor hin und her und interessierte sich für nichts außer
seiner Arbeit. Es bestand keine Aussicht, daß das gefürchtete
Gespräch zustande kommen würde, und Clarendon fiel nicht einmal die
Übermüdung und die betonte Zurückhaltung seiner Schwester
auf.
Am Abend hörte sie ihn in der Bibliothek
Selbstgespräche führen, was sie an ihm nicht kannte, und sie hatte
den Eindruck, daß er unter starkem seelischem Druck stand, der
leicht zu einem Rückfall in die Apathie führen konnte. Sie ging zu
ihm hinein und versuchte ihn zu beruhigen, ohne irgendein heikles
Thema anzuschneiden, und es gelang ihr, ihm eine Tasse Bouillon
aufzuschwatzen. Schließlich fragte sie ihn mitfühlend, was ihn denn
bedrücke, und wartete gespannt auf seine Antwort, denn sie hoffte
zu hören, Suramas Rücksichtslosigkeit gegenüber dem armen Tibeter
habe ihn entsetzt und empört. Es lag Gereiztheit in seiner Stimme,
als er ihr antwortete.
»Was mich bedrückt? Mein Gott, warum fragst
du nicht lieber, was mich
nichtbedrückt ? Sieh dir die Käfige an, da
hast du deine Antwort! Leer, ratzekahl ausgeräumt, kein einziges
Exemplar mehr übrig, und dabei habe ich eine ganze Reihe wichtiger
Bakterienkulturen angesetzt, die jetzt zu nichts mehr nütze sind!
Ganze Arbeitstage umsonst ein schwerer Rückschlag es ist zum
Verrücktwerden! Wie soll ich jemals mein Ziel erreichen, wenn ich
nicht einmal genug Versuchstiere habe?« Georgina streichelte ihm
die Stirn.
»Ich glaube, du solltest dich ein bißchen
ausruhen, mein Lieber.«Er wich vor ihr zurück.
»Ausruhen? Du machst mir Spaß! Was habe ich
denn anderes getan als mich auszuruhen und dahinzuvegetieren und
ins Leere zu starren, die letzten fünfzig oder hundert oder tausend
Jahre ? Gerade jetzt, wo ich drauf und dran bin, den Nebel zu
zerteilen, muß mir das Testmaterial ausgehen und du rätst mir, mich
wieder in blöde Benommenheit zurücksinken zu lassen! Mein Gott! Und
unterdessen arbeitet wahrscheinlich irgend so ein gewissenloser
Dieb mit meinen Daten und bereitet sich darauf vor, eher zu
publizieren als ich und den Ruhm für meine Arbeit einzuheimsen. Ich
werde um eine Nasenlänge verlieren irgendein Narr, der genügend
Testmaterial zur Verfügung hat, wird Sieger werden, obwohl ich,
wenn ich nur halbwegs angemessene Arbeitsbedingungen hätte, schon
in einer Woche mit fliegenden Fahnen durchs Ziel gehen
könnte!«
Er war immer lauter geworden, und in seiner
Stimme schwang ein Unterton nervöser Überreiztheit mit, der
Georgina gar nicht gefallen wollte. Sie antwortete ihm mit
besänftigenden Worten, jedoch nicht so, als gelte es, einen
Psychopathen zu beruhigen.
»Aber all diese Sorgen und Spannungen werden
dich noch umbringen, und wenn du tot bist, wer wird dann deine
Arbeit vollenden?«
Sein Gesicht verzog sich zu einem beinahe
verächtlichen Grinsen.
»Ich denke, eine Woche oder einen Monat —
mehr Zeit brauche ich jetzt nicht mehr — würden mich nicht
umbringen, und im übrigen spielt es überhaupt keine Rolle, was aus
mir oder irgendeinem anderen Individuum letztlich wird. Ich bin wie
die Affen und Vögel und Meerschweinchen, die ich benutze, nur ein
Rädchen im Getriebe, das dem Wohl des Ganzen dient. Sie mußten
getötet werden vielleicht werde auch ich getötet werden müssen na
wenn schon! Ist denn die Sache, der wir dienen, nicht dies und noch
mehr wert?«
Georgina seufzte. Einen Moment lang fragte
sie sich, ob dieses unaufhörliche Gemetzel wirklich einen Sinn
hatte.
»Aber du bist dir absolut sicher, daß deine
Entdeckung ein solcher Segen für die
Menschheit sein wird, daß diese Opfer gerechtfertigt
sind?
Clarendons Augen blitzten gefährlich auf.
»Die Menschheit! Was zum Teufel ist die Menschheit?
Tölpel!
Lauter Individuen! Die Menschheit ist was für
Pfaffen, für die sie eine Schar blind gläubiger Schäfchen
darstellt. Die Menschheit ist was für die ausbeuterischen Reichen,
die sich ihren Wert in klingender Münze ausrechnen können. Die
Menschheit ist was für den Politiker, für den sie einen kollektiven
Machtfaktor darstellt, den er für seine Zwecke benutzen kann. Was
ist die Menschheit? Nichts! Wir können Gott danken, daß wir über
diese lächerliche Illusion hinaus sind. Was ein erwachsener Mensch
verehrt, ist Wahrheit Wissen Wissenschaft Licht -das Zurückziehen
des Vorhangs und das Aufhellen der Schatten. Der Moloch Wissen! Es
ist Tod in unserem eigenen Ritual. Wir müssen töten, sezieren,
zerstören, und alles der Entdeckung zuliebe, der Hingabe an das
unsagbare Licht. Die Göttin
Wissenschaft verlangt es. Wir testen ein
unbekanntes Gift, indem wir töten. Wie sonst? Kein Gedanke an das
Selbst nur Wissen -wir müssen herausbekommen, welche Wirkung es
hat.« Er verstummte, offenbar erschöpft, und Georgina schauderte
leicht. »Aber das ist ja schrecklich, Alf! So kann man es doch
nicht sehen!«
Clarendon lachte sardonisch in sich hinein,
auf eine Art, die bei seiner Schwester abscheuliche Assoziationen
hervorrief.
»Schrecklich? Du meinst, was ichsage, ist
schrecklich? Da solltest du erst Surama hören! Ich sage dir, die
Priester von Atlantis hatten Kenntnis von Dingen, bei deren bloßer
Erwähnung du vor Angst sterben würdest. Ihr Wissen war das Wissen
einer Zeit vor hunderttausend Jahren, als unsere eigenen Vorfahren
noch als sprachlose Halbaffen in Asien herumschlurften! Und in der
Hoggar-Region gibt es heute noch Menschen, die etwas davon wissen.
Auch im entlegeneren Hochland von Tibet raunt man sich manches zu.
Und ich habe einmal erlebt, wie ein alter Chinese Yog-Sothoth
beschwor …«
Er wurde blaß und machte mit ausgestrecktem
Zeigefinger ein seltsames Zeichen in die Luft. Georgina war nun
ernstlich beunruhigt, atmete jedoch etwas auf, als er nicht mehr
ganz so phantastisch fortfuhr.
»Ja, vielleicht ist es schrecklich, aber es
ist auch wundervoll. Das Streben nach Wissen, meine ich.
Unordentliche Gefühle haben darin keinen Platz. Tötet die Natur
nicht auch, unablässig und unbarmherzig, und sind Narren nicht die
einzigen, die sich
über diesen Kampf auf Leben und Tod
entsetzen? Töten ist notwendig. Es ist die Apotheose der
Wissenschaft. Wir lernen etwas daraus, wenn wir töten, und wir
können die Sentimentalität nicht über das Lernen stellen. Hör dir
doch nur an, wie die Gefühlsduseligen gegen die Impfung wettern!
Sie fürchten, ihr Kind könnte daran sterben. Und wenn schon,
sollten wir uns dadurch abhalten lassen ? Wie können wir sonst die
Gesetze der betreffenden Krankheit entdecken? Als Schwester eines
Wissenschaftlers solltest du es wirklich besser wissen und nicht
Sentimentalität predigen. Du solltest mir bei meiner Arbeit helfen,
anstatt mich zu behindern!« »Aber AI«, verwahrte sich Georgina,
»ich habe nicht die leiseste Absicht, dich an deiner Arbeit zu
hindern. Habe ich mir nicht immer Mühe gegeben, dir nach Kräften zu
helfen? Gewiß, ich weiß zu wenig, um deine Mitarbeiterin zu sein,
aber immerhin bin ich stolz auf dich, stolz für mich selbst und
stolz für unsere Familie, und habe immer versucht, dir den Weg zu
ebnen. Du hast mir das oft selbst gesagt.« Clarendon sah ihr
unverwandt ins Gesicht.
»Ja!« sagte er brüsk, als er aufstand und aus
dem Zimmer ging. »Du hast schon recht. Du hast dich immer bemüht,
mir zu helfen, so gut du konntest. Vielleicht bekommst du eine
Gelegenheit, mir noch mehr zu helfen.«
Georgina, die ihn zur Haustür hinausgehen
sah, folgte ihm in den Garten. In einiger Entfernung stand eine
Laterne zwischen den Bäumen, und während sie darauf zugingen, sahen
sie Surama, der sich über ein längliches, auf der Erde liegendes
Objekt beugte. Clarendon gab nur ein undefinierbares Geräusch von
sich, aber als Georgina sah, was es war, rannte sie schreiend
darauf zu. Es war Dick, der große Bernhardiner, und er lag mit
geröteten Augen und heraushängender Zunge reglos da.
»Er ist krank, Alf!« rief sie. »Tu etwas,
schnell!«
Der Arzt sah Surama an, der etwas in einer
für Georgina unverständlichen Sprache gesagt hatte. »Bring ihn ins
Labor«, befahl er. »Ich fürchte, Dick ist von der Seuche
befallen.«
Surama packte den Hund, so wie er tags zuvor
den armen Tsanpo gepackt hatte, und trug ihn schweigend in das
Laborgebäude. Diesmal lachte er nicht, sondern warf einen Blick auf
Clarendon, aus dem wirkliche Angst sprach. Georgina hatte fast den
Eindruck, Surama wollte den Arzt bitten, das Tier zu
retten.
Clarendon machte jedoch keine Anstalten, ihm
zu folgen, sondern blieb noch einen Moment stehen und schlenderte
dann langsam zum Haus zurück. Empört über diese Gefühllosigkeit,
bestürmte Georgina ihn mit Bitten, doch vergeblich. Ohne ihrem
Flehen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, strebte er
geradewegs in die Bibliothek und begann in einem großen alten Buch
zu lesen, das mit der Titelseite nach unten auf dem Tisch gelegen
hatte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er sagte
nichts und schaute sie nicht einmal an. Er las einfach weiter, und
Georgina, die ihm neugierig über die Schulter sah, wunderte sich
über die seltsamen Schriftzeichen, die in diesem
messingbeschlagenen Wälzer standen.
Als Georgina eine Viertelstunde später allein
in dem dunklen Salon auf der anderen
Seite des Hausflurs saß, faßte sie ihren
Entschluß. Ungeheuerliches ging hier vor was es genau war und woher
es kam, wagte sie sich nicht auszudenken, und es war höchste Zeit,
daß sie jemanden um Hilfe rief, der stärker war als sie selbst.
Dafür kam natürlich nur James in Frage. Er war mächtig und tüchtig,
und seine Sympathie und Zuneigung würden ihm sagen, was zu tun war.
Er kannte AI seit frühester Jugend und würde ihn
verstehen.
Es war schon recht spät, aber Georgina war
zum Handeln entschlossen. Auf der anderen Seite des Flurs fiel
immer noch Licht aus der Bibliothek, und sie warf einen wehmütigen
Blick auf die Tür, als sie ihren Hut aufsetzte und lautlos aus dem
Haus ging. Bis zur Jackson Street war es nicht weit zu gehen, und
dort fand sie dank einem glücklichen Zufall gleich eine Kutsche,
die sie zum Telegraphenamt der Western Union brachte. Dort gab sie
ein sorgfältig formuliertes Telegramm an James Dalton in Sacramento
auf, in dem sie ihn bat, in einer für sie alle außerordentlich
wichtigen Angelegenheit sofort nach San Francisco zu
kommen.
Dalton war völlig überrascht von Georginas
Telegramm. Er hatte nichts mehr von den Clarendons gehört, seit
Alfred ihn an jenem stürmischen Februarabend aus dem Haus gewiesen
hatte, und er hatte wohlweislich darauf verzichtet, mit ihnen
Verbindung aufzunehmen, obwohl es ihn gedrängt hatte, seinem
einzigen Freund sein Bedauern über die fristlose Entlassung aus dem
Amt auszusprechen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, die politischen
Intrigen abzuwehren und die Zuständigkeit für die Ernennungen zu
behalten, hatte jedoch mit Erbitterung zusehen müssen, wie der Mann
abgesetzt wurde, der für ihn trotz seines befremdlichen Verhaltens
in jüngster Zeit nach wie vor das Idealbild des fähigen
Wissenschaftlers verkörperte. Was nun dieser offenbar in größter
Angst verfaßte Hilferuf zu bedeuten hatte, konnte er sich beim
besten Willen nicht vorstellen. Er wußte jedoch, daß Georgina nicht
so schnell den Kopf verlor und niemals wegen einer bloßen Lappalie
einen solchen Schritt unternommen hätte. Deshalb verlor er keine
Zeit, setzte sich in die nächste Postkutsche und ging in San
Francisco sofort in seinen Club, von wo aus er Georgina durch einen
Boten mitteilen ließ, er sei in der Stadt und stehe ihr zur
Verfügung.
Bei den Clarendons war unterdessen alles
friedlich gewesen, obwohl sich der Arzt nach wie vor kategorisch
weigerte, seiner Schwester über den Zustand des Hundes Auskunft zu
geben. Die Schatten des Unheils lagen über allem und wurden immer
dichter, doch im Augenblick war alles ruhig. Georgina war
erleichtert, als sie durch Daltons Nachricht erfuhr, daß er ganz in
der Nähe war, und antwortete ihm, sie werde ihn rufen lassen, falls
es erforderlich würde. Trotz der immer unerträglicher werdenden
Spannung meinte sie auch ein gewisses ausgleichendes Element
wahrzunehmen und kam nach längerem Überlegen zu dem Schluß, daß der
Grund dafür das Verschwinden der mageren Tibeter sei, deren
exotisches Wesen und verstohlenes Gehaben sie immer befremdet
hatten. Es war, als wären sie vom Erdbeben verschluckt worden, und
von der alten Margarita, der einzigen Bedienten, die noch im Haus
war, erfuhr sie, die Tibeter seien alle im Labor, um ihrem Herrn
und Surama zu helfen.
Der nächste Morgen es war der 18. Mai, ein
Tag, an den sie noch lange denken sollte war dunkel und verhangen,
und Georgina spürte, daß die trügerische Ruhe nicht mehr lange
währen würde. Ihren Bruder sah sie überhaupt nicht, aber sie konnte
sich denken, daß er trotz des Mangels an Versuchstieren, den er
beklagt hatte, im Labor konzentriert an etwas arbeitete. Sie fragte
sich, wie es dem armen Tsanpo gehen mochte und ob er tatsächlich
irgendeiner gefährlichen Impfung unterzogen worden war, aber es sei
nicht verschwiegen, daß sie sich um Dick größere Sorgen machte. Vor
allem die Frage quälte sie, ob Surama trotz der empörenden
Gleichgültigkeit seines Herrn irgend etwas für ihren treuen Hund
getan hatte. Suramas offenkundige Besorgnis in der Nacht, als Dick
den Anfall bekam, hatte ihr großen Eindruck gemacht; zum erstenmal
hatte sie dabei freundlichere Gefühle für den verabscheuten
Laborassistenten empfunden. Im Laufe des Tages mußte sie immer
öfter an Dick denken, bis sich in ihrer Vorstellung das ganze
Grauen, das über dem Haus lag, symbolisch in diesem einen Detail
konzentrierte und ihre überreizten Nerven die Spannung nicht mehr
ertrugen.
