Aber der Arzt hatte die Situation nach wie vor unter Kontrolle. Nachdem er sich mit dem Direktor der Anstalt beraten und eine dringende Botschaft an seinen Freund, den Gouverneur, geschickt hatte, sorgte er dafür, daß den Sträflingen besondere Belohnungen in Form von Bargeld und Strafnachlaß für den gefährlichen Dienst auf der Krankenstation gewährt wurden, und bekam auf diese Weise eine ausreichende Zahl von Freiwilligen zusammen. Er war jetzt zum Handeln entschlossen und ließ sich durch nichts beirren. Neue Fälle entlockten ihm nur ein kurzes Kopfnicken, und er schien keine Müdigkeit zu kennen, während er in dem riesigen steinernen Haus der Trauer und des Elends von Bett zu Bett eilte. Innerhalb einer Woche traten vierzig weitere Fälle auf, und man mußte Pfleger aus der Stadt holen. Clarendon ging in dieser Phase nur selten nach Hause, schlief oft auf einem Feldbett in den Räumen des Anstaltsdirektors und opferte sich mit charakteristischer Hingabe im Dienst an der Medizin und der Menschheit auf.
Dann kamen die ersten Anzeichen des Sturms auf, der schon bald über San Francisco hinwegfegen sollte. Neuigkeiten sprechen sich herum, und die Nachricht von der Bedrohung durch das Dum-Dum-Fieber verbreitete sich durch die Stadt wie ein Nebel von der Bucht. Reporter, denen es einzig und allein um Sensationen ging, ließen ihrer Phantasie freien Lauf und waren selig, als sie endlich im
Mexikanerviertel einen Fall aufstöberten, den ein praktischer Arzt dem vielleicht am Geld mehr lag als an der Wahrheit oder dem Wohl der Bevölkerung als Dum-DumFieber diagnostizierte.
Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Der Gedanke, daß ganz in ihrer Nähe der Tod in Gestalt einer heimtückischen Seuche lauern könnte, trieb die Menschen von San Francisco in eine Massenhysterie, und es begann jener historische Exodus, von dem bald schon das ganze Land erfahren sollte. Fähren und Ruderboote, Ausflugsdampfer und Lastkähne, Eisenbahnzüge und Cable Cars, Fahrräder und Kutschen, Möbelwagen und Handkarren alle verfügbaren Verkehrsmittel mußten herhalten. Sausalito und Tamalpais entvölkerten sich wegen der Nähe zu St. Quentin ebenfalls, während in Oakland, Berkeley und Alameda die Mieten ins Unermeßliche stiegen. Zeltstädte wuchsen aus dem Boden, und improvisierte Dörfer säumten die verstopften, nach Süden führenden Hauptstraßen von Millbrae nach San Jose. Viele versuchten, bei Freunden in Sacramento unterzukommen, während diejenigen, die aus verschiedenen Gründen gezwungen waren, in der Stadt zu bleiben, vor Angst wie gelähmt waren und kaum mehr tun konnten, als die wichtigsten Funktionen der nahezu ausgestorbenen Stadt notdürftig aufrechtzuerhalten.
Das Geschäftsleben abgesehen von Quacksalbern mit »Allheilmitteln« und »vorbeugenden Medikamenten« kam fast völlig zum Erliegen. Die Saloons boten zunächst »medizinische Getränke« an, stellten aber bald fest, daß die Bevölkerung sich lieber von Scharlatanen übers Ohr hauen ließ, die sich professioneller gebärdeten. Auf den merkwürdig stillen Straßen sahen die Menschen einander ins Gesicht, um mögliche Anzeichen der Seuche zu entdecken, und die Ladeninhaber ließen kaum noch jemanden herein, weil ihnen jeder Kunde als eine neue Bedrohung erschien. Die Rechtspflege brach zusammen, als Richter und Anwälte der Reihe nach der Versuchung erlagen, sich der Massenflucht anzuschließen. Selbst die Ärzte verließen in großer Zahl die Stadt, und viele gaben als Entschuldigung an, sie müßten unbedingt in den Bergen und an den Seen im nördlichen Teil des Staates Urlaub machen. Schulen und Colleges, Theater und Cafes, Restaurants und Saloons wurden geschlossen, und schon nach einer Woche war San Francisco eine Stadt, in der es nur noch stundenweise Strom und Wasser gab, die Zeitungen nur noch als Notausgaben erschienen und Pferdebahnen und Cable Cars die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel waren, die noch ab und zu fuhren. Das war der Tiefpunkt. Er konnte nicht lange dauern, denn Mut und
Beobachtungsgabe waren den Menschen nicht vollständig abhanden gekommen; die Tatsache, daß es außerhalb von St. Quentin keine Dum-Dum-Fieber-Epidemie größeren Ausmaßes gab, war zu offensichtlich, als daß man sie auf die Dauer hätte leugnen können, obwohl es mehrere akute Fälle gab und sich in den Zeltkolonien vor der Stadt infolge der katastrophalen sanitären Verhältnisse der Typhus ausbreitete. Die Stadtväter und die Redakteure der Zeitungen berieten sich und wurden aktiv; sie bedienten sich derselben Reporter, die so viel zur Entstehung der Panik beigetragen hatten, nun aber ihre Sensationslüsternheit in den Dienst der guten Sache stellten. Es erschienen Leitartikel und fiktive Interviews, in denen versichert wurde, Dr. Clarendon habe die Krankheit vollständig unter Kontrolle, und es sei absolut unmöglich, daß sie sich über die Mauern der Haftanstalt hinaus ausbreite. Durch ständige Wiederholung taten diese Berichte schließlich ihre Wirkung, und nachdem zuerst einige wenige die Rückkehr in die Stadt wagten, wurde schon bald ein breiter Strom daraus. Eines der ersten Symptome für die Normalisierung war der Beginn einer in den Zeitungen ausgetragenen Kontroverse, in der die jeweiligen Autoren die Schuld an der Panik den Gruppen oder Personen anlasteten, die ihrer Meinung nach dafür verantwortlich waren. Die zurückkehrenden Ärzte richteten Angriffe gegen Clarendon, versicherten der Öffentlichkeit, daß sie genauso in der Lage wären, das Fieber im Zaum zu halten, und warfen dem Anstaltsarzt vor, er habe nicht genug getan, um der Ausbreitung der Seuche in St. Quentin Einhalt zu gebieten. Clarendon habe, so behaupteten sie, viel mehr Todesfälle in Kauf genommen, als unvermeidlich gewesen wäre. Jeder Anfänger wisse, wie man Ansteckung bei fiebrigen Krankheiten verhindern könne, und falls dieser berühmte Gelehrte das nicht wisse, so offensichtlich deshalb, weil er aus wissenschaftlichem Ehrgeiz darauf aus sei, die Krankheit im fortgeschrittenen Stadium zu studieren, anstatt die gebotenen Maßnahmen einzuleiten, um die Opfer zu retten. Dieses Verhalten, so ließen sie durchblicken, mochte vielleicht bei überführten Mördern in einer Haftanstalt zu rechtfertigen sein, sicherlich aber nicht in San Francisco, wo ein Menschenleben immer noch als kostbar und unantastbar gelte. Diese und ähnliche Argumente wurden immer wieder vorgebracht, und die Zeitungen druckten alles bereitwillig ab, weil die Schärfe der Polemik, auf die Dr. Clarendon ja sicherlich reagieren würde, dazu beitrug, daß die Bevölkerung die Wirren der letzten Wochen vergaß und wieder Zuversicht gewann.
Aber Clarendon meldete sich nicht zu Wort. Er lächelte nur, und sein merkwürdiger Assistent Surama ließ noch öfter als sonst sein dunkles, schildkrötenhaftes Glucksen hören. Clarendon war jetzt wieder öfter zu Hause, so daß die Reporter anfingen, das Tor in der großen Mauer zu belagern, die der Arzt um sein Haus hatte ziehen lassen, anstatt dem Direktor von St. Quentin auf die Nerven zu gehen. Allerdings erreichten sie hier auch nicht viel, denn Surama stellte eine unüberwindliche Barriere zwischen dem Arzt und der Außenwelt dar, selbst wenn es den Reportern einmal gelang, bis aufs Grundstück vorzudringen. Die Zeitungsleute, die ins Haus gelassen wurden, bekamen gelegentlich auch Clarendons absonderliche Dienerschaft zu sehen und beeilten sich, Surama und die abgehärmten Tibeter ausführlich zu beschreiben. Natürlich überboten sie sich gegenseitig mit Übertreibungen, und diese Publizität schadete dem Ansehen des großen Arztes beträchtlich. Die meisten Menschen hassen ja alles Ausgefallene, und Hunderte, die Clarendon Herzlosigkeit oder Unfähigkeit zu verzeihen bereit gewesen wären, verurteilten ihn wegen des grotesken Geschmacks, den er ihrer Meinung nach dadurch bewies, daß er sich mit dem rätselhaften Surama und den acht schwarzgekleideten Orientalen umgab.
Anfang Januar stieg ein besonders hartnäckiger junger Reporter des Observerüber die acht Fuß hohe, mit einem Graben versehene Ziegelmauer an der Rückseite des Clarendon-Grundstücks und besah sich die verschiedenen Baulichkeiten und sonstigen Anlagen, die vom vorderen Tor aus gesehen hinter Bäumen verborgen waren. Mit flinken Augen und wachem Geist nahm der junge Mann alles in sich auf das Rosenspalier, die Volieren, die Tierkäfige, in denen alle möglichen Säugetiere, von Affen bis zu Meerschweinchen, zu sehen und zu hören waren, das stabile, hölzerne Laborgebäude mit seinen vergitterten Fenstern in der Nordwestecke des Gartens — und ließ seine forschenden Blicke über das ganze große Grundstück innerhalb der Mauern schweifen. Er hatte genug gesehen, um einen großartigen Artikel zu schreiben, und wäre ungeschoren davongekommen, hätte nicht Dick zu bellen angefangen, Georginas riesiger Bernhardiner. Surama reagierte sofort, hatte den jungen Mann beim Kragen, bevor dieser auch nur ein Wort hervorbrachte, schüttelte ihn, wie ein Terrier eine Ratte schüttelt, und schleifte ihn durch die Bäume in Richtung auf das Gartentor.
Atemlose Erklärungen und mit zitternder Stimme vorgebrachte Forderungen, zu Dr. Clarendon gebracht zu werden, fruchteten nichts. Surama gluckste nur und zerrte sein Opfer weiter. Der adrette Journalist bekam es nun ernstlich mit der Angst zu tun und wünschte sich sehnlichst, diese gespenstische Kreatur möchte etwas sagen, und sei es nur, um zu beweisen, daß sie wirklich ein Wesen von Fleisch und Blut war und auf diesen Planeten gehörte. Ihm wurde schrecklich übel, und er vermied es, die Augen anzuschauen, die auf dem Grund dieser großen schwarzen Höhlen liegen mußten. Bald darauf hörte er, wie das Gartentor geöffnet wurde, und erhielt einen gewaltigen Stoß; im nächsten Moment landete er im schlammigen Wasser des Grabens, den Clarendon längs der ganzen Mauer um sein Grundstück hatte ziehen lassen. Angst verwandelte sich in Wut, als er hörte, wie das schwere Tor
zugeschlagen wurde, und triefnaß rappelte er sich auf und drohte mit erhobener Faust zu dem abweisenden Portal hin. Als er sich dann zum Gehen wandte, vernahm er hinter sich ein leises Quietschen, spürte, wie Suramas tiefliegenden Augen ihm durch ein Türchen in der Pforte nachsahen, und hörte sein dunkles Glucksen, das ihm das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Der junge Mann, der, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, der Meinung war, mit unverdienter Grobheit behandelt worden zu sein, beschloß, sich an dem Mann zu rächen, der dafür verantwortlich war. Er schrieb ein fiktives Interview mit Dr. Clarendon, das angeblich in dessen Labor stattgefunden hatte und in dessen Verlauf er in allen Einzelheiten die Qualen von Dum-Dum-Fieber-Patienten schilderte, die angeblich in einer Reihe auf Couches gelegen hatten. Sein Meisterstück war ein Bild von einem besonders schwer betroffenen Patienten, der nach Wasser lechzte, während der Arzt ihm ein Glas der funkelnden Flüssigkeit gerade außer Reichweite hinhielt, um, wie der Journalist schrieb, die Auswirkungen solcher Entbehrung auf den Verlauf der Krankheit wissenschaftlich zu untersuchen. Dieser Erfindung folgten ganze Absätze, in denen der Verfasser sich so ehrerbietig über den Arzt äußerte, daß das Gift seiner Worte besonders stark wirkte. Dr. Clarendon sei, so hieß es in dem Artikel, zweifellos der größte und hingebungsvollste Wissenschaftler der Welt, aber der Wissenschaft gehe es nicht um das Wohl des einzelnen, und wohl niemand wünsche sich, daß seine schwersten Leiden verlängert und verschlimmert würden, nur damit ein Forscher Gewißheit über irgendeine abstrakte Erkenntnis erlangen könne. Das Leben sei dafür zu kurz.
Im großen und ganzen war der Artikel von diabolischer Raffiniertheit und dazu angetan, neun von zehn Lesern gegen Dr. Clarendon und seine angeblichen rücksichtslosen Methoden aufzubringen. Andere Zeitungen zögerten nicht, den Inhalt zu kopieren und weiter auszuschmücken sowie eine Serie gefälschter Interviews zu veröffentlichen, die einander in phantastischen Verleumdungen zu überbieten suchten. In keinem Fall trat der Arzt jedoch den Ungeheuerlichkeiten entgegen, die man ihm unterstellte. Er hatte keine Zeit, sich mit Narren und Lügnern
auseinanderzusetzen, und scherte sich nicht darum, was der gedankenlose Pöbel, den er verachtete, von ihm hielt. Als James Dalton ihm in einem Telegramm sein Bedauern aussprach und ihm Hilfe anbot, antwortete ihm Clarendon in geradezu verletzender Kürze. Er kümmere sich nicht um das Kläffen der Köter und habe keine Zeit, ihnen einen Maulkorb anzulegen. Und er sehe auch keinen Anlaß zur Dankbarkeit gegenüber irgend jemandem, der sich in eine derart abgeschmackte Angelegenheit einmische. Schweigend und voller Verachtung widmete er sich weiter seinen Pflichten.
Aber der junge Reporter hatte mit seinem Artikel eine Lawine ausgelöst. San Francisco geriet abermals in Hysterie, diesmal jedoch mehr aus Wut als aus Angst. Besonnenheit war nicht mehr gefragt, und es kam zwar nicht zu einem neuen Exodus, jedoch zu einer Herrschaft von Laster und Rücksichtslosigkeit, die aus Verzweiflung geboren war und an ähnliche Erscheinungen im Zusammenhang mit der Pest im Mittelalter erinnerte. Haß richtete sich gegen den Mann, der die Krankheit entdeckt hatte und bemüht war, sie einzudämmen, und in ihrem besinnungslosen Rausch vergaß die Öffentlichkeit seine großen Verdienste um die Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis und fachte das Feuer des
Ressentiments immer nur weiter an. Man hatte den Eindruck, daß die Menschen in ihrer Blindheit den Mann selbst haßten und nicht die Seuche, die ihre von frischen Winden durchwehte und normalerweise gesunde Stadt überfallen hatte.
Der junge Reporter erlag der Versuchung, mit dem neronischen Feuer zu spielen, das er selbst entfacht hatte, und setzte dem Ganzen die Krone auf. Eingedenk der schimpflichen Behandlung, die er von dem skeletthaften Diener des Arztes erduldet hatte, schrieb er einen meisterhaften Artikel über das Haus und die Umgebung von Dr. Clarendon unter besonderer Hervorhebung von Surama, von dem er sagte, sein bloßer Anblick genüge schon, um auch den Gesündesten fiebern zu lassen. Er bemühte sich, den hageren Gluckser lächerlich und zugleich dämonisch erscheinen zu lassen, wobei ihm letzteres offenbar besser gelang, denn ihn selbst erfaßte jedesmal eine Welle des Abscheus, wenn er nur an die kurzen Augenblicke dachte, da er dieser Kreatur nahe gewesen war. Er sammelte alle Gerüchte, die über den Mann im Umlauf waren, verbreitete sich über dessen angeblich übermenschliche
Gelehrsamkeit und deutete dunkel an, Dr. Clarendon müsse den Mann in einer gottlosen Gegend des geheimnisvollen, uralten Erdteils Afrika aufgestöbert haben.

Georgina, die alle Berichte in den Zeitungen aufmerksam verfolgte, litt sehr unter diesen Angriffen auf ihren Bruder, doch James Dalton, der häufig zu Besuch kam, gab sich die größte Mühe, sie zu trösten. In dieser Hinsicht war er warmherzig und aufrichtig, denn er wollte nicht nur die Frau trösten, die er liebte, sondern auch die Verehrung zum Ausdruck bringen, die er immer für das nach den Sternen greifende Genie empfunden hatte, das in seiner Jugend sein bester Freund gewesen war. Er sprach zu Georgina davon, daß Größe stets von Neid begleitet sei, und zählte ihr auf, wie viele überragende Köpfe schon von besinnungslosen Massen in den Schmutz getreten worden seien. Die Angriffe, so argumentierte er, seien der klarste Beweis für die Größe ihres Bruders.
»Aber sie schaden ihm trotzdem«, erwiderte sie. »Um so mehr, als ich weiß, daß Alf wirklich unter ihnen leidet, so gleichgültig er sich auch geben mag.« Dalton küßte ihr die Hand, eine Geste, die damals in besseren Kreisen noch nicht aus der Mode gekommen war.
»Auch ich leide darunter, um so mehr, als ich weiß, wie sehr du und Alf darunter leidet. Doch laß den Mut nicht sinken, Georgie, wir werden das mit vereinten Kräften durchstehen!«
So kam es, daß Georgina sich immer mehr auf die Kraft des stahlharten,
unnachgiebigen Gouverneurs verließ, der ihre Jugendliebe gewesen war, und sich ihm immer mehr mit ihren Ängsten und Befürchtungen anvertraute. Die Angriffe in der Presse und die Seuche waren nicht das einzige. Auch im Haus gab es Dinge, die ihr gar nicht gefielen. Surama, der sich gegenüber Mensch und Tier gleichermaßen grausam zeigte, flößte ihr unsäglichen Abscheu ein, und sie wurde das Gefühl nicht los, daß er auf irgendeine unerfindliche, heimtückische Art Alfred schaden wollte. Auch die Tibeter konnte sie nicht leiden und fand es äußerst merkwürdig, daß Surama sich mit ihnen verständigen konnte. Alfred wollte ihr nicht sagen, wer oder was Surama war, hatte ihr aber einmal stockend erklärt, er sei viel älter, als man es normalerweise für möglich halten würde, und habe Geheimnisse ergründet und Dinge erlebt, die ihn für jeden Wissenschaftler, der die Rätsel der Natur zu ergründen suche, zu einem unschätzbaren Kollegen machten.
Ihre Unruhe bewog Dalton zu noch häufigeren Besuchen bei den Clarendons, obwohl er merkte, daß Surama seine Anwesenheit zutiefst mißbilligte. Der gespenstische Knochenmann starrte ihn immer auf ganz eigentümliche Weise aus seinen tiefliegenden Augenhöhlen an, wenn er ihn einließ, und begann oft, wenn er nach dem Besuch das Gartentor hinter ihm schloß, auf eine monotone Weise zu kichern oder zu glucksen, die Dalton schaudern ließ. Dr. Clarendon interessierte sich unterdessen offenbar für nichts außer seiner Arbeit in St. Quentin, wohin er jeden Tag mit dem Boot fuhr, nur von Surama begleitet, der das Ruder bediente, während der Arzt las oder seine Notizen ordnete. Dalton war diese regelmäßige Abwesenheit des Hausherrn willkommen, gab sie ihm doch Gelegenheit, erneut um Georginas Gunst zu werben. Wenn er länger blieb und mit Alfred zusammentraf, begrüßte dieser ihn jedoch stets freundlich. Für James und Georgina stand es nach einer gewissen Zeit fest, daß sie sich verloben würden, und sie warteten nur eine günstige Gelegenheit ab, um es Alfred mitzuteilen.Der Gouverneur, der sich nie mit halben Sachen
zufriedengab und in seiner Treue nicht erlahmte, scheute keine Mühe, um den Gerüchten über seinen alten Freund entgegenzutreten. Presse und Öffentlichkeit bekamen diesen Einfluß zu spüren, und es gelang ihm sogar, Wissenschaftler an der Ostküste zu interessieren, von denen viele nach Kalifornien kamen, um die Seuche und das Serum zu studieren, das Clarendon zur Abwehr der fieberhaften Krankheit entwickelte. Diese Ärzte und Biologen erhielten jedoch nicht die Auskünfte, die sie sich erhofften, so daß mehrere von ihnen enttäuscht wieder heimfuhren. Nicht wenige von ihnen schrieben feindselige Artikel gegen Clarendon, in denen sie ihn einer unwissenschaftlichen und nur auf persönlichen Ruhm bedachten Einstellung ziehen und andeuteten, er halte seine Methoden geheim, weil er letzten Endes nur darauf aus sei, sich auf höchst unkollegiale Weise persönlich zu bereichern. Andere kamen glücklicherweise zu einem günstigeren Urteil und schrieben begeistert über Clarendon und seine Arbeit. Sie hatten die Patienten gesehen und konnten beurteilen, wie glänzend er die gefürchtete Krankheit im Zaum hielt. Seine Zurückhaltung im Hinblick auf das Gegengift hielten sie für durchaus gerechtfertigt, weil eine voreilige Veröffentlichung womöglich mehr geschadet als genutzt hätte. Clarendon selbst, den viele von ihnen schon von früher her kannten, beeindruckte sie mehr denn je, und sie zögerten nicht, ihn auf eine Stufe mit Jenner, Lister, Koch, Pasteur, Metschnikoff und all den anderen zu stellen, die ihr Leben in den Dienst der Pathologie und der Menschheit gestellt hatten. Dalton hob Alfred alle Zeitschriftenartikel auf, in denen Positives über ihn stand, und brachte sie oft persönlich vorbei, was ihm gleichzeitig einen Vorwand lieferte, Georgina zu besuchen. Diese Artikel entlockten Clarendon jedoch höchstens ein verächtliches Lächeln, und im allgemeinen warf er sie Surama zu, dessen tiefes, beunruhigendes Glucksen beim Lesen der ironisch-amüsierten Reaktion des Arztes auffallend ähnelte.
An einem Montagabend Anfang Februar erschien Dalton mit der festen Absicht, Clarendon um die Hand seiner Schwester zu bitten. Georgina selbst empfing ihn am Gartentor, und auf dem Weg zum Haus blieb er stehen, um den großen Hund zu tätscheln, der angelaufen kam und ihm freundlich die Pfoten auf die Brust legte. Es war Dick, Georginas geliebter Bernhardiner,und Dalton war froh über die Zuneigung des Tiers, das ihr soviel bedeutete.
Dick wedelte begeistert mit dem Schwanz und drehte den Gouverneur halb herum, als er mit einem kurzen, leisen Bellen von ihm abließ und durch die Bäume auf das Labor zulief. Er verschwand jedoch nicht, sondern blieb gleich wieder stehen, sah sich um und bellte erneut leise, als wollte er Dalton auffordern, ihm zu folgen. Georgina, die Spaß daran hatte, sich den spielerischen Launen ihres riesigen vierbeinigen Freundes zu fügen, forderte James mit einer Kopfbewegung auf, ihr zu folgen, damit sie nachsähen, was der Hund wollte. So gingen sie beide langsam hinter ihm her, während er erleichtert in den hinteren Teil des Gartens trottete, wo sich das Dach des Laborbaus als Silhouette vor dem Sternhimmel über der hohen Ziegelmauer abhob.
An den Rändern der dunklen Gardinen vor den Fenstern schimmerte Licht durch; Alfred und Surama waren also bei der Arbeit. Plötzlich kam von drinnen ein leises, unterdrücktes Geräusch wie der Schrei eines Kindes, ein klagender Ruf:
»Mama! Mama!« Dick bellte, und James und Georgina zuckten erschrocken zusammen. Dann lächelte Georgina jedoch, weil ihr die Papageien einfielen, die Clarendon immer für Versuchszwekke hielt, und sie tätschelte Dick den Kopf, zum Zeichen, daß sie ihm nicht böse war, weil er sie und Dalton irregeführt hatte, oder um ihn darüber zu trösten, daß er sich selbst hatte täuschen lassen.
Während sie langsam zum Haus zurückgingen, erzählte Dalton ihr von seinem Entschluß, an diesem Abend mit Alfred über ihre Verlobung zu sprechen, und Georgina erhob keine Einwände. Sie wußte, ihr Bruder würde nicht eben begeistert sein, seine treue Haushälterin und Gefährtin zu verlieren, glaubte jedoch, er sei ihr so herzlich zugetan, daß er ihr kein Hindernis in den Weg legen würde.
Später am Abend kam Clarendon mit federnden Schritten und offenbar in besserer Laune als gewöhnlich ins Haus. Dalton, der in dieser Stimmung ein gutes Omen erblickte, faßte noch zusätzlich Mut, als der Arzt ihn mit einem kräftigen Händedruck und der Frage begrüßte: »Na, Jimmy, was macht die Politik?« Er warf einen Blick auf Georgina, die sich daraufhin entschuldigte, während die beiden Männer sich hinsetzten und über alles mögliche zu reden anfingen. Nach und nach, inmitten vieler Erinnerungen an die gemeinsame Jugendzeit, arbeitete sich Dalton zu seinem Thema vor, bis er sich schließlich ein Herz faßte und unumwunden seine Frage stellte. »Alf, ich möchte Georgina heiraten. Haben wir deinen Segen?« Dalton behielt seinen alten Freund genau im Auge und sah, wie ein Schatten über sein Gesicht fiel. Die dunklen Augen blitzten einen Augenblick auf und verhüllten sich dann wieder, und gleichzeitig gab sich Clarendon Mühe, wieder ein gleichmütiges Gesicht zu machen. Also war doch die Wissenschaft oder der Egoismus am Werk.
»Du bittest um etwas Unmögliches. Georgina ist nicht mehr dasselbe flatterhafte Geschöpf wie vor Jahren. Sie hat jetzt eine Aufgabe im Dienste der Wahrheit und der Menschheit, und ihr Platz ist hier. Sie hat sich entschieden, ihr Leben meiner Arbeit zu widmen, dem Haushalt, der meine Arbeit ermöglicht, und sie kann jetzt nicht einfach einer Laune folgen und mich im Stich lassen.«
Dalton wartete ab, ob der Freund noch etwas sagen würde. Derselbe alte Fanatismus Menschheit gegen Individuum -, und der Arzt stellte ihn offenkundig über das Lebensglück seiner Schwester! Nach einer Weile wagte er eine Entgegnung. »Aber hör doch, Alf, willst du damit sagen, du brauchst Georgina so nötig für deine Arbeit, daß du sie zur Sklavin und Märtyrerin machen mußt? Wo bleibt dein Gefühl für die Proportionen, Mann! Wenn es um Surama oder sonst jemanden ginge, der dir unmittelbar bei deinen Versuchen hilft, würde ich es ja verstehen, aber Georgina ist ja letzten Endes nur deine Haushälterin. Sie will meine Frau werden und sagt, daß sie mich liebt. Hast du das Recht, sie zu hindern, ihr eigenes Leben zu führen? Hast du das Recht …«
»Das reicht, James!« Clarendon war kreidebleich geworden. »Ob ich das Recht habe, in meiner eigenen Familie zu bestimmen, geht einen Außenseiter nichts an.«

