H. P. Lovecraft
DAS GRAUEN IM MUSEUM
Eigentlich hatte Stephen Jones nur aus
Langeweile und Neugier Rogers’ Museum aufgesucht. Jemand hatte ihm
von den seltsamen unterirdischen Räumlichkeiten an der Southwark
Street auf der anderen Seite des Flusses erzählt, in
denen
Wachsfiguren ausgestellt wurden, die
angeblich viel schrecklicher waren als selbst die schlimmsten
Bildwerke in Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett, und so war er
an einem Apriltag hineingegangen, durchaus auf eine Enttäuschung
gefaßt. Seltsamerweise war er dann doch nicht enttäuscht gewesen.
Die Sammlung hatte eine eigene Note. Natürlich waren auch hier die
üblichen blutrünstigen Gemeinplätze vertreten Landru, Dr. Crippen,
Madame Demers, Rizzio, Lady Jane Grey, zahllose verstümmelte Opfer
von Krieg und Revolution und Ungeheuer wie Gilles de Rais und der
Marquis de Sade -, aber es gab auch andere Ausstellungsstücke, die
ihn rascher atmen ließen und ihn bewogen, bis zum Klingeln der
Glocke dazubleiben. Der Mann, der diese Sammlung zusammengestellt
hatte, konnte kein gewöhnlicher
Geschäftemacher sein. Manche Sachen verrieten
Phantasie, ja sogar eine Art makabre Genialität.
Später erfuhr er mehr über George Rogers. Der
Mann war früher bei Tussaud’s angestellt gewesen, dann aber wegen
irgendwelcher Mißhelligkeiten entlassen worden. Man munkelte über
seinen Geisteszustand und erzählte sich Geschichten von seltsamen
Geheimriten, denen er angeblich anhing, obwohl in letzter Zeit sein
Erfolg manche seiner Kritiker zum Schweigen gebracht hatte, während
andere sich nur noch bestätigt fühlten. Die Teratologie und
Ikonographie des Alptraums waren seine Steckenpferde, doch war er
klug genug, einige seiner schlimmsten Bildwerke in einem nur für
Erwachsene zugänglichen Alkoven zu verstecken. Dieser Alkoven war
es, der Jones so sehr fasziniert hatte. Es gab da unförmige
Zwitterwesen, wie sie nur die Phantasie gebären konnte, mit
teuflischer Geschicklichkeit modelliert und grausig lebensecht
koloriert.
Einige davon waren Gestalten eines bekannten
Mythos -Gorgonen, Chimären, Drachen, Zyklopen und all ihre
schauderhaften Gattungsgenossen. Andere entstammten dunkleren,
verschwiegeneren Zyklen unterirdischer Legenden der schwarze,
formlose Tsathoggua, der tentakelreiche Ktuluh, das Rüsselwesen
Chaugnar Faugn und andere lästerliche Wesen aus verbotenen Büchern
wie dem Necronomicon,dem Buch Eibonoder den Unaussprechlichen
Kultendes von Junzt. Die schlimmsten waren jedoch Eigenschöpfungen
von Rogers und stellten Wesen dar, vor deren Beschreibung auch die
ältesten Geschichten zurückschreckten. Bei einigen handelte es sich
um grauenhafte Zerrbilder bekannter Erscheinungsformen organischen
Lebens, während andere den Fieberträumen fremder Planeten und
Galaxien zu entstammen schienen. Einige davon könnte man
andeutungsweise in den phantastischsten Gemälden von Clark Ashton
Smith wiederfinden, doch nichts vermöchte den Effekt
durchdringenden, abscheulichen Grauens anzudeuten, der durch die
riesigen Ausmaße und dämonisch vollkommene handwerkliche Ausführung
sowie durch die ungeheuer raffinierte Beleuchtung hervorgerufen
wurde, in der die Figuren ausgestellt wurden.
Stephen Jones, der sich beiläufig schon immer
für das Bizarre in der Kunst interessiert hatte, hatte Rogers in
seinem muffigen Büro, das zugleich als Werkstatt diente, hinter den
Museumsgewölben aufgesucht — einer schauerlichen, dämmrigen Krypta,
deren einzige Lichtquellen schmale, waagrechte Fenster in der
Ziegelmauer waren, auf einer Höhe mit dem uralten Kopfsteinpflaster
eines versteckten Hinterhofes. Hier wurden die Figuren
ausgebessert, und hier waren auch einige von ihnen entstanden.
Wächserne Arme, Beine, Köpfe und Rümpfe lagen in groteskem
Durcheinander auf verschiedenen Werkbänken, während verfilzte
Perücken, gefährlich wirkende Zähne und glotzende Glasaugen über
lange, hohe Regalbretter verstreut waren. Alle Arten von Kostümen
hingen an Haken, und in einer Nische lagerten große Stapel
fleischfarbener Wachsblöcke sowie Farbbüchsen und Pinsel jeder
erdenklichen Sorte. In der Mitte des Raumes stand ein großer
Schmelzofen für das Wachs, über dessen Brennkammer ein riesiger
Eisenkessel beweglich aufgehängt war, so daß man das geschmolzene
Wachs mühelos ausgießen konnte.
Andere Dinge in der trostlosen Krypta waren
nicht so einfach zu beschreiben — Teile rätselhafter Gestalten, die
zusammengesetzt Phantome wie aus einem Delirium ergeben mußten. An
einem Ende war eine schwere Holztür, auf deren ungewöhnlich großes
Schloß ein seltsames Symbol gemalt war. Jones, der früher einmal
das gefürchtete Necronomiconin der Hand gehabt hatte, schauderte
unwillkürlich, als er dieses Symbol erkannte. Dieser Schausteller,
so überlegte er, mußte wahrhaftig ein Mensch mit erstaunlich
umfassenden Kenntnissen auf allen möglichen dunklen und
zweifelhaften Gebieten sein.
Auch das Gespräch mit Rogers enttäuschte ihn
nicht. Der Mann war groß, schlank und ziemlich ungepflegt und hatte
große schwarze Augen, die aus einem bleichen, unrasierten Gesicht
hervorbrannten. Er war nicht ungehalten über Jones’ Eindringen,
sondern schien eher froh, eine Gelegenheit zu haben, sich mit einem
interessierten Menschen zu unterhalten. Seine Stimme war
ungewöhnlich tief und klangvoll und von einer unterdrückten
Intensität, die ans Fieberhafte grenzte. Kein Wunder, dachte Jones,
daß so viele ihn für verrückt gehalten hatten.
Bei jedem seiner Besuche und diese Besuche
wurden ihm mit der Zeit zur Gewohnheit hatte Jones Rogers
mitteilsamer und vertraulicher gefunden. Von Anfang an hatte es
Andeutungen über sonderbare Religionen und Praktiken von seilen des
Schaustellers gegeben, und später wurden aus den Andeutungen
richtige Erzählungen, deren Extravaganz trotz einiger bestätigender
Fotografien beinahe komisch war. Es war irgendwann im Juni, an
einem Abend, an dem Jones eine Flasche guten Whiskeys mitgebracht
hatte und seinem Gastgeber immer wieder großzügig nachschenkte, als
dieser zum erstenmal ausgesprochen wirres Zeug daherredete. Er
hatte auch schon vorher die abenteuerlichsten Geschichten vom
Stapel gelassen Berichte über geheimnisvolle Reisen nach Tibet, ins
Innere Afrikas, in die arabische Wüste, ins Tal des Amazonas, nach
Alaska und zu gewissen kaum bekannten Eilanden im Südpazifik, und
er hatte auch behauptet, so monströse und halb sagenhafte Bücher
wie die prähistorischen Pnakotischen Fragmente und die Dhol-Gesänge
gelesen zu haben, die dem bösartigen, nichtmenschlichen Leng
zugeschrieben werden, aber nichts von alledem war so unverkennbar
wahnsinnig gewesen wie das, was an diesem Abend aus Rogers
hervorbrach, nachdem der Whiskey ihm die Zunge gelöst
hatte.
Rogers erging sich in prahlerischen
Andeutungen, er habe gewisse Dinge in der Natur gefunden, auf die
vor ihm noch niemand gestoßen sei, und auch greifbare Beweise für
diese Entdeckungen mitgebracht. Seinen weitschweifigen Erzählungen
zufolge war er in der Deutung der obskuren urzeitlichen Bücher, die
er studierte, weiter gekommen als jeder andere; diese Bücher hätten
ihm den Weg zu gewissen entlegenen Orten gewiesen, an denen
seltsame Wesen im Verborgenen überlebt hätten, Wesen aus Epochen
und Lebenszyklen vor Anbeginn der Menschheit und in einigen Fällen
mit Verbindungen zu anderen Dimensionen und anderen Welten, zu
denen in den vergessenen vormenschlichen Zeiten regelmäßige
Beziehungen bestanden hätten. Jones staunte über die Phantasie, die
solche Ideen hervorbringen konnte, und fragte sich, wie wohl
Rogers’ geistige Geschichte verlaufen sein mochte. War seine Arbeit
inmitten der grotesken Figuren von Madame Tussaud’s der Beginn
seiner Flucht in die Phantasie gewesen, oder war die Neigung
angeboren und seine Berufswahl nur eine ihrer Erscheinungsformen?
Auf jeden Fall bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Arbeit
des Mannes und seinen Ideen. Es war nicht zu übersehen, worauf er
mit seinen dunklen Andeutungen über die alptraumhaften
Monstrositäten in dem nur für Erwachsene zugänglichen Alkoven
hinauswollte. Ohne die geringste Befürchtung, sich lächerlich zu
machen, ließ er durchblicken, daß nicht alle diese dämonischen
Spottgeburten künstlich angefertigt seien. Jones’ unverhohlene
Skepsis und Erheiterung über diese unverantwortlichen Behauptungen
störten schließlich das zunehmend herzliche Verhältnis. Rogers, so
viel war klar, nahm sich selbst sehr ernst, denn er wurde jetzt
reizbar und mürrisch und empfing Jones nur noch, weil er es sich in
den Kopf gesetzt hatte, dessen Mauer urbaner und selbstgefälliger
Ungläubigkeit zu durchbrechen. Die abenteuerlichen Geschichten und
Andeutungen von Riten und Opfern an namenlose alte Götter gingen
weiter, und hin und wieder führte Rogers seinen Gast zu einer der
Schreckgestalten in dem abgeschirmten Alkoven und zeigte ihm
Merkmale, die kaum von Menschenhand herrühren konnten. Jones setzte
aus schierer Faszination seine Besuche fort, obwohl er wußte, daß
er die Achtung seines Gastgebers verloren hatte. Ab und zu
versuchte er, Rogers dadurch bei Laune zu halten, daß er
irgendeiner verrückten Andeutung oder Behauptung zustimmte, aber
der hagere Schausteller ließ sich durch solche Winkelzüge nur
selten täuschen.
Im September erreichte die Spannung dann
einen Höhepunkt. Jones war eines Nachmittags ins Museum gekommen
und schlenderte durch die düsteren Korridore, mit deren
Schrecknissen er jetzt so vertraut war, als er ungefähr aus der
Richtung von Rogers’ Werkstatt ein sehr merkwürdiges Geräusch
vernahm. Auch andere hörten es und erschraken, als die Echos durch
die weitläufigen Kellergewölbe hallten. Die drei Wärter wechselten
merkwürdige Blicke, und einer von ihnen, ein dunkler, schweigsamer,
ausländisch wirkender Bursche, der Rogers bei Reparaturen und beim
Entwurf neuer Gestalten zur Hand ging, lächelte auf eine Weise, die
seine Kollegen zu verwirren schien und Jones gegen den Strich ging.
Es war das Jaulen oder Heulen eines Hundes, und es war ein Laut,
wie er nur durch äußerste Angst und Qual ausgelöst werden konnte.
In dieser grotesken Umgebung wirkte er doppelt schauerlich. Jones
erinnerte sich, daß Hunde nicht in das Museum durften. Er wollte
gerade zu der Tür gehen, die in die Werkstatt führte, als der
dunkle Wärter ihn durch Zuruf und Geste zurückhielt. Mr. Rogers, so
sagte der Mann mit leiser Stimme, die zugleich entschuldigend und
überheblich klang, sei ausgegangen, und er habe Anweisung, während
seiner Abwesenheit niemanden in die Werkstatt zu lassen. Das Jaulen
sei zweifellos aus dem Hof hinter dem Museum gekommen. In dieser
Gegend gebe es viele Straßenköter, die oft lautstarke Kämpfe
untereinander austrügen. Im Museum gebe es nirgends Hunde, falls
aber Mr. Jones Mr. Rogers sprechen möchte, könne er dies kurz vor
der Schließung des Museums tun. Jones stieg daraufhin die alten
Steinstufen zur Straße hinauf und nahm die Nachbarschaft in
Augenschein. Die windschiefen, halb verfallenen Gebäude einstige
Wohnhäuser, die jetzt zum größten Teil in Läden und Lagerhäuser
umgewandelt waren -waren in der Tat sehr alt. Manche von ihnen
hatten noch Giebel aus der Tudorzeit, und über der ganzen Gegend
hing ein unangenehmer Geruch. Neben dem schmuddeligen Haus, in
dessen Kellergeschoß sich das Museum befand, war ein niedriger
Bogengang, der von einer dunklen, gepflasterten Gasse gekreuzt
wurde, und in diese bog Jones ein, in der vagen Hoffnung, den Hof
hinter der Werkstatt zu finden und die Sache klären zu können. Der
Hof war zu dieser späten Nachmittagsstunde dämmrig, denn er war auf
allen Seiten von
Häuserrückseiten umschlossen, die noch
häßlicher und bedrohlicher waren als die abbröckelnden Fassaden der
alten Häuser. Hund war keiner zu sehen, und Jones fragte sich, wie
es möglich war, daß eine solche Rauferei keinerlei Spuren
hinterlassen haben sollte.
Trotz der Behauptung des Wärters, es gebe im
Museum selbst keine Hunde, sah Jones nervös auf die drei schmalen
Fenster der Werkstatt im Kellergeschoß schmale, waagerechte
Rechtecke, dicht an dem Pflaster, aus dessen Fugen Gras
hervorwuchs, mit halbblinden Scheiben, die widerwärtig waren wie
die Augen toter Fische. Links von den Fenstern führte eine Treppe
zu einer fensterlosen, schwer verriegelten Tür. Einem plötzlichen
Impuls folgend, ging er auf dem feuchten, holprigen Pflaster in die
Hocke und versuchte, durch die Fenster in die Werkstatt zu schauen.
Die Scheiben waren stark verschmutzt, aber als er sie mit seinem
Taschentuch abrieb, sah er, daß die Vorhänge drinnen nicht
zugezogen waren. Es war so dunkel im Keller, daß von außen nicht
viel zu sehen war, aber hin und wieder tauchten einige der
grotesken Utensilien gespenstisch aus der Dämmerung auf, als Jones
nacheinander durch jedes der Fenster sah. Anfangs schien es ihm,
als ob niemand in der Werkstatt sei, doch als er durch das Fenster
ganz rechts schaute dasjenige, das der Gasse, durch die er gekommen
war, am nächsten war -, sah er am anderen Ende ein Licht glimmen,
das ihn vor ein Rätsel stellte. An dieser Stelle hätte überhaupt
kein Licht sein dürfen. Es war eine Innenwand, und er konnte sich
nicht erinnern, dort irgendeine Gasoder elektrische Lampe gesehen
zu haben. Bei genauerem Hinsehen erwies sich das Glimmen als ein
großes, senkrechtes Rechteck,. und das brachte ihn auf einen
Gedanken. An dieser Stelle mußte sich die schwere Holztür mit dem
riesigen Schloß befinden, die Tür, die stets verschlossen war und
über der das kryptische Symbol aus den fragmentarischen Schriften
verbotener uralter Magie sich befand. Sicher war die Tür diesmal
offen, und der Raum, in den sie führte, war beleuchtet. Mehr noch
als sonst beunruhigte ihn jetzt die Frage, wohin diese Tür führte
und was hinter ihr liegen mochte.
Jones wanderte bis kurz vor sechs Uhr ziellos
durch das öde Viertel und kehrte dann zum Museum zurück, um nach
Rogers zu fragen. Er wußte selbst nicht, warum er den Mann
ausgerechnet an diesem Tage unbedingt sprechen wollte, aber
sicherlich hatte er unbewußte Ahnungen wegen des schrecklichen
hundeähnlichen Schreis am Nachmittag und wegen des Lichtschimmers
hinter der verwirrenden und
normalerweise verschlossenen Tür mit dem
schweren Schloß. Die Wärter gingen gerade heim, als er ankam, und
er hatte den Eindruck, daß Orabona, der dunkle ausländisch wirkende
Wärter, ihn mit verschlagener, unterdrückt spöttischer Miene ansah.
Dieser Blick gefiel ihm gar nicht, obwohl er oft beobachtet hatte,
daß der Wärter seinen Arbeitgeber auf die gleiche Weise
ansah.
Der Hauptsaal des Museums lag in
gespenstischer Verlassenheit da, aber er durchschritt ihn rasch und
klopfte an die Tür der Werkstatt. Es wurde ihm längere Zeit nicht
geöffnet, obwohl er drinnen Schritte hörte. Nachdem er ein zweites
Mal angeklopft hatte, rasselte jedoch das Schloß, und das uralte,
in sechs Paneele geteilte Portal knarrte, öffnete sich
widerstrebend und ließ die gebückte Gestalt von George Rogers
sichtbar werden. Jones sah auf den ersten Blick, daß der
Schausteller in einer ungewöhnlichen Stimmung war. Seine Begrüßung
war durch eine seltsame Mischung aus Widerstreben und Triumph
gekennzeichnet, und er lenkte das Gespräch unverzüglich auf die
schauerlichsten und unglaublichsten Dinge.
Überlebende alte Götter unaussprechliche
Opfer die Herkunft der Figuren in dem Alkoven, die nicht künstlich
waren all die üblichen Prahlereien, diesmal allerdings in einem
besonders vertraulichen Ton vorgebracht. Offensichtlich, so
überlegte Jones, nahm der Wahnsinn des armen Kerls immer schlimmere
Formen an. Von Zeit zu Zeit warf Rogers einen verstohlenen Blick
auf die schwere, verschlossene Innentür am Ende des Raumes und auf
ein Stück Rupfen, das nicht weit von ihr auf dem Boden lag und
offenbar irgendeinen kleinen Gegenstand verhüllte. Jones wurde
immer unruhiger und hatte immer weniger Lust, über die seltsamen
Vorkommnisse des Nachmittags zu reden.
Rogers’ dröhnende Grabesstimme brach fast
unter der Erregung seines fieberhaften Gefasels.
»Wissen Sie noch«, rief er, »was ich Ihnen
über diese Ruinenstadt in Indochina erzählt habe, in der die
Tcho-Tchos lebten ? Sie mußten zugeben, daß ich dort gewesen war,
als Sie die Fotos sahen, obwohl Sie der Ansicht waren, ich hätte
den länglichen Schwimmer im Dunkeln aus Wachs geformt. Aber wenn
Sie wie ich gesehen hätten, wie er sich in den unterirdischen
Tümpeln wand…
Doch das hier ist noch größer. Ich habe Ihnen
nie davon erzählt, weil ich erst noch die letzten Einzelheiten
klären wollte, bevor ich irgendwelche Behauptungen aufstelle. Wenn
Sie sich die Fotos ansehen, werden Sie zugeben müssen, daß man eine
solche Umgebung nicht nachmachen kann, und ich glaube, ich kann
noch auf eine andere Art beweisen, daß Eskeine Wachsfigur aus
meiner Werkstatt ist. Sie haben Es nie gesehen, denn wegen der
Experimente konnte ich Es nie ausstellen.«
Der Schausteller warf einen sonderbaren Blick
auf die verschlossene Tür. »Es kommt alles aus dem langen Ritual im
achten Pnakotischen Fragment. Als ich es entziffert hatte, sah ich,
daß es nur eine Bedeutung haben konnte. Es gab da Wesen im Norden,
bevor das Land Lomar, ja bevor die Menschheit existierte, und das
war eines davon. Wir mußten bis nach Alaska und von Fort Morton aus
bis nach Notak fahren, aber das Ding war tatsächlich da. Riesige,
zyklopische Ruinen, mehrere Hektar davon. Es war weniger übrig, als
wir gehofft hatten, aber was kann man nach drei Millionen Jahren
erwarten? Und hatten uns die Eskimo-Legenden nicht in die richtige
Richtung geführt? Wir konnten keinen der Tölpel dazu überreden, mit
uns zu gehen, und mußten mit dem Schlitten bis nach Nome
zurückfahren, um Amerikaner zu bekommen. Orabona war in dem Klima
zu nichts zu gebrauchen er war widerspenstig und
mürrisch.
Ich erzähle Ihnen später, wie wir Es gefunden
haben. Als wir das Eis aus den Pfeilern der zentralen Ruine
gesprengt hatten, lag die Treppe genauso vor uns, wie wir es
erwartet hatten. Es waren noch ein Paar Reliefs erhalten, und so
hatten wir keine Schwierigkeiten, die Yankees davon abzuhalten, uns
zu folgen. Orabona zitterte wie Espenlaub, man würde es nicht für
möglich halten, wenn man sieht, wie arrogant er hier immer
herumstolziert. Er wußte genug von den alten Sagen, um tüchtig
Angst zu haben. Das ewige Licht war nicht mehr da, aber unsere
Fackeln zeigten uns genug. Wir sahen die Gebeine von anderen, die
vor uns hier waren in
unvordenklichen Zeiten, als das Klima noch
warm war. Manche dieser Gebeine stammten von Wesen, die wir uns
nicht einmal vorstellen konnten. Auf der dritten Ebene unten fanden
wir den Elfenbeinthron, von dem in den Fragmenten so oft die Rede
war, und ich kann Ihnen sagen, daß er nicht leer war.
Das Wesen auf dem Thron rührte sich nicht,
und da wußten wir, daß Es die Nahrung eines Opfers brauchte. Aber
wir wollten Es noch nicht aufwecken. Wir wollten Es lieber erst
nach London schaffen. Orabona und ich holten die große Kiste von
der Oberfläche, aber als wir sie gepackt hatten, zeigte sich, daß
wir nicht in der Lage waren, sie die drei Treppen hinaufzuschaffen.
Die Stufen waren nicht für Menschen gemacht, sie waren einfach zu
hoch. Außerdem war die Kiste verteufelt schwer. Wir mußten die
Amerikaner hinunterschicken. Sie waren nicht scharf darauf, in die
Tiefen hinunterzusteigen, aber das Schlimmste war ja sicher in der
Kiste verpackt. Wir erzählten ihnen, es seien ein paar
Elfenbeinschnitzereien, archäologisches Zeug; nachdem sie den
Elfenbeinthron gesehen hatten, glaubten sie uns wahrscheinlich
sogar. Es ist ein Wunder, daß sie nicht auf den Gedanken kamen, wir
hätten einen versteckten Schatz gefunden, und einen Anteil
verlangten. Hinterher müssen sie die sonderbarsten Geschichten in
Nome erzählt haben; ich bezweifle aber, daß sie noch einmal zu den
Ruinen zurückgekehrt sind, obwohl dort noch der Elfenbeinthron
war.«
Rogers machte eine Pause, suchte etwas auf
seinem Schreibtisch und brachte einen Umschlag mit großformatigen
fotografischen Abzügen zum Vorschein. Er nahm einen heraus und
legte ihn mit der Vorderseite nach unten vor sich auf den Tisch,
während er die übrigen Jones reichte. Es waren tatsächlich seltsame
Aufnahmen: eisbedeckte Berge, Hundeschlitten, Männer in Pelzen und
riesige Ruinen vor einem Schneehintergrund, Ruinen, deren bizarre
Umrisse und gewaltige Steinblöcke keiner vernünftigen Erklärung
zugänglich waren. Auf einer Blitzlichtaufnahme war ein
unglaublicher Innenraum mit fremdartigen Reliefs und einem
seltsamen Thron zu sehen, dessen Proportionen nicht für einen
Menschen bestimmt sein konnten. Die Reliefs auf den gigantischen
Mauern waren überwiegend symbolisch und bestanden sowohl aus
unbekannten Ornamenten als auch aus gewissen Hieroglyphen, über die
in blasphemischen Legenden dunkle Andeutungen gemacht werden. Über
dem Thron prangte dasselbe schreckliche Symbol, das jetzt über der
verschlossenen Holztür auf die Wand der Werkstatt gemalt war. Jones
warf einen nervösen Blick auf das verschlossene Portal. Rogers, so
viel standfest, war an seltsamen Orten gewesen und hatte seltsame
Dinge gesehen. Doch diese verrückte Innenaufnahme konnte ohne
weiteres eine Fälschung sein, vielleicht eine Aufnahme von einem
phantasievollen Bühnenbild. Man durfte nicht zu leichtgläubig sein,
aber Rogers fuhr fort:
»Also wir verschickten die Kisten von Nome
aus und gelangten ohne Zwischenfall nach London. Es war das erste
Mal, daß wir etwas mitbrachten, bei dem die Möglichkeit bestand, Es
ins Leben zurückzuholen. Ich stellte Es nicht aus, weil ich
Wichtigeres damit vorhatte. Es brauchte Nahrung in Form eines
Opfers, denn es war ein Gott. Natürlich konnte es sich dabei nicht
um ein Opfer handeln, wie Er es zu Seiner Zeit bekommen hatte, denn
solche Wesen existieren heute nicht mehr. Aber es gab andere Wesen,
die genauso gut waren. Blut ist Leben, müssen Sie wissen. Selbst
die Lemuren und Elementargeister kommen hervor, wenn ihnen unter
den richtigen Bedingungen das Blut von Menschen oder Tieren
geopfert wird.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Erzählers wurde
immer beunruhigender, so daß Jones sich unbehaglich auf seinem
Stuhl wand. Rogers schien die Nervosität seines Gastes zu bemerken
und fuhr mit einem besonders bösartigen Lächeln fort. »Das war
letztes Jahr, daß ich Es bekam, und seither habe ich es ständig mit
Riten und Opfern versucht. Orabona war keine große Hilfe, denn er
war immer dagegen, daß man Es aufweckt. Er haßt Es wahrscheinlich,
weil er Angst hat, was Es bedeuten wird. Er trägt ständig eine
Pistole bei sich, um sich zu schützen -dieser Narr, als ob er sich
gegen Es schützen könnte! Wenn er jemals diese Pistole ziehen
sollte, erwürge ich ihn. Er wollte Es töten und es in Wachs
nachbilden, aber ich bin bei meinem Plan geblieben, und ich werde
Erfolg haben, trotz all dieser Feiglinge wie Orabona und dem
spöttischen Grinsen von Skeptikern wie Ihnen, Jones! Ich habe die
Riten zelebriert und bestimmte Opfer gebracht, und letzte Woche kam
die entscheidende Wende.Das Opfer wurde angenommen!«
Rogers leckte sich die Lippen, während Jones
unnatürlich steif dasaß. Der Schausteller erhob sich und ging durch
den Raum zu dem Stück Rupfen, zu dem er so oft hingesehen hatte. Er
bückte sich, packte den Fetzen an einer Ecke und sprach
weiter.