Sie hatte bis dahin stets Alfreds
gebieterischen Wunsch respektiert, ihn unter keinen Umständen zu
stören, wenn er im Labor arbeitete, doch an diesem schicksalhaften
Nachmittag reifte in ihr ganz allmählich der Vorsatz, gegen das
Verbot zu verstoßen. Schließlich faßte sie sich ein Herz,
durchquerte mit festem Schritt den Garten und betrat den
unverschlossenen Vorraum des Laborgebäudes mit der festen Absicht,
sich Gewißheit über den Zustand des Hundes zu verschaffen oder
hinter den Grund für das Schweigen ihres Bruders zu
kommen.
Die innere Tür war wie gewöhnlich
abgeschlossen, und drinnen hörte sie Stimmen in erhitztem Gespräch.
Als ihr Klopfen nichts nützte, rüttelte sie so laut wie möglich am
Türknauf, doch die lautstarke Auseinandersetzung ging weiter. Die
Stimmen waren natürlich die von Sumara und ihrem Bruder, und
während sie so draußen vor der Tür stand und sich bemerkbar zu
machen versuchte, hörte sie unwillkürlich einiges von dem, was
gesprochen wurde. Das Schicksal hatte sie erneut zum unfreiwilligen
Lauscher gemacht, und wieder wurden ihre Seelenruhe und ihre
Nervenkraft von dem, was sie hörte, bis an die äußersten Grenzen
beansprucht. Alfred und Surama gerieten offenbar in einen immer
heftigeren Streit, dessen Inhalt dazu angetan war, Georginas
schlimmste Befürchtungen zu bestätigen. Sie schauderte, während die
Stimme ihres Bruders schrill in bedenkliche Höhen fanatischer
Intensität aufstieg. »Ach was, geh zum Teufel ausgerechnet du
willst mir Mäßigung predigen! Wer hat denn mit alledem angefangen?
Hatte icheine Ahnung von deinen fluchwürdigen Teufelsgottheiten und
deiner Alten Welt? Habe ich mir jemals etwas träumen lassen von
deinen verfluchten Räumen jenseits der Sterne und dem wimmelnden
Chaos Nyarlathotep ? Ich war ein ganz normaler Mann der
Wissenschaft, verdammt noch mal, bis ich die Torheit besaß, dich
mitsamt deinen teuflischen Atlantischen Geheimnissen aus deinen
Gewölben zu holen. Du hast mich ständig vorangetrieben, und jetzt
willst du mich im Stich lassen! Du lungerst untätig herum und sagst
mir, ich solle mir Zeit lassen, anstatt hinauszugehen und Material
zu besorgen. Du weißt verdammt gut, daß ich mich in diesen Dingen
nicht auskenne, während du darin schon Meister gewesen sein mußt,
bevor die Erde erschaffen wurde. Das sieht dir
ähnlich, du widerlicher wandelnder Leichnam,
etwas anzufangen, was du nicht
beenden kannst oder willst!«
Suramas bösartiges Glucksen war zu hören.
»Du bist wahnsinnig, Clarendon. Das ist der
einzige Grund, warum ich dich weitermachen lasse, obwohl ich dich
innerhalb von drei Minuten zur Hölle schicken könnte. Aber
irgendwann muß Schluß sein, und du hast wahrhaftig genug Material
für einen Novizen auf deiner Stufe bekommen. Auf alle Fälle werde
ich dir keines mehr besorgen! Du bist nur noch von dem einen Ziel
besessen wie unwürdig, wie verrückt, sogar den Hund deiner armen
Schwester zu opfern, obwohl du ihn genausogut hättest verschonen
können! Du kannst kein Lebewesen mehr ansehen, ohne dir zu
wünschen, ihm diese goldene Spritze hineinzustoßen. Nein Dick mußte
denselben Weg gehen wie der Mexikanerjunge, wie Tsampo und die
anderen sieben, wie all die Tiere! Du bist mir ein schöner Schüler!
Ich hab’ keine Freude mehr an dir, du hast die Nerven verloren. Du
hast dir vorgenommen, die Dinge zu beherrschen, und jetzt
beherrschen sie dich. Ich bin so gut wie fertig mit dir, Clarendon.
Ich dachte, du hättest das Zeug in dir, aber das ist nicht der
Fall. Es ist Zeit, daß ich es mit einem anderen probiere. Es tut
mir leid, aber ich werde gehen müssen!«
Angst und Wut sprachen aus der Erwiderung des
Arztes, die er fast hinausschrie.
»Nimm dich in acht, du! Es gibt Mächte gegen
deine Mächte -ich war nicht umsonst in China, und es gibt Dinge in
Alhazreds Azif,die in Atlantis unbekannt waren! Wir haben uns beide
in gefährliche Dinge eingelassen, aber glaub ja nicht, daß du alle
meine Möglichkeiten kennst. Was würdest du zum Beispiel zur Nemesis
der Flamme sagen? Ich habe im Jemen mit einem alten Mann
gesprochen, der lebend aus der Karminwüste zurückgekommen war er
hatte Irem gesehen, die Stadt der Säulen, und an den unterirdischen
Schreinen von Nug und Yeb gebetet lä! SchabNiggurath!«
Das dunkle Glucksen des Laborassistenten
unterbrach Claren-dons kreischende Falsettstimme.
»Schweig, du Narr! Du glaubst doch nicht, mit
deinem absurden Unsinn bei mir etwas ausrichten zu können ? Worte
und Formeln Worte und Formeln, was sollten die einem bedeuten, der
im Besitz der Substanz ist, die hinter ihnen steht? Wir sind jetzt
in einer materiellen Sphäre und den Gesetzen der Materie
unterworfen. Du hast dein Fieber, ich meinen Revolver. Du bekommst
keine Versuchsobjekte mehr, und ich bekomme kein Fieber, solange
ich dich hier vor mir habe und der Revolver zwischen uns
ist!«
Mehr hörte Georgina nicht. Ihr drehte sich
der Kopf, und sie wankte hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Sie
wußte, daß nun die Krise gekommen war und daß schnelle Hilfe nötig
war, wenn ihr Bruder noch aus den unbekannten Abgründen des
Wahnsinns und des Mysteriums gerettet werden sollte. Unter
Aufbietung ihrer letzten Kräfte gelang es ihr, sich bis ins Haus
und in die Bibliothek zu schleppen, wo sie hastig eine Nachricht
hinkritzelte, die Margarita James Dalton bringen sollte. Als die
alte Frau gegangen war, erreichte Georgina nur noch das Sofa im
Salon, wo sie halb ohnmächtig niedersank. Don blieb sie scheinbar
eine Ewigkeit liegen, nur undeutlich wahrnehmend, wie das Zwielicht
phantastisch aus den unteren Ecken des großen, bedrückenden Raumes
in die Höhe kroch, und geplagt von tausend schattenhaften
Schreckensgestalten, die in phantasmagorischer Prozession durch ihr
gemartertes, benommenes Hirn zogen. Die Dämmerung verdichtete sich
zu Dunkelheit, und der Bann war noch immer nicht gebrochen. Dann
ertönten feste Schritte im Hausflur, und sie hörte jemanden ins
Zimmer kommen und mit der Zündholzschachtel hantieren. Das Herz
blieb ihr beinahe stehen, als die Gasflammen des Kronleuchters eine
nach der anderen aufflammten, doch dann sah sie, daß der Ankömmling
ihr Bruder war. Im tiefsten Herzen erleichtert, daß er noch am
Leben war, seufzte sie tief, lange und zitternd auf und sank
endlich in barmherzige Bewußtlosigkeit.
Clarendon, der diesen Seufzer gehört hatte,
fuhr herum underschrak zutiefst, als er die reglose Gestalt seiner
Schwester auf dem Sofa liegen sah. Ihr Gesicht war von einer
Totenblässe, die ihn entsetzte, und er kniete an ihrer Seite
nieder, nur von dem einen Gedanken durchdrungen, was ihr
Hinscheiden für ihn bedeuten würde. Da er wegen seiner
unermüdlichen Wahrheitssuche schon lange nicht mehr als Hausarzt
praktiziert hatte, waren ihm die einfachsten Grundregeln der Ersten
Hilfe entfallen, und es fiel ihm nichts Besseres ein, als ihren
Namen zu rufen und mechanisch ihre Handgelenke zu reiben. Dann
dachte er an Wasser und lief ins Eßzimmer, um die Karaffe zu holen.
Er tappte in dem dunklen Zimmer herum und brauchte eine Weile, bis
er fand, was er suchte, doch dann ergriff er mit zitternder Hand
die Karaffe und hastete zurück, um Georgina das kalte Naß ins
Gesicht zu schütten. Die rauhe Methode verfehlte ihre Wirkung
nicht. Georgina regte sich, seufzte zum zweitenmal und schlug
schließlich die Augen auf.
»Du lebst!« rief er und legte ihre Wange an
seine, während sie ihm mütterlich übers Haar strich. Sie war
beinahe froh, daß sie in Ohnmacht gefallen war, denn dieser Umstand
hatte offenbar den sonderbaren Alfred vertrieben und ihr ihren
eigenen Bruder wiedergegeben. Sie setzte sich langsam auf und
versuchte, ihn zu beruhigen.
»Mir geht es gut, AI. Wenn du mir nur ein
Glas Wasser geben könntest. Es ist eine Sünde, es auf diese Weise
zu verschwenden, ganz zu schweigen davon, daß dadurch mein Mieder
ruiniert wird! Wer wird denn gleich den Kopf verlieren, bloß weil
seine Schwester einmal ein Nickerchen macht? Du solltest nicht
glauben, ich sei krank, denn für solchen Unsinn habe ich doch gar
keine Zeit!«
Alfreds Augen sagten ihr, daß ihre gefaßten,
vernünftigen Worte ihre Wirkung taten. Seine brüderliche Besorgnis
zerstreute sich augenblicklich, und an ihrer Stelle trat ein
unbestimmter, berechnender Ausdruck auf sein Gesicht, als ob ihm
plötzlich eine hervorragende Idee gekommen sei. Sein Blick war
abwechselnd verschlagen und prüfend, und sie war sich immer weniger
sicher, ob ihre Art, ihn zu beruhigen, klug gewesen war, und
merkte, noch bevor er etwas sagte, daß sie über etwas
Undefinierbares schauderte. Der Instinkt sagte ihr, daß der Moment
seiner Verstandesklarheit vorüber war und daß sie jetzt wieder den
rücksichtslosen, fanatischen Wissenschaftler vor sich hatte. Es war
etwas Makabres an der Art, wie er bei ihrer beiläufigen Erwähnung
ihrer unverwüstlichen Gesundheit die Augen verengt hatte. Woran
dachte er? Auf welche unnatürliche Spitze würde er seine
leidenschaftliche Experimentierfreudigkeit noch treiben? Worin lag
die besondere Bedeutung ihres reinen Blutes und ihres absolut
makellosen organischen Zustands? Keine dieser bösen Ahnungen
beunruhigte sie jedoch länger als eine Sekunde, und sie verhielt
sich ganz natürlich und arglos, als sie den festen Griff ihres
Bruders an ihrem Puls spürte.
»Du fieberst ein bißchen, Georgie«, sagte er
mit klarer, betont sachlicher Stimme und sah ihr prüfend in die
Augen.
»Ach was, Unsinn, mir fehlt nichts«,
erwiderte sie. »Man könnte meinen, du seist auf der Suche nach
Fieberpatienten, nur um deine Entdeckung demonstrieren zu können.
Es hätte natürlich durchaus einen gewissen poetischen Reiz, wenn du
den letzten Beweis für die Wirksamkeit deines Mittels dadurch
erbringen könntest, daß du deine eigene Schwester
heilst!«
Clarendon zuckte schuldbewußt zusammen. Hatte
sie seinen Wunsch geahnt? Hatte er laut gedacht? Er musterte sie
und stellte fest, daß sie keinen Schimmer von der Wahrheit hatte.
Sie lächelte lieb zu ihm auf und tätschelte ihm den Kopf, während
er vor dem Sofa stand. Dann zog er ein längliches Lederfutteral aus
seiner
Westentasche und nahm eine kleine goldene
Spritze heraus. Er drehte das Instrument nachdenklich zwischen den
Fingern und schob mehrmals den Kolben in dem leeren Zylinder hin
und her.
»Ich frage mich«, begann er mit
gravitätischer Liebenswürdigkeit, »ob du wirklich bereit wärst, der
Wissenschaft auch auf … so eine Weise zu dienen, falls es eines
Tages notwendig wäre. Ich frage, ob du dich der Sache so
verpflichtet fühlst, daß du dich gewissermaßen wie Jephthas Tochter
der Medizin opfern würdest, wenn du wüßtest, daß davon die letzte
Vollendung meiner Arbeit abhängen würde.« Georgina, die ein
merkwürdiges, unmißverständliches Glitzern in den Augen ihres
Bruders wahrnahm, wußte nun endlich, daß ihre schlimmsten
Befürchtungen begründet waren. Sie konnte jetzt nur eines tun ihn
um jeden Preis in Sicherheit wiegen und beten, daß Margarita James
Dalton in dessen Club angetroffen hatte. »Du wirkst müde, Alf,
Lieber«, sagte sie sanft. »Willst du nicht etwas Morphium nehmen,
damit du den Schlaf findest, den du so dringend brauchst?« Er
antwortete ihr mit schlauer Überlegung.
»Ja, du hast recht. Ich bin völlig erschöpft,
und du auch. Wir müssen uns beide ausschlafen. Morphium ist genau
das richtige. Wenn du hier wartest, fülle ich diese Spritze damit,
und wir nehmen beide eine angemessene Dosis.«
Die leere Spritze immer noch in der Hand,
ging er leise aus dem Zimmer. Georgina sah sich in hilfloser
Verzweiflung um und horchte, ob nicht vielleicht doch noch Hilfe
nahte. Sie meinte, Margarita wieder in der Küche zu hören und stand
auf, um nach ihr zu klingeln und sie zu fragen, ob sie die
Nachricht überbracht habe. Die alte Dienerin erschien unverzüglich
und erklärte ihr, sie habe die Nachricht schon vor Stunden im Club
abgegeben. Gouverneur Dalton sei nicht im Hause gewesen, aber der
Sekretär habe ihr versprochen, sie Dalton bei seiner Rückkehr
sofort auszuhändigen.
Margarita watschelte wieder in ihre Küche
zurück, aber Clarendon ließ auf sich
warten. Was mochte er tun? Was führte er im
Schilde ? Georgina hatte die Haustür ins Schloß fallen hören und
wußte deshalb, daß er im Labor sein mußte. Hatte er in seiner
geistigen Verwirrung seinen ursprünglichen Vorsatz vergessen? Die
Spannung wurde nachgerade unerträglich, und Georgina mußte die
Zähne zusammenbeißen, um nicht loszuschreien.
Die Gartentorglocke, die gleichzeitig im Haus
und im Labor läutete, brach dann endlich den Bann. Georgina hörte
Suramas katzenhafte Schritte auf dem Gartenweg, als er ans Tor
ging; und dann vernahm sie mit einem fast hysterischen Seufzer der
Erleichterung die feste, vertraute Stimme von Dalton, der mit dem
unheimlichen Diener sprach. Sie erhob sich und rannte fast auf ihn
zu, als er in der Tür der Bibliothek erschien, und einen Moment
lang sprach keiner ein Wort, während er ihr auf seine
altmodisch-ritterliche Art die Hand küßte. Dann brach Georgina in
einen wahren Sturzbach hastiger Erklärungen aus in einem einzigen,
ununterbrochenen Redefluß erzählte sie ihm alles, was geschehen
war, was sie gesehen oder mit angehört, was sie befürchtet und
geargwöhnt hatte.