»Außenseiter das kannst du zu einem sagen, der …« Dalton schnürte sich die Kehle zusammen, als die stählerne Stimme des Arztes ihn wieder unterbrach.
»Ein Außenseiter in meiner Familie, und von heute an auch ein Außenseiter in meinem Haus. Dalton, deine Anmaßung geht ein bißchen zu weit! Guten Abend, Gouverneur!« Clarendon ging hastig aus dem Raum, ohne seinen Freund nocheines Blickes zu würdigen.
Dalton zögerte noch unschlüssig, als Georgina hereinkam. Es war ihr anzusehen, daß sie mit ihrem Bruder gesprochen hatte, und Dalton nahm impulsiv ihre Hände. »Nun, Georgie, was meinst du? Ich fürchte, du wirst dich zwischen Alf und mir entscheiden müssen. Du weißt, was ich für dich empfinde du weißt, was ich schon damals für dich empfand, als dein Vater gegen mich war. Wie lautet diesmal deine Antwort?«
»James, Liebster«, erwiderte sie langsam. »Glaubst du mir, daß ich dich liebe?« Er nickte und drückte ihr erwartungsvoll die Hände.
»Wenn du mich auch liebst, dann wirst du noch eine Zeitlang warten. Denk nicht mehr an Alfs Taktlosigkeit. Er kann einem leid tun. Ich kann dir jetzt nicht alles sagen, aber du weißt, wie beunruhigt ich bin über die Belastung durch seine Arbeit, die Kritik und dieses glotzende, gackernde Monstrum Surama! Ich habe Angst, er könnte zusammenbrechen ich kann besser beurteilen als jemand, der nicht zur Familie gehört, wie sehr ihn das alles mitnimmt. Ich sehe es, denn ich habe ihn mein Leben lang beobachtet. Er verändert sich, beugt sich langsam unter seiner schweren Bürde, und um es zu verbergen, gibt er sich besonders schroff. Du verstehst mich doch, Liebster, nicht wahr?«
Sie hielt inne, und Dalton nickte erneut und drückte eine ihrer Hände an seine Brust.

»Dann versprich mir bitte. Liebster, geduldig zu sein«, schloß sie. »Ich muß ihm beistehen. Ich muß! Ich muß!«
Dalton sagte eine Zeitlang nichts, senkte jedoch den Kopf wie in ehrerbietiger
Verneigung. Diese hingebungsvolle Frau hatte mehr von Christus als er es je bei einem Menschen für möglich gehalten hätte; und angesichts solcher Liebe und Treue brachte er es nicht übers Herz, sie zu drängen.
Die Worte der Trauer und des Abschieds waren kurz, und James, dessen blaue Augen feucht waren, sah kaum den hageren Alten, als ihm das Tor zur Straße geöffnet wurde. Doch als es hinter ihm ins Schloß fiel, hörte er das grauenerregende Glucksen, das er nun schon so gut kannte, und wußte, daß Surama da war, Surama, den Georgina den bösen Geist ihres Bruders genannt hatte. Während er sich mit festen Schritten entfernte,beschloß Dalton, wachsam zu sein und beim ersten Anzeichen von Gefahr zu handeln.

Während die Epidemie noch in aller Munde war, schwelten in San Francisco die Ressentiments gegen Clarendon immer weiter. Tatsächlich gab es außerhalb des Zuchthauses nur wenige Fälle, und diese waren zum größten Teil auf die
mexikanische Unterschicht beschränkt, die wegen der schlechten sanitären Verhältnisse für Krankheiten jeder Art anfällig war, aber den Politikern und der Bevölkerung reichte das schon, um die Angriffe von Clarendons Feinden für gerechtfertigt zu halten. Da jedoch Dalton nach wie vor nichts auf Clarendon kommen ließ, besannen sich die Unzufriedenen, die medizinischen Dogmatiker und die Mitläufer auf die Gesetzgebung, brachten sehr geschickt die Feinde Clarendons und die alten Gegner des Gouverneurs unter einen Hut und bereiteten ein Gesetz vor, demzufolge die Zuständigkeit für die Besetzung mittlerer und unterer Positionen im Staatsdienst vom Gouverneur auf die unmittelbar betroffenen Gremien übergehen sollte.
In dieser Angelegenheit entwickelte kein Lobbyist größere Aktivität als Clarendons leitender Assistent Dr. Jones, der von Anfang an auf seinen Vorgesetzten eifersüchtig gewesen war und nun eine Möglichkeit sah, die Dinge in seinem Sinne zu beeinflussen; er war seinem Schicksal dankbar dafür, daß er mit dem Vorsitzenden des Anstaltsrats verwandt war, ein Umstand, dem er auch seine jetzige Position verdankte. Falls das neue Gesetz durchkam, würde man Clarendon zweifellos entlassen und ihn an seine Stelle setzen; auf dieses Ziel arbeitete er nun mit aller Kraft hin. Jones hatte alle Eigenschaften, die Clarendon fehlten -er war ein geborener Politiker und ein Opportunist, wie er im Buche steht, und stellte seinen eigenen Vorteil jederzeit über den Dienst an der Wissenschaft. Er war unbemittelt und deshalb auf eine gut dotierte Stellung aus, ganz im Gegensatz zu dem
wohlhabenden und finanziell unabhängigen Gelehrten, den er verdrängen wollte. Mit rattenhafter Schläue und Hartnäckigkeit arbeitete er daran, dem großen Biologen, der sein Vorgesetzter war, das Wasser abzugraben, und wurde eines Tages mit der Nachricht belohnt, das Gesetz sei verabschiedet worden. Von da an war der Gouverneur nicht mehr für Ernennungen zuständig, und über die medizinische Leitung von St. Quentin hatte nun der Anstaltsrat zu bestimmen.
Clarendon hatte von all diesen Intrigen nichts mitbekommen. Er, der ganz in seinen administrativen und wissenschaftlichen Arbeiten aufging, war blind für den Verrat, den »dieser Esel Jones« an ihm beging und taub für den Klatsch in der
Gefängnisverwaltung. Er hatte noch nie in seinem Leben Zeitung gelesen, und durch den Bruch mit Dalton hatte er seine letzte Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Mit der Naivität eines Einsiedlers hätte er sich nie träumen lassen, daß seine Position gefährdet war. Angesichts von Daltons Loyalität und seiner Bereitschaft, selbst schweres Unrecht zu verzeihen, wie er sie dem alten Clarendon gegenüber bewies, der seinen Vater an der Börse ruiniert hatte, war natürlich eine Entlassung durch den Gouverneur ausgeschlossen, und der Arzt konnte sich in seiner politischen Ahnungslosigkeit auch keinen plötzlichen Machtwechsel vorstellen, der dazu geführt hätte, daß ein anderer über sein Verbleiben im Amt hätte entscheiden können. Deshalb lächelte er auch nur zufrieden, als Dalton nach Sacramento ging, überzeugt, daß seine Stellung in St. Quentin ebenso sicher sei wie das Verbleiben seiner Schwester in seinem Haushalt. Er war es gewöhnt zu bekommen, was er wollte, und bildete sich ein, daß sein Glück ihm immer noch treu sei.
In der ersten Märzwoche, ein oder zwei Tage nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes, erschien der Vorsitzende des Anstaltsrats in St. Quentin. Clarendon war nicht im Hause, aber Dr. Jones schätzte sich glücklich, den prominenten Besucher -der außerdem sein eigener Onkel war durch die große Krankenstation zu führen, einschließlich der Isolierstation für die Fieberkranken, die durch Presse und Panik so berühmt geworden war. Inzwischen gegen seinen Willen zu Clarendons Glauben bekehrt, daß die Krankheit nicht ansteckend sei, versicherte Jones seinem Onkel lächelnd, er habe nichts zu fürchten und ermunterte ihn, sich die Patienten genau anzusehen, vor allem einen zum Skelett abgemagerten Kranken, der früher ein wahrer Kraftprotz gewesen war und, wie Jones durchblicken ließ, langsam und unter Qualen sterbe, weil Clarendon ihm nicht die richtige Medizin verabreiche.»Willst du damit sagen«, rief der Vorsitzende, »daß Dr. Clarendon sich weigert, dem Mann zu geben, was er braucht, obwohl er weiß, daß er ihm damit das Leben retten könnte?«

»Genau das«, zischte Dr. Jones, verstummte jedoch jäh, als kein anderer als Clarendon persönlich eintrat. Clarendon begrüßte Jones mit einem kalten Nicken und musterte mit unverhohlenem Mißfallen den Besucher, den er nicht kannte. »Dr. Jones, ich dachte. Sie wüßten, das dieser Patient auf keinen Fall gestört werden darf. Und habe ich nicht angeordnet, daß Besucher nur mit meiner ausdrücklichen Erlaubnis eingelassen werden dürfen?«
Aber der Vorsitzende mischte sich ein, bevor sein Neffe ihn vorstellen konnte. »Entschuldigen Sie, Dr. Clarendon, aber trifft es zu, daß Sie sich weigern, diesem Mann die Medizin zu verabreichen, die ihn retten würde?«
Clarendon sah ihn mit eisigem Blick an und antwortete ihm mit stahlharter Stimme.

»Das ist eine impertinente Frage, Sir. Ich trage hier die Verantwortung, und Besuche sind nicht erlaubt. Bitte verlassen Sie auf der Stelle den Raum.«
Der Vorsitzende, dem die Situation Spaß zu machen begann, legte mehr Spott und Anmaßung in seine Antwort, als nötig gewesen wäre.
»Sie irren sich, Sir! Ich, nicht Sie, habe hier zu befehlen. Vor Ihnen steht der Vorsitzende des Anstaltsrats. Ich muß Ihnen außerdem mitteilen, daß ich Ihre Tätigkeit als eine Bedrohung für das Wohlergehen der Häftlinge betrachte und Sie zum Rücktritt auffordern muß. Ab sofort wird Dr. Jones die medizinische Leitung übernehmen, und falls Sie bis zu Ihrer formellen Entlassung noch hierbleiben möchten, müssen Sie sich seinen Anordnungen fügen.«
Das war Wilfred Jones’ großer Augenblick. Das Leben bescherte ihm nie wieder einen solchen Höhepunkt, und wir sollten es ihm nicht verargen, daß er diesen auskostete. Er war schließlich kein schlechter Charakter, sondern nur ein Durchschnittsmensch, und hatte das Gesetz der Durchschnittsmenschen befolgt, um jeden Preis den eigenen Vorteil wahrzunehmen. Clarendon stand wie vom Donner gerührt und sah den anderen an, als hielte er ihn für verrückt, bis ihn dann der Ausdruck des
Triumphes auf Dr. Jones’ Gesicht überzeugte, daß tatsächlich etwas passiert sein mußte. Er war von eisiger Höflichkeit, als er antwortete.
»Ich bezweifle nicht, daß Sie der sind, als der Sie sich ausgeben, Sir. Doch zum Glück kam meine Ernennung vom Gouverneur des Staates und kann deshalb auch nur von ihm widerrufen werden.«
Der Vorsitzende und sein Neffe starrten ihn verblüfft an, denn solche Weltfremdheit hatten sie nicht für möglich gehalten. Dann erfaßte der ältere Mann die Situation und erklärte ausführlich die Zusammenhänge.
»Wenn sich herausgestellt hätte, daß die laufenden Berichte Ihnen unrecht tun«, schloß er, »hätte ich die Maßnahme noch hinausgeschoben. Aber der Fall dieses bedauernswerten Mannes und Ihr arrogantes Auftreten lassen mir keine Wahl. Tatsache ist nun mal …« Aber Dr. Clarendon unterbrach ihn mit schneidender Stimme.
»Tatsache ist nun mal, daß ich hier der Direktor bin, und ich muß Sie auffordern,
diesen Raum sofort zu verlassen.«
Der Vorsitzende wurde rot vor Wut und explodierte.
»Was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Ich werde Sie hinauswerfen lassen. Unverschämtheit!«
Aber er konnte nur noch diesen Satz sagen. Durch die Beleidigung jählings in ein Bündel Haß verwandelt, schlug der schlanke Wissenschaftler mit beiden Fäusten in einem Ausbruch übernatürlicher Kraft zu, deren ihn niemand für fähig gehalten härte. Und ebenso übernatürlich wie seine Kraft war seine Zielsicherheit, die nicht einmal ein Boxchampion hätte übertreffen können. Beide Männer, der Vorsitzende und Dr. Jones, wurden voll getroffen. Der eine mitten ins Gesicht, der andere auf die Kinnspitze. Sie stürzten um wie gefällte Bäume und blieben unbeweglich und bewußtlos liegen. Clarendon jedoch, wieder ganz Herr seiner selbst, nahm Hut und Stock und ging hinaus auf sein Boot, wo ihn Surama erwartete. Erst als er in dem fahrenden Boot saß, gab er der furchtbaren Wut, die ihn verzehrte, hörbaren Ausdruck. Mit verzerrtem Gesicht beschwor er Verwünschungen von den Sternen und den Abgründen hinter den Sternen herab, so daß sogar Surama schauderte, ein altes Zeichen machte, das in keinem Geschichtsbuch enthalten ist, und sogar zu glucksen vergaß.
Georgina suchte ihren gekränkten Bruder zu besänftigen, so gut sie konnte. Er war geistig und physisch erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich auf die Couch in der Bibliothek geworfen. In diesem düsteren Zimmer hatte die treue Schwester Stück für Stück die fast unglaubliche Neuigkeit erfahren. Ihre Tröstungen waren spontan und zärtlich, und sie machte ihm klar, welch einen gewaltigen, wenn auch unbeabsichtigten Tribut an seine Größe die Angriffe, die Verfolgung und die Entlassung darstellten. Er hatte versucht, die Angelegenheit mit dem Gleichmut zu betrachten, den sie predigte, und es wäre ihm wohl auch gelungen, wenn nur seine persönliche Würde im Spiel gewesen wäre. Doch der Verlust seiner
Arbeitsmöglichkeiten als Wissenschaftler war mehr, als er zu ertragen vermochte, und er seufzte immer wieder bei dem Gedanken, daß er nur noch drei Monate im Gefängnis gebraucht hätte, um endlich das langgesuchte Mittel zu finden, das den endgültigen Sieg über alle fiebrigen Erkrankungen bedeutet hätte.
Georgina versuchte dann, ihn auf andere Weise aufzuheitern, und sagte ihm, der Anstaltsrat werde sicher wieder nach ihm schicken, falls die Seuche nicht zurückging oder sogar mit neuer Kraft ausbrach. Aber auch das fruchtete nichts, und Clarendon antwortete ihr nur in bitteren, ironischen kleinen Sätzen, deren Tonfall nur allzu klar werden ließ, wie abgrundtief verzweifelt er war.
»Nachlassen? Wieder ausbrechen? Oh, es wird schön nachlassen! Jedenfalls werden sie denken, es hätte nachgelassen. Die glauben doch alles, egal, was passiert! Ignoranten sehen nun mal nichts, und Pfuscher sind keine Entdecker. Dieser Sorte zeigt die Wissenschaft nie ihr Gesicht. Und die nennen sich Ärzte. Aber das beste ist doch, daß dieser Esel Jones jetzt den Chef spielen will!« Er brach ab und lachte so dämonisch, daß Georgina schauderte.
Es folgten wahrhaft trübe Tage im Haus der Clarendons. Tiefe, durch nichts zu lindernde Niedergeschlagenheit hatte den sonst so unermüdlichen Geist des Arztes erfaßt, und er hätte sogar die Nahrung verweigert, wenn Georgina sie ihm nicht aufgedrängt hätte. Sein großes Notizbuch mit den Ergebnissen seiner
Untersuchungen lag ungeöffnet auf dem Tisch in der Bibliothek, und seine kleine goldene Spritze mit Anti-Fieber-Serum, ein von ihm selbst konstruiertes kleines Gerät mit einem Reservoir an einem breiten goldenen Fingerring, das durch einen einzigartigen Druckmechanismus betätigt wurde, lag unbeachtet in einem kleinen Lederkästchen daneben. Energie, Ehrgeiz und das Verlangen nach Forschung und Beobachtung schienen in ihm erstorben zu sein, und er erkundigte sich nicht einmal nach seinem Labor, in dem Hunderte von Bakterienkulturen in ihren säuberlich aufgereihten Phiolen auf ihn warteten.
Die zahllosen Tiere, die er für seine Versuche hielt, spielten, lebendig und wohlgenährt, in der Frühlingssonne, und wenn Georgina durch das Rosenspalier zu den Käfigen hinausging, empfand sie ein seltsam unpassendes Glücksgefühl. Sie wußte freilich, wie unbeständig dieses Glück sein würde, denn sobald ihr Bruder wieder arbeitete, würden alle diese kleinen Lebewesen zu Märtyrern der
Wissenschaft gemacht werden. Sie sah deshalb in der Untätigkeit ihres Bruders so etwas wie ein ausgleichendes Moment und redete ihm zu, die Ruhe, die er so bitter nötig hatte, noch eine Zeitlang zu genießen. Die acht tibetischen Diener gingen lautlos umher und verrichteten ihre Arbeit so tadellos wie eh und je. Georgina sorgte dafür, daß die Ordnung im Hause nicht unter dem Nichtstun des Hausherrn zu leiden hatte.