»Sie haben jetzt genug über meine Arbeit
gelacht. Jetzt ist es Zeit, daß Sie ein paar Fakten vorgelegt
bekommen. Orabona hat mir erzählt. Sie haben heute nachmittag hier
einen Hund jaulen hören. Wissen Sie, was das bedeutete?«
Jones starrte ihn an. Bei aller Neugier wäre
er froh gewesen, das Kellergewölbe verlassen zu können, ohne irgend
etwas über den Punkt zu erfahren, der ihn vorher so interessiert
hatte. Aber Rogers war unerbittlich und begann, das Stück Rupfen
hochzuheben. Darunter lag eine zermalmte, beinahe formlose Masse,
die Jones nicht zu bestimmen wußte. Handelte es sich um ein
einstmals lebendes Wesen, das auf irgendeine Art plattgepreßt,
seines Blutes beraubt, an tausend Stellen durchlöchert und zu einer
breiigen Masse zerstampft worden war? Doch es dauerte nicht lange,
und Jones wußte, worum es sich handeln mußte. Es waren die
Überreste eines Hundes, eines wahrscheinlich ziemlich großen Hundes
von weißlicher Farbe. Seine Rasse war nicht mehr zu erkennen, denn
er war auf die unaussprechlichste und gräßlichste Weise verstümmelt
worden. Die Haare waren zum größten Teil abgesengt, wie durch die
Wirkung einer besonders scharfen Säure, und die nackte, blutleere
Haut war mit zahllosen kreisförmigen Wunden oder Einstichen
übersät. Welche Art der Folter notwendig war, um solche
Entstellungen herbeizuführen, überstieg Jones’
Vorstellungsvermögen.
In einer Empörung, die seinen wachsenden
Abscheu noch übertraf, sprang Jones wie elektrisiert auf.
»Sie verdammter Sadist Sie Wahnsinniger Sie
vollbringen eine solche Greueltat und wagen es noch, zu einem
anständigen Menschen darüber zu sprechen!« Rogers ließ den Rupfen
mit einem bösartigen Grinsen fallen und stellte sich seinem Gast
entgegen. Seine Worte waren unnatürlich ruhig.
»Warum, glauben Sie, Sie Narr, habe ichdas
getan? Ich gebe ja zu, daß das Ergebnis von unserem begrenzten
menschlichen Standpunkt aus unerfreulich ist, aber was soll’s?
Schließlich ist es kein Mensch. Ich habe nur ein Opfer dargebracht.
Ich habe den Hund Ihmgegeben. Was geschah, ist sein Werk, nicht
meines. Es brauchte das Opfer als Nahrung, und Es nahm es auf Seine
Art entgegen. Aber lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie Es
aussieht.«
Während Jones zögerte, kehrte der Sprecher an
seinen Schreibtisch zurück und nahm das Foto in die Hand, das er
mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt
reichte er es Jones mit einem merkwürdigen Blick. Jones nahm es
entgegen und sah es ohne besonderes Interesse an. Aber im nächsten
Moment wurde sein Blick schärfer, denn die satanische Kraft des
abgebildeten Objekts übte eine fast hypnotische Wirkung aus. Rogers
hatte sich selbst übertreffen, als er die gräßliche Ausgeburt
modellierte, die das Foto zeigte. Es war ein Werk von»
infernalischer Genialität, und Jones fragte sich, wie die
Öffentlichkeit reagieren würde, wenn es erst einmal ausgestellt
wurde. Ein so gräßliches Ding hatte keine Daseinsberechtigung,
wahrscheinlich hatte die bloße Betrachtung des fertigen Werkes den
Geist seines Schöpfers verwirrt und ihn zu dem brutalen Opfer
verleitet. Nur ein fester Glaube vermochte sich gegen die
heimtückische Vermutung zu wehren, daß es sich bei diesem
lästerlichen Ungeheuer um etwas handelte, was tatsächlich lebte
oder irgendwann einmal gelebt hatte.
Das Ding auf dem Bild hockte auf einer
täuschend echten Nachbildung des monströsen geschnitzten Throns auf
der anderen Fotografie. Es mit einem normalen Wortschatz zu
beschreiben, wäre unmöglich, denn nichts, was ihm auch nur
annähernd entspräche, hat jemals die Vorstellungswelt eines
vernünftigen Menschen beschäftigt. Es sollte wohl etwas darstellen,
das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Wirbeltieren dieses Planeten
hatte, obwohl man sich auch dessen eigentlich nicht sicher sein
konnte. Es hatte riesige Ausmaße, denn selbst in der Kauerstellung
war es fast doppelt so hoch wie Orabona, der neben ihm stand. Wenn
man genau hinsah, konnte man gewisse Ähnlichkeiten mit dem
Körperbau höherer Wirbeltiere erkennen.
Der Torso war fast kugelförmig, mit sechs
langen, gewundenen Gliedern, die in krebsartigen Scheren oder
Klauen endeten. Am oberen Ende saß eine zweite, kleinere,
blasenähnliche Kugel;
diese besaß drei fischartige, dreiecksförmig
angeordnete Glotzaugen, einen offenbar beweglichen Rüssel von einem
Fuß Länge und kiemenartige seitliche Auswüchse, so daß man annehmen
konnte, daß es sich dabei um eine Art Kopf handelte. Der größte
Teil des Körpers war von etwas bedeckt, was auf den ersten Blick
wie ein Fell wirkte, sich bei näherem Hinsehen jedoch als ein
dichter Bewuchs aus dunklen, schlanken Tentakeln oder Saugfäden
entpuppte, deren jeder mit einer Mundöffnung versehen war. Auf dem
Kopf und unter dem Rüssel waren die Tentakeln länger und dichter
und mit spiralförmigen Streifen versehen, so daß man sich an
die
Schlangenhaare der Medusa erinnert fühlte.
Davon zusprechen, daß ein solches Wesen einen Ausdruckhätte, wäre
widersinnig gewesen, und doch schien es Jones, daß die drei
hervortretenden Fischaugen und der schräg gehaltene Rüssel Haß,
Gier und schiere Grausamkeit verkörperten, die für Menschen um so
unbegreiflicher waren, als auch noch Emotionen mitzuspielen
schienen, die nicht von dieser Welt oder von diesem Sonnensystem
waren. In diese bestialische Phantasmagorie, so überlegte er, mußte
Rogers seinen ganzen Wahnsinn und alle seine unheimliche
bildhauerische Begabung gesteckt haben. Das Ding war unglaublich,
und doch bewies das Foto, daß es existierte. Rogers störte ihn aus
seinen Überlegungen auf.
»Na was halten Sie von Ihm? Können Sie sich
jetzt denken, was den Hund zermalmt und ihn mit Millionen Mündern
ausgesaugt hat? Es brauchte Nahrung — und Es wird noch mehr
brauchen. Es ist ein Gott, und ich bin der erste Priester Seiner
neuen Herrschaft. lä! Schab-Niggurath! Die Ziege mit den tausend
Jungen!« Jones legte das Foto angewidert und mitleidig
beiseite.
»Also wissen Sie, Rogers, das geht dann doch
zu weit. Irgendwo muß eine Grenze sein. Zugegeben, es ist ein
Meisterwerk, aber es ist nicht gut für Sie. Es ist besser, wenn Sie
es nicht mehr ansehen befehlen Sie Orabona, es zu zerstören, und
versuchen Sie, es zu vergessen. Und lassen Sie mich auch dieses
grauenharte Bild zerreißen.«
Mit einem Knurren schnappte sich Rogers das
Foto und legte es wieder auf seinen Schreibtisch.
»Sie Idiot, Sie, Sie glauben also immer noch,
daß alles ein Schwindel ist! Sie denken immer noch, ich habe Es
gemacht, und Sie denken immer noch, meine Figuren seien nichts als
lebloses Wachs! Das beweist, daß Sie noch gefühlloser sind als
irgendeine meiner Wachsfiguren! Aber diesmal habe ich einen Beweis,
und Sie werden ihn sehen! Allerdings nicht sofort, denn Es muß nach
dem Opfer ruhen, aber später. Oh ja, dann werden Sie Seine Macht
nicht mehr bezweifeln.«
Als Rogers zu der Tür mit dem großen Schloß
hinsah, nahm Jones seinen Hut und seinen Stock von der
Bank.
»Nun gut, Rogers, später dann also. Ich muß
jetzt gehen, aber ich komme morgen nachmittag wieder. Denken Sie
über meinen Ratschlag nach und überlegen Sie sich, ob er nicht
vernünftig ist. Fragen Sie auch Orabona, was er meint.«Rogers
bleckte buchstäblich die Zähne wie ein wildes Tier.
»So, Sie müssen jetzt gehen, ja? Haben Sie
jetzt doch Angst bekommen? Angst, trotz all Ihres klugen Geredes!
Sie sagen, die Figuren sind nur aus Wachs, und doch laufen Sie
davon, wenn ich gerade dabei bin, Ihnen zu beweisen, daß das nicht
der Fall ist, Sie sind genauso wie die Burschen, die auf meine
Dauerwette eingehen, daß sie es nicht wagen, die Nacht im Museum zu
verbringen; wenn sie kommen, sind sie noch mutig, aber nach einer
Stunde schreien sie und hämmern an die Tür, daß ich sie
herauslassen soll! Ich soll Orabona fragen, ja! Ihr beide ihr seid
immer gegen mich! Ihr wollt verhindern, daß Es seine irdische
Herrschaft antritt!« Jones bewahrte Ruhe.
»Nein, Rogers, niemand ist gegen Sie. Und ich
habe auch keine Angst vor Ihren Figuren, so sehr ich Ihre Kunst
bewundere. Aber wir sind heute abend beide etwas nervös, und ich
meine, es wird uns beiden gut tun, uns etwas auszuruhn.« Rogers
hinderte seinen Gast wiederum am Gehen.
»Keine Angst, wie? Warum wollen Sie dann
unbedingt gehen? Hören Sie zu, würden Sie es wagen, hier alleine im
Dunkeln zu bleiben, oder nicht? Warum haben Sie es so eilig, wenn
Sie ohnehin nicht an Es glauben?«
Rogers schien eine neue Idee gekommen zu
sein, und Jones musterte ihn prüfend.
»Ich habe es gar nicht eilig, aber was würde
es nützen, wenn ich noch länger hierbliebe? Was würde das beweisen?
Mein einziger Einwand wäre, daß ich hier nicht bequem schlafen
könnte. Aber was würde ich, würden Sie davon haben?« Diesmal kam
Jones eine Idee. Er fuhr in versöhnlichem Tonfall fort.
»Schauen Sie, Rogers, ich habe Sie eben
gefragt, was es beweisen würde, wenn ich hierbliebe, wo wir doch
beide die Wahrheit kennen. Es würde beweisen, daß Ihre Wachsfiguren
eben nur Wachsfiguren sind, und ich finde. Sie sollten Ihre
Phantasie nicht so mit sich durchgehen lassen. Nehmen Sie an, ich
bleibe tatsächlich hier. Wenn ich es bis morgen früh aushalte,
versprechen Sie mir dann, daß Sie es sich anders überlegen, für
drei Monate oder so in Urlaub gehen und Ihr neues Werk von Orabona
zerstören lassen ? Was meinen Sie, ist das nicht ein faires
Angebot?«
Der Ausdruck auf dem Gesicht des
Schaustellers war schwer zu deuten. Es war offenkundig, daß er
fieberhaft nachdachte und daß von den verschiedenen, miteinander in
Widerstreit liegenden Gefühlen schließlich bösartiger Triumph die
Oberhand gewann. Seine Stimme klang belegt, als er zu seiner
Erwiderung ansetzte.
»Einverstanden, es ist ein faires Angebot!
Falls Sie bis zum Morgen durchhalten,halte ich mich an Ihren
Ratschlag. Aber das ist die Bedingung. Wir gehen jetzt etwas essen
und kommen dann wieder. Ich schließe Sie in dem Ausstellungssaal
ein und gehe heim. Morgen früh komme ich vor Orabona zurück er
kommt immer eine halbe Stunde früher als die anderen -, und sehe
nach, wie es Ihnen geht. Aber lassen Sie sich nicht darauf ein,
wenn Sie nicht absolutsicher sind, daß Ihre Skepsis berechtigt ist.
Andere wollten vorzeitig wieder heraus, und diese Chance haben Sie
auch. Ich nehme an, Sie können sich einem Polizisten bemerkbar
machen, wenn Sie an die äußere Tür klopfen. Es wird Ihnen
vielleicht nach einer Weile nicht mehr so gut gefallen; Sie sind
zwar nicht im selben Raum mit Ihm, aber immerhin im selben
Gebäude.«
Als sie durch die Hintertür in den finsteren
Hof hinaustraten, nahm Rogers das in den Rupfen gewickelte
gräßliche Objekt mit hinaus. In der Mitte des Hofes war ein
Kanaldeckel, den der Schausteller ruhig und mit einem schaurigen
Anschein von Gewohnheit hochhob. Das Ding verschwand mitsamt dem
Rupfen im Labyrinth der Kanalisation. Jones schauderte und hielt
einen gewissen Abstand von der hageren Gestalt ein, als sie auf die
Straße hinaustraten.
Sie gingen in wortlosem Einverständnis nicht
gemeinsam essen, sondern
verabredeten, sich um elf Uhr vor dem Museum
zu treffen. Jones hielt eine Kutsche an und atmete freier, als er
die Waterloo Bridge hinter sich hatte und auf den hell erleuchteten
Strand zufuhr. Er aß in einem ruhigen Cafe zu Abend und ließ sich
dann in seine Wohnung am Portland Place fahren, um ein Bad zu
nehmen und ein paar Sachen zusammenzusuchen. Er fragte sich, was
Rogers gerade tun mochte. Er hatte gehört, daß der Mann ein
riesiges, bedrückendes Haus an der Walworth Road besaß, das voller
obskurer und verbotener Bücher sowie okkulter Gegenstände und
Wachsfiguren war, die er nicht öffentlich ausstellen wollte.
Orabona, so hieß es, bewohnte in demselben Haus eigene
Räume.
Als Jones um elf Uhr ankam, wartete Rogers
schon an der Kellertür in der Southwark Street. Sie sprachen nur
wenig, schienen aber beide sehr angespannt zu sein. Sie kamen
überein, daß nur der eigentliche Ausstellungsraum Schauplatz der
Nachtwache sein sollte, und Rogers bestand nicht darauf, daß Jones,
sich in den Alkoven setzte, der nur Erwachsenen zugänglich war.
Rogers löschte von der Werkstatt aus alle Lampen und schloß die Tür
der Krypta mit einem der vielen Schlüssel an seinem Schlüsselbund
ab. Ohne Jones die Hand zu geben, ging er auf die Straße hinaus,
schloß hinter sich ab, und stieg die ausgetretenen Stufen der
Treppe hinab. Jones hörte, wie sich seine Schritte entfernten, und
wußte, daß seine lange, schwere Nachtwache begonnen hatte. Später,
in der pechschwarzen Finsternis des großen Kellergewölbes,
verwünschte Jones seine kindliche Naivität, die ihn in diese Lage
gebracht hatte. Während der ersten halben Stunde hatte er in
gewissen Abständen seine Taschenlampe eingeschaltet, aber jetzt saß
er nur in der Dunkelheit auf einer der Besucherbänke. Der
Lichtstrahl der Taschenlampe hatte jedesmal ein anderes groteskes
Objekt beleuchtet eine Guillotine, ein namenloses hybrides Monster,
ein bärtiges, unheildrohendes Gesicht, einen Körper, dem das Blut
aus der durchschnittenen Kehle quoll. Jones wußte, daß diese Dinge
nicht Wirklichkeit waren, aber nach der ersten halben Stunde war es
ihm doch lieber, sie nicht ansehen zu müssen.
Warum er dem Verrückten diesen Gefallen getan
hatte, wußte er kaum noch zu sagen. Es wäre ja viel einfacher
gewesen, den Mann einfach sich selbst zu überlassen oder ihm einen
Psychiater ins Haus zu schicken. Wahrscheinlich, so überlegte er,
war es die Sympathie, die ein Künstler für einen anderen empfindet.
Rogers war so hochbegabt, daß man ihm einfach helfen mußte, seine
wachsende Manie zu überwinden. Jemand, der so unglaublich
lebensechte Figuren ersinnen und modellieren konnte, war sicherlich
nicht weit von wahrer künstlerischer Größe entfernt. Er besaß die
Phantasie eines Sime oder eines Dore und das hervorragende
handwerkliche Können eines Blatschka. Er hatte für die Welt des
Horrors das gleiche getan, was die Blatschkas mit ihren wundervoll
genauen Pflanzenmodellen aus feinstem gefärbtem Glas für die Welt
der Botanik getan hatten.
Um Mitternacht drangen die Schläge einer
fernen Kirchturmuhr durch die Dunkelheit, und Jones war dankbar für
diese beruhigende Botschaft aus der noch existierenden Außenwelt.
Das Museumsgewölbe war wie eine Gruft gespenstisch und entsetzlich
einsam. Selbst eine Maus wäre Jones jetzt als Gesellschaft
willkommen gewesen, aber Rogers hatte sich einmal gerühmt, daß »aus
bestimmten Gründen«, wie er sagte, keine Mäuse oder auch nur
Insekten jemals in das Gewölbe kamen. Das war in der Tat
merkwürdig, schien aber zu stimmen. Es herrschte absolute
Totenstille. Wenn nur irgend etwas zu hören gewesen wäre! Er
scharrte mit den Füßen, und die Echos vervielfältigten sich
gespenstisch in der Stille, aber in dem Stakkato-Widerhall klang
etwas wie Spott mit. Er schwor sich, nicht anzufangen, mit sich
selbst zu reden. Das wäre ein Zeichen eines beginnenden
Nervenzusammenbruchs gewesen. Die Zeit schien
abnorm langsam zu vergehen. Er hätte schwören können, daß schon
Stunden vergangen waren, seit er zum letztenmal auf die Uhr gesehen
hatte, und doch war es eben erst Mitternacht gewesen. Wenn nur
seine Sinne nicht so übernatürlich wach gewesen wären. Irgend etwas
in der Dunkelheit und Stille schien sie geschärft zu haben, so daß
sie schon auf schwächste Reize reagierten. Von Zeit zu Zeit schien
es ihm, als hörte er ein ganz leises Summen, bei dem es sich
eigentlich nicht um die normalen Nachtgeräusche der schmutzigen
Straßen draußen handeln konnte, und er dachte an irrelevante Dinge
wie die Sphärenmusik und das unbekannte, unzugängliche Leben
fremder Dimensionen, das in das unsere eindringen kann. Rogers
hatte oft über solche Dinge spekuliert. Die schwebenden
Lichtpünktchen vor seinen durch die Dunkelheit geblendeten Augen
bewegten sich in seltsam symmetrischen Mustern. Er hatte sich oft
gefragt, was es mit diesen seltsamen Lichtstrahlen aus
unergründlicher Tiefe auf sich hatte, die bei fehlender irdischer
Beleuchtung vor uns funkeln, hatte aber noch nie welche beobachtet,
die sich so verhielten, wie diese sich jetzt verhielten. Was ihnen
fehlte, war die gelassene Ziellosigkeit gewöhnlicher Lichtfünkchen,
und dadurch entstand der Eindruck eines von jeder irdischen
Vorstellung entfernten Willens.
Und dann kam dieser seltsame Eindruck, daß
sich irgendwo etwas rührte. Es stand nichts offen, so daß keinerlei
Zugluft entstehen konnte, und doch spürte Jones, daß die Luft nicht
ganz ruhte. Er meinte, fast unmerkliche Druckschwankungen
wahrzunehmen, die aber nicht ganz so stark waren, daß sie von,
unsichtbar herumtappenden widerwärtigen Elementargeistern hätten
stammen können. Auch war es ungewöhnlich kalt. Das alles gefiel ihm
überhaupt nicht. Die Luft schmeckte salzig, wie nach dem Abschaum
dunkler unterirdischer Gewässer, und auch ein ganz schwacher
muffiger Geruch war vorhanden. Bei Tage war ihm nie aufgefallen,
daß die Wachsfiguren einen Geruch verströmten. Und auch jetzt war
es eigentlich nicht der Geruch von Wachsfiguren. Es war mehr wie
der schwache Geruch präparierter Tiere in einem
Naturgeschichte-Museum. Das war eigenartig angesichts Rogers’
Behauptung, daß seine Figuren nicht alle künstlich seien, ja es war
wahrscheinlich eben diese Behauptung, die ihm, Jones, diese
Geruchsempfindungen vorgaukelte. Er mußte sich vor solchen
Halluzinationen in acht nehmen hatten nicht solche Dinge den armen
Rogers in den Wahnsinn getrieben?
Aber die Einsamkeit an diesem Ort war
schrecklich. Selbst die fernen Glockentöne schienen aus kosmischen
Abgründen zu kommen. Jones mußte dabei an das irrsinnige Bild
denken, das Rogers ihm gezeigt hatte die unterirdische Halle mit
dem kryptischen Thron, bei der es sich angeblich um einen Teil
einer drei Millionen Jahre alten Ruine in den gefürchteten und
unzugänglichen einsamen Weiten der Arktis handelte. Vielleicht war
Rogers tatsächlich in Alaska gewesen, aber das Bild war sicherlich
irgendwie gestellt worden. Eine andere Erklärung war angesichts der
Reliefs und der grausigen Symbole nicht denkbar. Und dann diese
monströse Gestalt, die auf dem Thron gesessen haben sollte welch
eine Ausgeburt einer morbiden Phantasie! Jones fragte sich, wie
weit er von diesem irrwitzigen Meisterwerk in Wachs entfernt sein
mochte, wahrscheinlich wurde es hinter der schweren Holztür
aufbewahrt, die aus der Werkstatt in irgendeinen anderen Raum
führte. Aber wozu sollte es gut sein, sich über eine Wachsfigur
Gedanken zu machen ? War denn nicht der Raum, in dem er sich jetzt
befand, voller solcher Dinge, und waren nicht manche davon kaum
weniger schrecklich als das grauenhafte »ES«? Und hinter einem
dünnen Stoffschirm zu
seiner Linken befand sich der »Nur für
Erwachsene« zugängliche Alkoven mit seinen unaussprechlichen
Phantomen.
Die Nähe der ungezählten wächsernen Gestalten
begann immer mehr an Jones’ Nerven zu zerren, während die
Viertelstunden vorüberschlichen. Er kannte das Museum so gut, daß
er nicht einmal im Stockfinsteren vergessen konnte, wie sie
aussahen. Ja die Dunkelheit hatte sogar den Effekt, den erinnerten
Bildern beunruhigende, imaginäre Merkmale hinzuzufügen. Die
Guillotine schien zu knarren, und das bärtige Gesicht von Landru
dem Mörder seiner fünfzig Ehefrauen verzerrte sich zu einer
monströsen Grimasse. Aus dem durchschnittenen Hals von Madame
Demers schien ein grausiges Gurgeln zu kommen, während
ein
verstümmeltes Mordopfer ohne Kopf und Beine
sich auf seinen blutigen Stümpfen immer naher heranzuschieben
suchte. Jones schloß versuchsweise die Augen, um festzustellen, ob
die Bilder dadurch verschwänden, aber auch das nützte nichts. Wenn
er die Augen geschlossen hatte, wurden außerdem die sonderbar
regelmäßigen Muster der Lichtpünktchen noch deutlicher.
Dann verfiel er auf den Gedanken, die
schrecklichen Bilder, die er bis jetzt hatte vertreiben wollen,
absichtlich bei sich zu behalten. Er klammerte sich gewissermaßen
an sie, weil sie nun allmählich von immer schrecklicheren verdrängt
wurden. Ohne sein Zutun begann sein Gedächtnis, die zutiefst
unmenschlichen Ungeheuer zu rekonstruieren, die in den dunkleren
Ecken hockten, und diese klumpigen Gewächse glitschten und
schlängelten sich auf ihn zu, als wollten sie ihn umzingeln. Der
schwarze Tsathoggua verformte sich aus einem krötenartigen
Wasserspeier in eine lange, gewundene Linie mit Hunderten von
Stummelfüßen, und eine hagere, gummiartige Nachthexe breitete ihre
Schwingen aus, als wollte sie sich auf den Beobachter stürzen und
ihn ersticken. Jones mußte an sich halten, um nicht zu schreien. Er
wußte, daß er zu den traditionellen Spukgestalten der Kindheit
zurückkehrte und beschloß, seinen Erwachsenenverstand zu
gebrauchen, um die Phantome im Zaum zu halten. Er stellte fest, daß
es ein wenig half, wenn er die Taschenlampe wieder anmachte.