Dalton hörte ernst und verständnisvoll zu,
und seine anfängliche Verwirrung machte Erschütterung, Sympathie
und Entschlossenheit Platz. Die Nachricht war ihm von dem
nachlässigen
Sekretär nicht unverzüglich ausgehändigt
worden und hatte ihn schließlich mitten in einer angeregten
Club-Diskussion über Clarendon erreicht. Ein anderes Clubmitglied,
Dr. MacNeil, hatte eine medizinische Zeitschrift mit einem
kritischen Artikel über den bekannten Wissenschaftler mitgebracht,
und Dalton hatte ihn gerade gebeten, die Zeitschrift aufzuheben,
als man ihm endlich Georginas Nachricht überbrachte. Er stellte
sein Vorhaben, Dr. MacNeil hinsichtlich Alfred Clarendon ins
Vertrauen zu ziehen, zurück, verlangte augenblicklich seinen Hut
und seinen Stock und fuhr mit der Kutsche zu den
Clarendons.
Surama, so schien ihm, erschrak, als er ihn
wiedererkannte, gluckste dann aber wie gewohnt, als er sich zum
Labor hin entfernte. Dalton erinnerte sich später genau an Suramas
Gang und Glucksen an diesem ominösen Abend, denn er sollte diese
unirdische Kreatur nie mehr wiedersehen. In dem Moment, in dem
Surama das Laborgebäude betrat, hatte Dalton den Eindruck, daß sein
gutturales Glucksen sich mit fernem Donnergrollen
vermengte.
Als Dalton alles gehört hatte, was Georgina
ihm zu sagen hatte, und nun noch erfuhr, daß Alfred jeden Moment
mit einer Morphiumspritze zurückkommen würde, beschloß er, lieber
alleine mit dem Arzt zu sprechen. Er wies Georgina an, sich in ihr
Zimmer zurückzuziehen. Er selbst ging in der düsteren Bibliothek
auf und ab, warf hin und wieder einen Blick auf die Bücherregale
und horchte ständig, ob Clarendons nervöse Schritte auf dem
Laborweg draußen schon zu hören seien. In den Ecken des riesigen
Raumes war es bedrückend dunkel, und je genauer Dalton die Bücher
seines Freundes inspizierte, um so weniger gefielen sie ihm. Es war
nicht die ausgewogene Sammlung eines normalen Arztes, Biologen oder
kultivierten Privatmannes. Es gab zu viele Bände über fragwürdige
Grenzgebiete, dunkle Spekulationen und verbotene Rituale des
Mittelalters sowie merkwürdige exotische Mysterien in bekannten und
unbekannten entlegenen Sprachen.
Auch das große Laborjournal, das
aufgeschlagen auf dem Tisch lag, verströmte eine ungute Atmosphäre.
Die Handschrift wirkte neurotisch, und der Inhalt der Einträge war
alles andere als beruhigend. Lange Passagen waren in fast
unleserlichen griechischen Buchstaben geschrieben, und als Dalton
seine Sprachkenntnisse hervorkramte, um sich die eine oder andere
Passage
zu übersetzen, fuhr er plötzlich zusammen und
wünschte, er hätte sich am College gewissenhafter mit Xenophon und
Homer auseinandergesetzt. Irgend etwas war hier verkehrt, auf
unheilvolle, grauenerregende Weise verkehrt, und der Gouverneur
ließ sich in den Stuhl sinken, der vor dem Schreibtisch stand, und
grübelte weiter über das barbarische Griechisch des Arztes nach.
Dann hörte er dicht neben sich ein Geräusch und fuhr zusammen, als
sich ihm eine Hand hart auf die Schulter legte. »Was ist der Grund
für diesen Überfall, wenn ich fragen darf? Du hättest ja Surama
sagen können, worum es geht.«
Clarendon stand mit eisiger Miene neben dem
Stuhl, die kleine goldene Spritze in der Hand. Er wirkte
ausgesprochen ruhig und vernünftig, und Dalton hatte einen Moment
lang den Verdacht, Georgina müsse mit ihrer Schilderung seines
Zustands übertrieben haben. Und waren nicht seine eigenen
Griechischkenntnisse schon so eingerostet, daß er nicht sicher sein
konnte, was die Einträge in dem Journal wirklich bedeuteten? Der
Gouverneur beschloß, bei diesem Gespräch sehr vorsichtig zu
taktieren, und dankte dem glücklichen Zufall, der ihm einen so
glaubwürdigen Vorwand an die Hand gegeben hatte die Zeitschrift mit
dem Artikel über Clarendon. Gefaßt und selbstsicher erhob er sich,
um Clarendon zu antworten.
»Ich dachte mir, daß du kein Interesse daran
haben würdest, eine wichtige Angelegenheit vor einem deiner
Untergebenen breittreten zu lassen, war aber der Ansicht, daß du
diesen Artikel unverzüglich lesen solltest.«
Er zog die Zeitschrift heraus, die Dr.
MacNeil ihm gegeben hatte, und reichte sie Clarendon.
»Auf Seite 542 du siehst die Überschrift
»Dum-Dum-Fieber durch neues Serum besiegt«. Er stammt von Dr.
Miller aus Philadelphia; er glaubt, er sei dir auf der Suche nach
einem Heilmittel zuvorgekommen. Im Club wurde darüber diskutiert,
und MacNeil hielt die Darstellung für sehr überzeugend. Ich als
Laie kann mir da kein Urteil erlauben, aber ich dachte mir, daß du
auf alle Fälle möglichst bald von der Sache erfahren solltest. Wenn
du beschäftigt bist, will ich dich natürlich nicht länger …«
Clarendon unterbrach ihn scharf.
»Ich will meiner Schwester eine Spritze
geben, sie fühlt sich nicht ganz wohl, aber ich sehe mir an, was
dieser Quacksalber zu sagen hat, wenn ich wiederkomme. Ich kenne
Miller ein
Pfuscher und Angeber -, und ich glaube kaum,
daß er genug Grips hat, um aufgrund des wenigen, was er gesehen
hat, hinter mein Geheimnis zu kommen.«
Dalton hatte plötzlich das Gefühl, verhindern
zu müssen, daß Georgina die ihr zugedachte Spritze bekam. Irgend
etwas war ihm nicht geheuer. Nach dem, was sie erzählt hatte, mußte
Alfred ungewöhnlich lange gebraucht haben, um die Spritze
herzurichten, viel länger, als es dauern konnte, eine
Morphiumtablette aufzulösen. Er beschloß, seinen Gastgeber so lange
wie möglich aufzuhalten und dabei mehr oder minder vorsichtig zu
versuchen, seine Einstellung zu ergründen.
»Es tut mit leid, daß Georgina sich nicht
wohl fühlt. Bist du sicher, daß die Spritze ihr gut tun wird? Daß
sie ihr nicht schaden wird?«
Clarendons heftige Reaktion bewies, daß
Dalton einen wunden Punkt berührt hatte.
»Ihr schaden?« rief er. »Das ist ja absurd!
Du kannst dir doch denken, daß Georgina immer bei allerbester
Gesundheit sein muß, um der Wissenschaft dienen zu können, wie es
einer Clarendon ansteht. Sie selbst begreift wenigstens, was es
heißt, meine Schwester zu sein. Kein Opfer für mich und meine
Arbeit ist ihr zu groß. Sie ist eine Priesterin der Wahrheit und
der Forschung, so wie ich ein Priester bin.«
Er hielt in seiner schrillen Tirade inne,
atemlos und mit wildem Blick. Dalton sah, daß seine Aufmerksamkeit
für einen Moment auf etwas anderes gelenkt worden war.
»Aber ich kann mir ja mal ansehen, was dieser
lächerliche Quacksalber zu sagen hat«, fuhr er fort. »Wenn der
glaubt, mit seinem pseudomedizinischen Geschwätz einen echten Arzt
beeindrucken zu können, ist er noch einfältiger, als ich gedacht
habe!«
Clarendon blätterte hastig das Heft durch,
bis er den Artikel gefunden hatte, und begann zu lesen, immer noch
im Stehen und mit der Spritze in der einen Hand. Dalton fragte
sich, was wirklich dahinterstecken mochte. MacNeil hatte ihm
versichert, der Autor sei ein hochangesehener Pathologe, und wenn
der Artikel vielleicht auch einzelne Fehler enthalten mochte, könne
man doch sicher sein, daß der Verfasser ein Mann von großen
Fähigkeiten, höchster Bildung und absoluter Integrität sei. Dalton
ließ den Arzt nicht aus den Augen, während er las, und sah, wie
sein bärtiges Gesicht erbleichte. Die großen Augen brannten, und
die Seiten knisterten zwischen den langen, schlanken, krampfhaft
zitternden Fingern. Der Schweiß brach auf der hohen,
elfenbeinweißen Stirn aus, über der sich das Haar schon zu lichten
begann, und schließlich sank der Lesende aufstöhnend auf den Stuhl,
den sein Besucher freigemacht hatte, während er den Artikel las.
Dann kam ein wilder Aufschrei, wie von einem in die Enge
getriebenen Tier, und Clarendon ließ seinen Oberkörper auf die
Tischplatte fallen, seine ausgebreiteten Arme stießen Bücher und
Papiere zur Seite, und sein Bewußtsein erlosch wie eine vom Wind
ausgeblasene Kerzenflamme.
Dalton eilte seinem zusammengebrochenen
Freund zu Hilfe, hob seinen schmächtigen Oberkörper hoch und
stützte ihn an die Stuhllehne. Er erblickte die Karaffe auf dem
Fußboden vor dem Sofa, besprengte das verzerrte Gesicht und wurde
dadurch belohnt, daß sein Freund langsam die Augen aufschlug. Es
waren jetzt die Augen eines Vernünftigen tief und traurig und
unverkennbar vernünftig -, und Dalton ahnte ehrfurchtsvoll, daß er
einer Tragödie beiwohnte, deren ganzes Ausmaß er nie würde ermessen
können.
Clarendon umklammerte immer noch mit der
linken Hand die goldene Spritze, und als er nun tief einatmete,
öffnete er die Hand und betrachtete das glitzernde Ding, das da in
seiner Handfläche hin und herrollte. Dann sprach er langsam und mit
der
unsagbaren Traurigkeit tiefster, absoluter
Verzweiflung.
»Danke, Jimmy, mir fehlt nichts mehr, aber es
ist noch viel zu tun. Du hast mich vor einer Weile gefragt, ob
diese Morphiumspritze Georgie schaden würde. Ich bin jetzt in der
Lage, dir zu sagen, daß das nicht der Fall sein wird.«
Er drehte eine kleine Schraube an der Spritze
und legte einen Finger auf den Kolben, während er mit der linken
Hand an der Haut seines eigenen Halses zog. Dalton schrie
erschrocken auf, als Clarendon mit einer blitzschnellen Bewegung
seiner rechten Hand den Inhalt des Zylinders in die straff
gespannte Haut injizierte. »Mein Gott, Alf, was hast du
getan?«
Clarendon lächelte mild beinahe ein
friedliches, resigniertes Lächeln, ganz im Gegensatz zu dem
sardonischen Grinsen der letzten Wochen.
»Du weißt Bescheid, Jimmy, wenn du noch das
Urteilsvermögen besitzt, das dich zum Gouverneur gemacht hat. Du
mußt dir aus meinen Aufzeichnungen genug zusammengereimt haben, um
zu begreifen, daß mir nichts anderes übrigbleibt. Bei deinen
Griechischnoten damals an der Columbia University kann ich mir
vorstellen, daß dir nicht viel entgangen ist. Und ich kann dazu nur
sagen, es ist wahr. James, ich möchte nicht die Schuld auf einen
anderen schieben, aber es ist nur recht, dir zu sagen, daß Surama
mich in diese Geschichte hineingezogen hat. Ich kann dir nicht
sagen, wer oder was er ist, denn ich weiß es selbst nicht genau,
und was ich weiß, sollte eigentlich kein vernünftiger Mensch
wissen; immerhin kann ich dir sagen, daß ich ihn nicht für einen
Menschen im vollen Sinne halte und daß ich auch nicht weiß, ob er
wirklich lebendig ist.
Du denkst, ich rede Unsinn. Ich wünschte, es
wäre so, aber in Wahrheit ist diese ganze furchtbare Geschichte nur
allzu real. Ich wollte die Welt vom Fieber befreien. Ich versuchte
es und scheiterte. Wollte Gott, ich wäre ehrlich genug gewesen, mir
einzugestehen, daß ich gescheitert war. Laß dich nicht von
meinem
wissenschaftlichen Gerede täuschen, James ich
habe kein Gegengift gefunden und war auch nie auf dem richtigen
Wege dazu!
Mach kein so entgeistertes Gesicht, mein
Lieber! Als mit allen Wassern
gewaschener Politiker hast du doch sicher
schon öfter solche Demaskierungen erlebt. Ich sage dir, ich habe
nie auch nur begonnen, ein Fieberheilmittel zu entwickeln. Aber
meine Studien hatten mich an seltsame Orte geführt, und der Zufall
wollte es, daß ich dort noch seltsameren Leuten zuhörte. James,
wenn du jemals einem Menschen wohlgesonnen bist, dann sage ihm, daß
er sich von den alten, verborgenen Orten der Erde fernhalten soll.
Alte, entlegene Gegenden sind gefährlich, dort werden Dinge von
Generation zu Generation weitergegeben, die normalen, gesunden
Menschen nicht bekömmlich sind. Ich habe zuviel mit alten Priestern
und Mystikern gesprochen, und daraus erwuchs mir die Hoffnung, ich
könnte auf dunkle Arten Dinge erreichen, die mir auf rechtmäßigen
Wegen unerreichbar waren.
Ich kann dir nicht sagen, was das genau zu
bedeuten hat, denn wenn ich das täte, wäre ich genauso schlecht wie
die alten Priester, die mich ins Verderben gestürzt haben. Es
reicht, wenn ich dir sage, daß ich nach dem, was ich erfahren habe,
nur schaudern kann bei dem Gedanken an die Welt und was sie
durchgemacht hat. Die Welt ist verflucht alt, James, und es wurden
ganze Epochen durchlebt und abgeschlossen, bevor unser organisches
Leben und die damit zusammenhängenden geologischen Epochen
begannen. Es ist ein schrecklicher Gedanke ganze vergessene
Evolutionszyklen mit Wesen und Rassen und Weisheit und Krankheiten,
dies alles lebte und verging, bevor die erste Amöbe sich in den
tropischen Ozeanen rührte, von denen die Geologie uns
erzählt.
Ich sagte verging, aber das stimmt nicht
ganz. Es wäre besser gewesen, aber es war nicht so. In bestimmten
Gegenden hielten sich Traditionen ich kann dir nicht sagen, wie -,
und bestimmte archaische Erscheinungsformen des Lebens konnten an
entlegenen Orten bis in unsere Zeit weiterleben. Es gab da Kulte,
weißt du, Horden böser Priester in Ländern, die heute im Meer
versunken sind. Atlantis war die Brutstätte. Das war ein
schrecklicher Ort. Wenn der Himmel gnädig ist, wird niemand diese
Schrecknisse jemals aus der Tiefe hervorholen.