Clarendon, der seinen Ehrgeiz und seine Forschungen gegen Müßiggang in Pantoffeln und Hausmantel eingetauscht hatte, ließ es sich gefallen, daß Georgina ihn wie ein Kind behandelte. Er lächelte nur traurig, wenn sie ihn bemutterte, und folgte ihr aufs Wort. Eine Atmosphäre heiterer, beinahe glücklicher Gelassenheit durchzog das Haus, in die nur Surama eine dissonante Note brachte. Er war offenbar
todunglücklich und hatte für Georginas Heiterkeit oft nur mürrische, mißgünstige Blicke übrig. Die vielfältigen Experimente im Labor waren seine einzige Freude gewesen, und er litt darunter, daß er nun nicht mehr die zum Tode verurteilten Tiere packen, sie in seinen Fängen ins Labor bringen und mit heißen, brütenden Blicken und bösem Glucksen zusehen konnte, wie sie nach und nach mit aufgerissenen, rotgeränderten Augen und geschwollener Zunge im schaumbedeckten Maul ins Koma fielen.
Der Anblick der sorglosen Kreaturen in ihren Käfigen trieb ihn jetzt anscheinend zur Verzweiflung, und er kam oft zu Clarendon, um ihn zu fragen, ob er irgendwelche Befehle hätte. Wenn sich dann zeigte, daß der Arzt immer noch apathisch war und nicht daran dachte, seine Arbeit fortzusetzen, entfernte er sich leise fluchend und böse Blicke in alle Richtungen werfend und schlich sich wie auf Katzenpfoten in seine Unterkunft im Kellergeschoß, wo man ihn dann bisweilen einen Singsang in tiefen, gedämpften Rhythmen anstimmen hörte, der auf blasphemische Weise fremdartig war und unbehagliche Erinnerungen an allerlei gottlose Riten weckte. Dies alles ging Georgina zwar auch auf die Nerven, beunruhigte sie aber bei weitem nicht so wie die fortgesetzte Untätigkeit ihres Bruders. Sie machte sich Sorgen, weil dieser Zustand nun schon so lange dauerte, und büßte nach und nach die Heiterkeit ein, die den Laborassistenten so aufgebracht hatte. Selbst medizinisch gebildet, erschien ihr der Zustand ihres Bruders aus neurologischer Sicht als höchst unbefriedigend, und der völlige Mangel an Interesse und Aktivität beunruhigte sie nun genauso wie früher sein fanatischer Eifer. Würde schleichende Melancholie aus diesem hochintelligenten Menschen schließlich einen harmlosen Schwachkopf machen?
Gegen Ende Mai trat dann eine unvorhergesehene Änderung ein. Georgina erinnerte sich auch lange danach noch an jede Einzelheit im Zusammenhang mit diesem Ereignis, beispielsweise an so triviale Details wie das Paket, das Surama am Tag zuvor aus Algier bekommen hatte und das einen höchst unangenehmen Geruch verströmte, oder das schwere, plötzlich aufziehende Gewitter, das, eine
ausgesprochene Seltenheit in Kalifornien, in dieser Nacht losbrach, als Surama gerade mit dröhnender Bruststimme lauter und intensiver als sonst seine rituellen Gesänge anstimmte.
Es war ein schöner Tag gewesen, und sie hatte im Garten Blumen für das Speisezimmer gepflückt. Als sie wieder ins Haus kam, sah sie ihren Bruder vollständig angezogen in der Bibliothek am Tisch sitzen und abwechselnd seine Notizen in seinem dicken Laborjournal vergleichen und mit raschen, sicheren
Federstrichen neue Einträge machen. Er war munter und vital, und seine
Bewegungen waren von erfreulicher Geschmeidigkeit, wenn er ab und zu eine Seite umwandte oder nach einem Buch griff. Erfreut und erleichtert, brachte Georgina rasch ihre Blumen ins Eßzimmer und kehrte dann gleich zurück, doch als sie in die Bibliothek kam, stellte sie fest, daß ihr Bruder nicht mehr da war. Sie konnte sich natürlich denken, daß er im Labor arbeitete, und war überglücklich, daß er offenbar seine alte Tatkraft wiedergefunden hatte. Da sie wußte, daß es zwecklos gewesen wäre, mit dem Mittagessen auf ihn zu warten, aß sie allein und stellte ihm etwas warm, für den Fall, daß er irgendwann zurückkäme. Aber er kam nicht. Er hatte viel nachzuholen und war immer noch in dem großen, mit dicken Bohlen verkleideten Labor, als sie einen Spaziergang durch das Rosenspalier machte.
Während sie zwischen den duftenden Blüten dahinschritt, sah sie, wie Surama gerade wieder Versuchstiere aus den Käfigen holte. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte ihn nicht so oft gesehen, denn sie mußte jedesmal schaudern, doch gerade dieses Grauen hatte ihre Augen und Ohren für alles geschärft, was mit ihm zusammenhing. Er ging immer ohne Hut im Garten umher, und die völlige Haarlosigkeit seines Kopfes ließ diesen noch mehr wie einen Totenschädel erscheinen. Jetzt hörte sie ein leises Glucksen, als er einen kleinen Affen aus seinem Käfig an der Wand nahm und ins Labor trug, die langen, knochigen Finger so grausam in das Fell des Tieres gekrallt, daß dieses in panischer Angst aufschrie. Der Anblick war ihr zuwider, und sie machte auf der Stelle kehrt. Alles in ihr lehnte sich gegen die Herrschaft auf, die diese Kreatur über ihren Bruder erlangt hatte, und es kam ihr der bittere Gedanke in den Sinn, daß die beiden ihre Rollen als Herr und Diener beinahe vertauscht hatten.

Es wurde Nacht, ohne daß Clarendon ins Haus zurückgekehrt wäre, und Georgina schloß daraus, daß er mit einem seiner langwierigen Experimente beschäftigt war, bei denen ihm stets jedes Zeitgefühl abhanden kam. Sie wollte nicht zu Bett gehen, ohne vorher mit ihm über seine überraschende Genesung gesprochen zu haben, doch dann sah sie ein, daß es keinen Zweck hatte, auf ihn zu warten, schrieb ein paar fröhliche Worte auf einen Zettel, den sie auf den Bibliothekstisch stellte, und ging zu Bett. Sie war noch nicht ganz eingeschlafen, als sie die Haustür aufund wieder zugehen hörte. Das Experiment dauerte also doch nicht die ganze Nacht! Um dafür zu sorgen, daß ihr Bruder noch etwas aß, bevor er zu Bett ging, stand sie auf, warf einen Morgenrock über und ging zur Bibliothek hinunter, blieb jedoch vor der angelehnten Tür stehen, als sie drinnen Stimmen hörte. Clarendon und Surama sprachen miteinander, und sie wollte warten, bis der Laborassistent ging. Surama machte jedoch keine Anstalten, sich aus dem Zimmer zu entfernen; im Gegenteil, aus dem erhitzten Tonfall schloß sie, daß es sich um eine wichtige Unterredung handelte, die wohl noch eine Weile dauern würde. Obwohl sie die beiden nicht hatte belauschen wollen, verstand Georgina hin und wieder einen Satz und meinte, einen düsteren Sinn herauszuhören, der ihr Angst einjagte, obwohl sie nicht genau verstand, worum es ging. Die nervöse, schneidende Stimme ihres Bruders fesselte mit beunruhigender Hartnäckigkeit ihre Aufmerksamkeit.
»Aber die Tiere«, sagte er gerade, »reichen nicht mal mehr für einen Tag, und du
weißt doch, wie schwer es ist, kurzfristig größere Mengen zu beschaffen. Ich finde, es ist Unsinn, so viel Zeit mit minderwertigem Material zu verschwenden, wo man doch mit etwas mehr Sorgfalt auch menschliche Exemplare bekommen könnte.« Georgina wurde schwindlig bei dem Gedanken, was das bedeuten konnte, und mußte sich an dem Regal im Flur festhalten. Surama antwortete mit der tiefen, hohlen Stimme, in der alles Böse aus tausend Epochen und von tausend Planeten mitzuschwingen schien.
»Sachte, sachte — was für ein Kind du doch bist in deiner Hast und Ungeduld. Alles mußt du überstürzen. Wenn du einmal so lange gelebt hast wie ich, so daß dir ein ganzes Menschenleben wie eine Stunde vorkommt, wird dir ein Tag oder eine Woche oder ein Monat auch nicht mehr so wichtig sein! Du arbeitest zu schnell. Du hast genug Exemplare für eine ganze Woche in den Käfigen, wenn du dir die Arbeit vernünftig einteilst. Du könntest sogar mit dem älteren Material anfangen, du dürftest es nur nicht übertreiben.«
»Was heißt hier übertreiben«, kam wie aus der Pistole geschossen die Antwort. »Ich habe eben meine eigenen Methoden. Ich will unser eigenes Material nicht verwenden, wenn es nicht unbedingt sein muß, denn sie sind mir lieber so, wie sie sind. Außerhalb solltest du dich vor ihnen in acht nehmen du weißt ja, was für Messer diese schlauen Teufel mit sich herumtragen.« Suramas tiefes Glucksen war zu hören.
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Die Bestien müssen ja auch mal essen, oder? Jedenfalls kann ich dir jederzeit einen greifen, wenn du einen brauchst. Aber laß dir Zeit jetzt, wo der Junge weg ist, sind es nur noch acht, und ohne St. Quentin wird es schwierig werden, neue in größerer Zahl zu bekommen. Ich rate dir, mit Tsanpo anzufangen. Er nützt dir am wenigsten, so wie er ist, und…«
Doch das war alles, was Georgina hörte. Wie gelähmt von einer schrecklichen Angst vor den Gedanken, die dieses Gespräch in ihr wachrief, wäre sie beinahe an der Stelle, wo sie stand, auf den Boden gesunken. Unter Aufbietung ihrer letzten Kraft schleppte sie sich die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Was für ein Spiel spielte Surama, dieses bösartige Ungeheuer? In was zog er ihren Bruder hinein? Welche monströsen Tatsachen verbargen sich hinter diesen kryptischen Äußerungen? Tausend Phantome der Dunkelheit und Bedrohung tanzten vor ihren Augen, und ohne Hoffnung, Schlaf finden zu können, warf sie sich aufs Bett. Ein Gedanke ragte diabolisch aus allen anderen hervor, und sie schrie beinahe laut auf, als er sich ihr mit aller Macht ins Gehirn brannte. Zu guter Letzt war die Natur ihr doch gnädiger, als sie befürchtet hatte. Eine tiefe Ohnmacht schloß ihr die Augen, und sie wachte bis zum Morgen nicht mehr auf. Auch gesellte sich kein neuer Alptraum zu dem, den das mitgehörte Gespräch ihr verursacht hatte.
Die Morgensonne brachte eine Linderung der Spannung. Was in der Nacht geschieht, wenn man müde ist, erreicht das Bewußtsein oft in verzerrter Form, und Georgina sagte sich, daß ihr Gehirn Teile einer normalen medizinischen Unterredung merkwürdig eingefärbt haben mußte. Anzunehmen, daß ihr Bruder, der einzige Sohn des sanftmütigen Frances Schuyier Clarendon, brutaler Opferungen im Namen der Wissenschaft schuldig sein könnte, wäre Verrat an ihrem eigenen Blut gewesen, und so beschloß sie, ihren Bruder nicht auf diese Sache anzusprechen, um sich von ihm nicht wegen ihrer überschäumenden Phantasie auslachen lassen zu müssen. Als sie am Frühstückstisch erschien, stellte sie fest, daß Alfred schon gegangen war, und bedauerte, nicht einmal an diesem zweiten Morgen Gelegenheit zu finden, ihn zu seiner neu erwachten Tatkraft zu beglückwünschen. So verzehrte sie schweigend ihr Frühstück, das ihr die alte Margarita, die mexikanische Köchin, servierte, las die Morgenzeitung und setzte sich dann mit einer Näharbeit ans Wohnzimmerfenster, von wo aus sie den großen Garten überblicken konnte. Draußen war alles ruhig, und sie sah, daß die letzten Tierkäfige geleert worden waren. Der Wissenschaft war gedient, und in der Kalkgrube lag alles, was von den einst so hübschen und lebhaften kleinen Tieren übriggeblieben war. Dieses Gemetzel hatte sie schon immer betrübt, aber sie hatte nie Einwände erhoben, da sie wußte, daß alles zum Wohle der Menschheit geschah. Als Schwester eines Wissenschaftlers, so sagte sie sich immer, war man so etwas Ähnliches wie die Schwester eines Soldaten, der tötet, um seine Landsleute vor ihren Feinden zu beschützen.
Nach dem Mittagessen nahm Georgina wieder ihren Platz am Fenster ein, und sie hatte eine Zeitlang emsig genäht, als ein Pistolenknall draußen im Garten sie erschrocken aus dem Fenster sehen ließ. Nicht weit vom Labor sah sie die gespenstische Gestalt Suramas mit einem Revolver in der Hand, und sein
Totengesicht verzerrte sich zu einem absonderlichen Ausdruck, während er höhnisch über eine kauernde Gestalt in einem schwarzen Seidenanzug lachte, die ein langes, tibetisches Messer in der Hand hielt. Es war der Diener Tsanpo, und als sie sein verschrumpeltes Gesicht erkannte, mußte Georgina wieder daran denken, was sie am Abend ungewollt mitangehört hatte. Die blanke Messerklinge blitzte in der Sonne, und plötzlich belferte Suramas Revolver erneut los. Das Messer fiel dem Mongolen aus der Hand, und Surama glotzte gierig auf seine zitternde, verängstigte Beute hinab. Im nächsten Augenblick sprang Tsanpo mit einem raschen Blick auf seine unverletzte Hand und das herabgefallene Messer auf und rannte wieselflink vor dem herannahenden Laborassistenten davon aufs Haus zu. Surama war jedoch noch schneller und erwischte ihn mit einem einzigen Satz und packte ihn an der Schulter. Einen Moment lang wollte sich der Tibeter zur Wehr setzen, aber Surama packte ihn wie ein Tier am Genick, hob ihn hoch und trug ihn zum Labor. Georgina hörte, wie er in sich hineinlachte und den Mann in seiner eigenen Sprache verhöhnte, und sie sah das vor Angst verzerrte und zuckende Gesicht des Opfers. Als sie jählings begriff, was sich da abspielte, überwältigte sie unsagbares Grauen, und sie fiel zum zweitenmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam, war das Zimmer vom goldenen Licht der Abendsonne durchflutet. Georgina hob die herabgefallenen Nähsachen auf und legte sie in den Korb zurück. Böse Zweifel quälten sie, aber schließlich kam sie doch zu der Überzeugung, daß die Szene, die ihr das Bewußtsein geraubt hatte, nur allzu real gewesen sein mußte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren also grausige Wahrheit. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie sie sich verhalten sollte, und war insgeheim dankbar, daß ihr Bruder nicht auftauchte. Sie mußte mit ihm sprechen, aber nicht jetzt. Sie konnte jetzt mit niemandem sprechen. Und als sie mit Schaudern an die monströsen Vorgänge hinter den vergitterten Laborfenstern dachte, kroch sie ins Bett und verbrachte eine lange, schlaflose, angsterfüllte Nacht.
Als sie am nächsten Morgen übernächtigt aufstand, sah Georgina den Arzt zum erstenmal seit seiner Genesung. Er gab sich aufgeregter Geschäftigkeit hin, pendelte zwischen Haus und Labor hin und her und interessierte sich für nichts außer seiner Arbeit. Es bestand keine Aussicht, daß das gefürchtete Gespräch zustande kommen würde, und Clarendon fiel nicht einmal die Übermüdung und die betonte Zurückhaltung seiner Schwester auf.
Am Abend hörte sie ihn in der Bibliothek Selbstgespräche führen, was sie an ihm nicht kannte, und sie hatte den Eindruck, daß er unter starkem seelischem Druck stand, der leicht zu einem Rückfall in die Apathie führen konnte. Sie ging zu ihm hinein und versuchte ihn zu beruhigen, ohne irgendein heikles Thema anzuschneiden, und es gelang ihr, ihm eine Tasse Bouillon aufzuschwatzen. Schließlich fragte sie ihn mitfühlend, was ihn denn bedrücke, und wartete gespannt auf seine Antwort, denn sie hoffte zu hören, Suramas Rücksichtslosigkeit gegenüber dem armen Tibeter habe ihn entsetzt und empört. Es lag Gereiztheit in seiner Stimme, als er ihr antwortete.
»Was mich bedrückt? Mein Gott, warum fragst du nicht lieber, was mich
nichtbedrückt ? Sieh dir die Käfige an, da hast du deine Antwort! Leer, ratzekahl ausgeräumt, kein einziges Exemplar mehr übrig, und dabei habe ich eine ganze Reihe wichtiger Bakterienkulturen angesetzt, die jetzt zu nichts mehr nütze sind! Ganze Arbeitstage umsonst ein schwerer Rückschlag es ist zum Verrücktwerden! Wie soll ich jemals mein Ziel erreichen, wenn ich nicht einmal genug Versuchstiere habe?« Georgina streichelte ihm die Stirn.
»Ich glaube, du solltest dich ein bißchen ausruhen, mein Lieber.«Er wich vor ihr zurück.
»Ausruhen? Du machst mir Spaß! Was habe ich denn anderes getan als mich auszuruhen und dahinzuvegetieren und ins Leere zu starren, die letzten fünfzig oder hundert oder tausend Jahre ? Gerade jetzt, wo ich drauf und dran bin, den Nebel zu zerteilen, muß mir das Testmaterial ausgehen und du rätst mir, mich wieder in blöde Benommenheit zurücksinken zu lassen! Mein Gott! Und unterdessen arbeitet wahrscheinlich irgend so ein gewissenloser Dieb mit meinen Daten und bereitet sich darauf vor, eher zu publizieren als ich und den Ruhm für meine Arbeit einzuheimsen. Ich werde um eine Nasenlänge verlieren irgendein Narr, der genügend Testmaterial zur Verfügung hat, wird Sieger werden, obwohl ich, wenn ich nur halbwegs angemessene Arbeitsbedingungen hätte, schon in einer Woche mit fliegenden Fahnen durchs Ziel gehen könnte!«
Er war immer lauter geworden, und in seiner Stimme schwang ein Unterton nervöser Überreiztheit mit, der Georgina gar nicht gefallen wollte. Sie antwortete ihm mit besänftigenden Worten, jedoch nicht so, als gelte es, einen Psychopathen zu beruhigen.
»Aber all diese Sorgen und Spannungen werden dich noch umbringen, und wenn du tot bist, wer wird dann deine Arbeit vollenden?«
Sein Gesicht verzog sich zu einem beinahe verächtlichen Grinsen.
»Ich denke, eine Woche oder einen Monat — mehr Zeit brauche ich jetzt nicht mehr — würden mich nicht umbringen, und im übrigen spielt es überhaupt keine Rolle, was aus mir oder irgendeinem anderen Individuum letztlich wird. Ich bin wie die Affen und Vögel und Meerschweinchen, die ich benutze, nur ein Rädchen im Getriebe, das dem Wohl des Ganzen dient. Sie mußten getötet werden vielleicht werde auch ich getötet werden müssen na wenn schon! Ist denn die Sache, der wir dienen, nicht dies und noch mehr wert?«
Georgina seufzte. Einen Moment lang fragte sie sich, ob dieses unaufhörliche Gemetzel wirklich einen Sinn hatte.
»Aber du bist dir absolut sicher, daß deine Entdeckung ein solcher Segen für die
Menschheit sein wird, daß diese Opfer gerechtfertigt sind?
Clarendons Augen blitzten gefährlich auf.
»Die Menschheit! Was zum Teufel ist die Menschheit? Tölpel!
Lauter Individuen! Die Menschheit ist was für Pfaffen, für die sie eine Schar blind gläubiger Schäfchen darstellt. Die Menschheit ist was für die ausbeuterischen Reichen, die sich ihren Wert in klingender Münze ausrechnen können. Die Menschheit ist was für den Politiker, für den sie einen kollektiven Machtfaktor darstellt, den er für seine Zwecke benutzen kann. Was ist die Menschheit? Nichts! Wir können Gott danken, daß wir über diese lächerliche Illusion hinaus sind. Was ein erwachsener Mensch verehrt, ist Wahrheit Wissen Wissenschaft Licht -das Zurückziehen des Vorhangs und das Aufhellen der Schatten. Der Moloch Wissen! Es ist Tod in unserem eigenen Ritual. Wir müssen töten, sezieren, zerstören, und alles der Entdeckung zuliebe, der Hingabe an das unsagbare Licht. Die Göttin
Wissenschaft verlangt es. Wir testen ein unbekanntes Gift, indem wir töten. Wie sonst? Kein Gedanke an das Selbst nur Wissen -wir müssen herausbekommen, welche Wirkung es hat.« Er verstummte, offenbar erschöpft, und Georgina schauderte leicht. »Aber das ist ja schrecklich, Alf! So kann man es doch nicht sehen!«
Clarendon lachte sardonisch in sich hinein, auf eine Art, die bei seiner Schwester abscheuliche Assoziationen hervorrief.
»Schrecklich? Du meinst, was ichsage, ist schrecklich? Da solltest du erst Surama hören! Ich sage dir, die Priester von Atlantis hatten Kenntnis von Dingen, bei deren bloßer Erwähnung du vor Angst sterben würdest. Ihr Wissen war das Wissen einer Zeit vor hunderttausend Jahren, als unsere eigenen Vorfahren noch als sprachlose Halbaffen in Asien herumschlurften! Und in der Hoggar-Region gibt es heute noch Menschen, die etwas davon wissen. Auch im entlegeneren Hochland von Tibet raunt man sich manches zu. Und ich habe einmal erlebt, wie ein alter Chinese Yog-Sothoth beschwor …«
Er wurde blaß und machte mit ausgestrecktem Zeigefinger ein seltsames Zeichen in die Luft. Georgina war nun ernstlich beunruhigt, atmete jedoch etwas auf, als er nicht mehr ganz so phantastisch fortfuhr.
»Ja, vielleicht ist es schrecklich, aber es ist auch wundervoll. Das Streben nach Wissen, meine ich. Unordentliche Gefühle haben darin keinen Platz. Tötet die Natur nicht auch, unablässig und unbarmherzig, und sind Narren nicht die einzigen, die sich

über diesen Kampf auf Leben und Tod entsetzen? Töten ist notwendig. Es ist die Apotheose der Wissenschaft. Wir lernen etwas daraus, wenn wir töten, und wir können die Sentimentalität nicht über das Lernen stellen. Hör dir doch nur an, wie die Gefühlsduseligen gegen die Impfung wettern! Sie fürchten, ihr Kind könnte daran sterben. Und wenn schon, sollten wir uns dadurch abhalten lassen ? Wie können wir sonst die Gesetze der betreffenden Krankheit entdecken? Als Schwester eines Wissenschaftlers solltest du es wirklich besser wissen und nicht Sentimentalität predigen. Du solltest mir bei meiner Arbeit helfen, anstatt mich zu behindern!« »Aber AI«, verwahrte sich Georgina, »ich habe nicht die leiseste Absicht, dich an deiner Arbeit zu hindern. Habe ich mir nicht immer Mühe gegeben, dir nach Kräften zu helfen? Gewiß, ich weiß zu wenig, um deine Mitarbeiterin zu sein, aber immerhin bin ich stolz auf dich, stolz für mich selbst und stolz für unsere Familie, und habe immer versucht, dir den Weg zu ebnen. Du hast mir das oft selbst gesagt.« Clarendon sah ihr unverwandt ins Gesicht.
»Ja!« sagte er brüsk, als er aufstand und aus dem Zimmer ging. »Du hast schon recht. Du hast dich immer bemüht, mir zu helfen, so gut du konntest. Vielleicht bekommst du eine Gelegenheit, mir noch mehr zu helfen.«
Georgina, die ihn zur Haustür hinausgehen sah, folgte ihm in den Garten. In einiger Entfernung stand eine Laterne zwischen den Bäumen, und während sie darauf zugingen, sahen sie Surama, der sich über ein längliches, auf der Erde liegendes Objekt beugte. Clarendon gab nur ein undefinierbares Geräusch von sich, aber als Georgina sah, was es war, rannte sie schreiend darauf zu. Es war Dick, der große Bernhardiner, und er lag mit geröteten Augen und heraushängender Zunge reglos da.