Mochten die Bildwerke, die sie beleuchtete, auch furchterregend
sein, sie waren längst nicht so schlimm wie das, was seine
Phantasie aus der pechschwarzen Nacht heraufbeschwor.
Aber das Verfahren hatte auch Nachteile.
Selbst im Licht seiner Lampe meinte er ein leichtes, verstohlenes
Zittern des Stoffschirms wahrzunehmen, der den schrecklichen
Alkoven verdeckte. Er wußte, was dahinter lag, und schauderte. Die
Einbildungskraft ließ die entsetzliche Gestalt von Yog-Sothoth vor
ihm , erstehen, nur ein Konglomerat irisierender Kugeln, und doch
von bösartigster Vieldeutigkeit. Was war diese schaurige Masse, die
langsam auf ihn zuschwebte und an den Schirm anstieß, der ihr im
Weg stand? Eine kleine Ausbuchtung in dem Stoff ganz rechts ließ an
das spitze Horn des Gnophkeh denken, das haarige Fabelwesen aus dem
Grönlandeis, das bald auf zwei, bald auf vier und bald auf sechs
Beinen ging. Um diese Phantasmagorien zu vertreiben, schritt Jones
mit brennender Taschenlampe beherzt auf den höllischen Alkoven zu.
Natürlich waren all seine Ängste grundlos und doch schien es nicht
so, als wehten die langen Gesichtstentakeln des Großen Ctuluh fast
unmerklich hin und her, langsam und stetig? Er wußte, daß sie
flexibel waren, hatte aber noch nicht bemerkt, daß der Luftzug, der
durch die Annäherung eines Menschen entstand, schon ausreichte, sie
in Bewegung zu versetzen.
Er kehrte auf seinen Sitzplatz außerhalb des
Alkovens zurück, schloß die Augen und ließ die symmetrischen
Lichtfünkchen gewähren. Die ferne Turmuhr schlug ein einziges Mal.
War es möglich, daß es erst ein Uhr war? Er leuchtete mit der
Taschenlampe auf seine Uhr und sah, daß es genau eins war. Es würde
ihm in der Tat schwer werden, bis zum Morgen auszuharren. Rogers
würde gegen acht erscheinen, noch vor Orabona. Draußen in den
anderen Kellerräumen würde es schon viel früher hell werden, aber
kein Lichtstrahl würde hier zu ihm hereindringen. Alle Fenster
dieses Raumes, bis auf die drei schmalen, die zum Hof hinausgingen,
waren zugemauert worden. Alles in allem eine ermüdende
Nachtwache.
Die Halluzinationen waren jetzt überwiegend
akustischer Natur, er hätte schwören können, daß er in der
Werkstatt hinter der verschlossenen Tür verstohlen tappende
Schritte hörte. Er durfte nicht an die versteckte Schreckensgestalt
denken, die Rogers »Es« nannte. Dieses Ungeheuer war eine
Blasphemie, es hatte seinen Schöpfer in den Wahnsinn getrieben, und
jetzt beschwor sogar der bloße Gedanke daran eingebildete
Schrecknisse herauf. Es konnte nicht in der Werkstatt sein, es
befand sich ja hinter der schweren Holztür mit dem großen Schloß.
Sicher waren diese Schritte nur Einbildung.
Dann meinte er zu hören, wie sich der
Schlüssel in der Werkstattür drehte. Er leuchtete mit seiner
Taschenlampe hin, aber die alte, in sechs Paneele aufgeteilte Tür
war nach wie vor geschlossen. Er versuchte es wieder mit der
Dunkelheit und den geschlossenen Augen, aber schon bildete er sich
ein, ein Quietschen oder Knarren zu hören; diesmal war es nicht die
Guillotine, sondern die langsam und verstohlen sich öffnende Tür
der Werkstatt. Er war fest entschlossen, nicht zu schreien. Wenn er
erst einmal zu schreien anfing, war es um ihn geschehen. Und doch
war jetzt ein Tappen oder Schlurfen zu hören, und es kam langsam
auf ihn zu. Er mußte die Kontrolle über sich selbst behalten. War
ihm das nicht auch gelungen, als die namenlosen Hirngespinste ihn
umzingelt hatten? Das Schlurfen kam näher, und er erlahmte in
seinem tapferen Vorsatz. Aber er schrie nicht, sondern stieß nur
mit erstickter Stimme hervor: »Ist da jemand? Wer sind Sie? Was
wollen Sie?«
Es kam keine Antwort, aber das Schlurfen ging
weiter. Jones wußte nicht, wovor er sich mehr fürchtete, davor,
seine Taschenlampe anzuknipsen, oder davor, im Dunkeln
sitzenzubleiben, während etwas auf ihn zugekrochen kam, was er
nicht kannte. Dieses Ding war anders, das spürte er genau, als die
Chimären des Abends. Seine Hände und sein Hals zuckten krampfhaft.
Stillzuhalten war ihn» unmöglich, und die Finsternis begann,
unerträglich zu werden. Erneut rief er hysterisch: »Halt! Wer da?«.
Und dann knipste er seine Taschenlampe an. Zu Tode entsetzt über
das, was er sah, ließ er die Lampe fallen und schrie, nicht nur
einmal, sondern unzählige Male.
Was da aus der Dunkelheit auf ihn
zugeschlurft kam, war ein riesiges, lästerliches schwarzes
Ungeheuer, halb Affe und halb Insekt. Sein Fell hing ihm lose auf
den Knochen, und sein faltiger, mit toten Augen starrender, viel zu
kleiner Kopf schwankte wie trunken hin und her. Seine Vordertatzen
waren ausgestreckt, mit weit gespreizten Krallen, und der ganze
Körper war trotz des völligen Fehlens eines Gesichtsausdrucks in
unverkennbarer, boshafter Mordlust angespannt. Als nun die Schreie
verstummten und die Dunkelheit zurückgekehrt war, machte es einen
Satz und hatte Jones im nächsten Moment zu Boden geworfen. Dieser
wehrte sich nicht, denn er war in Ohnmacht gefallen.
Jones’ Schwächeanfall dauerte offenbar nur
einen Moment, denn das
unaussprechliche Ungeheuer schleifte ihn noch
wie ein Affe durch die Dunkelheit, als er wieder zum Bewußtsein
kam. Was ihn vollends wach machte, waren die Geräusche, die das
Monstrum von sich gab, oder genauer gesagt, die Stimme, mit , der
es sie machte. Es war eine menschliche Stimme, und er kannte sie.
Nur eine ganz bestimmte Person konnte der Besitzer dieser heiseren,
fieberhaften Stimme sein, die in merkwürdigem Singsang ein
unbekanntes Wesen anrief.
»lä! lä!« heulte die Stimme. »Ich komme, o
Rhan-Tegoth, komme mit der Nahrung, du hast lange gewartet und
Entbehrungen gelitten, doch nun bekommst du, was versprochen wurde.
Das und noch mehr, denn anstelle von Orabona wird es jemand von
hohem Rang sein, der dich bezweifelt hat. Du wirst ihn zermalmen
und aussaugen, mit all seinen Zweifeln, und stark davon werden. Und
in alle Ewigkeit wird er den Menschen als Monument deines Ruhms
gezeigt werden. Rhan-Tegoth, Unendlicher und Unbezwinglicher, ich
bin dein Sklave und Hohepriester. Du bist hungrig, und ich nähre
dich. Ich las das Zeichen und fand dich. Ich werde dich mit Blut
sättigen, und du sollst mich mit Macht sättigen. lä!
Schab-Niggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!«
Schlagartig fielen alle Ängste der Nacht wie
ein entbehrlich gewordenes Gewand von ihm ab. Er war wieder Herr
seiner selbst, denn nun kannte er die nur allzu irdische und
materielle Gefahr, der er begegnen mußte. Dies war kein monströses
Fabelwesen, sondern ein gefährlicher Irrer. Es war Rogers, der sich
mit einem von ihm selbst entworfenen, grotesken Kostüm verkleidet
hatte, und nun dem Teufelsgott, den er aus Wachs gebildet hatte,
ein schauriges Opfer bringen wollte. Er war offenbar vom Hinterhof
aus in die Werkstatt gegangen, hatte sich verkleidet und sich dann
angeschlichen, um sein verängstigt in der Falle sitzendes Opfer zu
packen. Er verfügte über ungeheure Körperkräfte, und Jones wußte,
daß er rasch handeln mußte, um seinen ungeheuerlichen Plan zu
vereiteln. Er beschloß, das Vertrauen des Irren auf seine
Bewußtlosigkeit auszunützen und ihn in einem günstigen Moment zu
überraschen. Als er über eine Schwelle geschleift wurde, wußte er,
daß sie sich jetzt in der stockfinsteren Werkstatt
befanden.
Mit der Kraft der Todesangst sprang Jones
plötzlich aus der halbliegenden Stellung auf, in der er über den
Boden gezerrt wurde. Für einen Augenblick entriß er sich so den
Händen des überrumpelten Irrsinnigen, und im nächsten Moment gelang
es ihm durch einen glücklichen Zufall, seine eigenen Hände um den
grotesk verhüllten Hals seines Peinigers zu legen. Gleichzeitig
bekam Rogers ihn jedoch wieder zu fassen, und schon war ein
verzweifelter Kampf auf Leben und Tod entbrannt. Jones’ sportliches
Training war seine einzige Rettung, denn der wahnsinnige Angreifer,
bar jeder Hemmung der Fairneß, des Anstands oder auch nur des
Selbsterhaltungstriebs, verwandelte sich in eine blindwütige
Tötungsmaschine, so schrecklich wie ein Wolf oder ein
Panther.
Gutturale Schreie akzentuierten hin und
wieder das schreckliche Handgemenge im Dunkeln. Blut spritzte,
Kleider zerrissen, und Jones spürte schließlich, daß er den seiner
gespenstischen Maske entkleideten, bloßen Hals seines Widersachers
umklammerte. Er sagte kein Wort, bot nur alle Kräfte zur Rettung
seines Lebens auf. Rogers trat, stach, schlug, biß, kratzte und
spuckte und fand trotzdem zwischendurch noch die Kraft, ganze Sätze
hervorzustoßen, von deren ritualisierter Sprache Jones jedoch nur
immer wieder den Namen »Rhan-Tegoth« verstand, der wie das Echo
unendlich fernen Knurrens und Bellens klang. Die Kämpfenden wälzten
sich auf dem Boden, warfen Werkbänke um oder stießen an Wände und
den gemauerten Sockel des Schmelzofens. Bis zum Schluß konnte Jones
nicht wissen, ob er sich würde retten können, doch dann kam ihm der
Zufall zu Hilfe. Ein Stoß mit dem Knie gegen Rogers’ Brust ließ
diesen erschlaffen, und im nächsten Moment wußte er, daß er gesiegt
hatte.
Obwohl er sich kaum noch auf den Beinen
halten konnte, stand Jones auf und tastete
sich auf der Suche nach dem Lichtschalter an
der Wand entlang, denn seine Taschenlampe war weg. In seinen
zerfetzten Kleidern schleppte er sich vorwärts und zerrte seinen
reglosen Gegner hinter sich her, weil er einen plötzlichen Angriff
fürchtete, falls der Wahnsinnige zu sich kam. Er fand den
Schaltkasten und probierte verschiedene Hebel aus. Als dann
plötzlich das wüste Durcheinander in der Werkstatt in gleißendes
Licht getaucht war, ging er daran, Rogers mit
herumliegenden Stricken und Gürteln zu
fesseln. Die Verkleidung des Schaustellers oder das, was davon
übrig war war aus einem seltsamen lederähnlichen Material. Aus
irgendeinem Grunde bekam Joneseine Gänsehaut, wenn er es berührte,
und es schien auch einen fremdartigen, rostigen Geruch zu
verströmen. In den normalen Kleidern darunter fand Jones Rogers’
Schlüsselbund, den er als Unterpfand für seine endgültige Befreiung
an sich nahm. Die Rollos vor den kleinen, schlitzartigen Fenstern
waren alle heruntergezogen, und er ließ sie so.
Nachdem er sich über einem Spülstein von den
blutigen Spuren des Kampfes gesäubert hatte, zog Jones die am
normalsten wirkenden und noch am besten sitzenden Kleider an, die
er unter den Kostümen für die Wachsfiguren finden konnte. Er prüfte
die Tür zum Hinterhof und stellte fest, daß sie sich von innen ohne
Schlüssel öffnen ließ. Er behielt jedoch den Schlüsselbund, um
wieder in das Museum gelangen zu können, wenn er später mit
Verstärkung zurückkehrte, denn es blieb jetzt natürlich nichts
anderes übrig, als einen Psychiater zu holen. Es gab kein Telefon
in dem Museum, aber er würde sicherlich eine Apotheke oder ein die
ganze Nacht geöffnetes Restaurant finden, von wo aus er anrufen
konnte. Er hatte schon fast die Tür aufgemacht, um hinauszugehen,
als ihm eine Flut wüster Schmähungen von der anderen Seite des
Raums her sagte, daß Rogers, dessen einzige erkennbare Verletzung
ein langer, tiefer Kratzer auf der linken Wange war, wieder zu sich
gekommen war.
»Brut von Noth-Yidik und Auswurf von K’thun!
Sohn der Köter, die im Malstrom Azathoths jaulen! Sie wären heilig
und unsterblich gewesen, und jetzt verraten sie Es und Seinen
Priester! Aber hüten Sie sich denn Es ist hungrig! Eigentlich war
Orabona vorgesehen, dieser verfluchte, verräterische Hund, der sich
gegen mich und Es auflehnt, aber ich wollte Ihnen den Vortritt
lassen. Jetzt müßt ihr beide aufpassen, denn Es kennt kein
Erbarmen, wenn es ohne seinen Priester ist.
lä! lä! Die Rache ist nahe! Wissen Sie, daß
Sie unsterblich geworden wären? Schauen Sie sich den Schmelzofen
an! Es ist Wachs im Kessel, und das Feuer braucht nur noch
angezündet werden. Ich wäre mit Ihnen genauso verfahren wie mit
anderen Lebewesen. Ha! Sie, der Sie darauf geschworen hätten, daß
all meine Figuren aus Wachs sind, wären selbst zur Wachsfigur
geworden! Der Schmelzofen war bereit! Wenn Es sich gütlich getan
und Sie wie der Hund gewesen wären, den ich Ihnen zeigte, hätte ich
Ihre eingefallenen, durchlöcherten Überreste unsterblich gemacht!
Wachs wäre das Geheimnis gewesen. Sagten Sie nicht, ich sei ein
großer Künstler? Wachs in jeder Pore, Wachs über jedem
Quadratzentimeter von Ihnen lä! lä! Und von da an hätte die Welt
Ihren zerfleischten Kadaver betrachtet und sich gefragt, wie ich
ein solches Ungeheuer hätte ersinnen und herstellen können! Ha! Und
Orabona wäre als nächster drangekommen, und nach ihm noch andere
und so
wäre meine wächserne Familie immer größer
geworden! Sie Hund, glauben Sie immer noch, ich hätte meine
Wachsfiguren alle
gemacht?Wollen wir nicht lieber sagen
präpariert?Sie kennen inzwischen die seltsamen Orte, an denen ich
gewesen bin, und die seltsamen Dinge, die ich mitgebracht habe. Sie
Feigling! Sie könnten sich niemals dem dimensionalen Schlurfer
stellen, dessen Fell ich überwarf, um Ihnen Angst einzujagen; der
bloße Anblick des lebenden Schlurfers oder auch nur der Gedanke an
ihn, würde Sie auf der Stelle vor Angst sterben lassen! lä! lä! Es
wartet hungrig auf das Blut, das sein Leben ist!« Rogers hatte sich
an die Wand gelehnt und rieb sich an seinen Fesseln.
»Hören Sie zu, Jones, wenn ich Sie gehen
lasse, lassen Sie mich dann auch gehen? Es muß von seinem
Hohepriester betreut werden. Orabona reicht aus, um es am Leben zu
erhalten, und wenn er geopfert ist, werde ich seine Überreste in
Wachs konservieren, damit die Welt sie betrachten kann. Sie hätten
es selbst sein können, aber Sie haben die Ehre zurückgewiesen. Ich
werde Sie nicht mehr belästigen. Lassen Sie mich gehen, und ich
teile mit Ihnen die Macht, die Es mir verleihen wird. lä! lä! Groß
ist Rhan-Tegoth! Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich gehen! Es
darbt dort unten hinter der Tür, und wenn Es stirbt, können die
Alten Wesen nie mehr wiederkehren. Ha! Ha! Lassen Sie mich
gehen!«
Jones schüttelte nur den Kopf, obwohl die
entsetzlichen Phantasien des Schaustellers ihn abstießen. Rogers,
der jetzt mit glühenden Augen die verschlossene Holztür anstarrte,
schlug jetzt immer wieder seinen Kopf an die Ziegelmauer und kickte
mit seinen gefesselten Beinen. Jones fürchtete, er könnte sich
verletzen, und ging auf ihn zu, um ihn an irgendeinen festen
Gegenstand zu fesseln. Rogers wich auf dem Boden rutschend vor ihm
zurück und brach in frenetisches Geheul aus, das schauerlich in
seiner monströsen Unmenschlichkeit und von einer schier
unglaublichen Lautstärke war. Es schien unmöglich, daß eine
menschliche Kehle so laute und durchdringende Töne hervorbringen
konnte, und Jones dachte, daß er nicht würde um Hilfe telefonieren
müssen, falls das noch lange anhielt. Sicherlich würde ein Polizist
nachsehen kommen, selbst wenn man bedachte, daß es in diesem
verlassenen Lagerhausviertel keine Nachbarn » gab, die etwas hören
konnten.
»Wza-y’ei! Wza-y’ei!«heulte der Wahnsinnige.
Y’kaa haa bho n, Rhan-Tegoth Cthulhu fthagn Oi! Oi! Oi! Oi!
Rhan-Tegoth. Rhan-Tegoth, Rhan-Tegoth!« Der straff gefesselte
Wahnsinnige, der begonnen hatte, über den mit Unrat übersäten Boden
zu rutschen, erreichte jetzt die verschlossene Holztür und schlug
unablässig mit dem Kopf dagegen, daß es donnernd widerhallte. Jones
hatte Angst davor, sich ihm zu nähern, um ihn noch mehr zu fesseln,
und wünschte sich, er wäre nicht so erschöpft von dem Kampf
gewesen. Dieses grausige Nachspiel zerrte an seinen Nerven, und er
spürte, wie die namenlose Furcht ihn wieder beschlich, die er im
Dunkeln empfunden hatte. Alles an Rogers und seinem Museum war so
teuflisch makaber und beschwor so schwarze Abgründe jenseits des
Lebens herauf! Es war ihm zuwider, an das wächserne Meisterwerk des
abnormen Genies zu denken, das in diesem Moment ganz in der Nähe in
der Finsternis hinter der schweren, verschlossenen Tür lauern
mußte.
Und nun geschah etwas, was abermals einen
eiskalten Schauer über Jones’ Rücken
sandte und jedes einzelne Haar, selbst die
winzigen Härchen auf seinem Handrücken, in unsagbarem Entsetzen
sich sträuben ließ. Rogers hatte jäh aufgehört zu schreien und mit
seinem Kopf an die massiven Planken der Tür zu stoßen; er
versuchte, sich in sitzende Stellung aufzurichten, und hielt den
Kopf schräg, als lauschte er angestrengt. Gleichzeitig breitete
sich ein Lächeln teuflischen Triumphes auf seinem Gesicht aus, und
er begann wieder verständlich zu sprechen, diesmal in einem
heiseren Flüstern, das einen merkwürdigen Gegensatz zu der
Stentor-Stimme bildete, mit der er eben noch gebrüllt
hatte.
»Hören Sie, Sie Narr! Spitzen Sie die Ohren!
Eshat mich gehört und kommt. Hören Sie, wie es dort drunten am Ende
der Rampe plätschernd aus seinem Wasserloch steigt ? Ich habe tief
hinunter gegraben, weil für Es nichts gut genug ist. Es ist
amphibisch, müssen Sie wissen, Sie haben ja die Kiemen auf dem Bild
gesehen.
Es kam auf die Erde vom bleigrauen Yuggoth,
wo die Städte unter dem tiefen, warmen Ozean liegen. Es kann dort
nicht aufrecht stehen, es ist zu groß, es muß sitzen oder kauern.
Geben Sie mir meine Schlüssel, wir müssen Es herauslassen und vor
ihm niederknien. Dann werden wir hinausgehen und einen Hund oder
eine Katze suchen oder vielleicht einen Betrunkenen -, damit Es die
Nahrung bekommt, die Es braucht.«
Nicht was der Verrückte sagte, sondern wie er
es sagte, brachte Jones völlig aus der Fassung. Die grenzenlose,
irrwitzige Zuversicht und Aufrichtigkeit des wahnsinnigen
Gestammels waren ungeheuer ansteckend. Angesichts eines solchen
Reizes konnte die Phantasie eine reale Bedrohung in der teuflischen
Wachsfigur sehen, die unsichtbar dicht hinter den schweren Planken
der Tür lauern mußte. Jones musterte die Tür, von der eine
unheilige Faszination ausging, und bemerkte, daß sie an mehreren
Stellen deutliche Risse aufwies, obwohl auf dieser Seite keine
Spuren von Gewaltanwendung zu entdecken waren. Er fragte sich, wie
groß der Raum war, der dahinterlag, und wie die Wachsfigur
aufgestellt sein mochte. Die Idee des Wahnsinnigen von einem
Wasserloch und einer Rampe war genauso raffiniert wie all seine
anderen Phantastereien.
In einem einzigen schrecklichen Augenblick
verschlug es dann Jones vollends den Atem. Der Ledergürtel, mit dem
er Rogers hatte festschnallen wollen, fiel ihm aus den schlaffen
Händen, und ein krampfhaftes Beben erschütterte ihn von Kopf bis
Fuß. Er hätte ja wissen können, daß dieser Ort ihn genau wie Rogers
zum Wahnsinn treiben würde, und nun war er tatsächlich wahnsinnig
geworden. Er war wahnsinnig, denn jetzt überfielen ihn
Halluzinationen, die noch weit unheimlicher waren als alles, was
ihn in den frühen Nachtstunden heimgesucht hatte. Der Wahnsinnige
hatte ihn aufgefordert, auf das Plätschern eines mythischen
Monsters in einem Wasserloch hinter der Tür zu horchen und nun,
Gott war sein Zeuge, hörte er es tatsächlich! Rogers sah, wie das
Grauen sich über Jones’ Gesicht legte und es zu einer starren Maske
der Angst verzerrte. Er kicherte.
»Jetzt glauben Sie mir endlich, Sie Narr!
Jetzt endlich begreifen Sie! Sie hören Es, und Es kommt! Geben Sie
mir die Schlüssel, Sie Narr wir müssen Ihm huldigen und Ihm
dienen!«
Aber Jones konnte nicht mehr auf menschliche
Worte achten, mochten sie irrsinnig oder vernünftig sein.
Schreckensstarr stander da, nur halb bei Bewußtsein, und
schauerliche Bilder zogen in rasender Folge vor seinem inneren Auge
vorüber. Es plätscherte tatsächlich. Er hörte tatsächlich ein
Tappen oder Schlurfen wie von großen nassen Tatzen auf einer harten
Unterlage. Kein Zweifel, irgend etwas näherte sich. Aus den Rissen
in der» abscheulichen Holztür stieg ihm ein stechender, tierischer
Geruch in die Nase, ähnlich und doch auch wieder unähnlich dem in
den Raubtiergehegen des Zoologischen Gartens im Regent’s
Park.
Er merkte nicht, ob Rogers sprach oder nicht.
Alles Reale war verblaßt, und er war zum hilflosen Opfer von
Träumen und Halluzinationen geworden, die so unnatürlich waren, daß
sie fast objektiv und von ihm losgelöst waren. Er meinte aus dem
unbekannten Abgrund hinter der Tür ein Schnüffeln oder Schnauben zu
hören, und als ein plötzliches Bellen oder Trompeten an seine Ohren
drang, wußte er nicht, ob es von dem gefesselten Wahnsinnigen kam,
dessen Bild vor seinen Augen
verschwamm. Das Foto von jenem verfluchten
Ungeheuer tauchte immer wieder in seiner Vorstellung auf. Ein
solches Wesen hatte kein Recht, am Leben zu sein, denn hatte es ihn
nicht zum Wahnsinn getrieben?
Während er noch überlegte, bedrängte ihn ein
weiterer Beweis für seinen Wahnsinn. Irgend etwas schien am Riegel
der verschlossenen Tür zu zerren. Es tappte und kratzte und
rüttelte an den Planken. Die Tür erzitterte immer wieder wie unter
einem weichen, gewichtigen Anprall, und das dumpfe Geräusch wurde
immer lauter. Der Gestank war entsetzlich. Und jetzt wurde der von
innen geführte Angriff gegen die Tür so bösartig und heftig, daß
die Planken wie unter den Stößen einer
Belagerungsmaschine erbebten. Ein ominöses
Knacken war zu hören Holz splitterte -würgender Gestank breitete
sich aus eine Planke brach heraus -eine schwarze Tatze mit einer
krebsartigen Schere … »Hilfe! Hilfe! Gott helfe mir! … Aaaaaa! …«
Vage erinnert sich Jones noch daran, daß seine Schreckensstarre
jählings in eine wilde, kopflose Flucht umschlug, wie man sie nur
aus den schlimmsten Alpträumen kennt. Offenbar rannte er wie von
Furien gehetzt durch die schauerliche Krypta, riß die Tür nach
draußen auf, die hinter ihm krachend ins Schloß fiel, hastete die
ausgetretene Steintreppe hinauf und raste ziellos und wie besessen
aus dem dumpfen gepflasterten Hinterhof hinaus auf die schmutzigen
Straßen von Southwark. Hier endet seine Erinnerung. Er weiß nicht
mehr, wie er nach Hause kam, jedoch deutete nichts darauf hin, daß
er eine Kutsche anhielt. Wahrscheinlich legte er die ganze Strecke
von blindem Instinkt getrieben laufend zurück über die Waterloo
Bridge, den Strand entlang, an Charing Cross vorbei und über den
Haymarket und durch die Regent Street in sein eigenes Viertel. Er
hatte immer noch die kuriosen
Museumskleider an, als er so weit zu sich
kam, daß er den Arzt rufen konnte. Eine Woche später erlaubte ihm
der Nervenspezialist, das Bett zu verlassen und im Freien
spazierenzugehen.