Es hatte jedoch eine Kolonie, die nicht
versank, und wenn man mit einem der TuaregPriester in Afrika zu
vertraulich wird, erzählt er einem wilde Geschichten darüber,
Geschichten, die mit Legenden zusammenhängen, wie man sie von den
wahnsinnigen Lamas und den Yak-Treibern auf den geheimen
Hochländern Asiens hören kann. Ich hatte schon alle verbreiteten
Sagen und Legenden gehört, als ich auf die größte und wichtigste
stieß. Was das war, wirst du nie erfahren, aber es ging um jemanden
oder etwas, das aus unvordenklicher Vergangenheit heraufgestiegen
war und wieder zum Leben oder zu scheinbarem Leben -erweckt werden
konnte, mit Hilfe bestimmter Prozesse, über die sich der Mann, der
mir davon erzählte, jedoch nicht ganz im klaren war.
Also, James, du weißt, daß ich trotz meines
Geständnisses hinsichtlich des Fiebers kein schlechter Arzt bin.
Ich habe mir das Studium der Medizin nicht leichtgemacht und habe
genausoviel gelernt wie nur irgendein anderer, vielleicht sogar ein
bißchen mehr, denn drunten im Hoggar-Gebiet tat ich etwas, wozu
noch kein Priester je fähig gewesen war. Man führte mich mit einer
Binde vor den Augen an einen Ort, der seit Generationen
verschlossen gewesen war, und ich kam mit Surama zurück. Sachte,
James! Ich weiß, was du sagen willst. Woher weiß er so viel warum
spricht er Englisch oder überhaupt eine moderne Sprache noch dazu
akzentfrei warum ist er mit mir mitgekommen und so fort. Ich kann
dir nicht alles sagen, doch immerhin so viel, daß er Gedanken und
Bilder und Eindrücke mit etwas aufnimmt, was über sein Gehirn und
seine Sinne hinausgeht. Er hatte Verwendung für mich und meine
Wissenschaft. Er erklärte mir manches. Er lehrte mich, die alten,
primordialen, heillosen Götter zu verehren, und zeichnete mir den
Weg zu einem schrecklichen Ziel vor, das ich dir gegenüber nicht
einmal andeuten kann. Dringe nicht in mich, James, wenn dir deine
Verstandesklarheit und die Verstandesklarheit der Welt etwas
bedeuten!
Für dieses Wesen gibt es keinerlei Grenzen.
Es ist mit den Sternen und allen Kräften der Natur im Bunde. Bitte
glaub nicht, ich sei immer noch verrückt, James ich schwöre dir,
ich bin es nicht! Ich habe zuviel gesehen, um noch zweifeln zu
können. Er hat mir neue Arten der Lust verschafft, die Teile seiner
urzeitlichen Riten waren, und die größte davon war das
Dum-Dum-Fieber.
Mein Gott, James! Durchschaust du das ganze
nicht längst schon? Glaubst du immer noch, das Dum-Dum-Fieber sei
aus Tibet gekommen und ich hätte dort alles darüber erfahren?
Gebrauch doch deinen Verstand, Mann! Sieh dir Millers Artikel hier
an! Er hat ein Gegengift gefunden, das innerhalb eines halben
Jahrhunderts zur Ausrottung aller Fieberkrankheiten führen wird,
wenn andere Möglichkeiten finden, es für die verschiedenen
Krankheiten abzuwandeln. Er hat mir den Boden meiner Jugend unter
den Füßen weggezogen, hat das getan, wofür ich mein Leben gegeben
hätte, hat mir den Wind aus all den redlichen Segeln genommen, die
ich jemals in die Brise der Wissenschaft gedreht habe! Fragst du
dich, warum dieser Artikel mich so erschüttert hat? Fragst du dich,
warum er mich aus meinem Wahnsinn zu den alten Träumen meiner
Jugend herausholt ? Zu spät! Zu spät! Aber noch nicht zu spät, um
andere zu retten!
Ich fürchte, ich weiß nicht mehr, was ich
rede, mein Alter. Du weißt die Spritze. Ich habe dich gefragt,
warum du nicht längst hinter die Wahrheit über das DumDum-Fieber
gekommen bist, aber du konntest gar nicht dahinterkommen! Schreibt
Miller hier nicht, er habe sieben Fälle mit seinem Serum kuriert?
Eine Frage der Diagnose, James. Er glaubt nur, es sei
Dum-Dum-Fieber. Ich kann zwischen den Zeilen lesen. Hier, alter
Junge, auf Seite 551, liegt das Geheimnis. Lies es noch
einmal.
Jetzt verstehst du, nicht wahr? Die
Fieberfälle von der Pazifikküstereagierten nicht auf sein Serum.
Sie stellten ihn vor ein Rätsel. Sie waren anders als alle anderen
Fälle von Fieberkrankheiten, die er kannte. Nun, das waren
meineFälle! Das waren die echtenDum-Dum-Fieber-Fälle! Und es kann
und wird auf der Erde nie ein Gegengift gegen das Dum-Dum-Fieber
geben!
Woher ich das weiß? Weil das Dum-Dum-Fieber
nicht von dieser Erde ist\Es kommt von woanders,James, und Surama
allein weiß, woher, weil er es hierher gebracht hat. Er hat es
gebracht und verbreitet’.Das ist das Geheimnis, James! Nur deswegen
war ich auf die Position im Zuchthaus aus das war alles, was ich je
getan habe ich habe nur das Fieber verbreitet, das ich in dieser
goldenen Spritze und in der noch tödlicheren Fingerring-Pumpspritze
hatte, die du an meinem Zeigefinger
siehst’.Wissenschaft? Ein Vorwand! Ich wollte
töten und töten und töten! Ein einziger Druck auf meinen Finger,
und ein Mensch war mit Dum-Dum-Fieber infiziert. Ich wollte sehen,
wie Lebewesen sich krümmten und wanden, kreischten und Schaum vor
den Mund bekamen. Ein einziger Druck auf die Pumpspritze, und ich
konnte zusehen, wie sie starben, und ich konnte nicht mehr leben
oder denken, wenn ich nicht immer wieder dieses Schauspiel genießen
konnte. Das ist der Grund, warum ich alles, was mir in die Hände
fiel, mit dieser verfluchten Hohlnadel stach. Tiere, Verbrecher,
Kinder, Diener und die nächste wäre …«
Clarendons Stimme versagte, und er sank auf
seinem Stuhl zusammen.
»Das — das, James — war — mein Leben. Surama
hat mich so weit gebracht, er war mein Lehrer, und er hat mich dazu
gezwungen, bis ich nicht mehr aufhören konnte. Dann dann -wurde es
sogar ihmzuviel. Er wollte mich zurückhalten. Aber jetzt habe ich
mein letztes Versuchsobjekt. Das ist mein letztes Experiment. Ein
gutes Objekt, James ich bin gesund, teuflisch gesund. Verdammt
ironisch, das Ganze jetzt, wo der Wahnsinn weg ist, wird es mir
keinen Spaß mehr machen, die Agonie zu beobachten! Kann nicht kann
nicht -«
Ein heftiger Eieberanfall schüttelte den
Arzt, und Dalton bedauerte trotz seines sprachlosen Entsetzens, daß
er kein Mitleid mit seinem Freund empfand. Wieviel von Alfreds
Geschichte purer Unsinn und wieviel alptraumhafte Wahrheit war,
wußte er nicht zu sagen, doch auf jeden Fall hatte er den Eindruck,
daß dieser Mann eher ein Opfer als ein Verbrecher war, und vor
allem konnte er nicht vergessen, daß er sein Jugendfreund und
Georginas Bruder war. Erinnerungen an die alten Zeiten zogen
vorüber. »Der kleine Alf« der Hof in Phillips Exeter das Viereck an
der Columbia University die Rauferei mit Tom Cortland, als er Alf
zu Hilfe gekommen war … Er führte Clarendon zum Sofa und fragte
ihn, was er für ihn tun könne. Aber er konnte nichts mehr tun,
Alfred konnte nur noch flüstern, aber er bat ihn um Verzeihung für
alle Kränkungen und empfahl seine Schwester der Obhut seines
Freundes.
»Du du wirst sie glücklich machen«, keuchte
er. »Sie hat es verdient. Märtyrerin eines Mythos! Bring es ihr
schonend bei. Laß sie nicht mehr wissen als unbedingt
nötig!«
Er lallte nur noch und fiel in eine
Betäubung. Dalton läutete, aber Margarita war schon zu Bett
gegangen, und so rief er zu Georgina hinauf. Sie wankte nicht, war
aber sehr blaß. Alfreds Schrei hatte sie erschüttert, aber sie
hatte James vertraut. Sie vertraute ihm auch jetzt, als er sie zu
der bewußtlosen Gestalt auf dem Sofa führte und sie bat, wieder auf
ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen, gleichgültig, was für
Geräusche sie hören mochte. Sie wollte nicht, daß sie das
schreckliche Schauspiel des Deliriums miterlebte, das mit
Sicherheit eintreten würde, aber er forderte sie auf, ihren Bruder,
der da so still auf dem Sofa lag, ganz der zarte Junge, der er
einmal gewesen war, noch ein letztes Mal zu küssen. So verließ sie
ihn das wunderliche, mondsüchtige, in den Sternen lesende Genie,
das sie so lange bemuttert hatte -, und das Bild, das sie mitnahm,
war ein sehr barmherziges.
Dalton mußte bis ans Ende seiner Tage ein
grausameres Bild mit sich herumtragen. Seine Furcht vor dem
Delirium war nicht unbegründet, und während der dunkelsten
Mitternachtsstunden mußte er immer wieder alle Kraft aufbieten, um
den wilden Zuckungen des rasenden Kranken Einhalt zu gebieten. Was
er von diesen geschwollenen, sich schwarz verfärbenden Lippen
vernahm, wird er niemals berichten. Er ist seither nie wieder
derselbe gewesen wie vordem, und er weiß, daß niemand, der so etwas
hört, wieder ganz der werden kann, der er einmal gewesen ist. Zum
Wohle der Welt schweigt er deshalb, und er dankt Gott, daß seine
laienhafte Unkenntnis auf bestimmten Gebieten ihm die Enthüllungen
kryptisch und bedeutungslos erscheinen ließ.
Gegen Morgen kam Clarendon plötzlich noch
einmal zu sich und begann, mit fester Stimme zu sprechen.
»James, ich habe dir noch nicht gesagt, was
alles zu tun ist. Mach diese Einträge in griechischer Sprache
unkenntlich und schicke mein Journal an Dr. Miller. Ebenso all
meine anderen Aufzeichnungen, die du in den Ordnern finden wirst.
Er ist heute die große Autorität sein Artikel beweist es. Dein
Freund in dem Club hatte recht. Aber alles, was im Labor ist, muß
vernichtet werden. Alles ohne Ausnahme, sei es tot oder lebendig —
oder sonstwie.Alle Plagen der Hölle sind in diesen Flaschen auf den
Regalbrettern enthalten. Verbrenn sie — verbrenn das ganze Zeug.
Wenn auch nur ein Stück davon erhalten bleibt, wird Surama den
schwarzen Tod über die ganze Welt verbreiten. Und verbrenn vor
allem Surama\ Er dieses Ding -hat kein Recht, die gesunde Luft des
Himmels zu atmen. Du weißt jetzt ich habe es dir gesagtdu weißt
jetzt, warum ein solches Wesen nicht auf der Erde sein darf. Es
wird kein Mord sein Surama ist kein Mensch falls du noch genauso
fromm bist wie früher, James, brauche ich dich sicher nicht zu
drängen. Denk an den alten Text >du sollst eine Hexe nicht am
Leben lassen< oder so ähnlich.
Verbrenn ihn, James\Laß ihn nie mehr über die
Qualen sterblichen Fleisches lachen? Ich sage dir, verbrenn ihn
-die Nemesis der Flamme — das ist das einzige, was ihm etwas
anhaben kann, James, es sei denn, du kannst ihn im Schlaf
überraschen und ihm einen Pfahl durchs Herz treiben… Töte ihn rotte
ihn aus — säubere das reine Universum von diesem uralten Makel dem
Makel, den ich aus seinem äonenlangen Schlaf geweckt
habe…«
Der Arzt hatte sich auf den Ellbogen
aufgestützt, und seine Stimme war zum Schluß nur noch ein
durchdringendes Quietschen. Die Anstrengung war jedoch zu groß
gewesen, und er fiel unversehens in ein tiefes, ruhiges Koma.
Dalton, der sich vor dem Fieber nicht mehr fürchtete, seit er
wußte, daß die gefürchtete Seuche nicht ansteckend war, legte
Alfreds Arme und Beine auf dem Sofa zurecht und warf eine leichte
Decke über die schmächtige Gestalt. War es nicht doch denkbar, daß
diese Scheußlichkeiten zum großen Teil auf das Delirium
zurückzuführen waren? Hätte ihn der alte Dr. MacNeil nicht
vielleicht doch noch durchbringen können? Der Gouverneur gab sich
größte Mühe, wach zu bleiben, und ging rasch im Zimmer auf und ab,
aber seine Kräfte waren zu sehr beansprucht worden. Als er sich nur
für eine Minute auf den Stuhl am Tisch setzte, verlor er die
Kontrolle über sich selbst und schlief trotz aller guten Vorsätze
ein.
Dalton fuhr auf, als ihm grelles Licht in die
Augen schien, und im ersten Moment dachte er, es sei der
Tagesanbruch. Aber es war nicht die Morgenröte, und während er
seine schweren Lider rieb, sah er, daß das Licht von dem brennenden
Labor kam, dessen dicke Bohlen in einem Feuersturm, wie er ihn noch
nie gesehen hatte, ein Raub prasselnd und knisternd zum Himmel
auflodernder Flammen wurde. Das war nun wahrhaftig die »Nemesis der
Flamme«, die Clarendon ersehnt hatte, und Dalton konnte sich
denken, daß irgendwelche besonders gut brennbaren Substanzen für
diese beispiellose Feuersbrunst verantwortlich sein mußten. Besorgt
blickte er zum Sofa hinüber, aber Alfred war nicht mehr da. Er
sprang auf und lief hinauf, um Georgina zu rufen, traf sie aber
bereits im Flur, denn auch sie war von dem Berg lebendigen Feuers
geweckt worden. »Das Labor brennt ab!« schrie sie. »Wo ist
AI?«
»Er ist verschwunden ich war eingeschlafen!«
entgegnete Dalton und nahm die schwankende Gestalt in den
Arm.
Er wollte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer
führen und versprach, auf der Stelle nach Alfred zu suchen, aber
Georgina schüttelte müde den Kopf, während die Scheiben des
Fensters auf dem Treppenabsatz von der Feuersbrunst draußen
unheimlich rot erglühten.
»Er muß tot sein, James er konnte nicht mehr
leben, nun da er wußte, was er getan hatte. Ich habe ihn mit Surama
streiten hören und weiß, daß furchtbare Dinge sich ereignet haben.
Er ist mein Bruder, aber es ist wohl am besten so, wie es ist.«
Ihre Stimme war zu einem Flüstern abgesunken.
Plötzlich kam durch das offene Fenster ein
Geräusch wie von einem dumpfen, grauenhaften Gelächter, und die
Flammen des brennenden Labors nahmen neue Konturen an, bis sie
beinahe namenlosen, zyklopischen Nachtmahren ähnelten. James und
Georgina verhielten und sahen atemlos durch das Fenster
hinaus.
Dann kam ein gewaltiger Donnerschlag, als ein
Blitz mit schrecklicher Zielsicherheit mitten in die flammenden
Ruinen fuhr. Das dumpfe Lachen verstummte, und an seiner Stelle
erhob sich ein wildes, jaulendes Geheul wie von tausend Ghulen und
Werwölfen in furchtbarer Höllenqual. Der Donner verhallte grollend,
und nach und nach nahmen die Flammen wieder ihre normale Gestalt
an.