»Er ist krank, Alf!« rief sie. »Tu etwas, schnell!«
Der Arzt sah Surama an, der etwas in einer für Georgina unverständlichen Sprache gesagt hatte. »Bring ihn ins Labor«, befahl er. »Ich fürchte, Dick ist von der Seuche befallen.«
Surama packte den Hund, so wie er tags zuvor den armen Tsanpo gepackt hatte, und trug ihn schweigend in das Laborgebäude. Diesmal lachte er nicht, sondern warf einen Blick auf Clarendon, aus dem wirkliche Angst sprach. Georgina hatte fast den Eindruck, Surama wollte den Arzt bitten, das Tier zu retten.
Clarendon machte jedoch keine Anstalten, ihm zu folgen, sondern blieb noch einen Moment stehen und schlenderte dann langsam zum Haus zurück. Empört über diese Gefühllosigkeit, bestürmte Georgina ihn mit Bitten, doch vergeblich. Ohne ihrem Flehen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, strebte er geradewegs in die Bibliothek und begann in einem großen alten Buch zu lesen, das mit der Titelseite nach unten auf dem Tisch gelegen hatte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er sagte nichts und schaute sie nicht einmal an. Er las einfach weiter, und Georgina, die ihm neugierig über die Schulter sah, wunderte sich über die seltsamen Schriftzeichen, die in diesem messingbeschlagenen Wälzer standen.
Als Georgina eine Viertelstunde später allein in dem dunklen Salon auf der anderen
Seite des Hausflurs saß, faßte sie ihren Entschluß. Ungeheuerliches ging hier vor was es genau war und woher es kam, wagte sie sich nicht auszudenken, und es war höchste Zeit, daß sie jemanden um Hilfe rief, der stärker war als sie selbst. Dafür kam natürlich nur James in Frage. Er war mächtig und tüchtig, und seine Sympathie und Zuneigung würden ihm sagen, was zu tun war. Er kannte AI seit frühester Jugend und würde ihn verstehen.
Es war schon recht spät, aber Georgina war zum Handeln entschlossen. Auf der anderen Seite des Flurs fiel immer noch Licht aus der Bibliothek, und sie warf einen wehmütigen Blick auf die Tür, als sie ihren Hut aufsetzte und lautlos aus dem Haus ging. Bis zur Jackson Street war es nicht weit zu gehen, und dort fand sie dank einem glücklichen Zufall gleich eine Kutsche, die sie zum Telegraphenamt der Western Union brachte. Dort gab sie ein sorgfältig formuliertes Telegramm an James Dalton in Sacramento auf, in dem sie ihn bat, in einer für sie alle außerordentlich wichtigen Angelegenheit sofort nach San Francisco zu kommen.

Dalton war völlig überrascht von Georginas Telegramm. Er hatte nichts mehr von den Clarendons gehört, seit Alfred ihn an jenem stürmischen Februarabend aus dem Haus gewiesen hatte, und er hatte wohlweislich darauf verzichtet, mit ihnen Verbindung aufzunehmen, obwohl es ihn gedrängt hatte, seinem einzigen Freund sein Bedauern über die fristlose Entlassung aus dem Amt auszusprechen. Er hatte sich alle Mühe gegeben, die politischen Intrigen abzuwehren und die Zuständigkeit für die Ernennungen zu behalten, hatte jedoch mit Erbitterung zusehen müssen, wie der Mann abgesetzt wurde, der für ihn trotz seines befremdlichen Verhaltens in jüngster Zeit nach wie vor das Idealbild des fähigen Wissenschaftlers verkörperte. Was nun dieser offenbar in größter Angst verfaßte Hilferuf zu bedeuten hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er wußte jedoch, daß Georgina nicht so schnell den Kopf verlor und niemals wegen einer bloßen Lappalie einen solchen Schritt unternommen hätte. Deshalb verlor er keine Zeit, setzte sich in die nächste Postkutsche und ging in San Francisco sofort in seinen Club, von wo aus er Georgina durch einen Boten mitteilen ließ, er sei in der Stadt und stehe ihr zur Verfügung.
Bei den Clarendons war unterdessen alles friedlich gewesen, obwohl sich der Arzt nach wie vor kategorisch weigerte, seiner Schwester über den Zustand des Hundes Auskunft zu geben. Die Schatten des Unheils lagen über allem und wurden immer dichter, doch im Augenblick war alles ruhig. Georgina war erleichtert, als sie durch Daltons Nachricht erfuhr, daß er ganz in der Nähe war, und antwortete ihm, sie werde ihn rufen lassen, falls es erforderlich würde. Trotz der immer unerträglicher werdenden Spannung meinte sie auch ein gewisses ausgleichendes Element wahrzunehmen und kam nach längerem Überlegen zu dem Schluß, daß der Grund dafür das Verschwinden der mageren Tibeter sei, deren exotisches Wesen und verstohlenes Gehaben sie immer befremdet hatten. Es war, als wären sie vom Erdbeben verschluckt worden, und von der alten Margarita, der einzigen Bedienten, die noch im Haus war, erfuhr sie, die Tibeter seien alle im Labor, um ihrem Herrn und Surama zu helfen.
Der nächste Morgen es war der 18. Mai, ein Tag, an den sie noch lange denken sollte war dunkel und verhangen, und Georgina spürte, daß die trügerische Ruhe nicht mehr lange währen würde. Ihren Bruder sah sie überhaupt nicht, aber sie konnte sich denken, daß er trotz des Mangels an Versuchstieren, den er beklagt hatte, im Labor konzentriert an etwas arbeitete. Sie fragte sich, wie es dem armen Tsanpo gehen mochte und ob er tatsächlich irgendeiner gefährlichen Impfung unterzogen worden war, aber es sei nicht verschwiegen, daß sie sich um Dick größere Sorgen machte. Vor allem die Frage quälte sie, ob Surama trotz der empörenden Gleichgültigkeit seines Herrn irgend etwas für ihren treuen Hund getan hatte. Suramas offenkundige Besorgnis in der Nacht, als Dick den Anfall bekam, hatte ihr großen Eindruck gemacht; zum erstenmal hatte sie dabei freundlichere Gefühle für den verabscheuten Laborassistenten empfunden. Im Laufe des Tages mußte sie immer öfter an Dick denken, bis sich in ihrer Vorstellung das ganze Grauen, das über dem Haus lag, symbolisch in diesem einen Detail konzentrierte und ihre überreizten Nerven die Spannung nicht mehr ertrugen.
Sie hatte bis dahin stets Alfreds gebieterischen Wunsch respektiert, ihn unter keinen Umständen zu stören, wenn er im Labor arbeitete, doch an diesem schicksalhaften Nachmittag reifte in ihr ganz allmählich der Vorsatz, gegen das Verbot zu verstoßen. Schließlich faßte sie sich ein Herz, durchquerte mit festem Schritt den Garten und betrat den unverschlossenen Vorraum des Laborgebäudes mit der festen Absicht, sich Gewißheit über den Zustand des Hundes zu verschaffen oder hinter den Grund für das Schweigen ihres Bruders zu kommen.
Die innere Tür war wie gewöhnlich abgeschlossen, und drinnen hörte sie Stimmen in erhitztem Gespräch. Als ihr Klopfen nichts nützte, rüttelte sie so laut wie möglich am Türknauf, doch die lautstarke Auseinandersetzung ging weiter. Die Stimmen waren natürlich die von Sumara und ihrem Bruder, und während sie so draußen vor der Tür stand und sich bemerkbar zu machen versuchte, hörte sie unwillkürlich einiges von dem, was gesprochen wurde. Das Schicksal hatte sie erneut zum unfreiwilligen Lauscher gemacht, und wieder wurden ihre Seelenruhe und ihre Nervenkraft von dem, was sie hörte, bis an die äußersten Grenzen beansprucht. Alfred und Surama gerieten offenbar in einen immer heftigeren Streit, dessen Inhalt dazu angetan war, Georginas schlimmste Befürchtungen zu bestätigen. Sie schauderte, während die Stimme ihres Bruders schrill in bedenkliche Höhen fanatischer Intensität aufstieg. »Ach was, geh zum Teufel ausgerechnet du willst mir Mäßigung predigen! Wer hat denn mit alledem angefangen? Hatte icheine Ahnung von deinen fluchwürdigen Teufelsgottheiten und deiner Alten Welt? Habe ich mir jemals etwas träumen lassen von deinen verfluchten Räumen jenseits der Sterne und dem wimmelnden Chaos Nyarlathotep ? Ich war ein ganz normaler Mann der Wissenschaft, verdammt noch mal, bis ich die Torheit besaß, dich mitsamt deinen teuflischen Atlantischen Geheimnissen aus deinen Gewölben zu holen. Du hast mich ständig vorangetrieben, und jetzt willst du mich im Stich lassen! Du lungerst untätig herum und sagst mir, ich solle mir Zeit lassen, anstatt hinauszugehen und Material zu besorgen. Du weißt verdammt gut, daß ich mich in diesen Dingen nicht auskenne, während du darin schon Meister gewesen sein mußt, bevor die Erde erschaffen wurde. Das sieht dir
ähnlich, du widerlicher wandelnder Leichnam, etwas anzufangen, was du nicht
beenden kannst oder willst!«
Suramas bösartiges Glucksen war zu hören.
»Du bist wahnsinnig, Clarendon. Das ist der einzige Grund, warum ich dich weitermachen lasse, obwohl ich dich innerhalb von drei Minuten zur Hölle schicken könnte. Aber irgendwann muß Schluß sein, und du hast wahrhaftig genug Material für einen Novizen auf deiner Stufe bekommen. Auf alle Fälle werde ich dir keines mehr besorgen! Du bist nur noch von dem einen Ziel besessen wie unwürdig, wie verrückt, sogar den Hund deiner armen Schwester zu opfern, obwohl du ihn genausogut hättest verschonen können! Du kannst kein Lebewesen mehr ansehen, ohne dir zu wünschen, ihm diese goldene Spritze hineinzustoßen. Nein Dick mußte denselben Weg gehen wie der Mexikanerjunge, wie Tsampo und die anderen sieben, wie all die Tiere! Du bist mir ein schöner Schüler! Ich hab’ keine Freude mehr an dir, du hast die Nerven verloren. Du hast dir vorgenommen, die Dinge zu beherrschen, und jetzt beherrschen sie dich. Ich bin so gut wie fertig mit dir, Clarendon. Ich dachte, du hättest das Zeug in dir, aber das ist nicht der Fall. Es ist Zeit, daß ich es mit einem anderen probiere. Es tut mir leid, aber ich werde gehen müssen!«
Angst und Wut sprachen aus der Erwiderung des Arztes, die er fast hinausschrie.

»Nimm dich in acht, du! Es gibt Mächte gegen deine Mächte -ich war nicht umsonst in China, und es gibt Dinge in Alhazreds Azif,die in Atlantis unbekannt waren! Wir haben uns beide in gefährliche Dinge eingelassen, aber glaub ja nicht, daß du alle meine Möglichkeiten kennst. Was würdest du zum Beispiel zur Nemesis der Flamme sagen? Ich habe im Jemen mit einem alten Mann gesprochen, der lebend aus der Karminwüste zurückgekommen war er hatte Irem gesehen, die Stadt der Säulen, und an den unterirdischen Schreinen von Nug und Yeb gebetet lä! SchabNiggurath!«
Das dunkle Glucksen des Laborassistenten unterbrach Claren-dons kreischende Falsettstimme.
»Schweig, du Narr! Du glaubst doch nicht, mit deinem absurden Unsinn bei mir etwas ausrichten zu können ? Worte und Formeln Worte und Formeln, was sollten die einem bedeuten, der im Besitz der Substanz ist, die hinter ihnen steht? Wir sind jetzt in einer materiellen Sphäre und den Gesetzen der Materie unterworfen. Du hast dein Fieber, ich meinen Revolver. Du bekommst keine Versuchsobjekte mehr, und ich bekomme kein Fieber, solange ich dich hier vor mir habe und der Revolver zwischen uns ist!«
Mehr hörte Georgina nicht. Ihr drehte sich der Kopf, und sie wankte hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Sie wußte, daß nun die Krise gekommen war und daß schnelle Hilfe nötig war, wenn ihr Bruder noch aus den unbekannten Abgründen des Wahnsinns und des Mysteriums gerettet werden sollte. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gelang es ihr, sich bis ins Haus und in die Bibliothek zu schleppen, wo sie hastig eine Nachricht hinkritzelte, die Margarita James Dalton bringen sollte. Als die alte Frau gegangen war, erreichte Georgina nur noch das Sofa im Salon, wo sie halb ohnmächtig niedersank. Don blieb sie scheinbar eine Ewigkeit liegen, nur undeutlich wahrnehmend, wie das Zwielicht phantastisch aus den unteren Ecken des großen, bedrückenden Raumes in die Höhe kroch, und geplagt von tausend schattenhaften Schreckensgestalten, die in phantasmagorischer Prozession durch ihr gemartertes, benommenes Hirn zogen. Die Dämmerung verdichtete sich zu Dunkelheit, und der Bann war noch immer nicht gebrochen. Dann ertönten feste Schritte im Hausflur, und sie hörte jemanden ins Zimmer kommen und mit der Zündholzschachtel hantieren. Das Herz blieb ihr beinahe stehen, als die Gasflammen des Kronleuchters eine nach der anderen aufflammten, doch dann sah sie, daß der Ankömmling ihr Bruder war. Im tiefsten Herzen erleichtert, daß er noch am Leben war, seufzte sie tief, lange und zitternd auf und sank endlich in barmherzige Bewußtlosigkeit.
Clarendon, der diesen Seufzer gehört hatte, fuhr herum underschrak zutiefst, als er die reglose Gestalt seiner Schwester auf dem Sofa liegen sah. Ihr Gesicht war von einer Totenblässe, die ihn entsetzte, und er kniete an ihrer Seite nieder, nur von dem einen Gedanken durchdrungen, was ihr Hinscheiden für ihn bedeuten würde. Da er wegen seiner unermüdlichen Wahrheitssuche schon lange nicht mehr als Hausarzt praktiziert hatte, waren ihm die einfachsten Grundregeln der Ersten Hilfe entfallen, und es fiel ihm nichts Besseres ein, als ihren Namen zu rufen und mechanisch ihre Handgelenke zu reiben. Dann dachte er an Wasser und lief ins Eßzimmer, um die Karaffe zu holen. Er tappte in dem dunklen Zimmer herum und brauchte eine Weile, bis er fand, was er suchte, doch dann ergriff er mit zitternder Hand die Karaffe und hastete zurück, um Georgina das kalte Naß ins Gesicht zu schütten. Die rauhe Methode verfehlte ihre Wirkung nicht. Georgina regte sich, seufzte zum zweitenmal und schlug schließlich die Augen auf.
»Du lebst!« rief er und legte ihre Wange an seine, während sie ihm mütterlich übers Haar strich. Sie war beinahe froh, daß sie in Ohnmacht gefallen war, denn dieser Umstand hatte offenbar den sonderbaren Alfred vertrieben und ihr ihren eigenen Bruder wiedergegeben. Sie setzte sich langsam auf und versuchte, ihn zu beruhigen.