Aber er hatte den Ärzten nicht viel gesagt.
Über seinem ganzen Erlebnis hing eine Wolke des Wahnsinns und des
Alptraums, und er spürte, daß er sich nur durch Schweigen retten
konnte. Als er wieder zu Kräften kam, ging er sorgfältig alle die
Zeitungen durch, die sich seit jener schrecklichen Nacht
angesammelt hatten, fand aber keinerlei Hinweis auf ungewöhnliche
Vorgänge in dem Museum. Wie viel war tatsächlich Realität gewesen ?
Wo endete die Wirklichkeit, und wo begannen die morbiden Träume?
Hatte er in jenem finsteren Museumssaal vollständig den Verstand
verloren, und war der ganze Kampf mit Rogers nur ein Fiebertraum
gewesen ? Es hätte ihm sehr geholfen, seinen Seelenfrieden
wiederzufinden, wenn er einige dieser beunruhigenden Fragen hätte
klären können. Er mußtedieses Foto von dem wächsernen Wesen gesehen
haben, das Rogers »Es« nannte, denn kein anderes Gehirn als das von
Rogers konnte eine solche Phantasmagorie ausgeheckt haben. Es
vergingen noch vierzehn Tage, bevor er den Mut aufbrachte, wieder
die Southwark Street aufzusuchen. Er ging am hellichten Vormittag
hin, zu einer Zeit also, da die Straßen mit den verfallenden Läden
und Lagerhäusern von munterem, normalem Leben erfüllt waren. Das
Schild des Museums war noch vorhanden, und als er auf das Haus
zuging, sah er, daß das Museum geöffnet hatte. Der Portier erkannte
ihn wieder und nickte ihm freundlich zu, während er all seinen Mut
zusammennahm und das Gebäude betrat, und im Gewölbe unten legte
einer der Wärter gut gelaunt die Hand an die Mütze. Vielleicht war
doch alles nur ein Traum gewesen. Würde er es wagen, an der
Werkstattür anzuklopfen und nach Rogers zu sehen?
Dann tauchte Orabona auf und begrüßte ihn.
Sein dunkles, glattes Gesicht war ein bißchen sardonisch, aber
Jones spürte,daß der Mann ihm nicht unfreundlich gesinnt war. Er
sprach mit leichtem Akzent.
»Guten Morgen, Mr. Jones. Sie haben sich ja
eine ganze Weile nicht bei uns blicken lassen. Wollten Sie Mr.
Rogers sprechen? Es tut mir leid, aber er ist nicht da. Er mußte
geschäftlich nach* Amerika verreisen. Ja, es kam ganz plötzlich.
Ich vertrete ihn solange, hier und in seinem Haus. Ich gebe mir
Mühe, Mr. Rogers’ hohen Standard zu halten, bis er wieder da
ist.«
Der Ausländer lächelte vielleicht nur aus
Liebenswürdigkeit. Jones wußte kaum, was er sagen sollte,
erkundigte sich dann aber doch zaghaft nach dem Tag, der auf seinen
letzten Besuch gefolgt war. Orabona schien sich über die Fragen
sehr zu amüsieren und gab ihm überlegte Antworten.
»Ach ja, Mr. Jones, der 28. letzten Monats.
Ich erinnere mich daran, aus mehreren Gründen. Am Morgen das heißt,
noch bevor Mr. Rogers hier war fand ich die Werkstatt in größter
Unordnung vor. Ich mußte sehr viel aufräumen. Mr. Rogers hatte noch
spät in der Nacht gearbeitet, wissen Sie. Ein wichtiges neues
Schaustück war in die entscheidende Phase seiner Entstehung
getreten. Ich nahm mich des Exemplars sofort an, als ich
hereinkam.
Es war eine knifflige Arbeit, aber ich habe
natürlich von Mr. Rogers sehr viel gelernt. Er ist, wie Sie wissen,
ein wahrhaft großer Künstler. Als er dann auch kam, half er mir,
die Figur fertigzustellen ohne seine Hilfe wäre ich nicht weit
gekommen -, aber dann verließ er uns schon bald, ohne sich auch nur
zu verabschieden. Wie ich schon sagte, er mußte in einer dringenden
Angelegenheit verreisen. Zur Fertigstellung der Figur waren
komplizierte chemische Reaktionen erforderlich. Dabei ging es nicht
ohne lautes Getöse ab. Ein paar Fuhrleute auf dem Hof draußen
bildeten sich deshalb ein, sie hätten mehrere Pistolenschüsse
gehört ein amüsanter, wenn auch
verständlicher Irrtum.
Was nun das neue Schaustück angeht, so haben
wir damit Pech gehabt. Es ist ein großes Meisterwerk, von Mr.
Rogers entworfen und im wesentlichen von ihm ausgeführt. Er wird
sich darum kümmern, sobald er zurück ist.« Orabona
lächelte.
»Wir bekamen Schwierigkeiten mit der Polizei.
Wir stellten es vor einer Woche zum erstenmal aus, und zwei
Besucher fielen in Ohnmacht. Einer bekam vor dem Schaustück einen
epileptischen Anfall. Die Figur ist, müssen Sie wissen ein bißchen
stärker -als die übrigen. Auch wesentlich größer. Natürlich stand
sie in dem Alkoven. Tags darauf kamen zwei Männer von Scotland
Yard, um es sich anzusehen, und meinten, es sei zu makaber, um
öffentlich gezeigt zu werden. Wir mußten es auf ihr Geheiß
entfernen. Das war jammerschade, denn es ist ein so wundervolles
Kunstwerk, aber ich hielt mich nicht für befugt, die Anordnung in
Mr. Rogers’ Abwesenheit gerichtlich anzufechten. Das Aufsehen, das
dadurch entstünde, käme ihm jetzt gar nicht gelegen, aber wenn er
wieder da ist wenn er wieder da ist -«
Aus einem unerfindlichen Grunde fühlte Jones,
wie eine Welle des Unbehagens und Abscheus in ihm aufstieg. Aber
Orabona fuhr fort.
»Sie sind ein Kenner, Mr. Jones. Ich bin
sicher, daß ich gegen kein Gesetz verstoße, wenn ich Ihnen die
Figur zeige, gewissermaßen privat. Ohne Mr. Rogers’ Entscheidung
vorgreifen zu wollen es ist möglich, daß wir die Figur eines Tages
wieder zerstören, aber das wäre ein Verbrechen.«
Einen Moment lang überlegte Jones, ob er
nicht lieber ablehnen und das Weite suchen sollte, aber Orabona
hatte ihn schon mit der Begeisterung eines Künstlers am Arm gepackt
und zog ihn mit. Vor dem Alkoven, der mit unsäglichen
Schreckgestalten vollgestopft war, standen
keine Besucher. In der hinteren Ecke war eine große Nische mit
einem Vorhang abgeteilt worden, und auf diese ging der Assistent
lächelnd zu.
»Sie müssen wissen, Mr. Jones, der Titel
dieses Schaustücks ist »Das Opfer für Rhan-Tegoth.« Jones fuhr
zusammen, aber Orabona schien es nicht zu bemerken.
»Der formlose, kolossale Gott figuriert in
gewissen obskuren Legenden, die Mr. Rogers studiert hat. Das ist
natürlich alles Unsinn, wie Sie Mr. Rogers so oft versichert haben.
Er soll aus dem Weltraum auf die Erde gekommen sein und vor drei
Millionen Jahren in der Arktis gelebt haben. Er ging mit den
Opfern, die ihm dargebracht wurden, recht eigenartig und, wie Sie
sehen werden, recht grausam um. Mr. Rogers hatte die Gruppe
verblüffend lebensecht modelliert, bis hin zum Gesicht des
Opfers.«
Jones, der jetzt heftig zitterte, klammerte
sich an das Messinggeländer vor der zugehängten Nische. Er wollte
Orabona schon in den Arm fallen, als dieser den Vorhang zur Seite
zog, doch ein anderer Impuls hielt ihn zurück. Der Ausländer
lächelte triumphierend. »Schauen Sie!« Jones wurde schwindlig,
obwohl er sich an dem Geländer festhielt.
»Großer Gott!«
Volle zehn Fuß hoch, trotz seiner tückisch
geduckten Haltung, aus der unendliche kosmische Bösartigkeit
sprach, stand ein Ungeheuer von unvorstellbar
grauenerregendem Äußeren im Begriff, von
einem zyklopischen, mit grotesken Reliefs geschmückten
Elfenbeinthron zu gleiten. Mit den mittleren beiden seiner sechs
Beine hielt es ein zermalmtes, plattgedrücktes, verzerrtes und
blutloses Ding gepackt, das millionenfach durchlöchert und
stellenweise wie mit scharfer Säure angeätzt war. Nur der
zerfleischte Kopf des Opfers, der verkehrt herum auf einer Seite
herabbaumelte, deutete darauf hin, daß es sich um ein Wesen
handelte, das einmal ein Mensch gewesen war.
Das Monstrum bedurfte keines Titels für
einen, der ein gewisses teuflisches Foto gesehen hatte. Dieses
abscheuliche Bild war nur allzu wirklichkeitsgetreu gewesen, hatte
aber trotzdem nicht das ganze Grauen vermittelt, das die
gigantische Wirklichkeit hervorrief. Der kugelförmige Rumpf die
blasenartige Andeutung eines Kopfes die drei Fischaugen der einen
Fuß lange Rüssel die geblähten Kiemen die zahllosen kurzen, mit
Saugnäpfen versehenen Tentakeln die sechs gewundenen Gliedmaßen mit
ihren schwarzen Tatzen und krebsartigen Scheren gütiger Gott! Wie
bekannt ihm diese schwarze Tatze mit den Scheren vorkam!
Orabonas Lächeln war im höchsten Grade
abstoßend. Jones würgte und starrte das gräßliche Schaustück mit
wachsender Faszination an, die ihn verwirrte und verstörte. Welche
Ahnung eines nur halb erkannten Schrecknisses zwang ihn, das
Ungeheuer noch länger zu betrachten und nach Einzelheiten zu
suchen? Das hatte Rogers in den Wahnsinn getrieben … Rogers, den
hervorragenden Künstler … Er hatte gesagt, sie seien nicht
künstlich …
Dann sah er, was ihn so faszinierte. Es war
der baumelnde wächserne Kopf des Opfers. Das Gesicht war nicht ganz
unkenntlich, und es kam Jones irgendwie bekannt vor. Es ähnelte dem
vom Wahnsinn verzerrten Gesicht des armen Rogers. Jones sah genauer
hin, ohne eigentlich zu wissen, was ihn dazu trieb. War es nicht
verständlich, daß ein wahnsinniger Egozentriker seinem Meisterwerk
seine eigenen Züge verlieh? Oder gab es noch etwas, was sein
Unterbewußtsein längst wahrgenommen hatte und nur aus schierem
Entsetzen unterdrückte?
Das Wachs des verstümmelten Gesichts war
ungeheuer raffiniert bearbeitet worden. Diese Einstiche wie genau
sie den zahllosen Wunden glichen, die jenem bedauernswerten Hund
zugefügt worden waren! Aber da war noch etwas anderes. Auf der
linken Wange war eine Unregelmäßigkeit zu erkennen, die irgendwie
nicht ins Bild passen wollte, so als hätte der Bildhauer versucht,
einen Fehler zu kaschieren, der ihm beim ursprünglichen Modellieren
unterlaufen war. Je länger Jones schaute, um so mehr graute es ihm
vor diesem Rätsel, und dann fiel ihm jäh etwas ein, was sein
Entsetzen auf die Spitze trieb. Diese Nacht des Grauens der Kampf
der gefesselte Irre und die lange, tiefe Schramme in der linken
Wange des realen, lebenden Rogers …
Jones’ Hände lösten sich von dem Geländer,
und er sank ohnmächtig nieder. Orabona lächelte immer
noch.
DAS WIMMELNDE CHAOS von Elizabeth Berkeley
und H. P. Lovecraft
Über die Freuden und Qualen des Opiumgenusses
ist viel geschrieben worden. Die Ekstasen und Schrecken von De
Quincey und den Paradis artificielsBaudelaires sind mit einer
Kunstfertigkeit beschrieben und interpretiert worden, die sie
unsterblich machen, und die Welt kennt die Schönheit, das Grauen
und das Mysterium dieser obskuren Reiche, in die der inspirierte
Träumer versetzt wird. Aber mag auch noch so viel erzählt worden
sein, noch nie hat es jemand gewagt, die Artder Phantasmen
anzudeuten, die dem Geist auf diese Weise enthüllt werden, oder die
Richtungder üppig verzierten und exotischen Straßen anzugeben, auf
die die Droge den Menschen unwiderstehlich führt. De Quincey fühlte
sich zurück nach Asien gezogen, dem Land wimmelnder, nebelhafter
Schatten, das so erschreckend alt ist, daß »das ungeheure Alter der
Rasse und des Namens das Gefühl für die Jugend des Individuums
überwältigt«, aber weiter wagte er nicht zu gehen. Diejenigen, die
doch weitergingen, kehrten nur selten zurück, und selbst wenn,
waren sie hinterher entweder stumm oder nicht mehr bei Sinnen. Ich
nahm nur ein einziges Mal Opium, im Jahr der Seuche, als die Ärzte
bemüht waren, die Qualen zu lindern, die sie nicht heilen konnten.
Ich bekam eine Überdosis mein Arzt war vor Entsetzen und
Überarbeitung erschöpft -, und ich machte eine wahrhaft weite
Reise. Ich kehrte am Schluß zurück und blieb am Leben, aber meine
Nächte sind von seltsamen Erinnerungen angefüllt, und ich habe auch
nie wieder einem Arzt erlaubt, mir Opium zu geben.
Der Schmerz und das Pochen in meinem Kopf
waren schlechthin unerträglich geworden, als mir die Droge
verabreicht wurde. An die Zukunft dachte ich nicht mehr, mein
ganzes Sinnen und Trachten war allein darauf gerichtet, Erlösung
von meinen Qualen zu finden, sei es durch Heilung, Bewußtlosigkeit
oder Tod. Ich war halb im Delirium, so daß es mir schwerfällt, den
genauen Augenblick des Übergangs zu bezeichnen, aber ich glaube,
die Wirkung muß eingesetzt haben, kurz bevor das Pochen aufhörte,
schmerzhaft zu sein. Ich bekam, wie gesagt, eine Überdosis, und
daher waren meine Reaktionen wahrscheinlich weit von allem Normalen
entfernt. Das Gefühl des Fallens, seltsam unabhängig von
Schwerkraft oder Richtung, war am deutlichsten, doch es gab da auch
den schwächeren Eindruck von der unsichtbaren Gegenwart unermeßlich
großer Menschenmengen, die ihrer Natur nach unendlich vielgestaltig
waren, aber doch alle irgendwie zu mir in Beziehung standen.
Manchmal war es nicht eigentlich so, als ob ich fiele, sondern so,
als fielen das Universum oder die Epochen der Ewigkeit an mir
vorbei. Plötzlich hörte der Schmerz auf, und ich begann, das Pochen
mit einer äußeren statt einer inneren Kraft zu assoziieren. Auch
das Fallen hatte aufgehört, und an seine Stelle war ein Gefühl
unbehaglicher, vorübergehender Ruhe getreten, und als ich
angestrengt lauschte, meinte ich wahrzunehmen, daß das Pochen das
der riesigen, unergründlichen See war, wenn ihre düsteren,
kolossalen Brandungswogen nach einem Sturm von titanischen Ausmaßen
eine verlassene Küste verheeren. Dann schlug ich die Augen auf.
Einen Moment lang schien meine Umgebung verschwommen, wie ein
hoffnungslos unscharfes Projektionsbild, doch nach und nach wurde
mir bewußt, daß ich mich einsam und allein in einem merkwürdigen
und schönen Raum befand, der von vielen Fenstern erhellt war. Über
die eigentliche Natur dieses Gemachs konnte ich mir keine
Vorstellung bilden, denn meine Gedanken waren noch im ärgsten
Aufruhr, aber ich sah farbenfrohe Teppiche und Draperien, kunstvoll
gearbeitete Tische, Sessel, Ottomanen und Diwane sowie zierliche
Vasen und Ornamente, die eine Andeutung von Exotik vermittelten,
ohne eigentlich fremdartig zu sein. Diese Dinge bemerkte ich, doch
sie standen in meinem Bewußtsein nicht obenan. Langsam, doch
unerbittlich, über alle anderen Eindrücke sich erhebend,
bemächtigte sich meiner eine schwindelerregende Furcht vor dem
Unbekannten, eine Furcht, die um so größer war, als ich sie nicht
zu ergründen vermochte, und die sich auf eine verstohlen sich
nähernde Bedrohung zu beziehen schien, nicht den Tod, sondern etwas
Namenloses, Unerhörtes, das noch unendlich viel widerwärtiger und
grauenhafter sein mußte. Im nächsten Augenblick wurde mir klar, daß
das unmittelbare Symbol und der Anlaß meiner Furcht das
schreckliche Pochen war, das unaufhörlich und mit unerträglicher
Regelmäßigkeit in meinem erschöpften Gehirn pulsierte. Es schien
von einem Punkt außerund unterhalb des Gebäudes zu kommen, in dem
ich stand, und mit den erschreckendsten geistigen Bildern
einherzugehen. Ich spürte, daß irgendeine schreckliche Szene oder
ein grauenerregendes Objekt hinter den mit Seide behängten Wänden
lauerte, und schrak davor zurück, durch die kunstvoll vergitterten,
überwölbten Fenster zu schauen, die sich auf so verwirrende Weise
allenthalben auftaten. Als ich sah, daß all diese Fenster Läden
hatten, schloß ich diese alle, wobei ich den Blick abwandte, um
nicht nach draußen zu blicken. Dann zündete ich mit einem
Feuerzeug, das ich auf einem der Tischchen fand, die vielen Kerzen
an, die in arabesken Leuchtern an den Wänden standen. Das Gefühl
größerer Sicherheit, das mir die geschlossenen Fensterläden und das
künstliche Licht gaben, beruhigte meine Nerven in gewissem Grade,
aber es gelang mir nicht, das monotone Pochen auszusperren. Nun da
ich ruhiger war, wurde das Geräusch ebenso faszinierend, wie es
furchterregend war, und ich verspürte einen widersprüchlichen
Wunsch, trotz meiner immer noch starken Scheu seinen Ursprung
ausfindig zu machen. Indem ich eine Portiere an der Seite des
Raumes öffnete, die dem Pochen am nächsten war, erblickte ich einen
kleinen und reich drapierten Korridor, der mit einer geschnitzten
Tür und einem großen Erkerfenster abschloß. Zu diesem Fenster zog
es mich unwiderstehlich, obwohl meine vagen Ängste ebenso sehr
darauf bedacht schienen, mich zurückzuhalten. Als ich mich ihm
näherte, sah ich in der Ferne ein chaotisches Wirbeln von Wassern.
Dann, als ich es erreicht hatte und nach allen Seiten
hinausschaute, brach das stupende Bild meiner Umgebung mit
verheerender Gewalt über mich herein.
Es bot sich mir ein Anblick, wie ich ihn noch
nie geschaut hatte und wie ihn kein Lebender je gesehen haben kann,
es sei denn im Delirium des Fiebers oder im Inferno des Opiums. Das
Bauwerk stand auf einer schmalen Landspitze zumindest war es fetzt
eine Landspitze volle dreihundert Fuß über dem Grund, der noch vor
kurzem ein siedender Strudel irrwitziger Wassermassen gewesen sein
mußte. Beiderseits des Hauses fiel ein frisch ausgewaschener
Steilhang von roter Erde in die Tiefe, während vor mir die
gewaltigen Wogen noch immer schrecklich heranrollten und sich mit
gespenstischer Monotonie und boshafter Willkür in das Land fraßen.
Ein oder zwei Meilen entfernt hoben und senkten sich bedrohliche
Brecher von mindestens fünfzig Fuß Höhe, und am fernen Horizont
lagerten greuliche schwarze Wolken von groteskem Umriß, brütend und
lauernd wie widerwärtige Geier. Die Wellen waren dunkel und
blau-violett, beinahe schwarz, und rissen wie grobe, gierige Hände
an der weichen roten Erde des Ufers. Ich konnte nur mutmaßen, daß
irgendein verderblicher Geist des Meeres dem festen Land einen
Vernichtungskrieg erklärt hatte, womöglich ermuntert durch den
zornigen Himmel.
Als ich endlich die Benommenheit
abschüttelte, die dieses unnatürliche Schauspiel mir verursacht
hatte, wurde mir klar, daß ich in höchster physischer Gefahr
schwebte. Unter meinen Augen hatte das Ufer bereits wieder viele
Fuß an das Meer verloren, und es konnte nicht mehr lange dauern,
bevor das Haus gänzlich unterspült in den schrecklichen Abgrund der
peitschenden Wogen stürzen würde. So eilte ich denn auf die
gegenüberliegende Seite des Bauwerks und trat, als ich dort eine
Tür fand, augenblicklich ins Freie, und schloß sie hinter mir ab
mit einem merkwürdigen Schlüssel, der drinnen gehangen hatte. Ich
konnte nun mehr von meiner seltsamen Umgebung überblicken und
bemerkte eine einzigartige Teilung, die in dem feindseligen Ozean
und Firmament zu bestehen schien. Auf den beiden Seiten des
schmalen Vorgebirges herrschten ganz verschiedene Verhältnisse. Zu
meiner Linken, dem Lande zu, erstreckte sich eine sanft atmende See
mit großen grünen Wellen, die friedlich unter einer strahlenden
Sonne heranrollten. Irgend etwas an der Art und Stellung dieser
Sonne ließ mich schaudern, aber ich wußte damals nicht und wüßte
auch heute nicht zu sagen, was es gewesen ist. Auch zu meiner
Rechten war Meer, aber es war blau, still und nur ganz sachte
gewellt, während der Himmel darüber dunkler und das ausgewaschene
Ufer eher weiß als rötlich war.
Ich wandte nun mein Augenmerk dem Lande zu
und fand neuerlich Grund zum Staunen, denn die Vegetation war
anders als alles, was ich je gesehen oder wovon ich gelesen hatte.
Sie war offenkundig tropisch oder zumindest subtropisch, ein
Eindruck, den die starke Hitze der Luft bestätigte. Manchmal meinte
ich, seltsame Analogien zu der Flora meines Vaterlandes zu
entdekken, stellte mir vor, daß die vertrauten Pflanzen und
Sträucher in einem anderen Klima wohl solche Gestalt annehmen
könnten, doch die gigantischen und allgegenwärtigen Palmen waren
unbezweifelbar fremdartig. Das Haus, das ich gerade verlassen
hatte, war sehr klein, kaum größer als ein Bauernhaus, doch es war
offensichtlich aus Marmor erbaut, und seine Architektur war
sonderbar und kompliziert, eine eigenartige Mischung aus
okzidentalen und orientalischen Formen. An den Ecken waren
korinthische Säulen, aber das rote Ziegeldach ähnelte dem einer
chinesischen Pagode. Von der Tür landeinwärts verlief ein Pfad aus
einzigartig weißem Sand, etwa vier Fuß breit und zu beiden Seiten
von stattlichen Palmen und unbekannten blühenden Büschen und
Pflanzen gesäumt. Er lag mehr auf der Seite des Vorgebirges, wo das
Meer blau und das Ufer weißlich waren. Diesen Pfad entlang zu
fliehen fühlte ich mich gedrängt, als verfolgte mich ein böser
Geist aus dem donnernden Ozean. Zuerst führte der Weg leicht
bergan, dann erreichte ich eine sanfte Kuppe. Hinter mir sah ich
die Szene, die ich verlassen hatte, die ganze Landspitze mit dem
Häuschen und dem schwarzen Wasser, mit der grünen See auf der einen
und der blauen See auf der anderen Seite und einem namenlosen und
unbenennbaren Fluch, der sich über das alles
herabsenkte. Ich habe es nie mehr gesehen,
und ich frage mich oft … Nach diesem letzten Blick ging ich weiter
und betrachtete das Panorama, das sich landeinwärts vor mir
ausbreitete.
Der Pfad verlief, wie bereits erwähnt, an der
rechten Küste, wenn man landeinwärts ging. Vor mir und zu meiner
Linken erblickte ich nun ein prachtvolles Tal von vielen Tausenden
Morgen, dicht bewachsen mit wehenden, übermannshohen tropischen
Gräsern. Fast am äußersten Rand meines Gesichtskreises stand eine
riesige Palme, die mich faszinierte und mich zu locken schien.
Unterdessen hatten mein Staunen und die geglückte Flucht von der
gefährdeten Halbinsel meine Ängste weitgehend zerstreut, doch als
ich mich müde auf den Pfad sinken ließ, um zu rasten, und dabei
müßig die Hände in den warmen, weißgoldenen Sand grub, überfiel
mich abermals ein akutes Gefühl der Gefahr und Bedrohung. Irgendein
Schrecknis in dem wehenden hohen Gras gesellte sich zu der
diabolisch donnernden See, und ich fuhr auf und rief laut und ohne
Sinn und Verstand:
»Tiger? Tiger? Ist es ein Tiger? Bestie?