Die beiden rührten sich nicht von der Stelle,
sondern warteten, bis die Feuersäule zu einem schwelenden
Gluthaufen zusammengesunken war. Sie waren froh darüber, daß in
diesem Außenbezirk niemand die Feuerwehr alarmiert hatte und daß
die Mauer Neugierigen den Einblick verwehrte. Was hier geschah, war
nicht für die Augen des Pöbels bestimmt dafür waren zu viele von
den tiefsten Geheimnissen des Universums mit im Spiel.
Im Morgengrauen sprach James mit sanfter
Stimme zu Georgina, die nur noch den Kopf an seine Brust legen und
schluchzen konnte.
»Liebste, ich glaube, er hat seine Untaten
gesühnt. Er muß das Feuer gelegt haben, als ich schlief. Er sagte
mir, es müßte verbrannt werden das Labor, alles was darin war, und
auch Surama. Es sei die einzige Möglichkeit, die Welt vor den
unbekannten Schrecknissen zu bewahren, die er auf sie losgelassen
hatte. Er wußte Bescheid, und er tat, was das beste war.
Er war ein großer Mann, Georgie, laß uns das
niemals vergessen. Wir müssen immer stolz auf ihn sein, denn er
machte sich auf, der Menschheit zu helfen, und war noch in seinen
Sünden ein Titan. Irgendwann werde ich dir mehr sagen. Was er getan
hat, mag es gut oder böse gewesen sein, war etwas, was noch kein
Mensch jemals getan hat. Er war der erste und letzte, der gewisse
Schleier zerriß und sogar Apollonios von Tyana muß hinter ihm
zurückstehen. Aber darüber dürfen wir nicht sprechen. Wir müssen
ihn stets als den kleinen Alf im Gedächtnis behalten, den wir
kannten, als den Jungen, der die Medizin meistern und das Fieber
besiegen wollte.«
Am Nachmittag hatten die säumigen
Feuerwehrleute die Überreste des
Laborgebäudes untersucht und darin zwei
Skelette gefunden, an denen noch Stücke verkohlten Fleisches
hafteten -nur zwei, dank den Kalkgruben, die von dem Feuer nicht in
Mitleidenschaft gezogen worden waren. Das eine war das Skelett
eines Mannes, das andere gibt Biologen der Westküste immer noch
Rätsel auf. Es war nicht eigentlich ein Affenoder Saurierskelett,
aber es erinnerte auf befremdliche Weise an einen Stand der
Evolution, von dem die Paläontologie andernorts noch keine Spuren
entdeckt hat. Der verkohlte Schädel war eigenartigerweise
sehr
menschenähnlich und erinnerte manchen an
Surama; die übrigen Gebeine waren jedoch nicht näher bestimmbar.
Nur gut geschnittene Kleidung hatte einen solchen Körper wie einen
Menschen erscheinen lassen können.
Doch die menschlichen Gebeine waren die von
Alfred Clarendon. Das war unumstritten, und die Welt beklagt noch
immer den allzu frühen Tod des größten Arztes seiner Epoche, des
Bakteriologen, dessen universelles Fieberserum Dr. Millers
Gegengift bei weitem übertroffen hätte, wäre er noch lange genug am
Leben geblieben, um es zu vollenden. Ein Großteil von Millers
jüngstem Erfolg wird in der Tat auf die Aufzeichnungen
zurückgeführt, die das unglückliche Opfer der Flammen ihm
hinterließ. Von den Rivalitätsund Haßgefühlen ist heute fast nichts
mehr übrig, und selbst Dr. Wilfred Jones rühmt sich mitunter seiner
Zusammenarbeit mit dem dahingegangenen Vorbild.
James Dalton und seine Frau Georgina legten
stets eine Zurückhaltung an den Tag, wie sie trauernden
Familienangehörigen wohl ansteht. Sie veröffentlichten bestimmte
Notizen als Tribut an den großen Mann, haben jedoch nie die
landläufigen Vermutungen oder seltsamen Andeutungen von
Wunderdingen bestätigt oder dementiert, die von manchen
scharfsinnigen Leuten hinter vorgehaltener Hand verbreitet wurden.
Nur sehr langsam und auf verschlungenen Wegen kamen die Tatsachen
ans Licht. Dalton machte wahrscheinlich irgendwann einmal
Andeutungen gegenüber Dr. MacNeil, und dieser hatte kaum
Geheimnisse vor seinem Sohn. Die Daltons führen seither ein im
großen und ganzen sehr glückliches Leben, denn die Wolke des
Schreckens liegt weit in der Vergangenheit, und eine starke
gegenseitige Liebe hat ihnen die Welt frisch erhalten. Doch es gibt
Dinge, die sie merkwürdig aus der Fassung zu bringen vermögen,
Kleinigkeiten, über die sich sonst kaum jemand aufhalten würde. So
ertragen sie nur bedingt die Gesellschaft magerer oder mit tiefer
Stimme sprechender Menschen, und Georgina erbleicht jedesmal, wenn
sie ein gutturales Kichern oder Lachen vernimmt. Senator Dalton
fürchtet sich vor Okkultismus, Reisen, Spritzen und fremden
Schriftzeichen, also vor Dingen, die sich schwerlich unter einen
Hut bringen lassen, und es gibt immer noch Leute, die ihm nicht
verzeihen können, daß er seinerzeit einen so großen Teil der
Bibliothek des Doktors mit peinlichster Gründlichkeit
verbrannte.
MacNeil schien jedoch die Zusammenhänge zu
ahnen. Er war ein einfacher Mann, und er sprach ein Gebet, als das
letzte von Alfred Clarendons seltsamen Büchern zu Asche zerfiel.
Und es hätte wohl auch keiner, der je einen verständigen Blick in
eines dieser Bücher warf, zulassen mögen, daß auch nur ein Wort
dieses Gebetes ungesagt blieb.
AUS ÄONEN von Hazel Heald und H. P.
Lovecraft
[Manuskript aus dem Nachlaß des verstorbenen
Dr. Richard H. Johnson, Kustos des Cabot-Museums für Archäologie,
Boston, Massachussetts.]
Die Einwohner von Boston — und aufmerksame
Leser in anderen Orten werden wohl nie die seltsame Affäre um das
Cabot-Museum vergessen. Die
Zeitungsberichte über diese teuflische Mumie,
die mit ihr verbundenen schrecklichen, uralten Gerüchte, die
makabre Neugier und die kultischen Aktivitäten im Jahre 1932 sowie
das grauenvolle Schicksal, das die beiden Eindringlinge am 1.
Dezember jenes Jahres erlitten — dies alles zusammen ergab eine
jener geheimnisvollen Geschichten, die als Folklore von Generation
zu Generation weitergegeben werden und schließlich den Kern ganzer
Zyklen abergläubischer Phantasien bilden.
Allgemein bekannt scheint auch zu sein, daß
etwas sehr Wichtiges und unsäglich Grauenvolles in den
veröffentlichten Berichten vom Höhepunkt der schrecklichen
Ereignisse verschwiegen wurde. Die ersten beunruhigenden Hinweise
auf den Zustandeines der beiden Leichname wurden allzu eilfertig
dementiert, und auch die einzigartigen Veränderungenan der Mumie
erhielten längst nicht die Publizität, die man angesichts des
sensationellen Charakters hätte erwarten können. Merkwürdig fanden
es die meisten auch, daß die Mumie seither nicht mehr ausgestellt
wird. Angesichts des hohen Entwicklungsstands der Kunst der
Taxidermie kann man die Begründung, der hochgradige Zerfall der
Mumie erlaube keine Ausstellung mehr, nicht als stichhaltig
anerkennen.
Als Kustos des Museums wäre ich in der Lage,
das Geheimnis zu lüften und alle unterdrückten Tatsachen ans Licht
der Öffentlichkeit zu bringen, doch werde ich dies zu meinen
Lebzeiten nicht tun. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von
denen die große Masse besser nichts weiß, und ich stehe nach wie
vor zu der Ansicht, die wir alle Museumsangestellte, Ärzte,
Reporter und Polizei zur Zeit der
schrecklichen Ereignisse teilten.
Andererseits scheint es mir angebracht, daß eine Angelegenheit von
so großer wissenschaftlicher und historischer Tragweite nicht ohne
jedes schriftliche Dokument bleiben sollte;
daher dieser Bericht, den ich für ernsthafte
Gelehrte abfasse. Ich werde ihn zu den Papieren legen, die nach
meinem Tod gesichtet werden sollen, und es der Entscheidung meiner
Testamentsvollstrecker überlassen, was damit geschehen soll.
Gewisse Drohungen und außergewöhnliche Vorkommnisse in den letzten
Wochen haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß mein Leben,
ebenso wie das anderer Mitarbeiter des Museums, in Gefahr ist, i
und zwar wegen der Feindschaft verschiedener weitverbreiteter
Geheimkulte von Asiaten, Polynesiern und Anhängern der
verschiedensten mystischen Sekten; es ist deshalb möglich, daß
meine Testamentsvollstrecker schon bald tätig werden müssen.
(Anmerkung des Testamentsvollstreckers: Dr. Johnson starb
am
22. April 1933 unerwartet und unter
ungeklärten Umständen an Herzversagen. Wentworth Moore, Präparator
des Museums, i verschwand Mitte des
vorangegangenen Monats. Am 18. Februar
desselben Jahres erhielt Dr. William Minot, der eine Obduktion im
Zusammenhang mit diesem Fall leitete, einen Messerstich in den
Rücken, dem er tags darauf erlag.)
Die schrecklichen Ereignisse gehen wohl
eigentlich bis ins Jahr 1879 zurück lange vor meiner Anstellung als
Kustos -, als das Museum diese gespenstische, rätselhafte Mumie von
der Orient Shipping Company erwarb. Schon allein ihre Entdeckung
war monströs und bedrohlich, denn sie stammte aus einer Krypta
unbekannter Herkunft und unermeßlichen Alters auf einer Insel, die
erst kurz zuvor aus dem Pazifik aufgetaucht war.
Am ii. Mai 1878 hatte Kapitän Charles
Weatherbee auf dem Frachter
Eridanus,unterwegs von Wellington,
Neuseeland, nach Valparaiso in Chile, eine neue Insel gesichtet,
die auf keiner Karte verzeichnet und offenbar vulkanischen
Ursprungs war. Sie hatte die Form eines stumpfen Kegels und ragte
ziemlich weit über die Wasseroberfläche auf. Ein Landungstrupp
unter Kapitän Weatherbee bemerkte an den steilen Flanken der Insel
Spuren, die darauf hinwiesen, daß die Insel lange Zeit
untergetaucht gewesen war, während auf dem Gipfel manches auf
Zerstörungen in jüngerer Zeit hindeutete, etwa durch ein Erdbeben.
In den verstreuten Trümmern fanden sich riesige Steinblöcke, die
eindeutig künstlich bearbeitet worden waren, und bei einer
genaueren Untersuchung wurden Reste prähistorischen zyklopischen
Mauerwerks gefunden, das man auf gewissen PazifikInseln antrifft
und das für die Archäologie immer noch ein Rätsel darstellt.
Schließlich gelangten die Seeleute in eine massive steinerne Krypta
offenbar Teil eines viel größeren Gebäudes, das ehemals weit unter
der Erde gelegen haben mußte -, in der eine grauenerregende Mumie
in einer Ecke kauerte. Nach einer kurzen Phase panischer Angst, die
teilweise auch von Reliefs an den Wänden verursacht wurde, ließen
sich die Männer herbei, die Mumie auf das Schiff zu schaffen,
obwohl sie sie nur mit größtem Widerwillen anfaßten. Dicht neben
dem Körper, so als ob er früher einmal in den Kleidern gesteckt
hätte, lag ein Zylinder aus einem unbekannten Metall; dieser
enthielt eine Rolle dünnen, bläulich-weißen Materials, dessen
Herkunft ebenfalls unbekannt war und das eigenartige Schriftzeichen
in grauer Farbe trug. In der Mitte des riesigen Steinfußbodens war
etwas wie eine Falltür zu erkennen, aber die Männer verfügten nicht
über die nötigen Hilfsmittel, um sie zu öffnen.
Das Cabot-Museum, das damals gerade neu
gegründet worden war, unternahm auf die spärlichen Berichte von der
Entdeckung hin sofort die notwendigen Schritte, um die Mumie und
den Zylinder zu erwerben. Kustos Pickman fuhr persönlich nach
Valparaiso und rüstete einen Schoner für eine Forschungsreise zu
der Krypta aus, in der die Mumie gefunden worden war, scheiterte
jedoch mit diesem Unternehmen. In der Gegend, wo sich die Insel
befinden sollte, war weit und breit nur offene See, und die
Forscher erkannten, daß die gleichen seismischen Kräfte, die das
Eiland plötzlich aus dem Meer gehoben hatten, es nun wieder in die
wäßrige Finsternis hinabgezogen hatten, in der es seit Ewigkeiten
geschlafen hatte. Das Geheimnis jener unbeweglichen Falltür würde
nie gelüftet werden.
Aber man hatte ja noch die Mumie und den
Zylinder, und erstere wurde Anfang November 1879 in der Mumienhalle
des Museums ausgestellt.
Das Cabot-Museum für Archäologie, das auf
Überreste alter und unbekannter Kulturen spezialisiert ist, die
nicht in den Bereich der Kunst fallen, ist eine kleine und nicht
sehr bekannte Institution, die jedoch in wissenschaftlichen Kreisen
einen guten Ruf genießt. Das Museum steht im exklusiven Bezirk
Beacon Hill von Boston in der Mt. Vernon Street. Es ist in einem
früheren Privathaus mit einem nach hinten angebauten zusätzlichen
Flügel untergebracht und war der Stolz des ganzen Viertels, bis es
durch die schrecklichen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit zum
Gegenstand unerwünschter Publizität wurde.
Der Mumiensaal im Westflügel des alten Hauses
(das von Bulfinch entworfen und
1819 gebaut wurde), im ersten Stock, steht
bei Historikern und Anthropologen zu Recht im Ruf, die größte
Sammlung seiner Art in Amerika zu beherbergen. Hier findet man
typische Beispiele für die ägyptische Einbalsamierung, von den
frühesten Exemplaren aus Sakkara bis zu den spätesten koptischen
Versuchen im 8. Jahrhundert, Mumien aus anderen Kulturen, darunter
prähistorische indianische Exemplare, die erst vor kurzem auf den
Al Áuten entdeckt wurden, Figuren aus Pompeji, die dadurch
entstanden, daß man die tragischen Hohlräume in den Aschemassen der
Ruinenstadt mit Gips ausgoß, natürlich mumifizierte Körper aus
Bergwerken und anderen Ausgrabungen in allen Teilen der Welt von
denen manche in den grotesken Stellungen ihres letzten Todeskampfes
eingeschlossen worden waren -, mit einem Wort, alles, was man in
einer solchen Sammlung nur erwarten kann. Im Jahre 1879 war die
Sammlung natürlich noch nicht so umfangreich wie heute, doch
immerhin schon durchaus bemerkenswert. Diese schockierende Mumie
aus der zyklopischen Krypta auf einer nur für so kurze Zeit dem
Ozean entstiegenen Insel war jedoch die Hauptattraktion und das
rätselhafteste Exponat.