»Mir geht es gut, AI. Wenn du mir nur ein Glas Wasser geben könntest. Es ist eine Sünde, es auf diese Weise zu verschwenden, ganz zu schweigen davon, daß dadurch mein Mieder ruiniert wird! Wer wird denn gleich den Kopf verlieren, bloß weil seine Schwester einmal ein Nickerchen macht? Du solltest nicht glauben, ich sei krank, denn für solchen Unsinn habe ich doch gar keine Zeit!«
Alfreds Augen sagten ihr, daß ihre gefaßten, vernünftigen Worte ihre Wirkung taten. Seine brüderliche Besorgnis zerstreute sich augenblicklich, und an ihrer Stelle trat ein unbestimmter, berechnender Ausdruck auf sein Gesicht, als ob ihm plötzlich eine hervorragende Idee gekommen sei. Sein Blick war abwechselnd verschlagen und prüfend, und sie war sich immer weniger sicher, ob ihre Art, ihn zu beruhigen, klug gewesen war, und merkte, noch bevor er etwas sagte, daß sie über etwas Undefinierbares schauderte. Der Instinkt sagte ihr, daß der Moment seiner Verstandesklarheit vorüber war und daß sie jetzt wieder den rücksichtslosen, fanatischen Wissenschaftler vor sich hatte. Es war etwas Makabres an der Art, wie er bei ihrer beiläufigen Erwähnung ihrer unverwüstlichen Gesundheit die Augen verengt hatte. Woran dachte er? Auf welche unnatürliche Spitze würde er seine leidenschaftliche Experimentierfreudigkeit noch treiben? Worin lag die besondere Bedeutung ihres reinen Blutes und ihres absolut makellosen organischen Zustands? Keine dieser bösen Ahnungen beunruhigte sie jedoch länger als eine Sekunde, und sie verhielt sich ganz natürlich und arglos, als sie den festen Griff ihres Bruders an ihrem Puls spürte.
»Du fieberst ein bißchen, Georgie«, sagte er mit klarer, betont sachlicher Stimme und sah ihr prüfend in die Augen.
»Ach was, Unsinn, mir fehlt nichts«, erwiderte sie. »Man könnte meinen, du seist auf der Suche nach Fieberpatienten, nur um deine Entdeckung demonstrieren zu können. Es hätte natürlich durchaus einen gewissen poetischen Reiz, wenn du den letzten Beweis für die Wirksamkeit deines Mittels dadurch erbringen könntest, daß du deine eigene Schwester heilst!«
Clarendon zuckte schuldbewußt zusammen. Hatte sie seinen Wunsch geahnt? Hatte er laut gedacht? Er musterte sie und stellte fest, daß sie keinen Schimmer von der Wahrheit hatte. Sie lächelte lieb zu ihm auf und tätschelte ihm den Kopf, während er vor dem Sofa stand. Dann zog er ein längliches Lederfutteral aus seiner
Westentasche und nahm eine kleine goldene Spritze heraus. Er drehte das Instrument nachdenklich zwischen den Fingern und schob mehrmals den Kolben in dem leeren Zylinder hin und her.
»Ich frage mich«, begann er mit gravitätischer Liebenswürdigkeit, »ob du wirklich bereit wärst, der Wissenschaft auch auf … so eine Weise zu dienen, falls es eines Tages notwendig wäre. Ich frage, ob du dich der Sache so verpflichtet fühlst, daß du dich gewissermaßen wie Jephthas Tochter der Medizin opfern würdest, wenn du wüßtest, daß davon die letzte Vollendung meiner Arbeit abhängen würde.« Georgina, die ein merkwürdiges, unmißverständliches Glitzern in den Augen ihres Bruders wahrnahm, wußte nun endlich, daß ihre schlimmsten Befürchtungen begründet waren. Sie konnte jetzt nur eines tun ihn um jeden Preis in Sicherheit wiegen und beten, daß Margarita James Dalton in dessen Club angetroffen hatte. »Du wirkst müde, Alf, Lieber«, sagte sie sanft. »Willst du nicht etwas Morphium nehmen, damit du den Schlaf findest, den du so dringend brauchst?« Er antwortete ihr mit schlauer Überlegung.
»Ja, du hast recht. Ich bin völlig erschöpft, und du auch. Wir müssen uns beide ausschlafen. Morphium ist genau das richtige. Wenn du hier wartest, fülle ich diese Spritze damit, und wir nehmen beide eine angemessene Dosis.«
Die leere Spritze immer noch in der Hand, ging er leise aus dem Zimmer. Georgina sah sich in hilfloser Verzweiflung um und horchte, ob nicht vielleicht doch noch Hilfe nahte. Sie meinte, Margarita wieder in der Küche zu hören und stand auf, um nach ihr zu klingeln und sie zu fragen, ob sie die Nachricht überbracht habe. Die alte Dienerin erschien unverzüglich und erklärte ihr, sie habe die Nachricht schon vor Stunden im Club abgegeben. Gouverneur Dalton sei nicht im Hause gewesen, aber der Sekretär habe ihr versprochen, sie Dalton bei seiner Rückkehr sofort auszuhändigen.
Margarita watschelte wieder in ihre Küche zurück, aber Clarendon ließ auf sich
warten. Was mochte er tun? Was führte er im Schilde ? Georgina hatte die Haustür ins Schloß fallen hören und wußte deshalb, daß er im Labor sein mußte. Hatte er in seiner geistigen Verwirrung seinen ursprünglichen Vorsatz vergessen? Die Spannung wurde nachgerade unerträglich, und Georgina mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht loszuschreien.
Die Gartentorglocke, die gleichzeitig im Haus und im Labor läutete, brach dann endlich den Bann. Georgina hörte Suramas katzenhafte Schritte auf dem Gartenweg, als er ans Tor ging; und dann vernahm sie mit einem fast hysterischen Seufzer der Erleichterung die feste, vertraute Stimme von Dalton, der mit dem unheimlichen Diener sprach. Sie erhob sich und rannte fast auf ihn zu, als er in der Tür der Bibliothek erschien, und einen Moment lang sprach keiner ein Wort, während er ihr auf seine altmodisch-ritterliche Art die Hand küßte. Dann brach Georgina in einen wahren Sturzbach hastiger Erklärungen aus in einem einzigen, ununterbrochenen Redefluß erzählte sie ihm alles, was geschehen war, was sie gesehen oder mit angehört, was sie befürchtet und geargwöhnt hatte.
Dalton hörte ernst und verständnisvoll zu, und seine anfängliche Verwirrung machte Erschütterung, Sympathie und Entschlossenheit Platz. Die Nachricht war ihm von dem nachlässigen
Sekretär nicht unverzüglich ausgehändigt worden und hatte ihn schließlich mitten in einer angeregten Club-Diskussion über Clarendon erreicht. Ein anderes Clubmitglied, Dr. MacNeil, hatte eine medizinische Zeitschrift mit einem kritischen Artikel über den bekannten Wissenschaftler mitgebracht, und Dalton hatte ihn gerade gebeten, die Zeitschrift aufzuheben, als man ihm endlich Georginas Nachricht überbrachte. Er stellte sein Vorhaben, Dr. MacNeil hinsichtlich Alfred Clarendon ins Vertrauen zu ziehen, zurück, verlangte augenblicklich seinen Hut und seinen Stock und fuhr mit der Kutsche zu den Clarendons.
Surama, so schien ihm, erschrak, als er ihn wiedererkannte, gluckste dann aber wie gewohnt, als er sich zum Labor hin entfernte. Dalton erinnerte sich später genau an Suramas Gang und Glucksen an diesem ominösen Abend, denn er sollte diese unirdische Kreatur nie mehr wiedersehen. In dem Moment, in dem Surama das Laborgebäude betrat, hatte Dalton den Eindruck, daß sein gutturales Glucksen sich mit fernem Donnergrollen vermengte.
Als Dalton alles gehört hatte, was Georgina ihm zu sagen hatte, und nun noch erfuhr, daß Alfred jeden Moment mit einer Morphiumspritze zurückkommen würde, beschloß er, lieber alleine mit dem Arzt zu sprechen. Er wies Georgina an, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Er selbst ging in der düsteren Bibliothek auf und ab, warf hin und wieder einen Blick auf die Bücherregale und horchte ständig, ob Clarendons nervöse Schritte auf dem Laborweg draußen schon zu hören seien. In den Ecken des riesigen Raumes war es bedrückend dunkel, und je genauer Dalton die Bücher seines Freundes inspizierte, um so weniger gefielen sie ihm. Es war nicht die ausgewogene Sammlung eines normalen Arztes, Biologen oder kultivierten Privatmannes. Es gab zu viele Bände über fragwürdige Grenzgebiete, dunkle Spekulationen und verbotene Rituale des Mittelalters sowie merkwürdige exotische Mysterien in bekannten und unbekannten entlegenen Sprachen.
Auch das große Laborjournal, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, verströmte eine ungute Atmosphäre. Die Handschrift wirkte neurotisch, und der Inhalt der Einträge war alles andere als beruhigend. Lange Passagen waren in fast unleserlichen griechischen Buchstaben geschrieben, und als Dalton seine Sprachkenntnisse hervorkramte, um sich die eine oder andere Passage
zu übersetzen, fuhr er plötzlich zusammen und wünschte, er hätte sich am College gewissenhafter mit Xenophon und Homer auseinandergesetzt. Irgend etwas war hier verkehrt, auf unheilvolle, grauenerregende Weise verkehrt, und der Gouverneur ließ sich in den Stuhl sinken, der vor dem Schreibtisch stand, und grübelte weiter über das barbarische Griechisch des Arztes nach. Dann hörte er dicht neben sich ein Geräusch und fuhr zusammen, als sich ihm eine Hand hart auf die Schulter legte. »Was ist der Grund für diesen Überfall, wenn ich fragen darf? Du hättest ja Surama sagen können, worum es geht.«
Clarendon stand mit eisiger Miene neben dem Stuhl, die kleine goldene Spritze in der Hand. Er wirkte ausgesprochen ruhig und vernünftig, und Dalton hatte einen Moment lang den Verdacht, Georgina müsse mit ihrer Schilderung seines Zustands übertrieben haben. Und waren nicht seine eigenen Griechischkenntnisse schon so eingerostet, daß er nicht sicher sein konnte, was die Einträge in dem Journal wirklich bedeuteten? Der Gouverneur beschloß, bei diesem Gespräch sehr vorsichtig zu taktieren, und dankte dem glücklichen Zufall, der ihm einen so glaubwürdigen Vorwand an die Hand gegeben hatte die Zeitschrift mit dem Artikel über Clarendon. Gefaßt und selbstsicher erhob er sich, um Clarendon zu antworten.
»Ich dachte mir, daß du kein Interesse daran haben würdest, eine wichtige Angelegenheit vor einem deiner Untergebenen breittreten zu lassen, war aber der Ansicht, daß du diesen Artikel unverzüglich lesen solltest.«
Er zog die Zeitschrift heraus, die Dr. MacNeil ihm gegeben hatte, und reichte sie Clarendon.
»Auf Seite 542 du siehst die Überschrift »Dum-Dum-Fieber durch neues Serum besiegt«. Er stammt von Dr. Miller aus Philadelphia; er glaubt, er sei dir auf der Suche nach einem Heilmittel zuvorgekommen. Im Club wurde darüber diskutiert, und MacNeil hielt die Darstellung für sehr überzeugend. Ich als Laie kann mir da kein Urteil erlauben, aber ich dachte mir, daß du auf alle Fälle möglichst bald von der Sache erfahren solltest. Wenn du beschäftigt bist, will ich dich natürlich nicht länger …« Clarendon unterbrach ihn scharf.
»Ich will meiner Schwester eine Spritze geben, sie fühlt sich nicht ganz wohl, aber ich sehe mir an, was dieser Quacksalber zu sagen hat, wenn ich wiederkomme. Ich kenne Miller ein
Pfuscher und Angeber -, und ich glaube kaum, daß er genug Grips hat, um aufgrund des wenigen, was er gesehen hat, hinter mein Geheimnis zu kommen.«
Dalton hatte plötzlich das Gefühl, verhindern zu müssen, daß Georgina die ihr zugedachte Spritze bekam. Irgend etwas war ihm nicht geheuer. Nach dem, was sie erzählt hatte, mußte Alfred ungewöhnlich lange gebraucht haben, um die Spritze herzurichten, viel länger, als es dauern konnte, eine Morphiumtablette aufzulösen. Er beschloß, seinen Gastgeber so lange wie möglich aufzuhalten und dabei mehr oder minder vorsichtig zu versuchen, seine Einstellung zu ergründen.
»Es tut mit leid, daß Georgina sich nicht wohl fühlt. Bist du sicher, daß die Spritze ihr gut tun wird? Daß sie ihr nicht schaden wird?«
Clarendons heftige Reaktion bewies, daß Dalton einen wunden Punkt berührt hatte.

»Ihr schaden?« rief er. »Das ist ja absurd! Du kannst dir doch denken, daß Georgina immer bei allerbester Gesundheit sein muß, um der Wissenschaft dienen zu können, wie es einer Clarendon ansteht. Sie selbst begreift wenigstens, was es heißt, meine Schwester zu sein. Kein Opfer für mich und meine Arbeit ist ihr zu groß. Sie ist eine Priesterin der Wahrheit und der Forschung, so wie ich ein Priester bin.«
Er hielt in seiner schrillen Tirade inne, atemlos und mit wildem Blick. Dalton sah, daß seine Aufmerksamkeit für einen Moment auf etwas anderes gelenkt worden war.

»Aber ich kann mir ja mal ansehen, was dieser lächerliche Quacksalber zu sagen hat«, fuhr er fort. »Wenn der glaubt, mit seinem pseudomedizinischen Geschwätz einen echten Arzt beeindrucken zu können, ist er noch einfältiger, als ich gedacht habe!«
Clarendon blätterte hastig das Heft durch, bis er den Artikel gefunden hatte, und begann zu lesen, immer noch im Stehen und mit der Spritze in der einen Hand. Dalton fragte sich, was wirklich dahinterstecken mochte. MacNeil hatte ihm versichert, der Autor sei ein hochangesehener Pathologe, und wenn der Artikel vielleicht auch einzelne Fehler enthalten mochte, könne man doch sicher sein, daß der Verfasser ein Mann von großen Fähigkeiten, höchster Bildung und absoluter Integrität sei. Dalton ließ den Arzt nicht aus den Augen, während er las, und sah, wie sein bärtiges Gesicht erbleichte. Die großen Augen brannten, und die Seiten knisterten zwischen den langen, schlanken, krampfhaft zitternden Fingern. Der Schweiß brach auf der hohen, elfenbeinweißen Stirn aus, über der sich das Haar schon zu lichten begann, und schließlich sank der Lesende aufstöhnend auf den Stuhl, den sein Besucher freigemacht hatte, während er den Artikel las. Dann kam ein wilder Aufschrei, wie von einem in die Enge getriebenen Tier, und Clarendon ließ seinen Oberkörper auf die Tischplatte fallen, seine ausgebreiteten Arme stießen Bücher und Papiere zur Seite, und sein Bewußtsein erlosch wie eine vom Wind ausgeblasene Kerzenflamme.

Dalton eilte seinem zusammengebrochenen Freund zu Hilfe, hob seinen schmächtigen Oberkörper hoch und stützte ihn an die Stuhllehne. Er erblickte die Karaffe auf dem Fußboden vor dem Sofa, besprengte das verzerrte Gesicht und wurde dadurch belohnt, daß sein Freund langsam die Augen aufschlug. Es waren jetzt die Augen eines Vernünftigen tief und traurig und unverkennbar vernünftig -, und Dalton ahnte ehrfurchtsvoll, daß er einer Tragödie beiwohnte, deren ganzes Ausmaß er nie würde ermessen können.
Clarendon umklammerte immer noch mit der linken Hand die goldene Spritze, und als er nun tief einatmete, öffnete er die Hand und betrachtete das glitzernde Ding, das da in seiner Handfläche hin und herrollte. Dann sprach er langsam und mit der
unsagbaren Traurigkeit tiefster, absoluter Verzweiflung.
»Danke, Jimmy, mir fehlt nichts mehr, aber es ist noch viel zu tun. Du hast mich vor einer Weile gefragt, ob diese Morphiumspritze Georgie schaden würde. Ich bin jetzt in der Lage, dir zu sagen, daß das nicht der Fall sein wird.«
Er drehte eine kleine Schraube an der Spritze und legte einen Finger auf den Kolben, während er mit der linken Hand an der Haut seines eigenen Halses zog. Dalton schrie erschrocken auf, als Clarendon mit einer blitzschnellen Bewegung seiner rechten Hand den Inhalt des Zylinders in die straff gespannte Haut injizierte. »Mein Gott, Alf, was hast du getan?«
Clarendon lächelte mild beinahe ein friedliches, resigniertes Lächeln, ganz im Gegensatz zu dem sardonischen Grinsen der letzten Wochen.
»Du weißt Bescheid, Jimmy, wenn du noch das Urteilsvermögen besitzt, das dich zum Gouverneur gemacht hat. Du mußt dir aus meinen Aufzeichnungen genug zusammengereimt haben, um zu begreifen, daß mir nichts anderes übrigbleibt. Bei deinen Griechischnoten damals an der Columbia University kann ich mir vorstellen, daß dir nicht viel entgangen ist. Und ich kann dazu nur sagen, es ist wahr. James, ich möchte nicht die Schuld auf einen anderen schieben, aber es ist nur recht, dir zu sagen, daß Surama mich in diese Geschichte hineingezogen hat. Ich kann dir nicht sagen, wer oder was er ist, denn ich weiß es selbst nicht genau, und was ich weiß, sollte eigentlich kein vernünftiger Mensch wissen; immerhin kann ich dir sagen, daß ich ihn nicht für einen Menschen im vollen Sinne halte und daß ich auch nicht weiß, ob er wirklich lebendig ist.
Du denkst, ich rede Unsinn. Ich wünschte, es wäre so, aber in Wahrheit ist diese ganze furchtbare Geschichte nur allzu real. Ich wollte die Welt vom Fieber befreien. Ich versuchte es und scheiterte. Wollte Gott, ich wäre ehrlich genug gewesen, mir einzugestehen, daß ich gescheitert war. Laß dich nicht von meinem
wissenschaftlichen Gerede täuschen, James ich habe kein Gegengift gefunden und war auch nie auf dem richtigen Wege dazu!
Mach kein so entgeistertes Gesicht, mein Lieber! Als mit allen Wassern
gewaschener Politiker hast du doch sicher schon öfter solche Demaskierungen erlebt. Ich sage dir, ich habe nie auch nur begonnen, ein Fieberheilmittel zu entwickeln. Aber meine Studien hatten mich an seltsame Orte geführt, und der Zufall wollte es, daß ich dort noch seltsameren Leuten zuhörte. James, wenn du jemals einem Menschen wohlgesonnen bist, dann sage ihm, daß er sich von den alten, verborgenen Orten der Erde fernhalten soll. Alte, entlegene Gegenden sind gefährlich, dort werden Dinge von Generation zu Generation weitergegeben, die normalen, gesunden Menschen nicht bekömmlich sind. Ich habe zuviel mit alten Priestern und Mystikern gesprochen, und daraus erwuchs mir die Hoffnung, ich könnte auf dunkle Arten Dinge erreichen, die mir auf rechtmäßigen Wegen unerreichbar waren.
Ich kann dir nicht sagen, was das genau zu bedeuten hat, denn wenn ich das täte, wäre ich genauso schlecht wie die alten Priester, die mich ins Verderben gestürzt haben. Es reicht, wenn ich dir sage, daß ich nach dem, was ich erfahren habe, nur schaudern kann bei dem Gedanken an die Welt und was sie durchgemacht hat. Die Welt ist verflucht alt, James, und es wurden ganze Epochen durchlebt und abgeschlossen, bevor unser organisches Leben und die damit zusammenhängenden geologischen Epochen begannen. Es ist ein schrecklicher Gedanke ganze vergessene Evolutionszyklen mit Wesen und Rassen und Weisheit und Krankheiten, dies alles lebte und verging, bevor die erste Amöbe sich in den tropischen Ozeanen rührte, von denen die Geologie uns erzählt.
Ich sagte verging, aber das stimmt nicht ganz. Es wäre besser gewesen, aber es war nicht so. In bestimmten Gegenden hielten sich Traditionen ich kann dir nicht sagen, wie -, und bestimmte archaische Erscheinungsformen des Lebens konnten an entlegenen Orten bis in unsere Zeit weiterleben. Es gab da Kulte, weißt du, Horden böser Priester in Ländern, die heute im Meer versunken sind. Atlantis war die Brutstätte. Das war ein schrecklicher Ort. Wenn der Himmel gnädig ist, wird niemand diese Schrecknisse jemals aus der Tiefe hervorholen.