Bestie? Ist es eine Bestie, vor der ich mich fürchte?« Ich dachte
zurück an eine alte, antike Geschichte von Tigern, die ich gelesen
hatte, versuchte, mich des Autors zu erinnern, hatte jedoch
Schwierigkeiten. Dann fiel mir trotz meiner Angst wieder ein, daß
die Geschichte von Rudyard Kipling war, und mir wurde nicht bewußt,
wie grotesk es war, ihn für einen antiken Autor zu halten. Ich
sehnte mich nach dem Band, der diese Geschichte enthielt, und war
schon beinahe entschlossen, zu dem verdammten Häuschen
zurückzukehren, um ihn zu holen, als die Vernunft und die Lockung
der Palme mich doch noch davon abhielten.
Ob ich der Verlockung zurückzugehen ohne die
entgegenwirkende Faszination der riesigen Palme widerstanden hätte,
das weiß ich nicht. Diese Faszination war jetzt am stärksten, und
ich verließ den Pfad und kroch auf Händen und Knien den Abhang
hinunter ins Tal, trotz meiner Angst vor dem Gras und den
Schlangen, die es beherbergen mochte. Ich war entschlossen, so
lange wie möglich gegen alle Bedrohungen von See oder Land um Leben
und Vernunft zu kämpfen, obgleich ich mitunter die Niederlage
fürchtete, wenn das tückische Zischeln der unheimlichen wehenden
Gräser sich mit dem immer noch hörbaren, irritierenden Donnern der
fernen Brecher verband. Oft blieb ich stehen und hielt mir
schützend die Hände über die Ohren, doch auch so konnte ich die
abscheulichen Geräusche nicht ganz unterdrücken. Ewigkeiten, so
schien mir, waren vergangen, als ich mich endlich zu der lockenden
Palme hinaufschleppte und mich still in ihren schützenden Schatten
legte.
Nun folgten Geschehnisse, die mich
abwechselnd zu den Extremen der Ekstase und des Entsetzens
brachten, Geschehnisse, deren ich mich nur zitternd erinnere und
die ich nicht zu deuten wage. Kaum war ich unter das tief hängende
Laubwerk der Palme gekrochen, als von ihren Wedeln ein junges Kind
herabfiel, ein Kind von nie gesehener Schönheit. Obgleich zerlumpt
und staubig, trug dieses Wesen die Züge eines Fauns oder Halbgottes
und schien im dichten Schatten des Baumes beinahe Licht
auszustrahlen. Es lächelte und streckte mir die Hand hin, doch
bevor ich aufstehen und etwas sagen konnte, hörte ich in luftiger
Höhe feinen, melodischen Gesang, in dem sich hohe und tiefe Töne
mit sublimer, ätherischer Harmonie verbanden. Die Sonne war
unterdessen unter den Horizont gesunken, und im Dämmerlicht sah
ich, daß eine Aureole flackernden Lichts den Kopf des Kindes umgab.
Mit silberheller Stimme sprach es mich an: »Es ist das Ende. Sie
sind durch das Zwielicht von den Sternen gekommen. Jetzt ist alles
vorbei, und jenseits der Arinurischen Ströme werden wir glückselig
in Teloe wohnen.« Während das Kind sprach, sah ich einen weichen
Lichtschimmer, der durch die Blätter der Palme fiel, und mich
erhebend begrüßte ich zwei Gestalten, von denen ich wußte, daß sie
die Vorsänger unter denen waren, die ich gehört hatte. Ein Gott und
eine Göttin müssen sie gewesen sein, denn solche Schönheit ist
nicht sterblich; und sie nahmen meine Hand und sagten: »Komm, Kind,
du hast die Stimmen gehört, und alles ist gut. In Teloe, jenseits
der Milchstraße, und in den Arinurischen Strömen sind Städte ganz
aus Bernstein und Chalcedon. Und auf ihren facettenreichen Kuppeln
glitzern die Bilder fremder und schöner Sterne. Unter den
Elfenbeinbrücken von Teloe fließen Flüsse aus flüssigem Gold, und
auf ihnen schwimmen Vergnügungsboote, die unterwegs sind nach dem
blühenden Cytharion der Sieben Sonnen. Und in Teloe und Cytharion
wohnen nur Jugend, Schönheit und Lust, und man hört auch keine
Geräusche, es sei denn Gelächter, Gesang und die Laute. Nur die
Götter wohnen in Teloe von den goldenen Flüssen, doch unter ihnen
sollst du wohnen.«
Indes ich verzückt lauschte, wurde ich
plötzlich einer Veränderung in meiner Umgebung gewahr. Die Palme,
die eben noch meine erschöpfte Gestalt beschattet hatte, befand
sich jetzt ein gutes Stück links und deutlich unter mir. Sie
schwebte offenbar in der Atmosphäre, begleitet nicht nur von dem
merkwürdigen Kind und dem strahlenden Paar, sondern auch von einer
stetig wachsenden Menge halbleuchtender, mit Weinlaub umkränzter
junger Männer und Mädchen mit fröhlichen Gesichtern und im Wind
wehendem Haar. Langsam erhoben wir uns gemeinsam, wie von einer
duftenden Brise getragen, die nicht von der Erde kam, sondern von
den goldenen Sternennebeln, und das Kind flüsterte mir ins Ohr, ich
müsse stets nach oben schauen in die Bahnen des Lichts und niemals
zurück zu der Sphäre, die ich eben verlassen hatte. Die jungen
Männer und Mädchen sangen nun zur Begleitung der Laute liebliche
Choriamben, und ich war eingehüllt von einem Frieden und einem
Glück, tiefer, als ich es mir je vorgestellt hatte, als das
Eindringen eines einzigen Lautes mein Schicksal änderte und meine
Seele zerbrach. Durch die entzückenden Weisen der Sänger und
Lautenisten kam wie als höhnische, dämonische Begleitung aus den
Abgründen unter uns dieses fluchwürdige, abscheuliche Donnern und
Toben des furchtbaren Ozeans, und als diese schwarzen Brecher ihre
Botschaft in mein Ohr pochten, vergaß ich die Worte des Kindes und
schaute zurück, hinab auf die Szene des Unheils, der ich entkommen
zu sein glaubte.
Durch den Äther sah ich tief drunten die
vermaledeite Erde sich drehen, auf ewig sich drehen, mit zornigen,
stürmischen Seen, die gegen wilde, öde Küsten anrannten und Gischt
an die zerbrökkelnden Türme verlassener Städte warfen. Und unter
einem gespenstischem Mond glommen Anblicke, die ich nie
beschreiben, Anblicke, die ich nie vergessen könnte; Wüsten von
leichenartigem Lehm und Dschungel des Verfalls und der Dekadenz, wo
sich einst die volkreichen Ebenen und Dörfer meines Heimatlandes
erstreckten, und Malströme strudelnder Ozeane, wo einst die
mächtigen Tempel meiner Vorväter standen. Um den Nordpol dampfte
ein Morast ekliger Gewächse und miasmatischer Dämpfe, zischend vor
dem Anprall der ständig steigenden Wogen, die aus den schaurigen
Tiefen aufquollen. Dann zerriß ein gellendes Krachen die Nacht, und
quer über die Wüste der Wüsten tat sich eine rauchende Kluft auf.
Immer noch schäumte und nagte der schwarze Ozean, die Wüste von
beiden Seiten her verzehrend, während der Riß in der Mitte immer
weiter und weiter klaffte.
Es war jetzt kein Land mehr übrig außer der
Wüste, und immer noch fraß und fraß der wütend schäumende Ozean
weiter. Auf einmal schien es mir, als hätte auch die donnernde See
Angst vor etwas bekommen, Angst vor den dunklen Göttern der inneren
Erde, die größer sind als der böse Gott der Wasser, aber es half
nichts, es gab keine Umkehr, und die Wüste hatte schon zu sehr
unter diesen Alptraumwogen gelitten, um ihnen jetzt zu helfen. So
fraß der Ozean die letzten Reste des Landes und ergoß sich in den
rauchenden Abgrund, und so gab er alles wieder hin, was er erobert
hatte. Von den eben erst überfluteten Ländereien floß er wieder ab,
Tod und Verfall offenbarend, und aus seinem uralten,
unvordenklichen Bett tropfte er eklig, umnachtete Geheimnisse aus
den Jahren entdeckend, als die Zeit noch jung und die Götter noch
ungeboren waren. Über den Wellen erhoben sich trauernde, erinnerte
Türme. Der Mond legte blasse Linien des Lichts auf das tote London,
und Paris erstand aus seinem feuchten Grab, um sich mit
Sternenstaub weihen zu lassen. Dann erhoben sich Türme und
Monolithen, die in Trauer, aber nicht in der Erinnerung waren,
schreckliche Türme und Monolithen von Ländern, von denen die
Menschen nie wußten, daß es Länder waren.
Es war jetzt kein Pochen mehr zu hören, nur
noch das unirdische Rauschen und Zischen der Wasser, die in die
Kluft stürzten. Der Rauch aus dieser Kluft hatte sich in Dampf
verwandelt und verbarg beinahe die Welt, indem er dichter und immer
dichter wurde. Er verbrühte mir Gesicht und Hände, und als ich
aufschaute, um zu sehen, was mit meinen Gefährten geschah, sah ich,
daß sie alle verschwunden waren. Dann war plötzlich alles zu Ende,
und ich wußte nichts mehr, bis ich auf dem Bett der Rekonvaleszenz
aufwachte. Als die Dampfwolke aus dem plutonischen Abgrund
schließlich die ganze Oberfläche vor meinen Blicken verbarg, schrie
das ganze Firmament in einer Agonie wahnsinnigen Donners auf, der
den zitternden Äther erschütterte. In einem einzigen, delirösen
Blitzen und Krachen geschah es; ein blendender, betäubender
Holocaust von Feuer, Rauch und Donner, der den bleichen Mond
auflöste, als er ins Leere fortschoß.
Und als der Rauch sich verzog und ich auf die
Erde hinabschauen wollte, sah ich vor dem Hintergrund kalt
blinkender Sterne nur die sterbende Sonne und die blassen,
traurigen Planeten, die ihre Geschwister suchten.
FLÜGEL DES TODES von Hazel Heald und H. P.
Lovecraft
Das Orange Hotel steht in Bloemfontein,
Südafrika, unweit des Bahnhofs an der High Street. Am Sonntag, dem
24. Januar 1932. saßen vier Männer schreckensbleich in einem Zimmer
im dritten Stock. Einer von ihnen war George C. Titteridge, der
Hotelbesitzer, der zweite der Polizist lan De Witt von der
Hauptwache, der dritte Johannes Bogaert, der Leichenbeschauer, und
der vierte, der noch den gefaßtesten Eindruck machte, der Arzt Dr.
Cornelius Van Keulen.
Auf dem Fußboden lag, in der drückenden
Sommerhitze nur allzu deutlich wahrnehmbar, der Leichnam eines
Mannes, aber er war es nicht, vor dem sich die Männer fürchteten.
Ihre Blicke wanderten von dem Tisch, auf dem eine kuriose
Ansammlung von Gegenständen lag, zur Decke, an deren glatte, weiße
Fläche riesige Schriftzeichen mit zittriger Hand in Tinte gemalt
worden waren, und ab und zu warf Dr. Van Keulen auch einen
verstohlenen Blick auf ein abgegriffenes, in Leder gebundenes
Notizbuch, das er in der linken Hand hielt. Das Grauen der vier
Männer schien sich zu gleichen Teilen auf das Notizbuch, das
Gekritzel an der Decke und eine tote Fliege von merkwürdigem
Aussehen zu beziehen, die in einer Flasche Ammoniak auf dem Tisch
schwamm. Auf dem Tisch sah man außerdem noch ein offenes Tintenfaß,
einen Federhalter und eine Schreibunterlage, einen Arztkoffer, eine
Flasche Salzsäure und einen Krug, der etwa zu einem Viertel mit
Mangandioxyd gefüllt war.
Das abgegriffene Notizbuch war das Tagebuch
des Toten auf dem Fußboden und hatte den Männern sofort verraten,
daß der Name, unter dem sich der Mann ins Hotelregister eingetragen
hatte »Frederick N. Mason, Bergbaugesellschaften, Toronto, Kanada«
falsch war. Aber auch noch über andere, schreckliche Dinge gab das
Tagebuch Aufschluß, und noch weitaus grauenhaftere Dinge konnte man
aufgrund der Eintragungen nur ahnen, ohne daß sie klar oder auch
nur halbwegs glaubwürdig wurden. Dieses Schwanken zwischen Glauben
und Ungläubigkeit eine charakteristische Haltung für Menschen, die
ihr ganzes Leben inmitten der schwarzen, unveränderlichen
Geheimnisse des brütenden Afrika verbracht haben war es, was die
Männer trotz der sengenden Januarhitze so schaudern ließ. Das
Notizbuch war nicht besonders groß, und die Einträge waren in einer
zierlichen Handschrift ausgeführt, die jedoch auf den letzten
Seiten nervös und fahrig wurde. Die Einträge waren kurz und anfangs
durch größere zeitliche Abstände getrennt, am Schluß jedoch
täglich. Die Bezeichnung Tagebuch wäre nicht ganz richtig, denn es
war nur von einer bestimmten Art von Tätigkeiten des Verfassers die
Rede. Dr. Van Keulen erkannte den Namen des Toten in dem
Augenblick, da er das Buch aufschlug, denn es war der Name eines
prominenten Berufskollegen von ihm, der seit langem als
Afrika-Spezialist gegolten hatte. Beim Weiterlesen mußte der Arzt
entsetzt feststellen, daß dieser Mann offenbar etwas mit einem
grauenhaften Verbrechen zu tun hatte, das etwa vier Monate zuvor
durch die Zeitungen gegangen war, jedoch bislang nicht hatte
aufgeklärt werden können. Und je mehr er las, um so stärker wurden
sein Entsetzen, sein Abscheu und seine panische Angst.
Was hier folgt, ist in seinen wesentlichen
Teilen der Text, den der Arzt in jenem düsteren und zunehmend
widerwärtigen Zimmer laut vorlas, während die anderen drei schwer
atmeten, auf ihren Stühlen herumrutschten, immer wieder einmal
scheue Blicke zur Decke, zum Tisch und zu dem Leichnam auf dem
Boden warfen oder einander ungläubig ansahen:
tagebuch <>VON dr.MED.thomas
slauenwite
Betreffend die Bestrafung von Dr. Henry
Sargent Moore aus Brooklyn, New York, Professor für Zoologie,
Abteilung Wirbellose, Columbia University, New York, N. Y.,
vorbereitet zum Verlesen nach meinem Tode zum Zwecke der
Bekanntmachung meiner Rache, die ansonsten möglicherwiese nicht mir
zugeschrieben würde, auch wenn sie Erfolg hat.
5. Januar 1919 Ich bin nun fest entschlossen,
Dr. Henry Moore zu töten, und ein Vorfall in jüngster Zeit brachte
mich auf einen Gedanken, wie ich dabei zu Werk gehen könnte. Von
nun an werde ich konsequent handeln, und deshalb werde ich auch
dieses Tagebuch führen. Es dürfte kaum erforderlich sein, noch
einmal die Umstände darzustellen, die mich zu dieser Handlungsweise
gezwungen haben, denn die informierte Öffentlichkeit ist mit allen
wichtigen Fakten vertraut. Ich wurde am
12. April 1885 in Trenton, New Jersey,
geboren als Sohn von Dr. Paul Slauenwite, vormals Pretoria,
Transvaal, Südafrika. Der Tradition unserer Familie folgend,
studierte ich Medizin, und mein Vater (der im Jahre 1916 starb, als
ich mit einem südafrikanischen Regiment in Frankreich stationiert
war) riet mir, mich auf afrikanische Fieberkrankheiten zu
spezialisieren; nach meinem Examen an der Columbia University
widmete ich mich längere Zeit der Forschung und lernte dabei die
Gebiete von Durban in Natal bis zum Äquator kennen.
In Mombasa stellte ich meine neue Theorie von
der Entwicklung und Übertragung des remittierenden Fiebers auf,
wobei ich nur in geringem Umfang auf die Schriften des verstorbenen
Regierungsarztes Sir Norman Sloane zurückgriff, die ich in dem Haus
fand, das ich bewohnte. Durch die Veröffentlichung meiner
Ergebnisse wurde ich auf einen Schlag berühmt. Man sprach bereits
von meiner Anwartschaft auf eine der höchsten Positionen im
südafrikanischen Gesundheitsdienst und sogar davon, daß ich
wahrscheinlich zum Ritter geschlagen werden würde, sobald ich die
Einbürgerung beantragt hätte, und demzufolge unternahm ich die
notwendigen Schritte.
Dann geschah der Vorfall, dessentwegen ich
Henry Moore töten werde. Dieser Mann, der in Amerika und Afrika
jahrelang mein Studienkollege und Freund gewesen war, nahm sich
ganz bewußt vor, mir die Urheberschaft an meiner eigenen Theorie
abzusprechen; er verbreitete, Sir Norman Sloane habe mich in allen
wichtigen Einzelheiten vorweggenommen, und ließ durchblicken, ich
hätte wahrscheinlich mehr von Sloane’s Aufzeichnungen gefunden, als
ich zuzugeben bereit sei. Um diese absurde Verdächtigung zu
untermauern, legte er gewisse persönliche Briefe von Sir Norman
vor, aus denen in der Tat hervorging, daß der ältere Mann zu
ähnlichen Ergebnissen gekommen war wie ich und sie schon bald
veröffentlicht hätte, wenn er nicht plötzlich gestorben wäre.
Insoweit hatte er also recht, und ich konnte nur mein Bedauern
ausdrücken. Was ich ihm nicht verzeihen konnte, war die aus Neid
geborene Unterstellung, ich hätte Sir Norman auch die Grundzüge
meiner Theorie gestohlen. Die britische Regierung ignorierte
vernünftigerweise die Anwürfe, verweigerte mir nun jedoch die in
Aussicht gestellten Ehrungen mit der Begründung, meine Theorie sei
zwar eine eigenständige geistige Leistung, jedoch objektiv gesehen
nicht neu.
Ich mußte bald feststellen, daß meine
Karriere in Afrika nicht mehr so recht vorankam, obwohl ich all
meine Hoffnungen auf eine solche Karriere gesetzt und sogar auf
meine amerikanische Staatsbürgerschaft verzichtet hatte.
Regierungsvertreter in Mombasa, zumal solche,
die Sir Norman persönlich gekannt hatten, verhielten sich mir
gegenüber nun ausgesprochen reserviert. Damals nahm ich mir bereits
vor, es Moore früher oder später heimzuzahlen, obwohl ich noch
nicht wußte, wie ich es anstellen sollte. Er hatte mich um meinen
frühen Ruhm beneidet und seine Korrespondenz mit Sir Norman dazu
benutzt, mich zu ruinieren. Und all dies, obwohl er mein Freund war
und ich sein Interesse an Afrika geweckt und ihn unterwiesen und
inspiriert hatte, bis er seinen derzeitigen bescheidenen Ruhm als
Afrika-Entomologe erlangt hatte. Ich half ihm auf die Beine, und
zum Dank ruinierte er mich. Dafür werde ich ihn eines Tages
vernichten.
Als ich sah, daß ich in Mombasa an Boden
verlor, bewarb ich mich um meine derzeitige Position im
Landesinneren, in M’gon-ga, nur fünfzig Meilen von der Grenze von
Uganda entfernt. Es ist ein Handelsposten für Baumwolle und
Elfenbein, ip dem außer mir nur acht Weiße leben. Ein schreckliches
Loch, fast am Äquator und mit beinahe jeder Art von Fieberkrankheit
verpestet, die der Menschheit bekannt ist. Überall giftige
Schlangen und Insekten und Nigger mit Krankheiten, von denen der
medizinische Laie noch nie etwas gehört hat. Aber meine Arbeit ist
nicht schwer, und ich habe immer genug Zeit, um mir Gedanken
darüber zu machen, was ich Henry Moore antun könnte. Ich leiste mir
den Spaß, seinem Buch Dipteren Zentral-und Südafrikaseinen
Ehrenplatz in meinem Regal einzuräumen. Es scheint sogar so eine
Art Standardwerk geworden zu sein -man arbeitet an der Columbia,
der Harvard und der Wisconsin University damit -, aber alles, was
besonders gut daran ist, geht auf Anregungen von mir
zurück.
Letzte Woche kam ich durch Zufall auf eine
Idee, wie ich Moore töten könnte. Eine Gruppe von Leuten aus Uganda
brachte einen Schwarzen mit einer merkwürdigen Krankheit, die ich
noch nicht diagnostiziert habe. Er war lethargisch und hatte sehr
niedrige Temperatur sowie einen merkwürdig schlurfenden Gang. Die
meisten anderen hatten Angst vor ihm und behaupteten, er stehe
unter dem Zauber eines Medizinmanns, aber Gobo, der Dolmetscher,
meinte, er sei von einem Insekt gestochen worden. Ich habe keine
Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, denn er hat nur einen
winzigen Stich am Arm. Der ist allerdings stark gerötet und von
einem bläulichen Ring umgeben. Sieht gespenstisch aus, kein Wunder,
daß die Boys von Schwarzer Magie munkeln. Sie haben anscheinend
schon ähnliche Fälle gesehen und meinen, es sei kein Kraut dagegen
gewachsen. Der alte N’Kuru, einer der GallaBoys in M’gonga, ist der
Ansicht, daß es sich um den Stich der Teufelsfliege handeln muß,
der zur allmählichen Auszehrung und schließlich zum Tod des Opfers
führe, worauf die Fliege, falls sie selbst noch am Leben ist, die
Seele und Persönlichkeit des Opfers übernimmt und mit dessen
Bewußtsein und all seinen Vorlieben und Abneigungen umherfliegt.
Eine seltsame Legende ich kenne kein Insekt dieser Gegend, dessen
Stich so gefährlich ist, daß solche Geschichten von ihm ausgehen
könnten. Ich injizierte dem Schwarzen er heißt Mevana eine starke
Dosis Chinin und entnahm ihm eine Blutprobe, habe aber noch kaum
Fortschritte gemacht. Es ist sicherlich ein merkwürdiger Erreger
vorhanden, den ich jedoch auch nicht annähernd zu identifizieren
vermag. Am ähnlichsten ist er dem Bazillus, den man bei Ochsen,
Pferden und Hunden findet, die von der Tsetsefliege gestochen
wurden, aber Tsetsefliegen infizieren den Menschen nicht, und wir
sind ja ohnehin zu weit im Norden.
Wichtig ist daran nur, daß ich jetzt weiß,
wie ich Moore töten werde. Wenn es in dieser Gegend Insekten gibt,
die so giftig sind, wie die Eingeborenen behaupten, werde ich dafür
sorgen, daß er von einem unverdächtigen Absender mehrere Exemplare
davon zugeschickt bekommt, mit der ausdrücklichen Versicherung, daß
es sich um harmlose Insekten handle. Man kann sich darauf
verlassen, daß er alle Vorsicht außer acht läßt, wenn es darum
geht, eine unbekannte Spezies zu studieren und dann werden wir
sehen, wie die Natur ihren Lauf nimmt. Es dürfte nicht allzu schwer
sein, ein Insekt aufzufinden, vor dem Schwarze so große Angst
haben. Erst muß ich jedoch sehen, wie es dem armen Mevana ergeht,
und dann werde ich meinen eigenen Todesboten suchen.
7. Jan. Mevanas Befinden hat sich nicht
gebessert, obwohl ichihm alle Gegengifte injiziert habe, die ich
kenne. Er hat Zitteranfälle, bei denen er angstvoll davon faselt,
daß bei seinem Tod seine Seele in das Insekt übergehen wird, das
ihn gestochen hat, aber dazwischen verfällt er immer wieder in fast
vollständige Bewußtlosigkeit. Die Herztätigkeit ist noch stark, so
daß ich Hoffnung habe, ihn doch noch durchzubringen. Ich werde es
auf alle Fälle versuchen, denn er kann mich wahrscheinlich besser
als irgend jemand sonst in die Gegend führen, wo er gestochen
wurde.
Unterdessen werde ich an Dr. Lincoln
schreiben, meinen Vorgänger hier, denn Allen, der Leiter der
Faktorei, sagt mir, er wisse sehr viel über die Krankheiten, die in
dieser Gegend hier vorkommen. Er müßte schon etwas von der
Todesfliege gehört haben. Er ist jetzt in Nairobi, und ein
schwarzer Bote müßte mir eigentlich innerhalb einer Woche eine
Antwort bringen können, wenn er die halbe Entfernung mit der
Eisenbahn zurücklegt.
10. Jan. Der Zustand des Patienten
unverändert, aber ich habe gefunden, was ich suchte! Es steht in
einem alten Band mit örtlichen Gesundheitsunterlagen, den ich
sorgfältig durchgesehen habe, während ich auf die Antwort von
Lincoln wartete. Vor dreißig Jahren gab es eine Epidemie, der
Tausende von Eingeborenen in Uganda zum Opfer fielen, und sie wurde
zweifelsfrei auf eine seltene Fliege mit dem Namen Glossina
palpaliszurückgeführt eine Verwandte der Tsetsefliege, Glossina
marsitans.Sie lebt im Gebüsch an den Ufern von Seen und Flüssen und
ernährt sich vom Blut von Krokodilen, Antilopen und noch größeren
Säugetieren. Wenn diese Tiere mit dem Erreger der Schlafkrankheit
infiziert sind, nimmt die Fliege diesen auf und entwickelt nach
einer Inkubationszeit von 31 Tagen akute Infektiosität. In den
nächsten 75 Tagen bringt ihr Stich jedem Lebewesen den sicheren
Tod.