Es war die Mumie eines mittelgroßen Mannes
unbekannter Rasse, der in einer eigentümlichen Hockstellung
einbalsamiert worden war. Das Gesicht, halb hinter klauenartigen
Händen verborgen, hatte einen weit vorspringenden Unterkiefer,
während die eingeschrumpften Züge auf so schreckliche Weise
angstverzerrt schienen, daß nur wenige Betrachter ungerührt
blieben. Die Augen waren geschlossen, mit fest über die offenbar
hervortretenden Augäpfel heruntergezogenen Lidern. Es hafteten noch
einzelne Haarsträhnen und Barthaare an dem Kopf, dessen Farbe ein
stumpfes, neutrales Grau war. Die Oberfläche erinnerte halb an
Leder und halb an Stein und stellte dadurch eines der unlösbaren
Rätsel für die Experten dar, die herauszufinden versuchten, welches
Verfahren der Einbalsamierung angewandt worden war. Die Substanz
der Mumie war stellenweise durch Zeit und Verwesung zerstört, und
Fetzen eines eigentümlichen Stoffes, in dem man noch Spuren eines
fremdartigen Musters erkannte, hingen noch an dem Objekt.
Was es war, das die Mumie so grausig und
abstoßend erscheinen ließ, war schwer zu sagen. Da war einmal der
undefinierbare Charakter unbegrenzten Alters und äußerster
Fremdartigkeit, der einen schwindeln ließ wie ein Blick vom Rand
eines monströsen Abgrundes bodenloser Finsternis, aber vor allem
war es wohl der angstverzerrte Ausdruck auf dem runzeligen,
prognathischen, halb verdeckten Gesicht. Ein solches Symbol
unendlicher, unmenschlicher, kosmischer Furcht mußte zwangsläufig
dieses Gefühl auf den ohnehin durch Geheimnis und vergebliche
Mutmaßungen verstörten Betrachter übertragen.
Unter den wenigen Kennern, die das
Cabot-Museum besuchten, erlangte dieses Überbleibsel aus einer
alten, vergessenen Welt schon bald einen unguten Ruf, doch wurde
durch die Abgeschiedenheit und die Zurückhaltung des Museums
verhindert, daß eine Sensation für die Massen daraus gemacht wurde.
Im vorigen Jahrhundert hatte die Kunst des vulgären Tamtams sich
noch nicht so sehr der Wissenschaft und Gelehrsamkeit bemächtigt,
wie ihr das seither gelungen ist. Natürlich versuchten Fachleute
aller Richtungen, das schreckliche Objekt zu klassifizieren, jedoch
ohne Erfolg. Unter den Gelehrten machten Theorien über eine
untergegangene pazifische Kultur die Runde, von der die Bildwerke
auf der Osterinsel und die megalithischen Gemäuer von Ponape und
Nan-Matal möglicherweise herstammten, und in wissenschaftlichen
Zeitschriften wurde über einen hypothetischen früheren Kontinent
spekuliert, dessen Gipfel als die zahllosen Inseln Melanesiens und
Polynesiens heute noch aus dem Ozean ragten. Die unterschiedlichen
Datierungen, die für diese verschwundene Kultur oder diesen
versunkenen Kontinent angegeben wurden, waren zugleich verwirrend
und amüsant, doch fanden sich in gewissen Mythen von Tahiti und
anderen Inseln überraschend aufschlußreiche Motive.
Währenddessen wurde natürlich auch dem
seltsamen Zylinder und der rätselhaften, mit Hieroglyphen bedeckten
Schriftrolle, die in der Museumsbibliothek aufbewahrt wurden, die
gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Über ihren Zusammenhang mit der
Mumie konnte kein Zweifel bestehen, und deshalb war man sich einig,
daß die Enträtselung ihres Geheimnisses aller Wahrscheinlichkeit
nach auch zur Enträtselung des Geheimnisses der verschrumpelten
Schreckgestalt führen würde. Der Zylinder, etwa vier Zoll lang und
knapp einen Zoll im Durchmesser, war aus einem seltsam irisierenden
Metall, das sich jeder chemischen Analyse entzog und offenbar
unempfindlich für alle bekannten Reagenzien war. Er war mit einem
dicht sitzenden Deckel aus dem gleichen Metall verschlossen und
trug eingravierte Bilder von offenkundig dekorativer und
möglicherweise symbolischer Natur konventionelle Ornamente, denen
jedoch ein fremdartiges, paradoxes und so gut wie unbeschreibliches
System der Geometrie zugrunde lag.
Nicht minder rätselhaft war die Schriftrolle,
die aus dünnem, bläulich-weißem, nicht analysierbarem Material
bestand, das säuberlich um einen dünnen Stab aus dem gleichen
Metall wie der Zylinder gerollt war und etwa eine Länge von zwei
Fuß hatte. Die großen Hieroglyphen, die in der Mitte der Rolle in
schmaler Spalte von oben nach unten angeordnet und mit einem
unbekannten grauen Farbstoff geschrieben oder gemalt waren,
ähnelten keiner den Paleographen bekannten Schrift und konnten
nicht entziffert werden, obwohl fotografische Kopien an alle in
Frage kommenden Wissenschaftler verschickt wurden.
Zwar fanden einige in der Literatur des
Okkultismus und der Magie ungewöhnlich versierte Gelehrte vage
Ähnlichkeiten zwischen einigen der Hieroglyphen und gewissen
urzeitlichen Symbolen, die in zwei oder drei sehr alten, obskuren
und esoterischen Texten beschrieben oder zitiert werden, wie etwa
im Buch Etbon, das aus dem vergessenen Hyperborea stammen soll, den
Pnakotischen Fragmenten, die aus vormenschlicher Zeit stammen
sollen, und dem monströsen und verbotenen Necronomicondes
wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred. Keine dieser
Ähnlichkeiten ließ sich jedoch schlüssig
belegen, und da die Erforschung des Okkulten in geringem Ansehen
stand, wurde auch kein Versuch unternommen, Kopien der Hieroglyphen
an Fachleute für Mystizismus zu schicken. Wäre dies damals schon
geschehen, hätte die Angelegenheit später einen anderen Verlauf
nehmen können, ja jeder Leser der schrecklichen Unaussprechlichen
Kultendes von Junzt hätte nur einen Blick auf die Hieroglyphen zu
werfen brauchen, um sofort ihre Bedeutung zu erkennen. Zu der Zeit
gab es jedoch nur sehr wenige, die dieses blasphemische Werk
gelesen hatten, weil es zwischen der Unterdrückung der Düsseldorfer
Originalausgabe (1839) und der Übersetzung von Bridewell (1845)
einerseits und dem Erscheinen des expurgierten Nachdrucks in der
Golden Goblin Press im Jahre 1909 außerordentlich selten geworden
war. Genaugenommen war nicht ein einziger Okkultist oder Kenner der
Esoterik der Urzeit auf die merkwürdige Schriftrolle aufmerksam
gemacht worden bis zu dem noch nicht lange
zurückliegenden Ausbruch von
Sensationsjournalismus, der dann rasch zu dem schrecklichen
Höhepunkt führte.
So kam es, daß seit der Aufstellung der
schrecklichen Mumie in dem Museum ein halbes Jahrhundert lang kaum
etwas unternommen wurde. Das schaurige Objekt genoß eine gewisse
Berühmtheit bei den kultivierten Bostonern, aber das war auch
alles; den Zylinder und die Schriftrolle hatte man nach zehn Jahren
vergeblicher Untersuchungen praktisch vergessen. Das Cabot-Museum
war so ruhig und konservativ, daß kein Journalist jemals auf den
Gedanken kam, dort nach Sensationsmeldungen zu suchen.
Der große Presserummel setzte im Frühjahr
1931 ein, als ein spektakulärer Ankauf es handelte sich um seltsame
Objekte und auf unerklärliche Weise konservierte Körper, die man in
Krypten unter den berüchtigten Ruinen des Chäteau Faussesflammes in
Frankreich gefunden hatte das Museum unversehens in die
Schlagzeilen brachte. Der rührige Boston Pillar schickte einen
Reporter, der für die
Sonntagsbeilage einen Artikel über den Ankauf
und das Museum selbst schreiben sollte, und dieser junge Mann,
Stuart Reynolds mit Namen, kam auf den Gedanken, daß die namenlose
Mumie eine viel größere Sensation darstellen konnte als der jüngste
Ankauf, über den er eigentlich hatte berichten sollen. Dank
gewisser Kenntnisse in Theosophie und einer Vorliebe für die
Spekulationen von Schriftstellern wie Colonel Churchward und Lewis
Spence über verlorene Kontinente und vergessene Kulturen war
Reynolds besonders empfänglich für äonische Überreste wie die
unbekannte Mumie. Im Museum machte sich der Reporter unbeliebt,
indem er hartnäckig und nicht immer intelligente Fragen stellte und
immer wieder verlangte, die Exponate sollten anders aufgestellt
werden, damit er sie aus ungewöhnlichen Blickwinkeln fotografieren
könnte. Im Bibliothekssaal im Keller grübelte er endlos über dem
merkwürdigen Metallzylinder und der Schriftrolle, fotografierte
beides von allen Seiten und machte Aufnahmen von dem unheimlichen
Hieroglyphentext. Außerdem ließ er sich alle Bücher vorlegen, in
denen irgend etwas über
prähistorische Kulturen und versunkene
Kontinente stand, saß manchmal drei Stunden hintereinander da und
exzerpierte, um dann eiligst die Cambridge University aufzusuchen
und dort (falls man es ihm gestattete) in der Widener Library das
gefürchtete und verbotene Necronomiconzu konsultieren.
Am 5. April erschien der Artikel in der
Sonntagsausgabe des Pillarzusammen mit zahllosen Fotos von der
Mumie, dem Zylinder und der Schriftrolle, abgefaßt in dem typischen
infantilen Stil, den der Pillarfür seine große und geistig
minderbemittelte Leserschaft für angebracht hält. Voller
Ungenauigkeiten und grotesker
Übertreibungen, war dieser Artikel dazu
angetan, die gedankenlose
Sensationslüsternheit der Massen
anzustacheln, und die Folge war, daß das einst so stille Museum
plötzlich von Scharen schwatzender und verständnislos gaffender
Menschen überschwemmt war, wie sie die stattlichen Korridore dieser
ehrwürdigen Institution noch nie gesehen hatten.
Obwohl der Artikel so kindisch war, kamen
jedoch auch Gelehrte und intelligente Besucher die Bilder hatten
für sich selbst gesprochen, und auch reife
Persönlichkeiten bekommen ja oft durch Zufall
den Pillarin die Hand. So erinnere ich mich, daß irgendwann im
November ein höchst merkwürdiger Fremder erschien, ein
dunkelhaariger, bärtiger Mann mit einem Turban, einer gequälten,
unnatürlichen Stimme, einem seltsam ausdruckslosen Gesicht und
plumpen, in grotesken weißen Fäustlingen steckenden Händen, der
eine Adresse in einem Elendsviertel des West End angab und sich
»Swami Chandraputra« nannte. Dieser Bursche war jedoch unglaublich
bewandert in okkulten Lehren und schien zutiefst bewegt von der
Ähnlichkeit der Hieroglyphen auf der Schriftrolle mit gewissen
Zeichen und Symbolen einer vergessenen alten Welt, von der er nach
seinen eigenen Worten sehr viel wußte. Bis Juni hatte sich die
Sensationsmeldung von der Mumie und der Schriftrolle schon weit
über Boston hinaus verbreitet, und das Museum bekam Anfragen und
Bitten um Fotos von Okkultisten und Anhängern der
Geheimwissenschaften aus aller Welt. Das war
für unsere Leute im Museum keineswegs eine reine Freude, denn wir
sind eine wissenschaftliche Institution, die nicht viel für Träumer
und Phantasten übrig hat; trotzdem beantworteten wir gewissenhaft
alle Anfragen. Eine Folge davon war ein hochgelehrter Artikel in
The Occult Review,verfaßt von dem berühmten Mystiker
Etienne-Laurent de Marigny, der darin unter anderem behauptete, daß
einige der alten geometrischen Ornamente auf dem irisierenden
Zylinder und mehrere der Hieroglyphen auf der Schriftrolle absolut
identisch mit bestimmten Ideogrammen seien, die (in Transkriptionen
von urzeitlichen Monolithen oder nach Angaben esoterischer
Erforscher oder Anhänger verschiedener Geheimkulte) in dem
höllischen und verbotenen Schwarzen Buchoder Unaussprechlichen
Kultendes von Junzt wiedergegeben seien.
De Marigny erinnerte an den schrecklichen Tod
von Junzts im Jahre 1840, ein Jahr nach dem Erscheinen seines
Buches in Düsseldorf, und berichtete von dessen haarsträubenden und
teilweise nur zu vermutenden Quellen. Vor allem hob er die
ungeheuere Bedeutung der Geschichten hervor, mit denen von Junzt
die meisten der monströsen Ideogramme, die er in seinem Buch
wiedergab, in Verbindung brachte. Daß diese Geschichten, in denen
ausdrücklich ein Zylinder und eine Schriftrolle erwähnt wurden,
sehr stark an die Dinge im Museum erinnerten, konnte niemand
bestreiten; freilich waren sie von so atemberaubender Extravaganz
und handelten von so unglaublich großen Zeiträumen und
phantastischen Anomalien einer vergessenen alten Welt, daß man sie
leichter bewundern als an sie glauben konnte.
Auf Bewunderung stießen sie vor allem in der
Öffentlichkeit, denn der Artikel wurde fast in allen Zeitungen
abgedruckt. Überall erschienen illustrierte Berichte mit den
Legenden aus dem Schwarzen Buch,die sich über den grauenhaften
Charakter der Mumie verbreiteten, die Ornamente des Zylinders und
die Hieroglyphen der Schriftrolle mit den Abbildungen in von Junzts
Buch verglichen und sich in den abenteuerlichsten, sensationellsten
und irrationalsten Theorien und Spekulationen ergingen. Die
Besucherzahlen des Museums verdreifachten sich, und wieweit
verbreitet das Interesse war, ging unter anderem aus der Flut von
zumeist stupiden und überflüssigen Zuschriften hervor, die das
Museum erhielt. Die Mumie und ihre Herkunft schienen zumindest für
phantasiebegabte Menschen ein Thema zu sein, das sie in den Jahren
1931 und 1932 ebenso stark bewegte wie die Weltwirtschaftskrise.
Was mich selbst betraf, so wirkte sich bei mir der ganze Aufruhr
dahin aus, daß ich von Junzts monströses Werk in der
Golden-Goblin-Ausgabe las, eine Lektüre, die mir Schwindel und Ekel
verursachte, so daß ich froh war, nur den expurgierten Text
kennengelernt zu haben.
Die archaischen Legenden, die im Schwarzen
Buch beschrieben sind und mit Ornamenten und Symbolen
zusammenhängen, die den Darstellungen auf der geheimnisvollen
Schriftrolle und dem Zylinder so sehr ähneln, waren in der Tat so
geartet, daß es einem den Atem verschlug. Sie berichteten von
unvorstellbar lange vergangenen Zeiten, Epochen vor allen Kulturen,
Rassen und Ländern, die wir kennen, und handelten überwiegend von
einem verschwundenen Volk und einem verschwundenen Kontinent der
sagenhaften frühen Jahre … einem Kontinent, dem die Legende den
Namen Mu gegeben hat, und der Inschriften in der Ursprache Naacal
auf alten Tafeln zufolge vor 200 ooo Jahren bewohnt war, zu einer
Zeit also, als es in Europa nur Zwitterwesen gab und man im
untergegangenen Hyperborea den schwarzen, amorphen Tsathoggua
verehrte.