Es hatte jedoch eine Kolonie, die nicht versank, und wenn man mit einem der TuaregPriester in Afrika zu vertraulich wird, erzählt er einem wilde Geschichten darüber, Geschichten, die mit Legenden zusammenhängen, wie man sie von den wahnsinnigen Lamas und den Yak-Treibern auf den geheimen Hochländern Asiens hören kann. Ich hatte schon alle verbreiteten Sagen und Legenden gehört, als ich auf die größte und wichtigste stieß. Was das war, wirst du nie erfahren, aber es ging um jemanden oder etwas, das aus unvordenklicher Vergangenheit heraufgestiegen war und wieder zum Leben oder zu scheinbarem Leben -erweckt werden konnte, mit Hilfe bestimmter Prozesse, über die sich der Mann, der mir davon erzählte, jedoch nicht ganz im klaren war.
Also, James, du weißt, daß ich trotz meines Geständnisses hinsichtlich des Fiebers kein schlechter Arzt bin. Ich habe mir das Studium der Medizin nicht leichtgemacht und habe genausoviel gelernt wie nur irgendein anderer, vielleicht sogar ein bißchen mehr, denn drunten im Hoggar-Gebiet tat ich etwas, wozu noch kein Priester je fähig gewesen war. Man führte mich mit einer Binde vor den Augen an einen Ort, der seit Generationen verschlossen gewesen war, und ich kam mit Surama zurück. Sachte, James! Ich weiß, was du sagen willst. Woher weiß er so viel warum spricht er Englisch oder überhaupt eine moderne Sprache noch dazu akzentfrei warum ist er mit mir mitgekommen und so fort. Ich kann dir nicht alles sagen, doch immerhin so viel, daß er Gedanken und Bilder und Eindrücke mit etwas aufnimmt, was über sein Gehirn und seine Sinne hinausgeht. Er hatte Verwendung für mich und meine Wissenschaft. Er erklärte mir manches. Er lehrte mich, die alten, primordialen, heillosen Götter zu verehren, und zeichnete mir den Weg zu einem schrecklichen Ziel vor, das ich dir gegenüber nicht einmal andeuten kann. Dringe nicht in mich, James, wenn dir deine Verstandesklarheit und die Verstandesklarheit der Welt etwas bedeuten!
Für dieses Wesen gibt es keinerlei Grenzen. Es ist mit den Sternen und allen Kräften der Natur im Bunde. Bitte glaub nicht, ich sei immer noch verrückt, James ich schwöre dir, ich bin es nicht! Ich habe zuviel gesehen, um noch zweifeln zu können. Er hat mir neue Arten der Lust verschafft, die Teile seiner urzeitlichen Riten waren, und die größte davon war das Dum-Dum-Fieber.
Mein Gott, James! Durchschaust du das ganze nicht längst schon? Glaubst du immer noch, das Dum-Dum-Fieber sei aus Tibet gekommen und ich hätte dort alles darüber erfahren? Gebrauch doch deinen Verstand, Mann! Sieh dir Millers Artikel hier an! Er hat ein Gegengift gefunden, das innerhalb eines halben Jahrhunderts zur Ausrottung aller Fieberkrankheiten führen wird, wenn andere Möglichkeiten finden, es für die verschiedenen Krankheiten abzuwandeln. Er hat mir den Boden meiner Jugend unter den Füßen weggezogen, hat das getan, wofür ich mein Leben gegeben hätte, hat mir den Wind aus all den redlichen Segeln genommen, die ich jemals in die Brise der Wissenschaft gedreht habe! Fragst du dich, warum dieser Artikel mich so erschüttert hat? Fragst du dich, warum er mich aus meinem Wahnsinn zu den alten Träumen meiner Jugend herausholt ? Zu spät! Zu spät! Aber noch nicht zu spät, um andere zu retten!
Ich fürchte, ich weiß nicht mehr, was ich rede, mein Alter. Du weißt die Spritze. Ich habe dich gefragt, warum du nicht längst hinter die Wahrheit über das DumDum-Fieber gekommen bist, aber du konntest gar nicht dahinterkommen! Schreibt Miller hier nicht, er habe sieben Fälle mit seinem Serum kuriert? Eine Frage der Diagnose, James. Er glaubt nur, es sei Dum-Dum-Fieber. Ich kann zwischen den Zeilen lesen. Hier, alter Junge, auf Seite 551, liegt das Geheimnis. Lies es noch einmal.
Jetzt verstehst du, nicht wahr? Die Fieberfälle von der Pazifikküstereagierten nicht auf sein Serum. Sie stellten ihn vor ein Rätsel. Sie waren anders als alle anderen Fälle von Fieberkrankheiten, die er kannte. Nun, das waren meineFälle! Das waren die echtenDum-Dum-Fieber-Fälle! Und es kann und wird auf der Erde nie ein Gegengift gegen das Dum-Dum-Fieber geben!
Woher ich das weiß? Weil das Dum-Dum-Fieber nicht von dieser Erde ist\Es kommt von woanders,James, und Surama allein weiß, woher, weil er es hierher gebracht hat. Er hat es gebracht und verbreitet’.Das ist das Geheimnis, James! Nur deswegen war ich auf die Position im Zuchthaus aus das war alles, was ich je getan habe ich habe nur das Fieber verbreitet, das ich in dieser goldenen Spritze und in der noch tödlicheren Fingerring-Pumpspritze hatte, die du an meinem Zeigefinger
siehst’.Wissenschaft? Ein Vorwand! Ich wollte töten und töten und töten! Ein einziger Druck auf meinen Finger, und ein Mensch war mit Dum-Dum-Fieber infiziert. Ich wollte sehen, wie Lebewesen sich krümmten und wanden, kreischten und Schaum vor den Mund bekamen. Ein einziger Druck auf die Pumpspritze, und ich konnte zusehen, wie sie starben, und ich konnte nicht mehr leben oder denken, wenn ich nicht immer wieder dieses Schauspiel genießen konnte. Das ist der Grund, warum ich alles, was mir in die Hände fiel, mit dieser verfluchten Hohlnadel stach. Tiere, Verbrecher, Kinder, Diener und die nächste wäre …«
Clarendons Stimme versagte, und er sank auf seinem Stuhl zusammen.
»Das — das, James — war — mein Leben. Surama hat mich so weit gebracht, er war mein Lehrer, und er hat mich dazu gezwungen, bis ich nicht mehr aufhören konnte. Dann dann -wurde es sogar ihmzuviel. Er wollte mich zurückhalten. Aber jetzt habe ich mein letztes Versuchsobjekt. Das ist mein letztes Experiment. Ein gutes Objekt, James ich bin gesund, teuflisch gesund. Verdammt ironisch, das Ganze jetzt, wo der Wahnsinn weg ist, wird es mir keinen Spaß mehr machen, die Agonie zu beobachten! Kann nicht kann nicht -«
Ein heftiger Eieberanfall schüttelte den Arzt, und Dalton bedauerte trotz seines sprachlosen Entsetzens, daß er kein Mitleid mit seinem Freund empfand. Wieviel von Alfreds Geschichte purer Unsinn und wieviel alptraumhafte Wahrheit war, wußte er nicht zu sagen, doch auf jeden Fall hatte er den Eindruck, daß dieser Mann eher ein Opfer als ein Verbrecher war, und vor allem konnte er nicht vergessen, daß er sein Jugendfreund und Georginas Bruder war. Erinnerungen an die alten Zeiten zogen vorüber. »Der kleine Alf« der Hof in Phillips Exeter das Viereck an der Columbia University die Rauferei mit Tom Cortland, als er Alf zu Hilfe gekommen war … Er führte Clarendon zum Sofa und fragte ihn, was er für ihn tun könne. Aber er konnte nichts mehr tun, Alfred konnte nur noch flüstern, aber er bat ihn um Verzeihung für alle Kränkungen und empfahl seine Schwester der Obhut seines Freundes.
»Du du wirst sie glücklich machen«, keuchte er. »Sie hat es verdient. Märtyrerin eines Mythos! Bring es ihr schonend bei. Laß sie nicht mehr wissen als unbedingt nötig!«
Er lallte nur noch und fiel in eine Betäubung. Dalton läutete, aber Margarita war schon zu Bett gegangen, und so rief er zu Georgina hinauf. Sie wankte nicht, war aber sehr blaß. Alfreds Schrei hatte sie erschüttert, aber sie hatte James vertraut. Sie vertraute ihm auch jetzt, als er sie zu der bewußtlosen Gestalt auf dem Sofa führte und sie bat, wieder auf ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen, gleichgültig, was für Geräusche sie hören mochte. Sie wollte nicht, daß sie das schreckliche Schauspiel des Deliriums miterlebte, das mit Sicherheit eintreten würde, aber er forderte sie auf, ihren Bruder, der da so still auf dem Sofa lag, ganz der zarte Junge, der er einmal gewesen war, noch ein letztes Mal zu küssen. So verließ sie ihn das wunderliche, mondsüchtige, in den Sternen lesende Genie, das sie so lange bemuttert hatte -, und das Bild, das sie mitnahm, war ein sehr barmherziges.
Dalton mußte bis ans Ende seiner Tage ein grausameres Bild mit sich herumtragen. Seine Furcht vor dem Delirium war nicht unbegründet, und während der dunkelsten Mitternachtsstunden mußte er immer wieder alle Kraft aufbieten, um den wilden Zuckungen des rasenden Kranken Einhalt zu gebieten. Was er von diesen geschwollenen, sich schwarz verfärbenden Lippen vernahm, wird er niemals berichten. Er ist seither nie wieder derselbe gewesen wie vordem, und er weiß, daß niemand, der so etwas hört, wieder ganz der werden kann, der er einmal gewesen ist. Zum Wohle der Welt schweigt er deshalb, und er dankt Gott, daß seine laienhafte Unkenntnis auf bestimmten Gebieten ihm die Enthüllungen kryptisch und bedeutungslos erscheinen ließ.
Gegen Morgen kam Clarendon plötzlich noch einmal zu sich und begann, mit fester Stimme zu sprechen.
»James, ich habe dir noch nicht gesagt, was alles zu tun ist. Mach diese Einträge in griechischer Sprache unkenntlich und schicke mein Journal an Dr. Miller. Ebenso all meine anderen Aufzeichnungen, die du in den Ordnern finden wirst. Er ist heute die große Autorität sein Artikel beweist es. Dein Freund in dem Club hatte recht. Aber alles, was im Labor ist, muß vernichtet werden. Alles ohne Ausnahme, sei es tot oder lebendig — oder sonstwie.Alle Plagen der Hölle sind in diesen Flaschen auf den Regalbrettern enthalten. Verbrenn sie — verbrenn das ganze Zeug. Wenn auch nur ein Stück davon erhalten bleibt, wird Surama den schwarzen Tod über die ganze Welt verbreiten. Und verbrenn vor allem Surama\ Er dieses Ding -hat kein Recht, die gesunde Luft des Himmels zu atmen. Du weißt jetzt ich habe es dir gesagtdu weißt jetzt, warum ein solches Wesen nicht auf der Erde sein darf. Es wird kein Mord sein Surama ist kein Mensch falls du noch genauso fromm bist wie früher, James, brauche ich dich sicher nicht zu drängen. Denk an den alten Text >du sollst eine Hexe nicht am Leben lassen< oder so ähnlich.
Verbrenn ihn, James\Laß ihn nie mehr über die Qualen sterblichen Fleisches lachen? Ich sage dir, verbrenn ihn -die Nemesis der Flamme — das ist das einzige, was ihm etwas anhaben kann, James, es sei denn, du kannst ihn im Schlaf überraschen und ihm einen Pfahl durchs Herz treiben… Töte ihn rotte ihn aus — säubere das reine Universum von diesem uralten Makel dem Makel, den ich aus seinem äonenlangen Schlaf geweckt habe…«
Der Arzt hatte sich auf den Ellbogen aufgestützt, und seine Stimme war zum Schluß nur noch ein durchdringendes Quietschen. Die Anstrengung war jedoch zu groß gewesen, und er fiel unversehens in ein tiefes, ruhiges Koma. Dalton, der sich vor dem Fieber nicht mehr fürchtete, seit er wußte, daß die gefürchtete Seuche nicht ansteckend war, legte Alfreds Arme und Beine auf dem Sofa zurecht und warf eine leichte Decke über die schmächtige Gestalt. War es nicht doch denkbar, daß diese Scheußlichkeiten zum großen Teil auf das Delirium zurückzuführen waren? Hätte ihn der alte Dr. MacNeil nicht vielleicht doch noch durchbringen können? Der Gouverneur gab sich größte Mühe, wach zu bleiben, und ging rasch im Zimmer auf und ab, aber seine Kräfte waren zu sehr beansprucht worden. Als er sich nur für eine Minute auf den Stuhl am Tisch setzte, verlor er die Kontrolle über sich selbst und schlief trotz aller guten Vorsätze ein.
Dalton fuhr auf, als ihm grelles Licht in die Augen schien, und im ersten Moment dachte er, es sei der Tagesanbruch. Aber es war nicht die Morgenröte, und während er seine schweren Lider rieb, sah er, daß das Licht von dem brennenden Labor kam, dessen dicke Bohlen in einem Feuersturm, wie er ihn noch nie gesehen hatte, ein Raub prasselnd und knisternd zum Himmel auflodernder Flammen wurde. Das war nun wahrhaftig die »Nemesis der Flamme«, die Clarendon ersehnt hatte, und Dalton konnte sich denken, daß irgendwelche besonders gut brennbaren Substanzen für diese beispiellose Feuersbrunst verantwortlich sein mußten. Besorgt blickte er zum Sofa hinüber, aber Alfred war nicht mehr da. Er sprang auf und lief hinauf, um Georgina zu rufen, traf sie aber bereits im Flur, denn auch sie war von dem Berg lebendigen Feuers geweckt worden. »Das Labor brennt ab!« schrie sie. »Wo ist AI?«
»Er ist verschwunden ich war eingeschlafen!« entgegnete Dalton und nahm die schwankende Gestalt in den Arm.
Er wollte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer führen und versprach, auf der Stelle nach Alfred zu suchen, aber Georgina schüttelte müde den Kopf, während die Scheiben des Fensters auf dem Treppenabsatz von der Feuersbrunst draußen unheimlich rot erglühten.
»Er muß tot sein, James er konnte nicht mehr leben, nun da er wußte, was er getan hatte. Ich habe ihn mit Surama streiten hören und weiß, daß furchtbare Dinge sich ereignet haben. Er ist mein Bruder, aber es ist wohl am besten so, wie es ist.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern abgesunken.
Plötzlich kam durch das offene Fenster ein Geräusch wie von einem dumpfen, grauenhaften Gelächter, und die Flammen des brennenden Labors nahmen neue Konturen an, bis sie beinahe namenlosen, zyklopischen Nachtmahren ähnelten. James und Georgina verhielten und sahen atemlos durch das Fenster hinaus.
Dann kam ein gewaltiger Donnerschlag, als ein Blitz mit schrecklicher Zielsicherheit mitten in die flammenden Ruinen fuhr. Das dumpfe Lachen verstummte, und an seiner Stelle erhob sich ein wildes, jaulendes Geheul wie von tausend Ghulen und Werwölfen in furchtbarer Höllenqual. Der Donner verhallte grollend, und nach und nach nahmen die Flammen wieder ihre normale Gestalt an.
Die beiden rührten sich nicht von der Stelle, sondern warteten, bis die Feuersäule zu einem schwelenden Gluthaufen zusammengesunken war. Sie waren froh darüber, daß in diesem Außenbezirk niemand die Feuerwehr alarmiert hatte und daß die Mauer Neugierigen den Einblick verwehrte. Was hier geschah, war nicht für die Augen des Pöbels bestimmt dafür waren zu viele von den tiefsten Geheimnissen des Universums mit im Spiel.
Im Morgengrauen sprach James mit sanfter Stimme zu Georgina, die nur noch den Kopf an seine Brust legen und schluchzen konnte.
»Liebste, ich glaube, er hat seine Untaten gesühnt. Er muß das Feuer gelegt haben, als ich schlief. Er sagte mir, es müßte verbrannt werden das Labor, alles was darin war, und auch Surama. Es sei die einzige Möglichkeit, die Welt vor den unbekannten Schrecknissen zu bewahren, die er auf sie losgelassen hatte. Er wußte Bescheid, und er tat, was das beste war.
Er war ein großer Mann, Georgie, laß uns das niemals vergessen. Wir müssen immer stolz auf ihn sein, denn er machte sich auf, der Menschheit zu helfen, und war noch in seinen Sünden ein Titan. Irgendwann werde ich dir mehr sagen. Was er getan hat, mag es gut oder böse gewesen sein, war etwas, was noch kein Mensch jemals getan hat. Er war der erste und letzte, der gewisse Schleier zerriß und sogar Apollonios von Tyana muß hinter ihm zurückstehen. Aber darüber dürfen wir nicht sprechen. Wir müssen ihn stets als den kleinen Alf im Gedächtnis behalten, den wir kannten, als den Jungen, der die Medizin meistern und das Fieber besiegen wollte.«
Am Nachmittag hatten die säumigen Feuerwehrleute die Überreste des
Laborgebäudes untersucht und darin zwei Skelette gefunden, an denen noch Stücke verkohlten Fleisches hafteten -nur zwei, dank den Kalkgruben, die von dem Feuer nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Das eine war das Skelett eines Mannes, das andere gibt Biologen der Westküste immer noch Rätsel auf. Es war nicht eigentlich ein Affenoder Saurierskelett, aber es erinnerte auf befremdliche Weise an einen Stand der Evolution, von dem die Paläontologie andernorts noch keine Spuren entdeckt hat. Der verkohlte Schädel war eigenartigerweise sehr
menschenähnlich und erinnerte manchen an Surama; die übrigen Gebeine waren jedoch nicht näher bestimmbar. Nur gut geschnittene Kleidung hatte einen solchen Körper wie einen Menschen erscheinen lassen können.
Doch die menschlichen Gebeine waren die von Alfred Clarendon. Das war unumstritten, und die Welt beklagt noch immer den allzu frühen Tod des größten Arztes seiner Epoche, des Bakteriologen, dessen universelles Fieberserum Dr. Millers Gegengift bei weitem übertroffen hätte, wäre er noch lange genug am Leben geblieben, um es zu vollenden. Ein Großteil von Millers jüngstem Erfolg wird in der Tat auf die Aufzeichnungen zurückgeführt, die das unglückliche Opfer der Flammen ihm hinterließ. Von den Rivalitätsund Haßgefühlen ist heute fast nichts mehr übrig, und selbst Dr. Wilfred Jones rühmt sich mitunter seiner Zusammenarbeit mit dem dahingegangenen Vorbild.
James Dalton und seine Frau Georgina legten stets eine Zurückhaltung an den Tag, wie sie trauernden Familienangehörigen wohl ansteht. Sie veröffentlichten bestimmte Notizen als Tribut an den großen Mann, haben jedoch nie die landläufigen Vermutungen oder seltsamen Andeutungen von Wunderdingen bestätigt oder dementiert, die von manchen scharfsinnigen Leuten hinter vorgehaltener Hand verbreitet wurden. Nur sehr langsam und auf verschlungenen Wegen kamen die Tatsachen ans Licht. Dalton machte wahrscheinlich irgendwann einmal Andeutungen gegenüber Dr. MacNeil, und dieser hatte kaum Geheimnisse vor seinem Sohn. Die Daltons führen seither ein im großen und ganzen sehr glückliches Leben, denn die Wolke des Schreckens liegt weit in der Vergangenheit, und eine starke gegenseitige Liebe hat ihnen die Welt frisch erhalten. Doch es gibt Dinge, die sie merkwürdig aus der Fassung zu bringen vermögen, Kleinigkeiten, über die sich sonst kaum jemand aufhalten würde. So ertragen sie nur bedingt die Gesellschaft magerer oder mit tiefer Stimme sprechender Menschen, und Georgina erbleicht jedesmal, wenn sie ein gutturales Kichern oder Lachen vernimmt. Senator Dalton fürchtet sich vor Okkultismus, Reisen, Spritzen und fremden Schriftzeichen, also vor Dingen, die sich schwerlich unter einen Hut bringen lassen, und es gibt immer noch Leute, die ihm nicht verzeihen können, daß er seinerzeit einen so großen Teil der Bibliothek des Doktors mit peinlichster Gründlichkeit verbrannte.
MacNeil schien jedoch die Zusammenhänge zu ahnen. Er war ein einfacher Mann, und er sprach ein Gebet, als das letzte von Alfred Clarendons seltsamen Büchern zu Asche zerfiel. Und es hätte wohl auch keiner, der je einen verständigen Blick in eines dieser Bücher warf, zulassen mögen, daß auch nur ein Wort dieses Gebetes ungesagt blieb.