Bei diesem Insekt handelt es sich zweifellos
um die »Teufelsfliege«, von der die Nigger reden. Jetzt weiß ich,
wie ich vorgehen muß. Ich hoffe, Mevana steht es durch. Ich müßte
in vier oder fünf Tagen von Lincoln hören er hat in diesen Dingen
einen sehr guten Ruf. Mein größtes Problem ist, wie ich Moore den
Fliegen aussetzen kann, ohne daß er sie erkennt. Bei seiner
Pedanterie ist ihm zuzutrauen, daß er alles über sie weiß, da es ja
schon Unterlagen über sie gibt.
15. Jan. — Habe soeben Nachricht von Lincoln
bekommen, deralles bestätigt, was über Glossina palpalisin den
Unterlagen steht. Er hat ein Mittel gegen
Schlafkrankheit, das in zahlreichen Fällen
zum Erfolg geführt hat, wenn es nicht zu spät verabreicht wurde.
Intramuskuläre Injektionen von Tryparsamid. Da Mevana vor etwa zwei
Monaten gestochen wurde, weiß ich nicht, ob das Mittel anschlagen
wird, aber Lincoln meint, es hätte schon Fälle gegeben, die sich
über 18 Monate hinzogen, also bin ich vielleicht doch noch nicht zu
spät dran. Lincoln hat mir etwas davon mitgeschickt, und ich habe
Mevana eben eine starke Dosis injiziert. Er ist jetzt bewußtlos.
Sie haben seine Hauptfrau aus dem Dorf geholt, aber er erkennt sie
nicht einmal. Falls er sich erholt, kann er mir sicherlich zeigen,
wo die Fliegen vorkommen. Er ist angeblich ein großer Krokodiljäger
und kennt ganz Uganda wie sein eigenes Dorf. Ich werde ihm morgen
erneut eine Spitze geben.
16. Jan. Mevana wirkt heute etwas munterer,
aber die Herztätigkeit hat sich etwas verlangsamt. Ich werde mit
den Injektionen fortfahren, die Dosen jedoch etwas
verringern.
17. Jan. Genesung macht Fortschritte. Mevana
schlug heute nach der Injektion die Augen auf und schien fast bei
Bewußtsein zu sein, wenn auch noch sehr benommen. Ich hoffe, Moore
weiß nichts von Tryparsamid. Wahrscheinlich kennt er es nicht, denn
er hat sich nie viel um Medizin gekümmert. Mevanas Zunge ist
anscheinend gelähmt, aber ich vermute, das wird sich geben, wenn
ich ihn nur aufwecken kann. Könnte selber einen längeren Schlaf gut
gebrauchen, aber nicht von dieser Art!
25. Jan. Mevana fast gesund! Noch eine Woche,
und er kann mich in den Dschungel führen. Er hatte Angst, als er
zum erstenmal zu sich kam, davor, daß seine Persönlichkeit nach
seinem Tod auf die Fliege übergehen würde, faßte aber Mut, als ich
ihm sagte, er würde wieder gesund werden. Seine Frau, Ugowe, sorgt
jetzt gut für ihn, und ich kann mich ein bißchen ausruhn. Als
nächstes sind die Todesboten an der Reihe!
3. Feb. — Mevana ist wiederhergestellt, und
ich habe mit ihm über die Fliegenjagd gesprochen. Er hat große
Angst, noch einmal die Stelle aufzusuchen, wo er gestochen wurde,
aber ich appelliere an seine Dankbarkeit. Außerdem bildet er sich
ein, daß ich Krankheiten nicht nur heilen, sondern auch fernhalten
kann. Sein Mut könnte einen Weißen beschämen ich zweifle nicht, daß
er mich hinbringen wird. Wenn ich dem Leiter der Faktoreisage, daß
es um die örtliche Gesundheitsarbeit geht, wird er mich für die
paar Tage beurlauben.
i z.März Endlich in Uganda! Habe neben Mevana
noch fünf Boys, aber sie sind alle Gallas. Die örtlichen
Eingeborenen waren nicht zu bewegen, in diese Gegend zu gehen, weil
sich herumgesprochen hat, was Mevana passiert ist. Dieser Dschungel
ist ein Ort der Pestilenz durchzogen von ungesunden Dünsten. Die
Seen haben offenbar alle keinen Abfluß. An einer Stelle stießen wir
auf Reste zyklopischer Ruinen, um die sogar die Gallas einen weiten
Bogen machten. Sie behaupten, diese Megalithen seien älter als die
Menschheit und ein Schlupfwinkel der »Fischer von draußen« was
immer das bedeuten mag und der bösen Gottheiten Tsatogwa und Klulu
gewesen. Bis zum heutigen Tag wird ihnen ein unheilvoller
Einfluß
zugeschrieben, der irgendwie mit den
Teufelsfliegen zusammenzuhängen scheint.
15. März Heute morgen den Mlolo-See erreicht,
an dessen Ufer Mevana gestochen wurde. Ein höllisches, mit grünem
Schlamm bedecktes Wasserloch voller Krokodile; Mevana hat eine
Fliegenfalle aus feinem Drahtgeflecht mit einem Köder aus
Krokodilfleisch aufgestellt. Die Falle hat eine kleine
Einflugöffnung, und wenn die Fliege einmal drin ist, findet sie den
Ausweg nicht mehr. Die Biester sind ebenso dumm wie gefährlich und
gierig nach frischem Fleisch oder Blut. Ich hoffe, wir können
mehrere Exemplare fangen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich
mit ihnen experimentieren muß; ich muß eine Möglichkeit finden, ihr
Aussehen zu verändern, damit Moore sie nicht erkennt.
Wahrscheinlich kann ich sie mit irgendwelchen anderen Arten kreuzen
und auf diese Weise eine Bastardform schaffen, deren Fähigkeit, den
Erreger zu übertragen, nicht beeinträchtigt sein wird. Wir werden
sehen. Ich muß warten, habe aber jetzt keine Eile mehr. Wenn ich so
weit bin, werde ich mir von Mevana infiziertes Fleisch besorgen
lassen, um meine kleinen Todesbringer damit zu füttern, und dann ab
geht die Post.
16. März — Glück gehabt. Zwei Käfige voll.
Fünf kräftige Exemplare mit Flügeln, die wie Diamanten glitzern.
Mevana setzt sie in einen großen Kanister um, der mit feinem
Drahtgeflecht verschlossen ist, und ich glaube, wir haben sie
gerade rechtzeitig gefangen. Wir können sie ohne Schwierigkeiten
nach M’gonga schaffen. Nehmen viel Krokodilfleisch als Nahrung mit.
Es ist zweifellos zum größten Teil infiziert.
20. April Wieder in M’gonga, im Labor
beschäftigt. Habe bei Dr. Joost in Pretoria Tsetsefliegen für
Kreuzungsexperimente bestellt. Eine solche Kreuzung, falls sie
überhaupt gelingt, müßte Bastarde ergeben, die schwer zu erkennen,
dabei aber genauso tödlich wie Glossina palpaltssind. Falls das
fehlschlägt, werde ich es mit anderen Dipteren aus dem
Landesinneren versuchen;
ich habe schon zu Dr. Vanderfelde in Nyangwe
nach anderen Kongo-Typen geschickt. Werde Mevana nun doch nicht
bitten müssen, mir noch mehr infiziertes Fleisch zu besorgen, denn
ich habe festgestellt, daß ich Kulturen des Erregers Trypanosoma
gambienseaus dem Fleisch, das wir letzten Monat besorgten, in
Reagenzgläsern fast unbegrenzt am Leben erhalten kann. Wenn die
Zeit gekommen ist, werde ich frisches Fleisch infizieren und meine
geflügelten Boten damit füttern — und dann bon voyage!
18. Juni — Heute kamen meine Tsetsefliegen
von Joost. Die Käfige für die Züchtungsversuche sind schon lange
fertig, und ich bin jetzt dabei, meine Auswahl zu treffen. Habe
vor, den Lebenszyklus mit Ultraviolettstrahlen zu beschleunigen.
Die Apparatur dafür besitze ich glücklicherweise schon. Natürlich
sage ich niemandem, was ich tue. Die Unwissenheit der wenigen Leute
hier erleichtert es mir, meine Ziele geheimzuhalten und so zu tun,
als ob ich nur aus medizinischen Gründen bestehende
Arten untersuchte.
19.Juni Die Kreuzung ist fruchtbar! Gute
Eiablage letzten Mittwoch, und jetzt habe ich schon hervorragende
Larven. Falls die reifen Insekten genauso seltsam aussehen wie
diese, brauche ich nichts weiter zu tun. Ich bereite für die
verschiedenen Exemplare eigene numerierte Käfige vor.
7. Juli Die neuen Kreuzungen sind geschlüpft!
Tarnung hervorragend, was den Rumpf betrifft, aber der Glanz der
Flügel läßt immer noch an Glossina
palpaltsdenken. Der Thorax erinnert entfernt
an die Streifen der Tsetsefliege. Leichte Abwandlungen bei den
Individuen. Füttere alle mit verseuchtem Krokodilfleisch, und wenn
sich die Infektiosität entwickelt hat, werde ich die Fliegen an ein
paar Schwarzen ausprobieren — natürlich so, daß es wie zufällig
wirkt. Es gibt hier so viele leicht giftige Fliegen, daß man so
etwas ohne weiteres tun kann, ohne Verdacht zu erregen. Ich werde
eine der Fliegen in meinem dicht mit Fliegendraht
abgesicherten Speisezimmer freilassen, wenn
Batta, mein Boy, mir das Frühstück bringt, und mich selber
vorsehen. Wenn sie ihre Arbeit getan hat, werde ich sie einfangen
oder erschlagen, was bei der Dummheit dieser Tiere kein Kunststück
sein dürfte oder sie mit Chlorgas vergiften. Falls es das erstemal
nicht klappt, werde ich es so oft probieren, bis ich Erfolg habe.
Natürlich halte ich das Tryparsamid bereit, für den Fall, daß ich
selber gestochen werde aber ich werde aufpassen, daß das nicht
passiert, denn ein absolut sicheres Mittel gibt es nicht.
10. Aug. Infektiösität eingetreten. Konnte es
so einrichten, daß Batta gestochen wurde. Fing die Fliege, als sie
noch auf seiner Haut saß, und setzte sie wieder in ihren Käfig. Gab
ihm Jod zur Schmerzlinderung, der arme Teufel ist mir auch noch
dankbar dafür. Werde morgen eine der Varianten auf Gamba ansetzen,
den Boten des Faktoreileiters. Weitere Tests wage ich hier nicht zu
unternehmen, aber sollten doch noch weitere Versuche erforderlich
sein, werde ich einige Exemplare nach Ukala bringen und dort die
zusätzlichen Daten ermitteln.
n. Aug. Gamba nicht gestochen, konnte aber
die Fliege lebend wieder einfangen. Batta scheint immer noch
wohlauf und hat keine Schmerzen am Rücken, wo er gestochen wurde.
Werde etwas Zeit verstreichen lassen, bevor ich es noch einmal mit
Gamba probiere.
14. Aug. Insekten-Sendung von Vanderfelde
endlich eingetroffen. Nicht weniger als sieben verschiedene Arten,
einige davon mehr oder weniger giftig. Füttere sie gut, für den
Fall, daß Kreuzung mit Tsetsefliege nicht funktioniert. Manche
dieser Tierchen sehen ganz anders aus als Glossina palpalts,aber
das Problem ist, daß fruchtbare Kreuzungen mit diesen Arten
vielleicht nicht möglich sind.
17. Aug. Habe Gamba an diesem Nachmittag
erwischt, mußte aber die Fliege auf ihm totschlagen. Sie stach ihn
in die linke Schulter. Habe den Stich versorgt, und Gamba ist
genauso dankbar wie Batta. Battas Zustand immer noch
unverändert.
2.0. Aug. Keine Veränderung bei Gamba, auch
bei Batta nicht. Experimentiere mit einer neuen Art von Tarnung, um
die Hybridisierung zu ergänzen ein Farbstoff, mit dem sich der
verräterische Glanz der Flügel verändern läßt. Ein bläulicher
Schimmer wäre am besten; könnte vielleicht eine ganze Partie
Insekten damit einsprühen. Werde mit Preußischblau und
Turnbullsblau experimentieren.
25. Aug. Batta klagte heute über Schmerzen am
Rücken; vielleicht kommen die Dinge jetzt in Gang.
3. Sept. Bin mit meinen Experimenten ein
gutes Stück vorangekommen. Batta zeigt Anzeichen von Lethargie und
sagt, der Rücken tue ihm ständig weh. Gamba hat ein unangenehmes
Gefühl in der Schulter, in die er gestochen wurde.
24. Sept. Battas Zustand verschlechtert sich
zusehends. Er macht sich Sorgen wegen des Insektenstichs. Er meint,
es müsse eine Teufelsfliege gewesen sein, und beschwor mich, sie zu
töten denn er sah, wie ich sie in den Käfig tat -, bis ich vorgab,
sie sei längst eingegangen. Er meinte, er wolle nicht, daß seine
Seele nach seinem Tod in die Fliege übergehe. Ich gab ihm
Injektionen von destilliertem Wasser, um ihn bei Laune zu halten.
Die Fliege besitzt offenbar alle Eigenschaften von Glossina
palpalis.Gamba ist ebenfalls schwach und zeigt die gleichen
Symptome wie Batta. Vielleicht probiere ich bei ihm das Tryparsamid
aus, denn daß der Stich wirkt, ist schon hinreichend bewiesen. Bei
Batta werde ich jedoch nicht eingreifen, denn ich möchte eine
ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie lange es dauert, bis ein
gestochener Mensch stirbt.
Die Experimente mit der Färbung entwickeln
sich gut. Ein isomere Form von Ferroferrizyanid mit einer
Beimischung von Kalisalz kann in Alkohol gelöst und mit
verblüffender Wirkung auf die Insekten gesprüht werden. Es färbt
die Flügel blau, ohne den dunklen Thorax nennenswert zu verändern,
und geht nicht mehr ab, wenn die Exemplare mit Wasser besprüht
werden. Mit dieser Tarnung werde ich wahrscheinlich die vorhandenen
Tse-tse-Kreuzungen verwenden können, so daß ich mich nicht mit
weiteren Experimenten aufzuhalten brauche. Mag er auch noch so
schlau sein, eine blauflügelige Fliege mit einem an Tsetsefliegen
erinnernden Thorax wird er nicht erkennen. Diese ganze Färberei muß
ich natürlich strikt geheim halten. Ich darf hinterher auf keine
Weise mit den blauen Fliegen in Verbindung gebracht
werden.
9. Okt. Batta ist lethargisch und liegt den
ganzen Tag auf seinem Bett. Habe Gamba zwei Wochen lang Tryparsamid
verabreicht und glaube, er wird sich erholen.
25. Okt. — Batta geht es sehr schlecht, aber
Gamba hat sich fast erholt.
18. Nov. Batta ist gestern gestorben, und es
passierte etwas Seltsames, was mich angesichts der
Eingeborenen-Legenden und Battas eigener Ängste schaudern ließ. Als
ich nach seinem Ableben ins Labor kam, hörte ich in Käfig 12., der
die Fliege, die Batta gestochen hat, enthielt, ein höchst
ungewöhnliches Summen. Das Insekt war wie tollwütig, wurde aber
völlig ruhig, als ich auftauchte, setzte sich auf das Drahtgeflecht
und sah mich auf die kurioseste Art an. Es streckte sogar die Beine
durch den Draht. Als ich vom Abendessen mit Allen zurückkam, war
die Fliege tot. Offenbar war sie wild geworden und hatte sich an
den Seiten des Käfigs zu Tode gestoßen.
Es ist wirklich merkwürdig, daß dies
ausgerechnet passierte, als Batta starb. Wenn dies einer der
Schwarzen gesehen hätte, hätte er es sofort mit dem Übergang der
Seele des armen Teufels auf die Fliege erklärt. Ich werde jetzt in
naher Zukunft meine blaugefärbten Hybriden auf den Weg bringen. Die
Bastarde sind offenbar noch etwas giftiger als die reinen Exemplare
von Glossina palpalis.Batta starb drei Monate und acht Tage nach
der Infektion, aber es gibt natürlich immer einen großen
Unsicherheitsfaktor. Ich wünschte mir fast, ich hätte auch bei
Gamba nicht eingegriffen.
5. Dez. Damit beschäftigt, mir zu überlegen,
wie ich meine Boten zu Moore schaffen kann. Es muß so aussehen, als
ob sie von irgendeinem Entomologen kämen, der sein Dipteren
Zentralund Südafrikasgelesen hat und der Meinung ist, Moore werde
Interesse daran haben, diese »neue und nicht identifizierbare
Spezies« zu untersuchen. Außerdem muß glaubhaft gemacht werden, daß
die blauflügelige Fliege harmlos ist, beispielsweise durch einen
Hinweis auf lange Erfahrungen der Eingeborenen. Moore wird dann
keinen Verdacht schöpfen, und eine der Fliegen wird ihn früher oder
später mit Sicherheit erwischen, wenn auch nicht abzusehen ist,
wann das genau sein wird.
Ob ich Erfolg habe, werde ich nur aus den
Briefen meiner New Yorker Freunde erfahren, die mir immer noch von
Zeit zu Zeit über Moore berichten, obwohl die Zeitungen sicher
seinen Tod melden werden. Vor allem darf ich kein Interesse an
seinem Fall zeigen. Ich werde verreisen und die Fliegen unterwegs
aufgeben, darf dabei aber nicht erkannt werden. Es wird am besten
sein, wenn ich einen langen Urlaub mache, ins Landesinnere fahre,
mir einen Bart wachsen lasse, das Päckchen in Ukala absende und
mich dabei als Entomologe auf der Durchreise ausgebe, mir dann den
Bart wieder abnehme und hierher zurückkehre.
15. April 19 30 Nach langer Reise wieder in
M’gonga. Alles ist nach Plan gelaufen, mit der Präzision eines
Uhrwerks. Habe die Fliegen an Moore abgeschickt, ohne die geringste
Spur zu hinterlassen. Nahm am 15. Dezember Weihnachtsurlaub und
machte mich sofort mit allem nötigen auf den Weg. Hatte mir einen
guten Versandbehälter gebastelt, in dem auch Platz für etwas
verseuchtes Krokodilfleisch als Nahrung für die Todesbringer Platz
hatte. Ende Februar war mein Bart so weit, daß ich kaum noch zu
erkennen war.
Tauchte am 9. März in Ukala auf und schrieb
im Büro der Handelsniederlassung mit der Maschine einen Brief an
Moore. Unterschrieb mit »Nevil WayIand-Hall« angeblich ein
Entomologe aus London. Glaube, genau den richtigen Ton getroffen zu
haben Interesse eines Fachkollegen und all dies. Erwähnte ganz
nebenbei, daß die Exemplare »absolut harmlos« seien. Niemand
schöpfte den geringsten Verdacht. Nahm mir den Bart ab, sobald ich
wieder im Busch war, um bei der Rückkehr hierher nicht unregelmäßig
gebräunt zu sein. Verzichtete auf einer kurzen Sumpfstrecke auf
eingeborene Träger ich kann ungeheuer viel in einem Rucksack
unterbringen, und mein Orientierungssinn ist hervorragend. Gut, daß
ich diese Art des Reisens gewöhnt bin. Erklärte meine zu lange
Abwesenheit mit einem Fieberanfall und damit, daß ich mich einmal
im Busch verlaufen hätte.
Aber jetzt kommt der psychologisch
schwierigste Teil ich muß auf Neuigkeiten über Moore warten, ohne
mir etwas anmerken zu lassen. Es besteht natürlich die Möglichkeit,
daß er erst gestochen wird, wenn das Gift nicht mehr wirksam ist,
aber bei seiner Unvorsichtigkeit stehen die Chancen hundert zu eins
gegen ihn. Ich bereue nichts; nach dem, was er mir angetan hat,
verdient er das und noch mehr. 30. Juni 1930 — Hurra! Der erste
Schritt hat geklappt! Erfuhr soeben von Dyson an der Columbia
University, daß Moore unbekannte blauflügelige Fliegen aus Afrika
zugeschickt bekommen hat und vor einem Rätsel steht. Kein Wort
davon, daß er gestochen worden wäre, aber ich kenne Moores
schlampige Arbeitsweise und bin sicher, daß es in nächster Zukunft
passieren wird!
27. Aug. 1930 Brief von Marton in Cambridge.
Er berichtet, Moore fühle sich sehr abgeschlagen und erzähle von
einem Insektenstich im Nacken von einer rätselhaften neuen Art, die
er etwa Mitte Juni bekommen hätte. Habe ich Erfolg gehabt? Moore
stellt offenbar keine Verbindung zwischen dem Stich und seiner
Schwäche her. Falls er wirklich von einer meiner Fliegen gestochen
wurde, dann war diese noch infektiös.
12. Sept. 1930 Sieg! Dyson berichtet in
seinem letzten Brief, daß Moore in beklagenswertem Zustand ist. Er
führt seine Krankheit jetzt auf den Stich zurück, den er am 19.
Juni gegen Mittag bekam, und rätselt immer noch, um welche
Insektenart es sich handelt. Versucht fieberhaft, mit einem »Nevil
Wayiand-Hall« Verbindung aufzunehmen, der ihm die Fliegen geschickt
hat. Von den rund hundert, die ich abgeschickt hatte, haben ihn
offenbar ungefähr 75 lebend erreicht. Einige entkamen, als er
gestochen wurde, aber aus einigen Eiern, die seit der Absendung
gelegt wurden, sind Larven geworden. Diese Larven, so berichtet
Dyson, läßt Moore jetzt ausbrüten. Wenn die Fliegen ausschlüpfen,
wird er die Kreuzung zwischen Tsetse und Palpalis wahrscheinlich
identifizieren — aber das wird ihm dann auch nichts mehr helfen.
Allerdings wird er sich fragen, warum die blauen Flügel nicht
vererbt werden!
8. Nov. 1930 Aus Briefen von mehreren
Freunden erfahre ich, daß Moore ernstlich erkrankt ist. Heute kam
einer von Dyson. Er schreibt, Moore sei absolut ratlos wegen der
Hybriden, die aus den Larven ausgeschlüpft sind, und sei inzwischen
zu der Vermutung gekommen, daß die Elterntiere ihre blauen Flügel
auf irgendeine künstliche Weise bekommen haben. Er müsse jetzt fast
ständig das Bett hüten. Von Tryparsamid keine Rede.
13. Febr. 1931 Schlechte Nachrichten. Moore
geht es immer schlechter, und er weiß offenbar kein Gegenmittel,
aber ich glaube, daß er jemanden in Verdacht hat. Letzten Monat
bekam ich einen sehr kühlen Brief von Morton, in dem nichts mehr
über Moore stand; und jetzt schreibt Dyson ebenfalls ziemlich
reserviert Moore habe so seine Theorien über die ganze Geschichte.
Er zieht überall telegraphisch Erkundigungen über einen
»Wayland-Hall« ein in London, Ukala, Nairobi, Mombasa und anderen
Städten natürlich ohne Erfolg. Ich nehme an, er hat Dyson gesagt,
wen er im Verdacht hat, aber Dyson glaubt ihm noch nicht. Fürchte
jedoch, daß Morton ihm glaubt.
Ich werde mir überlegen müssen, wie ich mich
hier absetzen und meine Identität für immer verwischen kann. Was
für ein Ende für eine Karriere, die so vielversprechend begann!
Auch das ist Moores Werk aber diesmal muß er im voraus dafür
bezahlen! Ich werde wohl nach Südafrika gehen und unterdessen schon
in aller Stille Gelder auf den Namen meines neuen Selbst deponieren
»Frederick Nasmyth Mason aus Toronto, Kanada, Makler für
Bergbaugesellschaften«. Werde zur Identifikation eine neue
Unterschrift einüben. Falls sich das ganze als unnötig erweist,
kann ich mir die Gelder ja jederzeit zurücküberweisen
lassen.
15. Aug. 1931 Ein halbes Jahr ist vergangen,
und die Spannung läßt immer noch nicht nach. Dyson und Morton
ebenso wie mehrere andere Bekannte schreiben mir anscheinend
überhaupt nicht mehr. Dr. James aus San Francisco hört ab und zu
etwas von Moores Freunden und schreibt, Moore liege fast ständig im
Koma. Er kann seit Mai nicht mehr gehen. Solange er noch sprechen
konnte, klagte er ständig darüber, daß ihm kalt sei. Jetzt kann er
auch nicht mehr sprechen, obwohl man annimmt, daß er ab und zu noch
halb zum Bewußtsein kommt. Seine Atmung ist kurz und schnell und
auch in einigem Abstand noch zu hören. Es besteht kein Zweifel, daß
Trypanosoma gambiensesich von ihm ernährt aber er hält sich besser
als die Nigger hier. Batta war nach drei Monaten und acht Tagen
erledigt, und Moore lebt immer noch, obwohl er schon vor über einem
Jahr gestochen wurde. Hörte letzten Monat Gerüchte über eine
intensive Suche in der Umgebung von Ukala nach einem
»Wayland-Hall«. Brauche mir aber wahrscheinlich keine Sorgen zu
machen, denn es gibt absolut nichts, was mich mit dieser Geschichte
in Verbindung bringen könnte.
7. Okt. 1931 Es ist zu Ende! Meldung in der
Mombasa Gazette.Moore starb am 10.September nach einer Reihe von
Zitteranfällen und mit starker Untertemperatur. Das wäre erledigt !
Ich hatte mir geschworen, ihn zu vernichten, und ich habe es getan.