Es war die Rede von einem Königreich namens
K’naa in einem alten Land, wo die ersten Menschen monströse Ruinen
entdeckt hatten, die von denen zurückgelassen worden waren, die
dort vorher gelebt hatten Wellen unbekannter Wesen, die von den
Sternen herabgesickert waren und die ihnen zugemessene Zeit auf der
eben erst geborenen Welt gelebt hatten. K’naa war ein geheiligter
Ort, denn in seiner Mitte ragten die kahlen Basaltfelsen des Berges
Yaddith-Gho in den Himmel, gekrönt von einer gigantischen Festung
aus zyklopischen Steinblöcken, unendlich viel älter als die
Menschheit und erbaut von der fremdartigen Brut des dunklen
Planeten Yuggoth, die vor der Geburt des irdischen Lebens die Erde
besiedelt hatte.Die Yuggoth-Brut war schon vor Ewigkeiten zugrunde
gegangen, hatte jedoch ein monströses und schreckliches Lebewesen
zurückgelassen, das niemals sterben konnte, den höllischen Gott
oder Dämon Ghatanothoa, der auf ewig unsichtbar in den Höhlen
unterhalb dieser Festung auf dem Yaddith-Gho brütete. Kein Mensch
hatte je den Yaddith-Gho erstiegen oder diese blasphemische Festung
gesehen, es sei denn als fernen, geometrisch abnormen Umriß vor dem
Himmel, doch die meisten stimmten darin überein, daß Ghatanothoa
immer noch existierte und in unergründlichen Abgründen unter den
megalithischen Mauern wühlte und wallte. Es gab immer auch
Menschen, die glaubten, man müßte Ghatanothoa Opfer bringen, damit
er nicht aus seinen verborgenen Abgründen herauskröche und
schrecklich durch die Welt der Menschen watschele, wie er einst
durch die Urwelt der Yuggoth-Brut gewatschelt war. Es hieß, daß
Ghatanothoa, wenn ihm keine Opfer gebracht würden, zum Tageslicht
aufquellen und die Basaltfelsen des Yaddith-Gho herabgleiten und
allem und jedem, dem er begegnete, Unheil und Verderben bringen
würde. Denn kein lebendes Wesen könnte des Anblick Ghatanothoas
oder auch nur eines perfekten Abbildes von ihm ertragen, mochte es
auch noch so klein sein, ohne eine Veränderung zu erleiden, die
schrecklicher wäre als der Tod. Der Anblick des Gottes oder eines
Bildes von ihm, so sagten alle Legenden der Yuggoth-Brut, führte zu
einer Lähmung und
Versteinerung von besonders schrecklicher
Art, wobei das Opfer auf der Außenseite zu Stein und Leder
verwandelt werde, während das Gehirn im Inneren auf ewig lebendig
bleibe, für immer gefangen und fixiert, des Vergehens unendlicher
Epochen bewußt, und doch zu hilfloser Untätigkeit verdammt, bis die
Zeit und der Zufall die Zersetzung der versteinerten Hülle
vollenden würden, so daß es endlich sterben könnte. Die meisten
Gehirne würden natürlich wahnsinnig werden, lange bevor diese um
Epochen verzögerte Befreiung stattfände. Noch nie, so hieß es, habe
eines Menschen Auge jemals Ghatanothoa erblickt, obwohl die Gefahr
jetzt genauso groß sei, wie sie es für die Yuggoth-Brut gewesen
sei.
Und daher gab es einen Kult in K’naa, der
sich der Verehrung Ghatanothoas widmete und ihm jedes Jahr zwölf
junge Krieger und zwölf junge Mädchen opferte. Diese Opfer wurden
auf brennenden Altären in dem Marmortempel am Fuß des
Bergesdargebracht, denn niemand wagte es, die Basaltfelsen des
Yad-dith-Ghö zu erklimmen oder sich der zyklopischen,
vormenschlichen Festung auf seinem Gipfel zu nähern. Die Priester
Ghatanothoas verfügten über ungeheure Macht, denn von ihnen allein
hing es ab, ob K’naa und alle Länder von Mu vor dem Auftauchen
Ghatanothoas aus seinen unterirdischen Höhlen bewahrt
wurden.
Es gab in dem Land hundert Priester des
Dunklen Gottes, unter dem Hohepriester Imash-Mo, der beim Nath-Fest
vor König Thabou ging und stolz stehenblieb, während der König vor
dem dhorischen Schrein niederkniete. Jeder Priester hatte ein
Marmorhaus, eine Truhe mit Gold, zweihundert Sklaven und hundert
Konkubinen und war Herr über Leben und Tod aller Bewohner von K’naa
mit Ausnahme der Priester des Königs. Doch trotz dieser Verteidiger
herrschte Furcht im Lande, Ghatanothoa könnte doch eines Tages aus
den Tiefen heraufgleiten und den Berg herabkommen, um Schrecken und
Versteinerung über die Menschheit zu bringen. In den späteren
Jahren verboten die Priester sogar den Menschen, sich vorzustellen,
wie Ghatanothoa aussehen könnte.
Es war im Jahr des Roten Mondes (nach von
Junzts Berechnungen das Jahr 173 148 v. Chr.), daß zum erstenmal
ein Mensch es wagte, sich gegen Ghatanothoa und seine
unaussprechliche Bedrohung aufzulehnen. Dieser kühne Ketzer war
T’yog, Hohepriester von Schab-Niggurath und Wächter des
Kupfertempels der Ziege mit den tausend Jungen. T’yog hatte lange
über die Macht der verschiedenen Götter nachgedacht und merkwürdige
Träume und Offenbarungen über das Leben dieser und früherer Welten
gehabt. So war er zu der Gewißheit gelangt, daß die den Menschen
freundlich gesinnten Götter gegen die feindseligen Götter
aufgeboten werden könnten, und er glaubte, daß Schab-Niggurath, Nug
und Yeb ebenso wie der Schlangengott Yig bereit wären, sich gegen
die Tyrannei Ghatanothoas mit dem Menschen zu verbünden.
Inspiriert von der Muttergottheit, schrieb
T’yog eine seltsame Formel im hieratischen Naacal seines Ordens
nieder, von der er glaubte, daß sie jeden, der sie bei sich trug,
vor der Versteinerungskraft des Dunklen Gottes schützen würde. Mit
einem solchen Schutz, so überlegte er, müßte es für einen kühnen
Menschen möglich werden, die gefürchteten Basaltfelsen zu erklimmen
und als erster Sterblicher die zyklopische Festung zu betreten,
unter der Ghatanothoa vor sich hinbrütete. Wenn er dem Gott erst
einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, mit der Macht
SchabNigguraths und ihrer Söhne auf seiner Seite, müßte er, so
glaubte T’yog, eigentlich in der Lage sein, den Gott
niederzukämpfen und die Menschheit von seiner Bedrohung zu erlösen.
Und wenn die Menschen erst einmal durch sein, T’yogs, Verdienst
befreit wären, würde er Anspruch auf unbegrenzte Ehren erheben
können. Alle Ehren der Priester Ghatanothoas würden zwangsläufig
auf ihn übergehen, und dann wäre sogar die Königswürde oder der
Rang eines Gottes für ihn in Reichweite.
So schrieb T’yog seine Schutzformel auf eine
Rolle Pthagon (nach von Junzt die innere Haut der ausgestopften
Yakith-Echse) und steckte diese in einen verzierten Zylinder aus
dem Metall Lagh,dem Metall, das die Alten Wesen von Yuggoth
mitgebracht hatten und das auf der Erde nicht vorkommt. Mit diesem
Amulett im Gewände würde er gegen Ghatanothoa gefeit sein, ja es
würde sogar die
versteinerten Opfer des Dunklen Gottes
wiederherstellen, falls dieses monströse Wesen jemals hervorkommen
und mit seinen Verwüstungen beginnen sollte. Er erbot sich also,
auf den gemiedenen und noch von keines Menschen Fuß betretenen Berg
zu steigen, in die zyklopische Zitadelle einzudringen und das
schockierende Teufelswesen in seiner Höhle zu stellen. Was dann
geschehen würde, darüber konnte er nicht einmal Mutmaßungen
anstellen, aber die Hoffnung, zum Retter der Menschheit zu werden,
bestärkte ihn in seinem Entschluß.
Er hatte jedoch nicht mit der Eifersucht und
dem Egoismus von Ghatanothoas Priestern gerechnet. Kaum hatten
diese von seinem Plan erfahren, als sie auch schon um ihr Ansehen
und ihre Privilegien für den Fall fürchtend, daß der dämonische
Gott entthront würde lautstark Einspruch gegen das sogenannte
Sakrileg erhoben, mit der Begründung, daß kein Mensch gegen
Ghatanothoa etwas ausrichten könne und jede Störung des Gottes
diesen lediglich zu einem teuflischen Angriff auf die ganze
Menschheit herausfordern würde, den kein Zauberer oder Priester
würde abwenden können. Mit diesen Argumenten hofften sie, das Volk
gegen T’yog aufwiegeln zu können, doch die Sehnsucht der Menschen
nach Freiheit von Ghatanothoa war so stark und ihr Vertrauen auf
das Geschick und den Eifer von T’yog so groß, daß alle Proteste
nichts ausrichteten. Selbst der König, im allgemeinen eine
Marionette der Priester, weigerte sich, T’yogs wagemutige
Pilgerfahrt zu untersagen.
Da taten die Priester Ghatanothoas heimlich,
was sie öffentlich nicht erreicht hatten. Eines Nachts schlich sich
der Hohepriester Imash-Mo zu T’yog in dessen Tempelkammer und
entwendete dem Schlafenden den Metallzylinder; lautlos zog er die
zauberkräftige Schriftrolle heraus und ersetzte sie durch eine
andere, ganz ähnliche Rolle, die jedoch keinerlei Kraft gegen
irgendeinen Gott oder Dämon besaß. Imash-Mo steckte den Zylinder
wieder in das Gewand des Schlafenden und war es zufrieden, denn es
war sehr unwahrscheinlich, daß T’yog vor seinem Aufbruch noch
einmal den Inhalt des Zylinders überprüfen würde. In dem Glauben,
durch die echte Schriftrolle geschützt zu sein, würde der Ketzer
auf den verbotenen Berg steigen und Ghatanothoa würde, von keinem
Zauber gehemmt, den Rest erledigen. Ghatanothoas Priester konnten
jetzt darauf verzichten, weiter gegen die Lästerung zu predigen.
Sollte doch T’yog seinen Willen haben und sich ins Unglück stürzen.
Sie würden die echte Rolle aufbewahren, den wahren, wirksamen
Zauber, und sie von einem Hohepriester an den nächsten weitergeben,
bis zu dem fernen Zeitpunkt, an dem es vielleicht nötig sein würde,
dem Teufelsgott Widerpart zu bieten. So konnte Imash-Mo beruhigt
Schlafengehen, nachdem er die echte Rolle in einen neuen Zylinder
gesteckt hatte.
Im Morgengrauen des Tages der Himmelsflammen
(eine Bezeichnung, die von Junzt nicht erläutert) brach T’yog unter
den Gebeten und Gesängen des Volkes und mit König Thabous Segen zur
Besteigung des gefürchteten Berges auf, mit einem Stock aus
Tiathholz in der rechten Hand. In seinem Gewand steckte der
Zylinder mit der vermeintlich zauberkräftigen Schriftrolle, denn er
hatte den Betrug tatsächlich nicht bemerkt. Und auch die Tatsache,
daß Imash-Mo und die anderen Priester Ghatanothoas für seine
wohlbehaltene Rückkehr beteten, machte ihn nicht
mißtrauisch.
Den ganzen Vormittag standen die Menschen und
sahen zu, wie sich T’yogs immer kleiner werdende Gestalt die
gemiedenen Basaltwände hinauf entfernte, die noch keines Menschen
Fuß betreten hatte, und viele standen auch noch da und schauten,
lange nachdem er auf einem schmalen Felsband um den Berg
herumgegangen und außer Sicht geraten war. In dieser Nacht meinten
einige empfindsame Träumer, ein schwaches Beben zu verspüren, das
den verhaßten Berg erschütterte, doch als sie davon erzählten,
wurden sie nur verlacht. Am folgenden Tag stand eine große
Menschenmenge betend am Fuß des Berges und fragte sich, wann T’yog
zurückkehren würde. Und das gleiche taten sie auch am folgenden und
am übernächsten Tag. Wochenlang hofften und warteten sie, und dann
weinten sie. Doch T’yog, der die Menschheit hatte erretten wollen,
ward nie mehr gesehen. Von da an schauderten die Menschen über
T’yogs Anmaßung und versuchten, nicht an die Strafe zu denken, die
ihn für seine Gottlosigkeit ereilt haben mochte. Und die Priester
Ghatanothoas lächelten nur über diejenigen, die den Willen des
Gottes beklagten oder sein Recht auf die Menschenopfer in Frage
stellten. In späteren Jahren erfuhr das Volk von der List
Imash-Mos, doch änderte dies nichts an der vorherrschenden Meinung,
daß man Ghatanothoa besser in Frieden lassen solle. Niemand wagte
es mehr, sich gegen ihn aufzulehnen, und so zogen die Epochen
vorüber, und König folgte auf König, Hohepriester auf Hohepriester,
und Völker erstanden und gingen unter, und Länder tauchten aus dem
Meer auf und sanken wieder zurück. Und nach vielen Jahrtausenden
setzte der Verfall von K’naa ein, bis schließlich an einem
schrecklichen Tag inmitten von Sturm und Unwetter, schaurigem
Grollen und berghohen Wogen das ganze Land Mu für immer im Ozean
versank.
Doch die uralten Geheimnisse gingen nicht
unter, sondern pflanzten sich fort in
spätere Epochen. In fernen Ländern trafen
sich graugesichtige Flüchtlinge, die das Toben des Seeungeheuers
überlebt hatten, und fremde Himmel tranken den Rauch von Altären,
die entschwundenen Göttern und Dämonen errichtet wurden. Obwohl
niemand wußte, in welch bodenlose Tiefen der heilige Berg und die
zyklopische Festung des gefürchteten Ghatanothoa gesunken waren,
gab es immer noch Menschen, die seinen Namen murmelten und ihm
unaussprechliche Opfer brachten, damit er nicht aus den Tiefen des
Ozeans auftauche und Schrecken und Versteinerung über die
Menschheit bringe.
Um die verstreuten Priester bildeten sich die
Anfänge eines dunklen Geheimkults geheim deshalb, weil die Menschen
der neuen Länder andere Götter und Teufel hatten und von den
Älteren und Fremden nur Schlechtes dachten -, und innerhalb dieses
Kults geschahen viele schaurige Dinge und wurden viele merkwürdige
Objekte verehrt. Es ging die Sage, daß eine gewisse Gruppe
verschwiegener Priester noch immer den wahren Zauber gegen
Ghatanothoa hütete, den Imash-Mo dem schlafenden T’yog entwendet
hatte, obwohl niemand mehr die kryptischen Silben lesen oder
verstehen oder auch nur mutmaßen konnte, in welchem Teil der
verlorenen Welt von K’naa der gefürchtete Berg Yaddith-Gho und die
titanische Festung des Teufelsgottes gestanden hatten.
Obwohl der Kult vor allem in den Gegenden des
Pazifiks florierte, in denen einst Mu gelegen hatte, gab es
Gerüchte über den geheimen und verabscheuungswürdigen
Ghatanothoa-Kult auch im unglücklichen Atlantis und im gefürchteten
Hochland von Leng. Von Junzt deutete an, daß er auch in dem
sagenhaften unterirdischen Königreich K’nyan vertreten war und
nannte klare Beweise dafür, daß er auch nach Ägypten, Chaldäa,
Persien, China, die vergessenen semitischen Reiche Afrikas und nach
Mexiko und Peru in der Neuen Welt vorgedrungen war. Er ließ auch
sehr deutlich durchblicken, daß der Kult eng mit dem Hexenglauben
in Europa
zusammenhing, gegen den die Päpste mit ihren
Bullen wenig auszurichten vermochten. Im großen und ganzen war
jedoch das Abendland dem Kult nie sehr förderlich, und viele seiner
Verästelungen wurden durch den Unmut des Volkes vernichtet, der
immer dann aufflammte, wenn einzelne etwas von den schrecklichen
Riten und unaussprechlichen Opfern erfuhren. Am Ende mußte der Kult
wegen der Verfolgung ganz in den Untergrund gehen, doch wurde er
niemals mit Strunk und Stiel ausgerottet. Irgendwie gelang es
seinen Anhängern, ihn am Leben zu halten, vor allem im Fernen Osten
und auf den Pazifik-Inseln, wo er in den esoterischen Lehren der
polynesischen Areoiaufging.