AUS ÄONEN von Hazel Heald und H. P. Lovecraft

[Manuskript aus dem Nachlaß des verstorbenen Dr. Richard H. Johnson, Kustos des Cabot-Museums für Archäologie, Boston, Massachussetts.]

Die Einwohner von Boston — und aufmerksame Leser in anderen Orten werden wohl nie die seltsame Affäre um das Cabot-Museum vergessen. Die
Zeitungsberichte über diese teuflische Mumie, die mit ihr verbundenen schrecklichen, uralten Gerüchte, die makabre Neugier und die kultischen Aktivitäten im Jahre 1932 sowie das grauenvolle Schicksal, das die beiden Eindringlinge am 1. Dezember jenes Jahres erlitten — dies alles zusammen ergab eine jener geheimnisvollen Geschichten, die als Folklore von Generation zu Generation weitergegeben werden und schließlich den Kern ganzer Zyklen abergläubischer Phantasien bilden.
Allgemein bekannt scheint auch zu sein, daß etwas sehr Wichtiges und unsäglich Grauenvolles in den veröffentlichten Berichten vom Höhepunkt der schrecklichen Ereignisse verschwiegen wurde. Die ersten beunruhigenden Hinweise auf den Zustandeines der beiden Leichname wurden allzu eilfertig dementiert, und auch die einzigartigen Veränderungenan der Mumie erhielten längst nicht die Publizität, die man angesichts des sensationellen Charakters hätte erwarten können. Merkwürdig fanden es die meisten auch, daß die Mumie seither nicht mehr ausgestellt wird. Angesichts des hohen Entwicklungsstands der Kunst der Taxidermie kann man die Begründung, der hochgradige Zerfall der Mumie erlaube keine Ausstellung mehr, nicht als stichhaltig anerkennen.
Als Kustos des Museums wäre ich in der Lage, das Geheimnis zu lüften und alle unterdrückten Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, doch werde ich dies zu meinen Lebzeiten nicht tun. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen die große Masse besser nichts weiß, und ich stehe nach wie vor zu der Ansicht, die wir alle Museumsangestellte, Ärzte, Reporter und Polizei zur Zeit der
schrecklichen Ereignisse teilten. Andererseits scheint es mir angebracht, daß eine Angelegenheit von so großer wissenschaftlicher und historischer Tragweite nicht ohne jedes schriftliche Dokument bleiben sollte;
daher dieser Bericht, den ich für ernsthafte Gelehrte abfasse. Ich werde ihn zu den Papieren legen, die nach meinem Tod gesichtet werden sollen, und es der Entscheidung meiner Testamentsvollstrecker überlassen, was damit geschehen soll. Gewisse Drohungen und außergewöhnliche Vorkommnisse in den letzten Wochen haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß mein Leben, ebenso wie das anderer Mitarbeiter des Museums, in Gefahr ist, i und zwar wegen der Feindschaft verschiedener weitverbreiteter Geheimkulte von Asiaten, Polynesiern und Anhängern der verschiedensten mystischen Sekten; es ist deshalb möglich, daß meine Testamentsvollstrecker schon bald tätig werden müssen. (Anmerkung des Testamentsvollstreckers: Dr. Johnson starb am
22. April 1933 unerwartet und unter ungeklärten Umständen an Herzversagen. Wentworth Moore, Präparator des Museums, i verschwand Mitte des
vorangegangenen Monats. Am 18. Februar desselben Jahres erhielt Dr. William Minot, der eine Obduktion im Zusammenhang mit diesem Fall leitete, einen Messerstich in den Rücken, dem er tags darauf erlag.)
Die schrecklichen Ereignisse gehen wohl eigentlich bis ins Jahr 1879 zurück lange vor meiner Anstellung als Kustos -, als das Museum diese gespenstische, rätselhafte Mumie von der Orient Shipping Company erwarb. Schon allein ihre Entdeckung war monströs und bedrohlich, denn sie stammte aus einer Krypta unbekannter Herkunft und unermeßlichen Alters auf einer Insel, die erst kurz zuvor aus dem Pazifik aufgetaucht war.
Am ii. Mai 1878 hatte Kapitän Charles Weatherbee auf dem Frachter
Eridanus,unterwegs von Wellington, Neuseeland, nach Valparaiso in Chile, eine neue Insel gesichtet, die auf keiner Karte verzeichnet und offenbar vulkanischen Ursprungs war. Sie hatte die Form eines stumpfen Kegels und ragte ziemlich weit über die Wasseroberfläche auf. Ein Landungstrupp unter Kapitän Weatherbee bemerkte an den steilen Flanken der Insel Spuren, die darauf hinwiesen, daß die Insel lange Zeit untergetaucht gewesen war, während auf dem Gipfel manches auf Zerstörungen in jüngerer Zeit hindeutete, etwa durch ein Erdbeben. In den verstreuten Trümmern fanden sich riesige Steinblöcke, die eindeutig künstlich bearbeitet worden waren, und bei einer genaueren Untersuchung wurden Reste prähistorischen zyklopischen Mauerwerks gefunden, das man auf gewissen PazifikInseln antrifft und das für die Archäologie immer noch ein Rätsel darstellt. Schließlich gelangten die Seeleute in eine massive steinerne Krypta offenbar Teil eines viel größeren Gebäudes, das ehemals weit unter der Erde gelegen haben mußte -, in der eine grauenerregende Mumie in einer Ecke kauerte. Nach einer kurzen Phase panischer Angst, die teilweise auch von Reliefs an den Wänden verursacht wurde, ließen sich die Männer herbei, die Mumie auf das Schiff zu schaffen, obwohl sie sie nur mit größtem Widerwillen anfaßten. Dicht neben dem Körper, so als ob er früher einmal in den Kleidern gesteckt hätte, lag ein Zylinder aus einem unbekannten Metall; dieser enthielt eine Rolle dünnen, bläulich-weißen Materials, dessen Herkunft ebenfalls unbekannt war und das eigenartige Schriftzeichen in grauer Farbe trug. In der Mitte des riesigen Steinfußbodens war etwas wie eine Falltür zu erkennen, aber die Männer verfügten nicht über die nötigen Hilfsmittel, um sie zu öffnen.
Das Cabot-Museum, das damals gerade neu gegründet worden war, unternahm auf die spärlichen Berichte von der Entdeckung hin sofort die notwendigen Schritte, um die Mumie und den Zylinder zu erwerben. Kustos Pickman fuhr persönlich nach Valparaiso und rüstete einen Schoner für eine Forschungsreise zu der Krypta aus, in der die Mumie gefunden worden war, scheiterte jedoch mit diesem Unternehmen. In der Gegend, wo sich die Insel befinden sollte, war weit und breit nur offene See, und die Forscher erkannten, daß die gleichen seismischen Kräfte, die das Eiland plötzlich aus dem Meer gehoben hatten, es nun wieder in die wäßrige Finsternis hinabgezogen hatten, in der es seit Ewigkeiten geschlafen hatte. Das Geheimnis jener unbeweglichen Falltür würde nie gelüftet werden.
Aber man hatte ja noch die Mumie und den Zylinder, und erstere wurde Anfang November 1879 in der Mumienhalle des Museums ausgestellt.
Das Cabot-Museum für Archäologie, das auf Überreste alter und unbekannter Kulturen spezialisiert ist, die nicht in den Bereich der Kunst fallen, ist eine kleine und nicht sehr bekannte Institution, die jedoch in wissenschaftlichen Kreisen einen guten Ruf genießt. Das Museum steht im exklusiven Bezirk Beacon Hill von Boston in der Mt. Vernon Street. Es ist in einem früheren Privathaus mit einem nach hinten angebauten zusätzlichen Flügel untergebracht und war der Stolz des ganzen Viertels, bis es durch die schrecklichen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit zum Gegenstand unerwünschter Publizität wurde.
Der Mumiensaal im Westflügel des alten Hauses (das von Bulfinch entworfen und
1819 gebaut wurde), im ersten Stock, steht bei Historikern und Anthropologen zu Recht im Ruf, die größte Sammlung seiner Art in Amerika zu beherbergen. Hier findet man typische Beispiele für die ägyptische Einbalsamierung, von den frühesten Exemplaren aus Sakkara bis zu den spätesten koptischen Versuchen im 8. Jahrhundert, Mumien aus anderen Kulturen, darunter prähistorische indianische Exemplare, die erst vor kurzem auf den Al Áuten entdeckt wurden, Figuren aus Pompeji, die dadurch entstanden, daß man die tragischen Hohlräume in den Aschemassen der Ruinenstadt mit Gips ausgoß, natürlich mumifizierte Körper aus Bergwerken und anderen Ausgrabungen in allen Teilen der Welt von denen manche in den grotesken Stellungen ihres letzten Todeskampfes eingeschlossen worden waren -, mit einem Wort, alles, was man in einer solchen Sammlung nur erwarten kann. Im Jahre 1879 war die Sammlung natürlich noch nicht so umfangreich wie heute, doch immerhin schon durchaus bemerkenswert. Diese schockierende Mumie aus der zyklopischen Krypta auf einer nur für so kurze Zeit dem Ozean entstiegenen Insel war jedoch die Hauptattraktion und das rätselhafteste Exponat.
Es war die Mumie eines mittelgroßen Mannes unbekannter Rasse, der in einer eigentümlichen Hockstellung einbalsamiert worden war. Das Gesicht, halb hinter klauenartigen Händen verborgen, hatte einen weit vorspringenden Unterkiefer, während die eingeschrumpften Züge auf so schreckliche Weise angstverzerrt schienen, daß nur wenige Betrachter ungerührt blieben. Die Augen waren geschlossen, mit fest über die offenbar hervortretenden Augäpfel heruntergezogenen Lidern. Es hafteten noch einzelne Haarsträhnen und Barthaare an dem Kopf, dessen Farbe ein stumpfes, neutrales Grau war. Die Oberfläche erinnerte halb an Leder und halb an Stein und stellte dadurch eines der unlösbaren Rätsel für die Experten dar, die herauszufinden versuchten, welches Verfahren der Einbalsamierung angewandt worden war. Die Substanz der Mumie war stellenweise durch Zeit und Verwesung zerstört, und Fetzen eines eigentümlichen Stoffes, in dem man noch Spuren eines fremdartigen Musters erkannte, hingen noch an dem Objekt.
Was es war, das die Mumie so grausig und abstoßend erscheinen ließ, war schwer zu sagen. Da war einmal der undefinierbare Charakter unbegrenzten Alters und äußerster Fremdartigkeit, der einen schwindeln ließ wie ein Blick vom Rand eines monströsen Abgrundes bodenloser Finsternis, aber vor allem war es wohl der angstverzerrte Ausdruck auf dem runzeligen, prognathischen, halb verdeckten Gesicht. Ein solches Symbol unendlicher, unmenschlicher, kosmischer Furcht mußte zwangsläufig dieses Gefühl auf den ohnehin durch Geheimnis und vergebliche Mutmaßungen verstörten Betrachter übertragen.
Unter den wenigen Kennern, die das Cabot-Museum besuchten, erlangte dieses Überbleibsel aus einer alten, vergessenen Welt schon bald einen unguten Ruf, doch wurde durch die Abgeschiedenheit und die Zurückhaltung des Museums verhindert, daß eine Sensation für die Massen daraus gemacht wurde. Im vorigen Jahrhundert hatte die Kunst des vulgären Tamtams sich noch nicht so sehr der Wissenschaft und Gelehrsamkeit bemächtigt, wie ihr das seither gelungen ist. Natürlich versuchten Fachleute aller Richtungen, das schreckliche Objekt zu klassifizieren, jedoch ohne Erfolg. Unter den Gelehrten machten Theorien über eine untergegangene pazifische Kultur die Runde, von der die Bildwerke auf der Osterinsel und die megalithischen Gemäuer von Ponape und Nan-Matal möglicherweise herstammten, und in wissenschaftlichen Zeitschriften wurde über einen hypothetischen früheren Kontinent spekuliert, dessen Gipfel als die zahllosen Inseln Melanesiens und Polynesiens heute noch aus dem Ozean ragten. Die unterschiedlichen Datierungen, die für diese verschwundene Kultur oder diesen versunkenen Kontinent angegeben wurden, waren zugleich verwirrend und amüsant, doch fanden sich in gewissen Mythen von Tahiti und anderen Inseln überraschend aufschlußreiche Motive.
Währenddessen wurde natürlich auch dem seltsamen Zylinder und der rätselhaften, mit Hieroglyphen bedeckten Schriftrolle, die in der Museumsbibliothek aufbewahrt wurden, die gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Über ihren Zusammenhang mit der Mumie konnte kein Zweifel bestehen, und deshalb war man sich einig, daß die Enträtselung ihres Geheimnisses aller Wahrscheinlichkeit nach auch zur Enträtselung des Geheimnisses der verschrumpelten Schreckgestalt führen würde. Der Zylinder, etwa vier Zoll lang und knapp einen Zoll im Durchmesser, war aus einem seltsam irisierenden Metall, das sich jeder chemischen Analyse entzog und offenbar unempfindlich für alle bekannten Reagenzien war. Er war mit einem dicht sitzenden Deckel aus dem gleichen Metall verschlossen und trug eingravierte Bilder von offenkundig dekorativer und möglicherweise symbolischer Natur konventionelle Ornamente, denen jedoch ein fremdartiges, paradoxes und so gut wie unbeschreibliches System der Geometrie zugrunde lag.
Nicht minder rätselhaft war die Schriftrolle, die aus dünnem, bläulich-weißem, nicht analysierbarem Material bestand, das säuberlich um einen dünnen Stab aus dem gleichen Metall wie der Zylinder gerollt war und etwa eine Länge von zwei Fuß hatte. Die großen Hieroglyphen, die in der Mitte der Rolle in schmaler Spalte von oben nach unten angeordnet und mit einem unbekannten grauen Farbstoff geschrieben oder gemalt waren, ähnelten keiner den Paleographen bekannten Schrift und konnten nicht entziffert werden, obwohl fotografische Kopien an alle in Frage kommenden Wissenschaftler verschickt wurden.
Zwar fanden einige in der Literatur des Okkultismus und der Magie ungewöhnlich versierte Gelehrte vage Ähnlichkeiten zwischen einigen der Hieroglyphen und gewissen urzeitlichen Symbolen, die in zwei oder drei sehr alten, obskuren und esoterischen Texten beschrieben oder zitiert werden, wie etwa im Buch Etbon, das aus dem vergessenen Hyperborea stammen soll, den Pnakotischen Fragmenten, die aus vormenschlicher Zeit stammen sollen, und dem monströsen und verbotenen Necronomicondes wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred. Keine dieser
Ähnlichkeiten ließ sich jedoch schlüssig belegen, und da die Erforschung des Okkulten in geringem Ansehen stand, wurde auch kein Versuch unternommen, Kopien der Hieroglyphen an Fachleute für Mystizismus zu schicken. Wäre dies damals schon geschehen, hätte die Angelegenheit später einen anderen Verlauf nehmen können, ja jeder Leser der schrecklichen Unaussprechlichen Kultendes von Junzt hätte nur einen Blick auf die Hieroglyphen zu werfen brauchen, um sofort ihre Bedeutung zu erkennen. Zu der Zeit gab es jedoch nur sehr wenige, die dieses blasphemische Werk gelesen hatten, weil es zwischen der Unterdrückung der Düsseldorfer Originalausgabe (1839) und der Übersetzung von Bridewell (1845) einerseits und dem Erscheinen des expurgierten Nachdrucks in der Golden Goblin Press im Jahre 1909 außerordentlich selten geworden war. Genaugenommen war nicht ein einziger Okkultist oder Kenner der Esoterik der Urzeit auf die merkwürdige Schriftrolle aufmerksam gemacht worden bis zu dem noch nicht lange
zurückliegenden Ausbruch von Sensationsjournalismus, der dann rasch zu dem schrecklichen Höhepunkt führte.
So kam es, daß seit der Aufstellung der schrecklichen Mumie in dem Museum ein halbes Jahrhundert lang kaum etwas unternommen wurde. Das schaurige Objekt genoß eine gewisse Berühmtheit bei den kultivierten Bostonern, aber das war auch alles; den Zylinder und die Schriftrolle hatte man nach zehn Jahren vergeblicher Untersuchungen praktisch vergessen. Das Cabot-Museum war so ruhig und konservativ, daß kein Journalist jemals auf den Gedanken kam, dort nach Sensationsmeldungen zu suchen.
Der große Presserummel setzte im Frühjahr 1931 ein, als ein spektakulärer Ankauf es handelte sich um seltsame Objekte und auf unerklärliche Weise konservierte Körper, die man in Krypten unter den berüchtigten Ruinen des Chäteau Faussesflammes in Frankreich gefunden hatte das Museum unversehens in die Schlagzeilen brachte. Der rührige Boston Pillar schickte einen Reporter, der für die
Sonntagsbeilage einen Artikel über den Ankauf und das Museum selbst schreiben sollte, und dieser junge Mann, Stuart Reynolds mit Namen, kam auf den Gedanken, daß die namenlose Mumie eine viel größere Sensation darstellen konnte als der jüngste Ankauf, über den er eigentlich hatte berichten sollen. Dank gewisser Kenntnisse in Theosophie und einer Vorliebe für die Spekulationen von Schriftstellern wie Colonel Churchward und Lewis Spence über verlorene Kontinente und vergessene Kulturen war Reynolds besonders empfänglich für äonische Überreste wie die unbekannte Mumie. Im Museum machte sich der Reporter unbeliebt, indem er hartnäckig und nicht immer intelligente Fragen stellte und immer wieder verlangte, die Exponate sollten anders aufgestellt werden, damit er sie aus ungewöhnlichen Blickwinkeln fotografieren könnte. Im Bibliothekssaal im Keller grübelte er endlos über dem merkwürdigen Metallzylinder und der Schriftrolle, fotografierte beides von allen Seiten und machte Aufnahmen von dem unheimlichen Hieroglyphentext. Außerdem ließ er sich alle Bücher vorlegen, in denen irgend etwas über
prähistorische Kulturen und versunkene Kontinente stand, saß manchmal drei Stunden hintereinander da und exzerpierte, um dann eiligst die Cambridge University aufzusuchen und dort (falls man es ihm gestattete) in der Widener Library das gefürchtete und verbotene Necronomiconzu konsultieren.
Am 5. April erschien der Artikel in der Sonntagsausgabe des Pillarzusammen mit zahllosen Fotos von der Mumie, dem Zylinder und der Schriftrolle, abgefaßt in dem typischen infantilen Stil, den der Pillarfür seine große und geistig minderbemittelte Leserschaft für angebracht hält. Voller Ungenauigkeiten und grotesker
Übertreibungen, war dieser Artikel dazu angetan, die gedankenlose
Sensationslüsternheit der Massen anzustacheln, und die Folge war, daß das einst so stille Museum plötzlich von Scharen schwatzender und verständnislos gaffender Menschen überschwemmt war, wie sie die stattlichen Korridore dieser ehrwürdigen Institution noch nie gesehen hatten.
Obwohl der Artikel so kindisch war, kamen jedoch auch Gelehrte und intelligente Besucher die Bilder hatten für sich selbst gesprochen, und auch reife
Persönlichkeiten bekommen ja oft durch Zufall den Pillarin die Hand. So erinnere ich mich, daß irgendwann im November ein höchst merkwürdiger Fremder erschien, ein dunkelhaariger, bärtiger Mann mit einem Turban, einer gequälten, unnatürlichen Stimme, einem seltsam ausdruckslosen Gesicht und plumpen, in grotesken weißen Fäustlingen steckenden Händen, der eine Adresse in einem Elendsviertel des West End angab und sich »Swami Chandraputra« nannte. Dieser Bursche war jedoch unglaublich bewandert in okkulten Lehren und schien zutiefst bewegt von der Ähnlichkeit der Hieroglyphen auf der Schriftrolle mit gewissen Zeichen und Symbolen einer vergessenen alten Welt, von der er nach seinen eigenen Worten sehr viel wußte. Bis Juni hatte sich die Sensationsmeldung von der Mumie und der Schriftrolle schon weit über Boston hinaus verbreitet, und das Museum bekam Anfragen und Bitten um Fotos von Okkultisten und Anhängern der
Geheimwissenschaften aus aller Welt. Das war für unsere Leute im Museum keineswegs eine reine Freude, denn wir sind eine wissenschaftliche Institution, die nicht viel für Träumer und Phantasten übrig hat; trotzdem beantworteten wir gewissenhaft alle Anfragen. Eine Folge davon war ein hochgelehrter Artikel in The Occult Review,verfaßt von dem berühmten Mystiker Etienne-Laurent de Marigny, der darin unter anderem behauptete, daß einige der alten geometrischen Ornamente auf dem irisierenden Zylinder und mehrere der Hieroglyphen auf der Schriftrolle absolut identisch mit bestimmten Ideogrammen seien, die (in Transkriptionen von urzeitlichen Monolithen oder nach Angaben esoterischer Erforscher oder Anhänger verschiedener Geheimkulte) in dem höllischen und verbotenen Schwarzen Buchoder Unaussprechlichen Kultendes von Junzt wiedergegeben seien.
De Marigny erinnerte an den schrecklichen Tod von Junzts im Jahre 1840, ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buches in Düsseldorf, und berichtete von dessen haarsträubenden und teilweise nur zu vermutenden Quellen. Vor allem hob er die ungeheuere Bedeutung der Geschichten hervor, mit denen von Junzt die meisten der monströsen Ideogramme, die er in seinem Buch wiedergab, in Verbindung brachte. Daß diese Geschichten, in denen ausdrücklich ein Zylinder und eine Schriftrolle erwähnt wurden, sehr stark an die Dinge im Museum erinnerten, konnte niemand bestreiten; freilich waren sie von so atemberaubender Extravaganz und handelten von so unglaublich großen Zeiträumen und phantastischen Anomalien einer vergessenen alten Welt, daß man sie leichter bewundern als an sie glauben konnte.
Auf Bewunderung stießen sie vor allem in der Öffentlichkeit, denn der Artikel wurde fast in allen Zeitungen abgedruckt. Überall erschienen illustrierte Berichte mit den Legenden aus dem Schwarzen Buch,die sich über den grauenhaften Charakter der Mumie verbreiteten, die Ornamente des Zylinders und die Hieroglyphen der Schriftrolle mit den Abbildungen in von Junzts Buch verglichen und sich in den abenteuerlichsten, sensationellsten und irrationalsten Theorien und Spekulationen ergingen. Die Besucherzahlen des Museums verdreifachten sich, und wieweit verbreitet das Interesse war, ging unter anderem aus der Flut von zumeist stupiden und überflüssigen Zuschriften hervor, die das Museum erhielt. Die Mumie und ihre Herkunft schienen zumindest für phantasiebegabte Menschen ein Thema zu sein, das sie in den Jahren 1931 und 1932 ebenso stark bewegte wie die Weltwirtschaftskrise. Was mich selbst betraf, so wirkte sich bei mir der ganze Aufruhr dahin aus, daß ich von Junzts monströses Werk in der Golden-Goblin-Ausgabe las, eine Lektüre, die mir Schwindel und Ekel verursachte, so daß ich froh war, nur den expurgierten Text kennengelernt zu haben.