Die Zeitung brachte einen dreispaltigen Bericht über seine lange
Krankheit und seinen Tod sowie die ergebnislose Suche nach einem
»Wayland-Hall«. Offenbar war Moore eine prominentere Figur in
Afrika, als ich mir vorgestellt hatte. Das Insekt, das ihn
gestochen hat, wurde jetzt anhand der überlebenden Exemplare
einwandfrei identifiziert, und auch die künstliche Flügelfärbung
wurde aufgedeckt. Es gilt als gesichert, daß die Fliegen mit
Tötungsabsicht präpariert und verschickt wurden. Moore, so scheint
es, teilte Dyson mit, welchen Verdacht er hatte, doch dieser hält
genau wie die Polizei still, weil es keine Beweise gibt. Alle
Feinde von Moore werden überprüft, und Associated Press kündigte
eine Untersuchung an, »in die möglicherweise ein prominenter Arzt
einbezogen wird, der sich zur Zeit im Ausland aufhält«!
Ein Hinweis ganz am Schluß des Berichts —
zweifellos reines Fabulieren eines Sensarionsjournalisten jagt mir
angesichts der Legenden der Schwarzen und der Art, wie die Fliege
wild wurde, als Batta starb, einen Schauder über den Rücken. Es
scheint, daß in der Nacht von Moores Tod etwas Seltsames passierte;
Dyson wurde vom Summen einer blauflügeligen Fliege geweckt, die
dann sofort zum Fenster hinausflog, unmittelbar bevor die
Krankenschwester aus Moores meilenweit entfernter Wohnung in
Brooklyn anrief und ihm vom Tod seines Freundes berichtete. Was
mich jedoch am meisten beschäftigt, ist die afrikanische Seite der
Geschichte. Einige Leute erinnern sich an den bärtigen Fremden, der
den Brief tippte und das Päckchen abschickte, und die Polizei
durchkämmt das Land nach Eingeborenen, die ihn vielleicht durch den
Busch getragen haben. Ich habe zwar nur wenige gebraucht, aber
falls die Polizisten die Ubandes verhören, die mich durch den
N’Kini-Dschungel trugen, werde ich mehr erklären müssen, als mir
lieb wäre. Es sieht aus, als sei für mich der Zeitpunkt gekommen,
von der Bildfläche zu verschwinden;
morgen werde ich wahrscheinlich meine
Kündigung einreichen und alle
Vorbereitungen treffen, um mit unbekanntem
Ziel zu verreisen, sobald die Kündigung wirksam wird.
9. Nov. 1931 Es hat Schwierigkeiten mit
meiner Kündigung gegeben, aber jetzt bin ich frei. Ich wollte mich
nicht bei Nacht und Nebel davonmachen, um nicht noch zusätzlich
Verdacht auf mich zu lenken. Letzte Woche berichtete mir James über
Moores Tod, aber auch nicht mehr als in den Zeitungen stand. Seine
Bekannten in New York sind offenbar sehr zurückhaltend mit Details,
obwohl sie alle von einer gründlichen Untersuchung sprechen. Von
meinen Freunden im Osten habe ich nichts mehr gehört. Moore muß
einen gefährlichen Verdacht geäußert haben, bevor er endgültig in
Bewußtlosigkeit sank, aber sicherlich hat er nicht den geringsten
Beweis gehabt.
Trotzdem werde ich keinerlei Risiko eingehen.
Am Donnerstag breche ich nach Mombasa auf, und von dort aus fahre
ich mit dem Dampfer die Küste hinunter nach Durban. Von da an werde
ich mich unsichtbar machen, schon bald jedoch als der Makler
Frederick Nasmyth Mason aus Toronto in Johannesburg auftauchen.
Damit geht mein Tagebuch zu Ende. Sollte ich doch nicht in Verdacht
geraten, wird es nach meinem Tode seinen ursprünglichen Zweck
erfüllen und der Welt mitteilen, was sonst unbekannt bleiben müßte.
Sollte sich dagegen der Verdacht doch erhärten und bestehen
bleiben, wird es die vagen Anschuldigungen bestätigen und
verwirrende Lücken in der Beweiskette schließen. Falls mir
irgendwie Gefahr droht, werde ich es natürlich vernichten
müssen.
Nun, Moore ist tot, er hat es verdient, jetzt
ist auch Dr. Thomas Slauenwite tot. Und wenn der Körper, der einst
Thomas Slauenwite gehörte, tot ist, soll die Öffentlichkeit diese
Aufzeichnungen erhalten.
15. Jan. 1932. Ein neues Jahr und die
widerstrebende Fortsetzung dieses Tagebuchs. Diesmal schreibe ich
ausschließlich, um mich zu erleichtern, denn es wäre absurd zu
glauben, der Fall sei nicht endgültig abgeschlossen. Ich wohne
unter meinem neuen Namen im Vaal Hotel in Johannesburg, und bislang
hat noch niemand meine Identität in Zweifel gezogen. Ich habe hin
und wieder unverbindliche Gespräche mit Geschäftsleuten geführt, um
meiner Rolle als Makler gerecht zu werden, und glaube, es wird mir
tatsächlich gelingen, in dieser Branche Fuß zu fassen. Später werde
ich nach Toronto fahren und ein paar Beweise für meine fiktive
Vergangenheit schaffen.
Was mich jedoch beunruhigt, ist ein Insekt,
das heute gegen Mittag in mein Zimmer eindrang. Wie angesichts
meiner Nervenbelastung nicht anders zu erwarten, habe ich natürlich
in letzter Zeit alle möglichen Alpträume über blaue Fliegen gehabt.
Dieses Ding war jedoch nur allzu real, und ich habe absolut keine
vernünftige Erklärung dafür. Das Insekt summte eine volle
Viertelstunde um mein Bücherregal und entzog sich jedem Versuch, es
zu fangen oder zu töten. Das Seltsamste war seine Farbe und sein
Aussehen es hatte nämlich blaue Flügel und war in jeder Hinsicht
das genaue Abbild meiner künstlich gezüchteten kleinen
Todesbringer. Ich kann mir jedoch überhaupt nicht vorstellen, daß
es sich wirklich um eines dieser Insekten handelte. Ich habe alle
gefärbten und ungefärbten Hybriden, die ich nicht an Moore
schickte, beseitigt, und kann mich nicht erinnern, daß eines
entkommen wäre. Kann es sich bei der ganzen Geschichte um eine
Halluzination handeln? Oder ist es denkbar, daß eines der
Exemplare, die in Brooklyn entkamen, als Moore gestochen wurde, den
Weg nach Afrika zurückgefunden hat? Es gab da ja diese groteske
Geschichte von der blauen Fliege, die Dyson weckte, als Moore starb
und wenn man es genau bedenkt, ist es natürlich nicht absolut
unmöglich, daß einige der Insekten überlebten und auf irgendeine
Weise wieder nach Afrika gelangten. Es ist auch durchaus möglich,
daß die blaue Flügelfarbe sich erhalten hat, denn die Färbung war
fast so dauerhaft wie eine Tätowierung. Das wäre jedenfalls die
einzige rationale Erklärung für diesen Vorfall, obwohl es schon
sehr kurios wäre, daß sich das Insekt so weit nach Süden verirrt
haben könnte. Es könnte sich jedoch um irgendeinen erblichen
Heimkehrinstinkt der Tsetse-Erbanlage handeln. Schließlich ist die
Kreuzung von dieser Seite her in Südafrika beheimatet.
Ich muß aufpassen, daß ich nicht gestochen
werde. Natürlich ist das ursprüngliche Gift falls es sich denn
wirklich um eine der Fliegen handelt, die Moore entkommen sind
schon längst unwirksam geworden, aber das Insekt muß sich ja auch
auf dem Rückflug nach Afrika irgendwie ernährt haben, und wenn es
dabei durch
Zentralafrika gekommen ist, kann es sich
durchaus neu infiziert haben. Das ist sogar sehr wahrscheinlich,
denn der Teil seiner Erbanlagen, der von Glossina palpaltsstammt,
würde es natürlich nach Uganda mit all seinen
Schlafkrankheitserregern zurückführen. Ich
habe noch etwas Tryparsamid ich brachte es nicht über mich, meinen
Arzneikoffer zu vernichten, mag er auch noch so verräterisch sein
-, aber seit ich mehr über das Thema gelesen habe, bin ich mir der
Wirkung der Droge nicht mehr so sicher. Sie gibt einem eine Chance,
sich gegen die Krankheit zu wehren, und hat mit Sicherheit Gamba
gerettet, aber die Aussichten sind insgesamt sehr gering.
Absolut seltsam ist es, daß diese Fliege
angesichts dieser unendlichen Weite Afrikas ausgerechnet in mein
Zimmer geflogen sein soll! An einen Zufall kann man dabei kaum noch
denken. Falls sie wiederkommt, werde ich sie ganz bestimmt töten.
Ich wundere mich immer noch, daß sie mir heute entkommen konnte,
denn
normalerweise sind diese Biester
außerordentlich dumm und leicht zu fangen. War es vielleicht doch
nur eine Illusion ? Die Hitze macht mir in letzter Zeit mehr zu
schaffen als je zuvor — noch mehr als seinerzeit oben in
Uganda.
16. Jan. Verliere ich den Verstand? Die
Fliege kam heute mittag wieder und zeigte ein so ungewöhnliches
Verhalten, daß ich mir keinen Reim darauf machen kann. Die einzige
Erklärung ist, daß ich das Opfer von Wahnvorstellungen bin. Das
Insekt tauchte aus dem Nichts auf und flog geradewegs zu meinem
Bücherregal, wo es immer wieder vor einem Exemplar von Moores
Dipteren Zentralund
Südafrikaskreiste. Hin und wieder ließ es
sich auf der Oberkante oder dem Rücken des Bandes nieder, und
gelegentlich kam es auf mich zugeschossen, zog sich aber jedesmal
wieder zurück, bevor ich mit einer zusammengefalteten Zeitung nach
ihm schlagen konnte. Derart schlaues Verhalten ist bei den
notorisch dummen afrikanischen Dipteren völlig unbekannt. Fast eine
halbe Stunde lang versuchte ich, das verdammte Ding zu erwischen,
aber schließlich entkam es doch durch ein Loch in dem Fliegengitter
am Fenster, das mir nicht aufgefallen war. Manchmal hatte ich fast
den Eindruck, daß es sich über mich lustig machen wollte, indem es
sich in die Reichweite meiner Waffe begab und dann behende auswich,
als ich zuschlug. Ich muß achtgeben, daß ich den Verstand nicht
verliere.
17. Jan. Entweder ich bin verrückt, oder die
Gesetze der Wahrscheinlichkeit, wie wir sie kennen, sind auf dieser
Welt außer Kraft gesetzt. Diese verfluchte Fliege kam kurz vor
Mittag von irgendwoher ins Zimmer geflogen und umsummte abermals
das Exemplar von Moores Dipterenin meinem Bücherregal. Wieder
versuchte ich, sie zu fangen, und wieder erging es mir nicht anders
als gestern. Schließlich flog das widerwärtige Insekt zu dem
offenen Tintenfaß auf meinem Tisch und tauchte sich ein nur die
Beine und den Thorax, nicht jedoch die Flügel. Dann flog es zur
Decke hinauf, an der es dann in einem Bogen entlangkroch, so daß es
eine Tintenspur hinterließ. Nach einer Weile vollführte es einen
kleinen Sprung und hinterließ einen einzelnen Tintenpunkt, der mit
der Spur nicht zusammenhing;
dann ließ es sich direkt vor meinem Gesicht
herabfallen und summte davon, bevor ich es fangen konnte.
Die ganze Geschichte kam mir monströs und
unheimlich vor, obwohl ich mir selbst nicht erklären kann, warum.
Als ich die Tintenspur an der Decke aus verschiedenen
Blickrichtungen betrachtete, kam sie mir immer bekannter vor, und
dann dämmerte es mir plötzlich, daß sie ein perfektes Fragezeichen
darstellte. Kann man sich ein Zeichen denken, das auf bösartigere
Weise zu der Situation gepaßt hätte ? Es ist ein Wunder, daß ich
nicht in Ohnmacht fiel. Die Hotelangestellten haben es bis jetzt
noch nicht bemerkt. Ich habe am Nachmittag und am Abend die Fliege
nicht gesehen, habe jedoch mein Tintenfaß zugeschraubt. Ich glaube,
die Untat, die ich an Moore begangen habe, rächt sich jetzt und
erregt mir makabre Halluzinationen. Vielleicht gibt es diese Fliege
überhaupt nicht.
18. Jan. In welche Hölle eines Wirklichkeit
gewordenen Alptraums bin ich gestürzt! Was heute geschah ist etwas,
was normalerweise nicht geschehen könnte und doch hat auch ein
Hotelangestellter die Zeichen an der Decke gesehen und mir
bestätigt, daß sie wirklich da sind.Als ich heute vormittag gegen
elf an einem Manuskript arbeitete, sah ich etwas blitzschnell in
meinem Tintenfaß verschwinden und wieder herauskommen, bevor ich
nachsehen konnte, was es war. Als ich aufschaute, sah ich diese
teuflische Fliege wieder an der Decke entlangkriechen und gewundene
Tintenspuren hinterlassen. Ich konnte nichts dagegen tun, faltete
aber eine Zeitung, um die Kreatur zu erschlagen, falls sie sich
nahe genug heranwagen sollte. Als sie mehrere Bögen an die Decke
gemalt hatte, flog sie in eine dunkle Ecke und verschwand, und als
ich zu der nun noch mehr verunstalteten weißen Fläche aufschaute,
sah ich, daß die neue Tintenspur unverkennbar eine riesige Ziffer 5
bildete!
Eine Zeitlang war ich fast bewußtlos von
einer Welle namenlosen Entsetzens, die ich mir nicht restlos
erklären konnte. Dann nahm ich all meine Entschlußkraft zusammen
und wurde aktiv. Ich ging in eine Apotheke und kaufte mir etwas
Klebstoff und andere Dinge, die man zur Herstellung einer klebrigen
Falle braucht; außerdem beschaffte ich mir ein zweites Tintenfaß.
In mein Zimmer zurückgekehrt, füllte ich mein neues Tintenfaß mit
der klebrigen Flüssigkeit, stellte es an die Stelle, wo das alte
gestanden hatte, und ließ es offen. Dann versuchte ich mich auf ein
Buch zu konzentrieren. Ungefähr um drei Uhr hörte ich das
verfluchte Insekt wieder und sah, wie es das neue Tintenfaß
umkreiste. Es schwebte bis dicht über die klebrige Oberfläche
herab, berührte diese aber nicht und schoß dann in gerader Linie
auf mich zu, zog sich aber wieder zurück, bevor ich nach ihm
schlagen konnte. Dann flog es zum Bücherregal hinüber und umkreiste
Moores Abhandlung. Es ist zutiefst beunruhigend und diabolisch, wie
es den Eindringling immer wieder zu diesem Buch zieht.
Das Schlimmste kam am Schluß. Das Insekt
löste sich von Moores Buch, flog hinüber zum offenen Fenster und
begann, rhythmisch gegen das Drahtgeflecht zu fliegen. Es prallte
mehrmals kurz hintereinander dagegen, machte dann eine Pause,
prallte wieder mehrmals dagegen usw. Eine Zeitlang verfolgte ich
wie gebannt dieses Schauspiel, doch dann ging ich zum Fenster
hinüber, um das widerwärtige Ding endlich totzuschlagen, aber ich
hatte wieder kein Glück. Das Ding flog einfach quer durchs Zimmer
zu einer Lampe und begann auf dem steifen Lampenschirm den gleichen
Rhythmus zu trommeln. Ich war der Verzweiflung nahe und ging daran,
alle Türen und auch das Fenster zu schließen, in dessen
Fliegengitter das unsichtbare Loch war. Es schien mir unerläßlich,
dieses hartnäckige Wesen zu töten, dessen Verfolgung mich dem
Wahnsinn nahebrachte. Das Trommeln ging immer noch weiter, und ich
hatte wohl unbewußt mitgezählt, denn plötzlich fiel mir auf, daß
jede der Serien genau /««/Schläge enthielt.
Fünf die gleiche Zahl, die das Insekt heute
vormittag mit Tinte an die Decke geschrieben hatte. Konnte da
irgendein Zusammenhang bestehen? Ein wahnsinniger Gedanke, denn das
hätte bedeutet, daß die Fliege mit menschlichem Verstand und der
Kenntnis geschriebener Ziffern begabt gewesen wäre. Ein
menschlicher Verstand erinnerte das nicht an die primitivsten
Legenden der Schwarzen in Uganda? Aber da war ja auch noch diese
teuflische Geschicklichkeit im Ausweichen vor meinen Schlägen, die
im auffälligen Gegensatz zu der sonst unverkennbaren Dummheit
dieser Insekten stand. Während ich meine zusammengefaltete Zeitung
weglegte und mich mit wachsendem Grauen hinsetzte, schwirrte das
Insekt zur Decke hinauf und verschwand durch ein Loch an der
Stelle, wo das Heizungsrohr in das Zimmer über mir
führte.
Das Verschwinden der Fliege beruhigte mich
nicht, denn ich zermarterte mir mit den abenteuerlichsten
Spekulationen das Gehirn. Wenn diese Fliege tatsächlich mit
menschlicher Intelligenz begabt war, woher kam dann diese
Intelligenz? War etwa doch etwas Wahres an den Vorstellungen der
Eingeborenen, daß diese Kreaturen die Persönlichkeit ihrer Opfer in
sich aufnehmen, nachdem diese gestorben sind? Und falls dem so war,
wessen Persönlichkeit hatte dann diese Fliege? Ich war schon zu dem
Schluß gekommen, daß es sich um eines der Exemplare handeln mußte,
die Moore an dem Tag entkommen waren, an dem er gestochen wurde.
War dies der Todesbote, der Moore gestochen hatte? Wenn ja, was
wollte das Insekt von mir?Was wollte es überhaupt von mir? Der
kalte Schweiß brach mir aus, als mir einfiel, wie sich die Fliege,
die Batta gebissen hatte, nach Battas Tod verhalten hatte. War ihre
eigene Persönlichkeit durch die ihres toten Opfers ersetzt worden?
Und dann war da diese sensationelle Meldung von der Fliege gewesen,
die angeblich Dyson geweckt hatte, als Moore starb. Und was die
Fliege betraf, die mich so hartnäckig quälte war es möglich, daß
sie von einer rachelüsternen menschlichen Persönlichkeit
angetrieben wurde ? Wie sie immer um Moores Buch herumsummte!
Weiter wagte ich nicht zu denken. Ganz plötzlich bildete sich in
mir die Gewißheit, daß dieses Insekt tatsächlich infiziert war, und
zwar auf die virulenteste Weise. Angesichts der bösartigen
Vorsätzlichkeit, die aus all seinen Bewegungen sprach, mußte es
sich sicherlich in voller Absicht mit den tödlichsten Bazillen ganz
Afrikas aufgeladen haben. Mein Verstand war inzwischen so
zerrüttet, daß ich die menschlichen Eigenschaften des Insekts für
selbstverständlich ansah.
Ich rief bei der Rezeption an und bat, mir
einen Handwerker zu schicken, der das Loch an dem Heizungsrohr und
eventuelle weitere Fugen und Ritzen in meinem Raum verschließen
würde. Ich sagte, ich hätte unter einer Fliegenplage zu leiden, und
der Mann zeigte sich sehr verständnisvoll. Als der Handwerker kam,
zeigte ich ihm die Tintenspuren an der Decke, die er sofort sah.
Sie waren also tatsächlich vorhanden! Die Ähnlichkeit mit einem
Fragezeichen und der Ziffer fünf faszinierte ihn so, daß er immer
wieder den Kopf schüttelte. Er verstopfte schließlich alle Löcher,
die er finden konnte, und flickte das Fliegengitter am Fenster, so
daß ich jetzt beide Fenster offen lassen kann. Offensichtlich hielt
er mich für etwas exzentrisch, zumal da kein Insekt aufgetaucht
war, seit er im Zimmer war. Aber so etwas ist mir längst
gleichgültig geworden. Bis jetzt ist die Fliege heute abend nicht
wieder aufgetaucht. Der Himmel weiß, was sie ist, was sie will und
was aus mir werden wird!
19. Jan. Ich weiß vor Entsetzen nicht mehr
ein noch aus. Das Ding hat mich berührt.Irgend etwas Monströses,
Dämonisches ist hier am Werk, und ich bin das hilflose Opfer. Als
ich am Vormittag vom Frühstück zurückkam, strich dieser geflügelte
Sendbote der Hölle über meinen Kopf hinweg ins Zimmer und fing wie
gestern wieder an, gegen den Fliegendraht anzurennen. Diesmal waren
es jedoch jeweils nur vierSchläge in einer Reihe. Ich rannte ans
Fenster und versuchte, das Insekt zu fangen, aber es entkam mir
wieder und flog hinüber zu Moores Buch, das es wie zum Spott
umsummte. Seine Fähigkeiten zu stimmlichem Ausdruck sind begrenzt,
aber ich merkte, daß es immer vier kurze Summtöne hintereinander
von sich gab.
Ich war inzwischen endgültig wahnsinnig
geworden, denn ich schrie es an: »Moore, Moore, um Gottes willen,
was willst du von mir?«Daraufhin hörte die Kreatur zu kreisen auf,
kam auf mich zugeflogen und vollführte in der Luft einen tiefen,
eleganten Bogen nach unten, der irgendwie an eine Verbeugung
erinnerte. Dann flog sie zu dem Buch zurück. Dies alles glaubte ich
jedenfalls wahrzunehmen, doch ich kann meinen eigenen Sinnen nicht
mehr trauen.
Und dann kam das Schlimmste. Ich hatte meine
Tür offengelassen, in der Hoffnung, das Monster würde
hinausfliegen, wenn ich es schon nicht fangen konnte, aber gegen
halb zwölf schloß ich die Tür, in der Annahme, es sei nicht mehr im
Zimmer. Dann setzte ich mich hin, um zu lesen. Es war genau Mittag,
als ich ein Kitzeln im Nacken verspürte, doch als ich hinlangte,
war nichts da. Einen Moment später spürte ich erneut das Kitzeln,
und ehe ich eine Bewegung machen konnte, kam diese Ausgeburt der
Hölle von hinten angeflogen, vollführte erneut die spöttische,
elegante
Verbeugung in der Luft und flog durchs
Schlüsselloch hinaus von dem ich mir nicht hätte träumen lassen,
daß es dafür groß genug war.
Das Ding hatte mich berührt, daran konnte
kein Zweifel sein. Es hatte mich berührt, ohne mich zu verletzen,
und dann fiel mir siedend heiß ein, daß Moore mittags in den Nacken
gestochen worden war.Seither hat sich das Ding nicht wieder
gezeigt, aber ich habe alle Schlüssellöcher mit Papier verstopft
und werde eine zusammengefaltete Zeitung in die Hand nehmen, so oft
ich die Tür aufmache, um das Zimmer zu verlassen oder zu
betreten.
2.0. Jan. Ich kann noch immer nicht ganz an
das Übernatürliche glauben, und doch fürchte ich, daß ich verloren
bin. Diese Geschichte ist einfach zu viel für mich. Heute kurz vor
Mittag erschien dieses Monstrum draußenvor dem Fenster und begann
wieder mit seinem Getrommel, diesmal aber mit nur jeweils drei
Schlägen. Als ich ans Fenster trat, flog es davon. Ich habe immer
noch genug Kraft in mir, um eine weitere Verteidigungsmaßnahme zu
ergreifen. Ich nahm beide Fliegengitter heraus, bestrich sie mit
dem klebrigen Zeug, das ich schon für das Tintenfaß verwendet
hatte, und setzte sie wieder ein. Wenn diese Kreatur wieder zu
trommeln anfangen will, wird ihr das zum Verhängnis
werden!
Den Rest des Tages blieb ich ungestört. Aber
werde ich das durchstehen, ohne den Verstand zu
verlieren?
21. Jan. Im Zug nach Bloemfontein.
Ich bin geschlagen. Das Ding gewinnt. Es
verfügt über eine diabolische Intelligenz, gegen die ich machtlos
bin. Es erschien heute morgen draußen vor dem Fenster, berührte
aber das klebrige Drahtgeflecht nicht.Statt dessen ging es auf
Abstand und begann, in Kreisen herumzusummen jeweils zwei
hintereinander,und dann machte es eine Pause. Nachdem es dies
mehrmals wiederholt hatte, flog es über die Dächer der Stadt davon.
Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, denn diese
Andeutungen von Zahlenlassen eine grauenhafte
Deutung zu. Am Montag war es die Zahl fünf,am Dienstag vier,am
Mittwoch drei,und heute ist die zweian der Reihe. Fünf, vier, drei,
zwei -was kann das anderes bedeuten, als ein monströses Abzählen
der Tage?Zu welchem Zweck, das können nur die bösen Mächte des
Universums wissen. Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht,
meine Koffer zu packen und aufzugeben, und jetzt habe ich den
Nachtexpreß nach Bloemfontein genommen. Flucht mag zwecklos sein,
aber was bleibt mir sonst übrig?
22. Jan. Bin im Orange Hotel in Bloemfontein
abgestiegen, einem komfortablen, tadellos geführten Haus, aber das
grausige Insekt ist mir gefolgt. Ich hatte alle Türen und Fenster
geschlossen, alle Schlüssellöcher verstopft, überall nach Fugen und
Ritzen gesucht und alle Rollos heruntergezogen, aber kurz vor
Mittag hörte ich ein dumpfes Klopfen an einem der Fliegengitter vor
dem Fenster. Ich wartete, und nach einer langen Pause kam noch ein
Klopfen. Eine zweite Pause und noch einmal ein einzelnes Klopfen.
Ich ließ das Rollo hoch und sah wie erwartet diese vermaledeite
Fliege. Sie beschrieb einen einzigen großen, langsamen Kreis in der
Luft und flog dann davon. Ich war bis ins Mark erschüttert und
mußte mich auf die Couch legen. Eins!Das war eindeutig der Inhalt
dieser letzten Botschaft des Monsters. Ein Klopfen, einKreis.