Von Junzt machte beunruhigende Andeutungen
über tatsächliche Kontakte mit dem Kult, so daß ich beim Lesen
schauderte, als ich an die Gerüchte über seinen Tod dachte. Er
sprach von der Entstehung bestimmter Vorstellungen über das
Aussehen des Teufelsgottes ein Wesen, das kein Mensch (vielleicht
mit Ausnahme des allzu beherzten T’yog, der aber nie zurückgekehrt
war) je gesehen hatte und verglich diese gewohnheitsmäßige
Spekulation mit dem Tabu, mit dem im alten Mu jeder Versuch belegt
war, sich vorzustellen, wie das schreckliche Wesen aussehen mochte.
Offenbar sprachen die Anhänger des Kults nur mit ehrfürchtiger
Scheu über dieses Thema, mit einer Scheu, aus der jedoch auch eine
morbide Neugier im Hinblick auf das Wesen sprach, das T’yog
möglicherweise in jenem schrecklichen, vormenschlichen Gebäude auf
dem gefürchteten und jetzt versunkenen Berg gesehen harte, bevor er
sein Ende (wenn es denn das Ende war) gefunden harte, und ich war
seltsam beunruhigt von den vieldeutigen und hintersinnigen
Anspielungen des deutschen Gelehrten auf dieses Thema.
Kaum weniger beunruhigend waren von Junzts
Mutmaßungen über den Verbleib der gestohlenen Schriftrolle mit dem
Zauberspruch gegen Ghatanothoa sowie darüber, welcher Verwendung
diese Rolle schließlich zugeführt werden könnte. Obwohl ich fest
überzeugt war, daß es sich bei der ganzen Sache nur um einen reinen
Mythos handeln konnte, schauderte ich unwillkürlich bei dem
Gedanken an eine mögliche Wiederkehr des monströsen Gottes und bei
der Vorstellung, die Menschheit könnte unversehens in eine Rasse
von Statuen verwandelt werden, deren jede ein lebendiges Gehirn
enthalten würde, das auf Ewigkeit zu klarem Bewußtsein, jedoch
absoluter Handlungsunfähigkeit verdammt wäre. Der alte Weise aus
Düsseldorf hatte eine verteufelte Art, mehr anzudeuten, als er
aussprach, und ich konnte verstehen, warum sein fluchwürdiges Buch
in so vielen Ländern als gotteslästerlich, gefährlich und unrein
verboten war.
Ich wand mich vor Abscheu, doch das Buch übte
eine unselige Faszination aus, und ich konnte es nicht aus der Hand
legen, bevor ich es nicht zu Ende gelesen hatte. Die angeblichen
Reproduktionen von Ornamenten und Ideogrammen aus Mu ähnelten auf
höchst erstaunliche Weise den Mustern auf dem seltsamen Zylinder
und den Schriftzeichen auf der Rolle, und der ganze Bericht war
gespickt mit Einzelheiten, die auf vage und dennoch irritierende
Weise Zusammenhänge mit der schrecklichen Mumie ahnen ließen. Der
Zylinder und die Rolle der pazifische Schauplatz die Behauptung des
alten Kapitäns Weatherbee, die zyklopische Krypta, in der die Mumie
gefunden wurde, hätte sich einst unter einem riesigen Gebäude
befunden … irgendwie war ich froh darüber, daß die vulkanische
Insel wieder versunken war, ohne daß die massive Falltür geöffnet
werden konnte.
Was ich im Schwarzen Buchlas, war ein
diabolisch passendes Vorspiel zu den Pressemeldungen und eigenen
Erlebnissen, die im Frühjahr 1932. auf mich zukamen. Ich kann mich
kaum noch erinnern, wann mir zum erstenmal die immer häufiger
werdenden Berichte über Polizeieinsätze gegen die sonderbaren und
phantastischen religiösen Kulte im Orient und anderswo auffielen,
aber spätestens im Mai oder Juni wurde mir klar, daß in aller Welt
bizarre, mystische Geheimbünde, die normalerweise im Untergrund
blieben und kaum von sich reden machten, plötzlich eine ungewohnte,
überraschende Aktivität entfaltet hatten.
Ich hätte diese Berichte wahrscheinlich weder
mit den Andeutungen von Junzts noch mit dem Presserummel über die
Mumie und den Zylinder im Museum in Verbindung gebracht, wenn nicht
gewisse bedeutsame Silben und auffällige Ähnlichkeiten in den Riten
und Äußerungen der verschiedenen Geheimbündler in der Presse groß
herausgestellt worden wären. So aber konnte ich nicht umhin, mit
einiger
Beunruhigung das häufige Auftauchen eines —
wenn auch oft verstümmelten — Namens zu vermerken, der im Zentrum
all dieser kultischen Riten zu stehen schien und offenbar mit einer
eigentümlichen Mischung aus Ehrerbietung und Grauen betrachtet
wurde. Dieser Name erschien unter anderem in den Lesarten G’tanta,
Tanotah, Than-Tha, Gatan und Ktan-Tah, und ich hätte gar nicht die
Hinweise meiner inzwischen zahlreichen okkultistischen Briefpartner
gebraucht, um in diesen Varianten eine schreckliche und suggestive
Ähnlichkeit mit dem monströsen Namen zu sehen, den von Junzt als
Ghatanothoa angab.
Es gab auch noch andere merkwürdige Dinge.
Immer wieder waren in den Berichten verstohlene, ehrfürchtige
Hinweise auf eine »echte Schriftrolle« zu finden, von der ungeheure
Konsequenzen abzuhängen schienen und die sich angeblich im
Gewahrsam eines gewissen »Nagob« befand, wer oder was immer das
sein mochte. Ebenso stieß ich immer wieder auf einen Namen, der wie
Tog, Tiok, Yog, Zob oder Yob klang und mich unwillkürlich an den
Namen des glücklosen Häretikers T’yog aus dem Schwarzen Buchdenken
ließ. Dieser Name tauchte im allgemeinen in kryptischen
Redewendungen auf, wie zum Beispiel: »Es ist kein anderer als er«,
»Er hatte sein Gesicht
gesehen«, »Er weiß alles, obwohl er weder
sehen noch fühlen kann«, »Er hat durch die Äonen die Erinnerung
bewahrt«, »Die echte Rolle wird ihn erlösen«, »Nagob hat die echte
Rolle« oder »Er weiß, wo sie zu finden ist.«
Irgend etwas braute sich zusammen, und ich
wunderte mich gar nicht, als die sensationslüsternen
Sonntagszeitungen begannen, die absonderlichen kultischen Regungen
der letzten Zeit mit den Legenden von Mu einerseits und der
rätselhaften Mumie andererseits in Verbindung zu bringen. Es ist
durchaus möglich, daß die verbreiteten Artikel in der ersten Welle
der Publizität mit ihren beharrlichen Hinweisen auf die
Zusammenhänge zwischen Mumie, Zylinder und Schriftrolle einerseits
und der Erzählung im Schwarzen Buchandererseits sowie
ihren
phantastischen Spekulationen über die ganze
Angelegenheit, den latenten Fanatismus von Hunderten dieser
verstohlener Gruppen exotischer Sektierer weckten, an denen unsere
komplexe Welt so reich ist. Und die Zeitungen hörten auch nicht
auf, öl ins Feuer zu gießen, denn die Berichte über die kultischen
Aktivitäten waren noch sensationeller aufgemacht als die Artikel
der ersten Welle.
Im weiteren Verlauf des Sommers machten die
Museumswärter eine kuriose neue Beobachtung an den Besuchermassen,
die nun wieder in das Museum strömten, nachdem der Andrang im
Gefolge der ersten Presseberichte zwischendurch etwas nachgelassen
hatte. Es waren immer häufiger Personen von fremdartigem,
exotischem Aussehen darunter dunkelhäutige Asiaten, langhaarige
Sonderlinge und bärtige, braunhäutige Männer, die anscheinend nicht
an europäische Kleidung gewöhnt waren die sich unweigerlich nach
dem Mumiensaal erkundigten und dann in geradezu ekstatischer
Faszination das schreckenerregende pazifische Exemplar anstarrten.
Eine gewisse stille, düstere Unterströmung in dieser Flut
exzentrischer Ausländer fiel allen Wärtern auf, und auch ich selbst
blieb keineswegs unbeeindruckt. Ich mußte unwillkürlich an die
kultischen Umtriebe unter eben solchen Exoten wie diesen denken und
an die Verbindung dieser Umtriebe mit Mythen, die nur allzu eng mit
der schrecklichen Mumie und ihrer Schriftrolle
zusammenhingen.
Mitunter war ich fast versucht, die Mumie
nicht mehr auszustellen, zumal nachdem
ein Wärter mir erzählt hatte, er habe
mehrmals beobachtet, wie Ausländer seltsame Verbeugungen vor der
Mumie gemacht hätten, und habe öfter auch seltsames, an rituelle
Gesänge erinnerndes Gemurmel gehört, aber immer nur dann, wenn
keine normalen Besucher im Mumiensaal waren. Einer der Wärter litt
sogar unter einer merkwürdigen nervösen Halluzination im
Zusammenhang mit der versteinerten Schreckgestalt in der einsamen
Vitrine; er behauptete, er könnte sehen, wie sich in der
krampfhaften Haltung der knochigen Klauen und im angstverzerrten
Ausdruck des ledernen Gesichts von Tag zu Tag minimale, fast
unmerkliche Veränderungen vollzögen. Außerdem litt er unter der
Zwangsvorstellung, daß diese schrecklichen, hervortretenden Augen
sich jeden Moment öffnen könnten.
Anfang September, als der Andrang der
Neugierigen etwas nachließ und der Mumiensaal öfter einmal leer
war, unternahm einer der seltsamen Ausländer den Versuch, an die
Mumie zu gelangen, indem er ein Stück aus dem Glas der Vitrine
herausschnitt. Der Mann, ein dunkelhäutiger Polynesier, wurde
jedoch von einem Wärter ertappt und überwältigt, bevor er Schaden
anrichten konnte. Bei der anschließenden Untersuchung entpuppte
sich der Bursche als ein Hawaiianer, der für seine Aktivitäten in
gewissen religiösen Geheimkulten bekannt war und über ein
umfangreiches Strafregister im Zusammenhang mit abnormen und
unmenschlichen Riten und Opfern verfügte. Manche der
Aufzeichnungen, die man in seinem Zimmer fand, waren in höchstem
Grade rätselhaft und beunruhigend, darunter zahlreiche Blätter mit
Hieroglyphen ganz ähnlich denen auf der Schriftrolle im Museum und
in von Junzts Schwarzem Buch;er war aber durch nichts zu bewegen,
irgendwelche Aussagen über diese Dinge zu machen.
Kaum eine Woche nach diesem Zwischenfall
führte ein neuerlicher Versuch, zu der Mumie vorzudringen diesmal
durch Aufbrechen des Schlosses an der Vitrine —, zu einer zweiten
Verhaftung. Der Übeltäter, ein Singhalese, hatte ein ebenso langes
und unerfreuliches Sündenregister widerwärtiger Kultaktivitäten
aufzuweisen wie der Hawaiianer und zeigte sich ebenso unwillig, der
Polizei Auskunft zu geben. Besonders interessant wurde sein Fall
dadurch, daß ein Wärter ihn schon vorher mehrmals dabei belauscht
hatte, wie er einen merkwürdigen Singsang an die Mumie gerichtet
hatte, in dem das Wort »T’yog« mehrmals vorgekommen war. Ich ließ
daraufhin die Zahl der Wärter in der Mumienhalle verdoppeln und
wies die Wärter an, das seltsame Exponat nie auch nur für einen
Moment aus den Augen zu lassen.
Es läßt sich denken, daß die Presse diese
beiden Vorfälle gebührend aufbauschte, die seltsamen Geschichten
von dem sagenhaften, urzeitlichen Land Mu wieder aufnahm und
rundweg behauptete, bei der rätselhaften Mumie handle es sich um
niemand anderen als den tollkühnen Ketzer T’yog, der durch etwas,
was er in der prähumanen Zitadelle gesehen hatte, versteinert
worden s ei und in diesem Zustand 175000<> Jahre der
turbulenten Geschichte unseres Planeten überstanden hätte. Daß die
seltsamen Ausländer Kulte repräsentierten, die sich bis auf Mu
zurückverfolgen ließen, und daß sie die Mumie verehrten -oder
vielleicht sogar versuchten, sie durch Zauberei und Beschwörungen
ins Leben zurückzuholen -, wurde immer wieder auf die
sensationellste Weise herausgestellt.
Die Artikelschreiber beriefen sich
ausdrücklich auf die in den alten Legenden immer wiederkehrende
Behauptung, das Gehirn von Ghatanothoas versteinerten Opfern bleibe
unversehrt und bei Bewußtsein, und das diente ihnen als
Ausgangspunkt für die abenteuerlichsten und unwahrscheinlichsten
Spekulationen. Auch die Erwähnung einer »echten Rolle« wurde
weidlich ausgeschlachtet die vorherrschende Meinung war, daß es
sich bei T’yogs gestohlenem Amulett um etwas handelte, das
tatsächlich existierte, und daß die Kultmitglieder versuchten, es
zu irgendeinem Zweck mit T’yog selbst in Kontakt zu bringen. Ein
Ergebnis dieser Berichterstattung in den Zeitungen war, daß eine
dritte Welle gaffender Besucher das Museum überschwemmte und die
höllische Mumie sehen wollte, die im Mittelpunkt der ganzen
seltsamen und beunruhigenden Geschichte stand.
Diese neuen Besucher, von denen viele
mehrmals kamen, verbreiteten schließlich das Gerücht von dem sich
verändernden Aussehen der Mumie. Ich nehme an, das Museumspersonal
war trotz der beunruhigenden Beobachtung des nervösen Wärters
einige Monate zuvor zu sehr an den Anblick seltsamer
Ausstellungsstücke gewöhnt, um auf solche Einzelheiten zu achten.
Auf jeden Fall machten erst aufgeregte Besucher die Wärter auf die
allmähliche Mutation aufmerksam, die offenbar im Gange war. Fast
gleichzeitig bekam die Presse Wind davon und hängte die Sache
natürlich an die große Glocke.
Ich widmete der Angelegenheit
selbstverständlich die größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit und kam
Mitte Oktober zu dem Schluß, daß bei der Mumie eindeutig ein
Zerfallsprozeß eingesetzt hatte. Durch irgendwelche chemischen oder
physikalischen Einflüsse in der Luft schienen die halb steinernen,
halb ledernen Fasern allmählich zu erschlaffen, wodurch
wahrnehmbare Änderungen in den Stellungen der Gliedmaßen und in
bestimmten Details des angstverzerrten Gesichtsausdrucks
hervorgerufen wurden. Nachdem ein halbes Jahrhundert lang keinerlei
Verfallserscheinungen aufgetreten waren, war dies eine höchst
betrübliche Entwicklung, und ich ließ den Präparator des Museums,
Dr. Moore, das grausige Objekt mehrmals gründlich untersuchen. Er
stellte eine allgemeine Erschlaffung und Erweichung fest und
sprühte die Mumie zweioder dreimal mit adstringierenden
Flüssigkeiten ein, wagte aber keine drastischere Behandlung, um den
Verfallsprozeß nicht etwa noch zu beschleunigen.