Die archaischen Legenden, die im Schwarzen Buch beschrieben sind und mit Ornamenten und Symbolen zusammenhängen, die den Darstellungen auf der geheimnisvollen Schriftrolle und dem Zylinder so sehr ähneln, waren in der Tat so geartet, daß es einem den Atem verschlug. Sie berichteten von unvorstellbar lange vergangenen Zeiten, Epochen vor allen Kulturen, Rassen und Ländern, die wir kennen, und handelten überwiegend von einem verschwundenen Volk und einem verschwundenen Kontinent der sagenhaften frühen Jahre … einem Kontinent, dem die Legende den Namen Mu gegeben hat, und der Inschriften in der Ursprache Naacal auf alten Tafeln zufolge vor 200 ooo Jahren bewohnt war, zu einer Zeit also, als es in Europa nur Zwitterwesen gab und man im untergegangenen Hyperborea den schwarzen, amorphen Tsathoggua verehrte.
Es war die Rede von einem Königreich namens K’naa in einem alten Land, wo die ersten Menschen monströse Ruinen entdeckt hatten, die von denen zurückgelassen worden waren, die dort vorher gelebt hatten Wellen unbekannter Wesen, die von den Sternen herabgesickert waren und die ihnen zugemessene Zeit auf der eben erst geborenen Welt gelebt hatten. K’naa war ein geheiligter Ort, denn in seiner Mitte ragten die kahlen Basaltfelsen des Berges Yaddith-Gho in den Himmel, gekrönt von einer gigantischen Festung aus zyklopischen Steinblöcken, unendlich viel älter als die Menschheit und erbaut von der fremdartigen Brut des dunklen Planeten Yuggoth, die vor der Geburt des irdischen Lebens die Erde besiedelt hatte.Die Yuggoth-Brut war schon vor Ewigkeiten zugrunde gegangen, hatte jedoch ein monströses und schreckliches Lebewesen zurückgelassen, das niemals sterben konnte, den höllischen Gott oder Dämon Ghatanothoa, der auf ewig unsichtbar in den Höhlen unterhalb dieser Festung auf dem Yaddith-Gho brütete. Kein Mensch hatte je den Yaddith-Gho erstiegen oder diese blasphemische Festung gesehen, es sei denn als fernen, geometrisch abnormen Umriß vor dem Himmel, doch die meisten stimmten darin überein, daß Ghatanothoa immer noch existierte und in unergründlichen Abgründen unter den megalithischen Mauern wühlte und wallte. Es gab immer auch Menschen, die glaubten, man müßte Ghatanothoa Opfer bringen, damit er nicht aus seinen verborgenen Abgründen herauskröche und schrecklich durch die Welt der Menschen watschele, wie er einst durch die Urwelt der Yuggoth-Brut gewatschelt war. Es hieß, daß Ghatanothoa, wenn ihm keine Opfer gebracht würden, zum Tageslicht aufquellen und die Basaltfelsen des Yaddith-Gho herabgleiten und allem und jedem, dem er begegnete, Unheil und Verderben bringen würde. Denn kein lebendes Wesen könnte des Anblick Ghatanothoas oder auch nur eines perfekten Abbildes von ihm ertragen, mochte es auch noch so klein sein, ohne eine Veränderung zu erleiden, die schrecklicher wäre als der Tod. Der Anblick des Gottes oder eines Bildes von ihm, so sagten alle Legenden der Yuggoth-Brut, führte zu einer Lähmung und
Versteinerung von besonders schrecklicher Art, wobei das Opfer auf der Außenseite zu Stein und Leder verwandelt werde, während das Gehirn im Inneren auf ewig lebendig bleibe, für immer gefangen und fixiert, des Vergehens unendlicher Epochen bewußt, und doch zu hilfloser Untätigkeit verdammt, bis die Zeit und der Zufall die Zersetzung der versteinerten Hülle vollenden würden, so daß es endlich sterben könnte. Die meisten Gehirne würden natürlich wahnsinnig werden, lange bevor diese um Epochen verzögerte Befreiung stattfände. Noch nie, so hieß es, habe eines Menschen Auge jemals Ghatanothoa erblickt, obwohl die Gefahr jetzt genauso groß sei, wie sie es für die Yuggoth-Brut gewesen sei.
Und daher gab es einen Kult in K’naa, der sich der Verehrung Ghatanothoas widmete und ihm jedes Jahr zwölf junge Krieger und zwölf junge Mädchen opferte. Diese Opfer wurden auf brennenden Altären in dem Marmortempel am Fuß des Bergesdargebracht, denn niemand wagte es, die Basaltfelsen des Yad-dith-Ghö zu erklimmen oder sich der zyklopischen, vormenschlichen Festung auf seinem Gipfel zu nähern. Die Priester Ghatanothoas verfügten über ungeheure Macht, denn von ihnen allein hing es ab, ob K’naa und alle Länder von Mu vor dem Auftauchen Ghatanothoas aus seinen unterirdischen Höhlen bewahrt wurden.
Es gab in dem Land hundert Priester des Dunklen Gottes, unter dem Hohepriester Imash-Mo, der beim Nath-Fest vor König Thabou ging und stolz stehenblieb, während der König vor dem dhorischen Schrein niederkniete. Jeder Priester hatte ein Marmorhaus, eine Truhe mit Gold, zweihundert Sklaven und hundert Konkubinen und war Herr über Leben und Tod aller Bewohner von K’naa mit Ausnahme der Priester des Königs. Doch trotz dieser Verteidiger herrschte Furcht im Lande, Ghatanothoa könnte doch eines Tages aus den Tiefen heraufgleiten und den Berg herabkommen, um Schrecken und Versteinerung über die Menschheit zu bringen. In den späteren Jahren verboten die Priester sogar den Menschen, sich vorzustellen, wie Ghatanothoa aussehen könnte.
Es war im Jahr des Roten Mondes (nach von Junzts Berechnungen das Jahr 173 148 v. Chr.), daß zum erstenmal ein Mensch es wagte, sich gegen Ghatanothoa und seine unaussprechliche Bedrohung aufzulehnen. Dieser kühne Ketzer war T’yog, Hohepriester von Schab-Niggurath und Wächter des Kupfertempels der Ziege mit den tausend Jungen. T’yog hatte lange über die Macht der verschiedenen Götter nachgedacht und merkwürdige Träume und Offenbarungen über das Leben dieser und früherer Welten gehabt. So war er zu der Gewißheit gelangt, daß die den Menschen freundlich gesinnten Götter gegen die feindseligen Götter aufgeboten werden könnten, und er glaubte, daß Schab-Niggurath, Nug und Yeb ebenso wie der Schlangengott Yig bereit wären, sich gegen die Tyrannei Ghatanothoas mit dem Menschen zu verbünden.
Inspiriert von der Muttergottheit, schrieb T’yog eine seltsame Formel im hieratischen Naacal seines Ordens nieder, von der er glaubte, daß sie jeden, der sie bei sich trug, vor der Versteinerungskraft des Dunklen Gottes schützen würde. Mit einem solchen Schutz, so überlegte er, müßte es für einen kühnen Menschen möglich werden, die gefürchteten Basaltfelsen zu erklimmen und als erster Sterblicher die zyklopische Festung zu betreten, unter der Ghatanothoa vor sich hinbrütete. Wenn er dem Gott erst einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, mit der Macht SchabNigguraths und ihrer Söhne auf seiner Seite, müßte er, so glaubte T’yog, eigentlich in der Lage sein, den Gott niederzukämpfen und die Menschheit von seiner Bedrohung zu erlösen. Und wenn die Menschen erst einmal durch sein, T’yogs, Verdienst befreit wären, würde er Anspruch auf unbegrenzte Ehren erheben können. Alle Ehren der Priester Ghatanothoas würden zwangsläufig auf ihn übergehen, und dann wäre sogar die Königswürde oder der Rang eines Gottes für ihn in Reichweite.
So schrieb T’yog seine Schutzformel auf eine Rolle Pthagon (nach von Junzt die innere Haut der ausgestopften Yakith-Echse) und steckte diese in einen verzierten Zylinder aus dem Metall Lagh,dem Metall, das die Alten Wesen von Yuggoth mitgebracht hatten und das auf der Erde nicht vorkommt. Mit diesem Amulett im Gewände würde er gegen Ghatanothoa gefeit sein, ja es würde sogar die
versteinerten Opfer des Dunklen Gottes wiederherstellen, falls dieses monströse Wesen jemals hervorkommen und mit seinen Verwüstungen beginnen sollte. Er erbot sich also, auf den gemiedenen und noch von keines Menschen Fuß betretenen Berg zu steigen, in die zyklopische Zitadelle einzudringen und das schockierende Teufelswesen in seiner Höhle zu stellen. Was dann geschehen würde, darüber konnte er nicht einmal Mutmaßungen anstellen, aber die Hoffnung, zum Retter der Menschheit zu werden, bestärkte ihn in seinem Entschluß.
Er hatte jedoch nicht mit der Eifersucht und dem Egoismus von Ghatanothoas Priestern gerechnet. Kaum hatten diese von seinem Plan erfahren, als sie auch schon um ihr Ansehen und ihre Privilegien für den Fall fürchtend, daß der dämonische Gott entthront würde lautstark Einspruch gegen das sogenannte Sakrileg erhoben, mit der Begründung, daß kein Mensch gegen Ghatanothoa etwas ausrichten könne und jede Störung des Gottes diesen lediglich zu einem teuflischen Angriff auf die ganze Menschheit herausfordern würde, den kein Zauberer oder Priester würde abwenden können. Mit diesen Argumenten hofften sie, das Volk gegen T’yog aufwiegeln zu können, doch die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit von Ghatanothoa war so stark und ihr Vertrauen auf das Geschick und den Eifer von T’yog so groß, daß alle Proteste nichts ausrichteten. Selbst der König, im allgemeinen eine Marionette der Priester, weigerte sich, T’yogs wagemutige Pilgerfahrt zu untersagen.
Da taten die Priester Ghatanothoas heimlich, was sie öffentlich nicht erreicht hatten. Eines Nachts schlich sich der Hohepriester Imash-Mo zu T’yog in dessen Tempelkammer und entwendete dem Schlafenden den Metallzylinder; lautlos zog er die zauberkräftige Schriftrolle heraus und ersetzte sie durch eine andere, ganz ähnliche Rolle, die jedoch keinerlei Kraft gegen irgendeinen Gott oder Dämon besaß. Imash-Mo steckte den Zylinder wieder in das Gewand des Schlafenden und war es zufrieden, denn es war sehr unwahrscheinlich, daß T’yog vor seinem Aufbruch noch einmal den Inhalt des Zylinders überprüfen würde. In dem Glauben, durch die echte Schriftrolle geschützt zu sein, würde der Ketzer auf den verbotenen Berg steigen und Ghatanothoa würde, von keinem Zauber gehemmt, den Rest erledigen. Ghatanothoas Priester konnten jetzt darauf verzichten, weiter gegen die Lästerung zu predigen. Sollte doch T’yog seinen Willen haben und sich ins Unglück stürzen. Sie würden die echte Rolle aufbewahren, den wahren, wirksamen Zauber, und sie von einem Hohepriester an den nächsten weitergeben, bis zu dem fernen Zeitpunkt, an dem es vielleicht nötig sein würde, dem Teufelsgott Widerpart zu bieten. So konnte Imash-Mo beruhigt Schlafengehen, nachdem er die echte Rolle in einen neuen Zylinder gesteckt hatte.
Im Morgengrauen des Tages der Himmelsflammen (eine Bezeichnung, die von Junzt nicht erläutert) brach T’yog unter den Gebeten und Gesängen des Volkes und mit König Thabous Segen zur Besteigung des gefürchteten Berges auf, mit einem Stock aus Tiathholz in der rechten Hand. In seinem Gewand steckte der Zylinder mit der vermeintlich zauberkräftigen Schriftrolle, denn er hatte den Betrug tatsächlich nicht bemerkt. Und auch die Tatsache, daß Imash-Mo und die anderen Priester Ghatanothoas für seine wohlbehaltene Rückkehr beteten, machte ihn nicht mißtrauisch.
Den ganzen Vormittag standen die Menschen und sahen zu, wie sich T’yogs immer kleiner werdende Gestalt die gemiedenen Basaltwände hinauf entfernte, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte, und viele standen auch noch da und schauten, lange nachdem er auf einem schmalen Felsband um den Berg herumgegangen und außer Sicht geraten war. In dieser Nacht meinten einige empfindsame Träumer, ein schwaches Beben zu verspüren, das den verhaßten Berg erschütterte, doch als sie davon erzählten, wurden sie nur verlacht. Am folgenden Tag stand eine große Menschenmenge betend am Fuß des Berges und fragte sich, wann T’yog zurückkehren würde. Und das gleiche taten sie auch am folgenden und am übernächsten Tag. Wochenlang hofften und warteten sie, und dann weinten sie. Doch T’yog, der die Menschheit hatte erretten wollen, ward nie mehr gesehen. Von da an schauderten die Menschen über T’yogs Anmaßung und versuchten, nicht an die Strafe zu denken, die ihn für seine Gottlosigkeit ereilt haben mochte. Und die Priester Ghatanothoas lächelten nur über diejenigen, die den Willen des Gottes beklagten oder sein Recht auf die Menschenopfer in Frage stellten. In späteren Jahren erfuhr das Volk von der List Imash-Mos, doch änderte dies nichts an der vorherrschenden Meinung, daß man Ghatanothoa besser in Frieden lassen solle. Niemand wagte es mehr, sich gegen ihn aufzulehnen, und so zogen die Epochen vorüber, und König folgte auf König, Hohepriester auf Hohepriester, und Völker erstanden und gingen unter, und Länder tauchten aus dem Meer auf und sanken wieder zurück. Und nach vielen Jahrtausenden setzte der Verfall von K’naa ein, bis schließlich an einem schrecklichen Tag inmitten von Sturm und Unwetter, schaurigem Grollen und berghohen Wogen das ganze Land Mu für immer im Ozean versank.
Doch die uralten Geheimnisse gingen nicht unter, sondern pflanzten sich fort in
spätere Epochen. In fernen Ländern trafen sich graugesichtige Flüchtlinge, die das Toben des Seeungeheuers überlebt hatten, und fremde Himmel tranken den Rauch von Altären, die entschwundenen Göttern und Dämonen errichtet wurden. Obwohl niemand wußte, in welch bodenlose Tiefen der heilige Berg und die zyklopische Festung des gefürchteten Ghatanothoa gesunken waren, gab es immer noch Menschen, die seinen Namen murmelten und ihm unaussprechliche Opfer brachten, damit er nicht aus den Tiefen des Ozeans auftauche und Schrecken und Versteinerung über die Menschheit bringe.
Um die verstreuten Priester bildeten sich die Anfänge eines dunklen Geheimkults geheim deshalb, weil die Menschen der neuen Länder andere Götter und Teufel hatten und von den Älteren und Fremden nur Schlechtes dachten -, und innerhalb dieses Kults geschahen viele schaurige Dinge und wurden viele merkwürdige Objekte verehrt. Es ging die Sage, daß eine gewisse Gruppe verschwiegener Priester noch immer den wahren Zauber gegen Ghatanothoa hütete, den Imash-Mo dem schlafenden T’yog entwendet hatte, obwohl niemand mehr die kryptischen Silben lesen oder verstehen oder auch nur mutmaßen konnte, in welchem Teil der verlorenen Welt von K’naa der gefürchtete Berg Yaddith-Gho und die titanische Festung des Teufelsgottes gestanden hatten.
Obwohl der Kult vor allem in den Gegenden des Pazifiks florierte, in denen einst Mu gelegen hatte, gab es Gerüchte über den geheimen und verabscheuungswürdigen Ghatanothoa-Kult auch im unglücklichen Atlantis und im gefürchteten Hochland von Leng. Von Junzt deutete an, daß er auch in dem sagenhaften unterirdischen Königreich K’nyan vertreten war und nannte klare Beweise dafür, daß er auch nach Ägypten, Chaldäa, Persien, China, die vergessenen semitischen Reiche Afrikas und nach Mexiko und Peru in der Neuen Welt vorgedrungen war. Er ließ auch sehr deutlich durchblicken, daß der Kult eng mit dem Hexenglauben in Europa
zusammenhing, gegen den die Päpste mit ihren Bullen wenig auszurichten vermochten. Im großen und ganzen war jedoch das Abendland dem Kult nie sehr förderlich, und viele seiner Verästelungen wurden durch den Unmut des Volkes vernichtet, der immer dann aufflammte, wenn einzelne etwas von den schrecklichen Riten und unaussprechlichen Opfern erfuhren. Am Ende mußte der Kult wegen der Verfolgung ganz in den Untergrund gehen, doch wurde er niemals mit Strunk und Stiel ausgerottet. Irgendwie gelang es seinen Anhängern, ihn am Leben zu halten, vor allem im Fernen Osten und auf den Pazifik-Inseln, wo er in den esoterischen Lehren der polynesischen Areoiaufging.
Von Junzt machte beunruhigende Andeutungen über tatsächliche Kontakte mit dem Kult, so daß ich beim Lesen schauderte, als ich an die Gerüchte über seinen Tod dachte. Er sprach von der Entstehung bestimmter Vorstellungen über das Aussehen des Teufelsgottes ein Wesen, das kein Mensch (vielleicht mit Ausnahme des allzu beherzten T’yog, der aber nie zurückgekehrt war) je gesehen hatte und verglich diese gewohnheitsmäßige Spekulation mit dem Tabu, mit dem im alten Mu jeder Versuch belegt war, sich vorzustellen, wie das schreckliche Wesen aussehen mochte. Offenbar sprachen die Anhänger des Kults nur mit ehrfürchtiger Scheu über dieses Thema, mit einer Scheu, aus der jedoch auch eine morbide Neugier im Hinblick auf das Wesen sprach, das T’yog möglicherweise in jenem schrecklichen, vormenschlichen Gebäude auf dem gefürchteten und jetzt versunkenen Berg gesehen harte, bevor er sein Ende (wenn es denn das Ende war) gefunden harte, und ich war seltsam beunruhigt von den vieldeutigen und hintersinnigen Anspielungen des deutschen Gelehrten auf dieses Thema.
Kaum weniger beunruhigend waren von Junzts Mutmaßungen über den Verbleib der gestohlenen Schriftrolle mit dem Zauberspruch gegen Ghatanothoa sowie darüber, welcher Verwendung diese Rolle schließlich zugeführt werden könnte. Obwohl ich fest überzeugt war, daß es sich bei der ganzen Sache nur um einen reinen Mythos handeln konnte, schauderte ich unwillkürlich bei dem Gedanken an eine mögliche Wiederkehr des monströsen Gottes und bei der Vorstellung, die Menschheit könnte unversehens in eine Rasse von Statuen verwandelt werden, deren jede ein lebendiges Gehirn enthalten würde, das auf Ewigkeit zu klarem Bewußtsein, jedoch absoluter Handlungsunfähigkeit verdammt wäre. Der alte Weise aus Düsseldorf hatte eine verteufelte Art, mehr anzudeuten, als er aussprach, und ich konnte verstehen, warum sein fluchwürdiges Buch in so vielen Ländern als gotteslästerlich, gefährlich und unrein verboten war.
Ich wand mich vor Abscheu, doch das Buch übte eine unselige Faszination aus, und ich konnte es nicht aus der Hand legen, bevor ich es nicht zu Ende gelesen hatte. Die angeblichen Reproduktionen von Ornamenten und Ideogrammen aus Mu ähnelten auf höchst erstaunliche Weise den Mustern auf dem seltsamen Zylinder und den Schriftzeichen auf der Rolle, und der ganze Bericht war gespickt mit Einzelheiten, die auf vage und dennoch irritierende Weise Zusammenhänge mit der schrecklichen Mumie ahnen ließen. Der Zylinder und die Rolle der pazifische Schauplatz die Behauptung des alten Kapitäns Weatherbee, die zyklopische Krypta, in der die Mumie gefunden wurde, hätte sich einst unter einem riesigen Gebäude befunden … irgendwie war ich froh darüber, daß die vulkanische Insel wieder versunken war, ohne daß die massive Falltür geöffnet werden konnte.

Was ich im Schwarzen Buchlas, war ein diabolisch passendes Vorspiel zu den Pressemeldungen und eigenen Erlebnissen, die im Frühjahr 1932. auf mich zukamen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann mir zum erstenmal die immer häufiger werdenden Berichte über Polizeieinsätze gegen die sonderbaren und phantastischen religiösen Kulte im Orient und anderswo auffielen, aber spätestens im Mai oder Juni wurde mir klar, daß in aller Welt bizarre, mystische Geheimbünde, die normalerweise im Untergrund blieben und kaum von sich reden machten, plötzlich eine ungewohnte, überraschende Aktivität entfaltet hatten.
Ich hätte diese Berichte wahrscheinlich weder mit den Andeutungen von Junzts noch mit dem Presserummel über die Mumie und den Zylinder im Museum in Verbindung gebracht, wenn nicht gewisse bedeutsame Silben und auffällige Ähnlichkeiten in den Riten und Äußerungen der verschiedenen Geheimbündler in der Presse groß herausgestellt worden wären. So aber konnte ich nicht umhin, mit einiger
Beunruhigung das häufige Auftauchen eines — wenn auch oft verstümmelten — Namens zu vermerken, der im Zentrum all dieser kultischen Riten zu stehen schien und offenbar mit einer eigentümlichen Mischung aus Ehrerbietung und Grauen betrachtet wurde. Dieser Name erschien unter anderem in den Lesarten G’tanta, Tanotah, Than-Tha, Gatan und Ktan-Tah, und ich hätte gar nicht die Hinweise meiner inzwischen zahlreichen okkultistischen Briefpartner gebraucht, um in diesen Varianten eine schreckliche und suggestive Ähnlichkeit mit dem monströsen Namen zu sehen, den von Junzt als Ghatanothoa angab.
Es gab auch noch andere merkwürdige Dinge. Immer wieder waren in den Berichten verstohlene, ehrfürchtige Hinweise auf eine »echte Schriftrolle« zu finden, von der ungeheure Konsequenzen abzuhängen schienen und die sich angeblich im Gewahrsam eines gewissen »Nagob« befand, wer oder was immer das sein mochte. Ebenso stieß ich immer wieder auf einen Namen, der wie Tog, Tiok, Yog, Zob oder Yob klang und mich unwillkürlich an den Namen des glücklosen Häretikers T’yog aus dem Schwarzen Buchdenken ließ. Dieser Name tauchte im allgemeinen in kryptischen Redewendungen auf, wie zum Beispiel: »Es ist kein anderer als er«, »Er hatte sein Gesicht
gesehen«, »Er weiß alles, obwohl er weder sehen noch fühlen kann«, »Er hat durch die Äonen die Erinnerung bewahrt«, »Die echte Rolle wird ihn erlösen«, »Nagob hat die echte Rolle« oder »Er weiß, wo sie zu finden ist.«
Irgend etwas braute sich zusammen, und ich wunderte mich gar nicht, als die sensationslüsternen Sonntagszeitungen begannen, die absonderlichen kultischen Regungen der letzten Zeit mit den Legenden von Mu einerseits und der rätselhaften Mumie andererseits in Verbindung zu bringen. Es ist durchaus möglich, daß die verbreiteten Artikel in der ersten Welle der Publizität mit ihren beharrlichen Hinweisen auf die Zusammenhänge zwischen Mumie, Zylinder und Schriftrolle einerseits und der Erzählung im Schwarzen Buchandererseits sowie ihren
phantastischen Spekulationen über die ganze Angelegenheit, den latenten Fanatismus von Hunderten dieser verstohlener Gruppen exotischer Sektierer weckten, an denen unsere komplexe Welt so reich ist. Und die Zeitungen hörten auch nicht auf, öl ins Feuer zu gießen, denn die Berichte über die kultischen Aktivitäten waren noch sensationeller aufgemacht als die Artikel der ersten Welle.
Im weiteren Verlauf des Sommers machten die Museumswärter eine kuriose neue Beobachtung an den Besuchermassen, die nun wieder in das Museum strömten, nachdem der Andrang im Gefolge der ersten Presseberichte zwischendurch etwas nachgelassen hatte. Es waren immer häufiger Personen von fremdartigem, exotischem Aussehen darunter dunkelhäutige Asiaten, langhaarige Sonderlinge und bärtige, braunhäutige Männer, die anscheinend nicht an europäische Kleidung gewöhnt waren die sich unweigerlich nach dem Mumiensaal erkundigten und dann in geradezu ekstatischer Faszination das schreckenerregende pazifische Exemplar anstarrten. Eine gewisse stille, düstere Unterströmung in dieser Flut exzentrischer Ausländer fiel allen Wärtern auf, und auch ich selbst blieb keineswegs unbeeindruckt. Ich mußte unwillkürlich an die kultischen Umtriebe unter eben solchen Exoten wie diesen denken und an die Verbindung dieser Umtriebe mit Mythen, die nur allzu eng mit der schrecklichen Mumie und ihrer Schriftrolle zusammenhingen.
Mitunter war ich fast versucht, die Mumie nicht mehr auszustellen, zumal nachdem
ein Wärter mir erzählt hatte, er habe mehrmals beobachtet, wie Ausländer seltsame Verbeugungen vor der Mumie gemacht hätten, und habe öfter auch seltsames, an rituelle Gesänge erinnerndes Gemurmel gehört, aber immer nur dann, wenn keine normalen Besucher im Mumiensaal waren. Einer der Wärter litt sogar unter einer merkwürdigen nervösen Halluzination im Zusammenhang mit der versteinerten Schreckgestalt in der einsamen Vitrine; er behauptete, er könnte sehen, wie sich in der krampfhaften Haltung der knochigen Klauen und im angstverzerrten Ausdruck des ledernen Gesichts von Tag zu Tag minimale, fast unmerkliche Veränderungen vollzögen. Außerdem litt er unter der Zwangsvorstellung, daß diese schrecklichen, hervortretenden Augen sich jeden Moment öffnen könnten.
Anfang September, als der Andrang der Neugierigen etwas nachließ und der Mumiensaal öfter einmal leer war, unternahm einer der seltsamen Ausländer den Versuch, an die Mumie zu gelangen, indem er ein Stück aus dem Glas der Vitrine herausschnitt. Der Mann, ein dunkelhäutiger Polynesier, wurde jedoch von einem Wärter ertappt und überwältigt, bevor er Schaden anrichten konnte. Bei der anschließenden Untersuchung entpuppte sich der Bursche als ein Hawaiianer, der für seine Aktivitäten in gewissen religiösen Geheimkulten bekannt war und über ein umfangreiches Strafregister im Zusammenhang mit abnormen und unmenschlichen Riten und Opfern verfügte. Manche der Aufzeichnungen, die man in seinem Zimmer fand, waren in höchstem Grade rätselhaft und beunruhigend, darunter zahlreiche Blätter mit Hieroglyphen ganz ähnlich denen auf der Schriftrolle im Museum und in von Junzts Schwarzem Buch;er war aber durch nichts zu bewegen, irgendwelche Aussagen über diese Dinge zu machen.
Kaum eine Woche nach diesem Zwischenfall führte ein neuerlicher Versuch, zu der Mumie vorzudringen diesmal durch Aufbrechen des Schlosses an der Vitrine —, zu einer zweiten Verhaftung. Der Übeltäter, ein Singhalese, hatte ein ebenso langes und unerfreuliches Sündenregister widerwärtiger Kultaktivitäten aufzuweisen wie der Hawaiianer und zeigte sich ebenso unwillig, der Polizei Auskunft zu geben. Besonders interessant wurde sein Fall dadurch, daß ein Wärter ihn schon vorher mehrmals dabei belauscht hatte, wie er einen merkwürdigen Singsang an die Mumie gerichtet hatte, in dem das Wort »T’yog« mehrmals vorgekommen war. Ich ließ daraufhin die Zahl der Wärter in der Mumienhalle verdoppeln und wies die Wärter an, das seltsame Exponat nie auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen.

Es läßt sich denken, daß die Presse diese beiden Vorfälle gebührend aufbauschte, die seltsamen Geschichten von dem sagenhaften, urzeitlichen Land Mu wieder aufnahm und rundweg behauptete, bei der rätselhaften Mumie handle es sich um niemand anderen als den tollkühnen Ketzer T’yog, der durch etwas, was er in der prähumanen Zitadelle gesehen hatte, versteinert worden s ei und in diesem Zustand 175000<> Jahre der turbulenten Geschichte unseres Planeten überstanden hätte. Daß die seltsamen Ausländer Kulte repräsentierten, die sich bis auf Mu zurückverfolgen ließen, und daß sie die Mumie verehrten -oder vielleicht sogar versuchten, sie durch Zauberei und Beschwörungen ins Leben zurückzuholen -, wurde immer wieder auf die sensationellste Weise herausgestellt.

Die Artikelschreiber beriefen sich ausdrücklich auf die in den alten Legenden immer wiederkehrende Behauptung, das Gehirn von Ghatanothoas versteinerten Opfern bleibe unversehrt und bei Bewußtsein, und das diente ihnen als Ausgangspunkt für die abenteuerlichsten und unwahrscheinlichsten Spekulationen. Auch die Erwähnung einer »echten Rolle« wurde weidlich ausgeschlachtet die vorherrschende Meinung war, daß es sich bei T’yogs gestohlenem Amulett um etwas handelte, das tatsächlich existierte, und daß die Kultmitglieder versuchten, es zu irgendeinem Zweck mit T’yog selbst in Kontakt zu bringen. Ein Ergebnis dieser Berichterstattung in den Zeitungen war, daß eine dritte Welle gaffender Besucher das Museum überschwemmte und die höllische Mumie sehen wollte, die im Mittelpunkt der ganzen seltsamen und beunruhigenden Geschichte stand.
Diese neuen Besucher, von denen viele mehrmals kamen, verbreiteten schließlich das Gerücht von dem sich verändernden Aussehen der Mumie. Ich nehme an, das Museumspersonal war trotz der beunruhigenden Beobachtung des nervösen Wärters einige Monate zuvor zu sehr an den Anblick seltsamer Ausstellungsstücke gewöhnt, um auf solche Einzelheiten zu achten. Auf jeden Fall machten erst aufgeregte Besucher die Wärter auf die allmähliche Mutation aufmerksam, die offenbar im Gange war. Fast gleichzeitig bekam die Presse Wind davon und hängte die Sache natürlich an die große Glocke.
Ich widmete der Angelegenheit selbstverständlich die größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit und kam Mitte Oktober zu dem Schluß, daß bei der Mumie eindeutig ein Zerfallsprozeß eingesetzt hatte. Durch irgendwelche chemischen oder physikalischen Einflüsse in der Luft schienen die halb steinernen, halb ledernen Fasern allmählich zu erschlaffen, wodurch wahrnehmbare Änderungen in den Stellungen der Gliedmaßen und in bestimmten Details des angstverzerrten Gesichtsausdrucks hervorgerufen wurden. Nachdem ein halbes Jahrhundert lang keinerlei Verfallserscheinungen aufgetreten waren, war dies eine höchst betrübliche Entwicklung, und ich ließ den Präparator des Museums, Dr. Moore, das grausige Objekt mehrmals gründlich untersuchen. Er stellte eine allgemeine Erschlaffung und Erweichung fest und sprühte die Mumie zweioder dreimal mit adstringierenden Flüssigkeiten ein, wagte aber keine drastischere Behandlung, um den Verfallsprozeß nicht etwa noch zu beschleunigen.