Bedeutete dies, daß mir noch einTag bis zu einem unsäglichen Ende
blieb ? Sollte ich abermals fliehen oder mich hier
verbarrikadieren, indem ich das Zimmer hermetisch
abdichtete?
Nachdem ich eine Stunde geruht hatte, fühlte
ich mich in der Lage, etwas zu unternehmen, und bestellte einen
großen Vorrat an Konservendosen und
abgepackten Lebensmitteln, außerdem
Bettwäsche und Handtücher. Morgen werde ich unter keinen Umständen
irgendeine Tür oder ein Fenster öffnen. Der Schwarze, der die
Lebensmittel und die Wäsche brachte, warf mir einen sonderbaren
Blick zu, aber es ist mir längst gleichgültig, wie exzentrisch oder
wahnsinnig ich anderen erscheine. Ich werde von Mächten verfolgt,
die viel schlimmer sind als der Spott der Menschen. Als ich meine
Vorräte bekommen hatte, untersuchte ich jeden Quadratmillimeter der
Wände und verstopfte auch die kleinste Öffnung, die ich finden
konnte. Nun endlich werde ich wieder einmal richtig ausschlafen
können.
[An dieser Stelle wird die Handschrift
unregelmäßig, fahrig und fast unleserlich.]
23. Jan. Es ist kurz vor Mittag, und ich
spüre, daß etwas Schreckliches geschehen wird. Ich habe letzte
Nacht nicht so gut geschlafen, wie ich dachte, obwohl ich in der
vorangegangenen Nacht im Zug kaum ein Auge zugetan hatte. Ich stand
früh auf und hatte Schwierigkeiten, mich auf irgend etwas zu
konzentrieren, sei es Lesen oder Schreiben. Dieses langsame,
überlegte Abzählen der Tage ist zuviel für mich. Ich weiß nicht,
was nun wirklich aus den Fugen geraten ist die Natur oder mein
Kopf. Ungefähr bis um elf tat ich kaum etwas anderes, als im Zimmer
auf und ab zu gehen.
Dann hörte ich etwas in den
Lebensmittelpäckchen rascheln, die mir gestern gebracht wurden, und
diese dämonische Fliege kam vor meinen Augen
herausgekrochen. Ich griff mir etwas Flaches
und schlug trotz meiner hysterischen Angst nach dem Ding, aber wie
üblich ohne Erfolg. Wenn ich auf es zuging, wich mir dieses
blaugeflügelte Horrorwesen wie gewöhnlich aus, flog zum Tisch, auf
dem ich meine Bücher gestapelt hatte, und ließ sich für eine
Sekunde auf Moores Dipteren Zentralund Südafrikasnieder. Als ich
ihm folgte, flog es zur Uhr auf dem Kaminsims und setzte sich auf
das Zifferblatt dicht neben die Zahl zwölf. Ehe ich mich versah,
begann es ganz langsam und zielbewußt in der Richtung, in der die
Zeiger laufen, um das Zifferblatt zu kriechen. Es krabbelte unter
dem Minutenzeiger hindurch, beschrieb den Bogen nach unten und nach
oben, krabbelte unter dem Stundenzeiger durch und blieb schließlich
genau auf der Zahl zwölf stehen. Don ließ es mit einem summenden
Geräusch seine Flügel flattern.
Soll das irgendein Vorzeichen sein? Ich bin
schon so abergläubisch wie die Schwarzen. Es ist jetzt kurz nach
elf! Ist mir für zwölf Uhr das Ende bestimmt? Ich habe nur noch ein
letztes Zufluchtsmittel; den Gedanken daran hat mir meine
abgrundtiefe Verzweiflung eingegeben. Ich wollte, ich hätte schon
eher daran gedacht. Ich erinnerte mich daran, daß ich in meinem
Arzneikoffer die beiden Substanzen habe, die man zur Erzeugung von
Chlorgas braucht, und habe
beschlossen, den Raum mit dem tödlichen Dampf
zu füllen und so die Fliege zu
ersticken, während ich mich selbst mit einem
in Ammoniak getränkten, vors Gesicht gehaltenen Taschentuch
schütze. Zum Glück habe ich genug Ammoniak bei mir. Diese
behelfsmäßige Maske wird wahrscheinlich die scharfen Chlordämpfe
neutralisieren, bis das Insekt tot ist oder wenigstens so weit
betäubt, daß ich es zermalmen kann. Aber ich muß schnell machen.
Woher will ich wissen, daß das Insekt sich nicht plötzlich auf mich
stürzt, ehe ich mit meinen Vorbereitungen fertig bin? Eigentlich
dürfte ich keine Zeit mehr mit diesem Tagebuch verschwenden. Später
-beide Chemikalien Salzsäure und Mangandioxyd -stehen fertig zum
Mischen auf dem Tisch. Ich habe mir das Handtuch über Nase und Mund
gebunden und eine Flasche Ammoniak in Reichweite stehen, um es
damit zu tränken, bis das Chlorgas sich verflüchtigt hat. Ich habe
beide Fenster abgedichtet. Aber was diese Teufelsfliege macht,
gefällt mir gar nicht. Sie ist immer noch auf dem Zifferblatt,
kriecht aber ganz langsam von der Zahl zwölf rückwärts auf den
langsam hochsteigenden Minutenzeiger zu. Wird dies mein letzter
Eintrag in dieses Tagebuch sein ? Es wäre sinnlos, den Verdacht
abzustreiten, der mich beschleicht. Nur allzuoft steckt ja ein
Körnchen unfaßlicher Wahrheit in den abenteuerlichsten und
phantastischsten Legenden. Versucht die Persönlichkeit von Henry
Moore, mir in Gestalt dieses blaugeflügelten Teufels den Garaus zu
machen? Ist dies die Fliege, die ihn stach und deshalb sein
Bewußtsein aufnahm, als er starb? Wenn dem so ist, und wenn sie
mich sticht, wird dann meine eigene Persönlichkeit die von Moore
verdrängen und in diesem summenden Körper eingeschlossen sein, wenn
ich später an dem Stich sterbe? Aber vielleicht muß ich gar nicht
sterben, selbst wenn sie mich sticht. Ich habe ja immer noch das
Tryparsamid. Und ich bereue nichts. Moore mußte sterben, was auch
immer die Folgen sein mögen. Etwas später.
Die Fliege ist auf der Uhr in der Nähe der
Ziffer neun stehengeblieben. Es ist jetzt elf Uhr dreißig. Ich
tränke das Taschentuch über meinem Gesicht mit Ammoniak und halte
die Flasche bereit. Dies wird der letzte Eintrag sein, bevor ich
die beiden Chemikalien vermische und das Chlorgas entweicht. Ich
sollte nicht länger zögern, aber es beruhigt mich, alles
aufzuschreiben. Von diesen Blättern abgesehen, habe ich schon vor
Tagen mein letztes bißchen Vernunft eingebüßt. Die Fliege scheint
unruhig zu werden, und der Minutenzeiger nähert sich ihr. Nun das
Chlorgas… [Ende des Tagebuchs]
Als am Sonntag, dem 2.4. Januar 1932, der
exzentrische Gast in Zimmer 303 des Orange Hotels sich auch auf
wiederholtes Klopfen nicht meldete, verschaffte sich ein schwarzer
Hotelangestellter mit einem Passepartout-Schlüssel Zugang zu dem
Zimmer und floh augenblicklich schreiend die Treppe hinunter, um
dem Portier zu sagen, was er in dem Zimmer vorgefunden hatte. Der
Portier rief die Polizei an und holte den Geschäftsführer, und
dieser begleitete den Polizeibeamten De Witt, den Leichenbeschauer
Bogaert und den Arzt Dr. Van Keulen in das grausige
Zimmer.
Der Gast lag tot auf dem Fußboden, das Gesicht
nach oben und mit einem Taschentuch umwickelt, das stark nach
Ammoniak roch. Die Gesichtszüge unter dem Tuch zeigten einen
Ausdruck äußersten Entsetzens, der sich auf die Beobachter
übertrug. Am Nacken des Mannes fand Dr. Van Keulen einen frischen
Insektenstich dunkelrot, mit einem violetten Ring -, der von einer
Tsetsefliege oder auch einem weniger harmlosen Insekt stammen
konnte. Die Untersuchung ergab, daß der Tod nicht durch den Stich,
sondern durch Herzversagen infolge panischer Angst eingetreten war
obwohl die später vorgenommene Autopsie ergab, daß sich im
Blutkreislauf des Toten der Erreger der Schlafkrankheit befand.
Auf dem Tisch lagen verschiedene Gegenstände
ein in Leder gebundenes Buch mit den hier wiedergegebenen
Tagebucheinträgen, ein Federhalter, eine Schreibunterlage, ein
offenes Tintenfaß, ein Arzneikoffer mit den goldenen Initialen »T.
S.«, Flaschen mit Ammoniak und Salzsäure sowie ein etwa zu einem
Viertel gefüllter Krug mit Mangandioxyd. Die Ammoniakflasche
bedurfte genauerer Untersuchung, weil etwas in der Flüssigkeit zu
schwimmen schien. Bei näherem Hinsehen erkannte Leichenbeschauer
Bogaert, daß es sich um eine Fliege handelte.
Es war offenbar eine Kreuzung, die vage an
eine Tsetsefliege erinnerte, doch die Flügel, die trotz der Wirkung
des konzentrierten Ammoniaks schwach bläulich wirkten, waren
absolut rätselhaft. Irgend etwas daran weckte in Dr. Van Keulen die
Erinnerung an etwas, was er in der Zeitung gelesen hatte eine
Erinnerung, die das Tagebuch schon bald bestätigen sollte. Die
unteren Teile der Fliege wirkten wie mit Tinte gefärbt, und zwar so
stark, daß das Ammoniak die Färbung nicht hatte ausbleichen können.
Wahrscheinlich war sie irgendwann in das Tintenfaß gefallen, wobei
jedoch merkwürdig war, daß die Flügel keine Tintenspuren aufwiesen.
Aber wie war das Insekt durch den schmalen Hals in die
Ammoniakflasche geraten? Es war, als ob das Tier absichtlich
hineingekrochen sei, um seinem Leben selbst ein Ende zu
setzen!
Am seltsamsten aber war, was De Witt an der
glatten, weißen Decke sah, als er seine Blicke durchs Zimmer
schweifen ließ. Sein überraschter Aufschrei ließ auch die anderen
hinaufschauen -sogar Dr. Van Keulen, der schon seit einer Weile das
abgegriffene lederne Notizbuch mit einem aus Entsetzen, Faszination
und
Ungläubigkeit gemischten Ausdruck
durchgeblättert hatte. Was die Männer da an der Decke sahen, war
eine Reihe zittriger Spuren, wie sie ein in Tinte getauchtes,
krabbelndes Insekt hinterlassen könnte. Und alle mußten sofort an
die Tintenfärbung der Fliege denken, die eigenartigerweise in der
Ammoniakflasche gefunden worden war.
Aber das waren keine zufälligen Tintenspuren.
Schon auf den ersten Blick wirkten sie gespenstisch vertraut, und
bei genauerer Betrachtung konnten alle vier Männer nur ungläubig
staunen. Der Leichenbeschauer Bogaert sah sich unwillkürlich im
Zimmer nach irgendwelchen Möbelstücken oder Gegenständen um, die
man so hätte aufeinandertürmen können, daß ein Mensch die Zeichen
an die Decke hätte malen können. Aber da er nichts dergleichen
entdeckte, fuhr er nur fort, neugierig und ungläubig an die Decke
zu starren.
Denn diese Tintenspuren bildeten ohne jeden
Zweifel deutlich erkennbare
Buchstaben des Alphabets, die sich zu
sinnvollen Worten zusammenschlössen. Der Arzt war der erste, der
diese Worte entzifferte, und die anderen hörten atemlos zu, als er
die verrückt klingende Mitteilung vorlas, die nicht von
menschlicher Hand geschrieben sein konnte:
»seht MEIN tagebuch ES STACH MICH ich STARB
DANN SAH ICH DASS ICH IN IHMWAR die SCHWARZEN HABEN RECHT seltsame
MÄCHTE DER natur jetzt WERDE ICH ERTRÄNKEN WAS ÜBRIG IST
-«
Während die anderen noch in sprachloser
Verblüffung dastanden, begann Dr. Van Keulen, laut aus dem
abgegriffenen, in Leder gebundenen Tagebuch vorzulesen.
DAS LETZTE EXPERIMENT von Adolphe de Castro
und H. P. Lovecraft
Nur wenige kennen die Hintergründe der
Clarendon-Affäre oder wissen auch nur, daß es überhaupt
Hintergründe gibt, die nicht in die Zeitungen gelangten. Die Affäre
erregte in San Francisco in der Zeit vor dem Brand ungeheures
Aufsehen, sowohl wegen der Panik und der Bedrohung, die mit ihr
einhergingen, als auch deswegen, weil der Gouverneur des Staates in
die Vorgänge verwickelt war. Gouverneur Dalton, so wird man sich
erinnern, war Clarendons bester Freund und heiratete später seine
Schwester. Weder Dalton noch Mrs. Dalton sprachen jemals über die
peinliche Angelegenheit, aber irgendwie sickerten die Tatsachen
doch durch, wenn auch nur innerhalb eines kleinen Kreises. Wäre dem
nicht so, und hätte nicht die Zeit einen Schleier der
Unpersönlichkeit über die Beteiligten geworfen, so würde man immer
noch zögern, die seinerzeit so streng gehüteten Geheimnisse ans
Licht zu holen.
Die Ernennung von Dr. Alfred Clarendon zum
medizinischen Direktor des Zuchthauses St. Quentin im Jahre 1898
wurde in ganz Kalifornien mit Begeisterung aufgenommen. San
Francisco hatte nun endlich die Ehre, einen der größten Biologen
und Ärzte seiner Zeit in seinen Mauern zu beherbergen, und man
durfte erwarten, daß führende Pathologen aus aller Welt in die
Stadt strömen würden, um seine Methoden zu studieren, von seinen
Ratschlägen und Forschungen zu profitieren und sich Anregungen für
die Bewältigung ihrer eigenen Probleme zu Hause zu holen.
Kalifornien würde beinahe über Nacht zu einem Mittelpunkt
medizinischer Forschung mit weltweitem Ruf und Einfluß
werden.
Gouverneur Dalton, der darauf bedacht war,
die Nachricht in ihrer ganzen Bedeutung zu verbreiten, sorgte
dafür, daß die Presse ausführliche und angemessene Berichte über
den neuen Amtsinhaber brachte. Bilder von Dr. Clarendon und dem
Haus, das er in der Nähe des alten Goat Hill bewohnte. Abrisse
seiner beruflichen Laufbahn und seiner vielfältigen Ehrungen und
populäre Berichte über seine bedeutendsten wissenschaftlichen
Entdeckungen erschienen in allen wichtigen Tageszeitungen
Kaliforniens, so daß die Bevölkerung bald einen gewissen Stolz auf
den Mann empfand, dessen Erforschung der Pyämie in Indien, der Pest
in China und ähnlicher Leiden überall in der Welt die Medizin schon
bald mit einem Gegengift von revolutionärer Bedeutung bereichern
würde einem grundlegenden Gegengift, das dem Fiebersyndrom von der
Wurzel her zu Leibe rücken und letztlich die Ausrottung des Fiebers
in all seinen mannigfachen Erscheinungsformen gewährleisten
würde.
Der Ernennung war eine lange und nicht ganz
unromantische Geschichte von früher Freundschaft, langer Trennung
und Wiederbegegnung unter dramatischen Umständen vorausgegangen.
James Dalton und die Familie Clarendon waren zehn Jahre zuvor in
New York Freunde gewesen. Freunde und auch noch mehr, denn die
einzige Tochter des Arztes, Georgina, war Daltons Jugendfreundin,
während der Arzt selbst in den Schulund College-Jahren sein bester
Kamerad und beinahe sein Protege gewesen war. Der Vater von Alfred
und Georgina, ein Wall-Street-Pirat der schlimmsten Sorte, hatte
Daltons Vater gut gekannt, so gut, daß er ihm in einem denkwürdigen
Kampf an der Börse im Lauf eines einzigen Nachmittags alles
abjagte, was er besaß. Dalton Senior, der keine Hoffnung hatte,
sich von diesem Schlag noch einmal zu erholen, und seinem einzigen
Sohn seine Lebensversicherung zukommen lassen wollte, hatte sich
prompt eine Kugel in den Kopf geschossen, aber James hatte nicht
nach Vergeltung getrachtet. Solche Dinge gehörten seiner Meinung
nach einfach dazu, und ihm lag nichts daran, dem Vater des
Mädchens, das er heiraten wollte, und des angehenden jungen
Wissenschaftlers, den er in den Jahren ihres gemeinsamen Studiums
bewundert und unterstützt hatte, zu schaden. Statt dessen wandte er
sich der Rechtswissenschaft zu, gründete seine eigene kleine Praxis
und bat den »alten Clarendon« zu gegebener Zeit um die Hand seiner
Tochter. Der alte Clarendon hatte sich rundweg geweigert, einen
armen Schlucker, der sich eben erst als Anwalt seine Sporen
verdienen wollte, zu seinem Schwiegersohn zu machen, woraufhin sich
eine heftige Auseinandersetzung entspann. James, der dem alten
Freibeuter nun endlich sagte, was er ihm schon viel früher hätte
sagen müssen, hatte in höchster Erregung das Haus und die
Stadtverlassen und binnen eines Monats das Leben in Kalifornien
begonnen, das ihn nach manchen Kämpfen mit Politikern und
Interessengruppen ins Amt des Gouverneurs geführt hatte. Von Alfred
und Georgina hatte er sich nur ganz kurz verabschiedet, und er
hatte nie von den Folgen jener Szene in Clarendons Bibliothek
erfahren. Nur um einen Tag hatte er die Nachricht vom Tod des alten
Clarendon durch einen Schlaganfall verpaßt, und dadurch hatte seine
ganze Laufbahn eine andere Richtung genommen. Er hatte in den
folgenden zehn Jahren Georgina nicht geschrieben, da er wußte, wie
ergeben sie ihrem Vater war, sondern gewartet, bis er eine Position
erreicht hatte, die alle Einwände gegen die Verbindung entkräften
würde. Und auch mit Alfred hatte er keine Verbindung aufgenommen,
dessen Gleichmut im Angesicht von Zuneigung und Heldenverehrung
stets den Beigeschmack der bewußten Gestaltung seines Schicksals
und der Selbstgenügsamkeit des Genies gehabt hatte. Mit einer auch
für damalige Zeit ungewöhnlichen Zielbewußtheit hatte er seinen Weg
gemacht, den Blick fest in die Zukunft gerichtet; er war selbst
Junggeselle geblieben und war von der intuitiven Überzeugung
erfüllt, daß Georgina ebenfalls auf ihn wartete. In diesem Glauben
wurde Dalton nicht enttäuscht. Georgina, die sich gefragt haben
mochte, warum sie nie eine Nachricht von ihm erhielt, fand kein
Liebesglück außer in ihren Hoffnungen und Träumen und war schon
bald ganz mit den neuen Pflichten ausgefüllt, die der Aufstieg
ihres Bruders mit sich brachte. Alfreds Entwicklung hatte die
Hoffnungen, die man in den vielversprechenden jungen Mann gesetzt
hatte, vollauf bestätigt; der schlanke Junge war in aller Stille
die Stufen der Wissenschaft mit einer beinahe schwindelerregenden
Schnelligkeit und Ausdauer hinaufgeeilt. Mager und asketisch, mit
in Stahl gefaßtem Pince-nez und braunem Spitzbart, war Dr. Alfred
Clarendon mit fünfundzwanzig bereits eine Autorität und mit dreißig
ein international bekannter Wissenschaftler. Da er den praktischen
Erfordernissen des Lebens mit der Nachlässigkeit des Genies
begegnete, war er auf die Fürsorge und das Organisationstalent
seiner Schwester angewiesen und insgeheim dankbar dafür, daß ihre
Erinnerungen an James sie vor jeder anderweitigen Bindung bewahrt
hatten.
Georgina führte die Geschäfte und den Haushalt
des großen Bakteriologen und war stolz auf seine Fortschritte in
der Bekämpfung des Fiebers. Sie ertrug geduldig seine Launen,
beschwichtigte seine gelegentlichen Ausbrüche von Fanatismus und
bereinigte die Zerwürfnisse mit seinen Freunden, die hin und wieder
daraus entstanden, daß er jeden, der sich nicht mit Haut und Haaren
der Suche nach der reinen Wahrheit verschrieben hatte, seine
unverhohlene Verachtung spüren ließ. Kein Zweifel, Clarendon stieß
gewöhnliche Sterbliche oft vor den Kopf, denn er wurde nicht müde,
den Dienst am einzelnen im Gegensatz zum Dienst an der Menschheit
insgesamt herabzuwürdigen und Gelehrte abzukanzeln, die ihre
wissenschaftliche Tätigkeit nicht von häuslichen und anderweitigen
privaten Interessen zu trennen vermochten. Seine Feinde nannten ihn
einen Langweiler, doch seine Bewunderer, die immer wieder staunten,
in welche Ekstasen er sich hineinzusteigern vermochte, schämten
sich beinahe, jemals Wünsche und Ambitionen außerhalb der erhabenen
Sphäre der reinen Wissenschaft gehabt zu haben. Dr. Clarendon
unternahm häufige Reisen, und auf den kürzeren ließ er sich im
allgemeinen von Georgina begleiten. Dreimal hatte er jedoch im
Zusammenhang mit der Erforschung exotischer Fieberkrankheiten und
halblegendärer Seuchen lange, einsame Reisen in seltsame, ferne
Gegenden unternommen, denn er wußte, daß die meisten Krankheiten
der Erde in den Ländern des geheimnisumwitterten Asien entsprangen.
Von jeder dieser Fahrten hatte er merkwürdige Andenken mitgebracht,
die seinem Haus ein exzentrisches Gepräge gaben, darunter eine
unnötig große Anzahl tibetischer Diener, die er irgendwo in U-Tsang
während einer Epidemie aufgelesen hatte, von der die Welt nie etwas
erfahren hatte, in deren Verlauf er jedoch den Erreger des
Dum-Dum-Fiebers entdeckt und isoliert hatte. Diese Männer, größer
als die meisten Tibeter und offenbar von einem in der übrigen Welt
kaum bekannten Stamme, waren so hager und dürr, daß man sich
fragte, ob der Doktor sie in der Erinnerung an die anatomischen
Modelle seiner Studienjahre ausgewählt habe. In den losen schwarzen
Seidengewändern, die sie nach Clarendons Wunsch tragen mußten,
boten sie einen im höchsten Grade grotesken Anblick, und ihre
niemals lächelnden Gesichter und die Lautlosigkeit und Steifheit
ihrer Bewegungen ließen sie noch phantastischer erscheinen und
gaben Georgina oft das absonderliche, beklemmende Gefühl, in die
Welt von Vathekoder von Tausendundeiner
Nachtversetzt zu sein. Der Seltsamste von
allen war jedoch Clarendons rechte Hand und Mädchen für alles, ein
Mann namens Surama, den Clarendon von einem langen Aufenthalt in
Nordafrika mitgebracht hatte, bei dem er gewisse rätselhafte
Fieberkrankheiten studiert hatte, die in Abständen bei den Tuareg
in der Sahara vorkamen, deren Abstammung von der urzeitlichen Rasse
des versunkenen Atlantis ein altes archäologisches Gerücht ist.
Surama, ein Mann von hoher Intelligenz und scheinbar
unerschöpflicher Bildung, war ebenso unnatürlich mager wie die
tibetischen Diener, und seine dunkle, pergamentähnliche Haut
spannte sich so straff über den kahlen Schädel und das bartlose
Gesicht, daß jeder Schädelknochen gespenstisch hervortrat — wobei
dieser Totenschädel-Effekt noch durch die glanzlos brennenden
schwarzen Augen verstärkt wurde, die so tief lagen, daß man
normalerweise nur zwei dunkle, leere Höhlen wahrzunehmen meinte. Im
Gegensatz zum idealen Untergebenen schien er trotz seiner
unbeweglichen Miene Mühe zu haben, seine Gefühle zu verbergen. Man
hatte den Eindruck, daß er sich insgeheim ständig über etwas
amüsierte, zumal da er mitunter auch noch ein tiefes, gutturales
Kichern oder Glucksen von sich gab wie das einer Riesenschildkröte,
die eben irgendein Pelztier in Stücke gerissen hat und nun wieder
zum Meer hinunter kriecht. Seine Rasse schien kaukasisch zu sein,
ließ sich aber nicht näher bestimmen. Manche von Clarendons
Bekannten meinten, er sehe trotz seiner akzentfreien Sprache wie
ein Angehöriger einer hohen Hindu-Kaste aus, während die meisten
Georgina — die ihn nicht leiden konnte — zustimmten; sie äußerte
mehrmals, ihrer Meinung nach wäre eine Pharaonen-Mumie, auf
wunderbare Weise zum Leben erweckt, das reine Ebenbild dieses
sardonischen Gerippes.
Dalton, der sich ganz auf seine politische
Karriere konzentrierte und infolge der merkwürdigen Eigenbrötelei
des alten Westens kaum über die Vorgänge an der Ostküste
unterrichtet war, hatte den kometenhaften Aufstieg seines einstigen
Kameraden nicht verfolgt, und auch Clarendon seinerseits hatte nie
etwas von Dalton gehört, der mit seiner Position als Gouverneur
denkbar weit außerhalb seiner Interessensphäre lag. Da sie
finanziell unabhängig waren, hatten die Clarendons viele Jahre
hindurch den Familiensitz an der East Nineteenth Street in
Manhattan bewohnt, dessen Hausgeister von den bizarren Gestalten
Suramas und der Tibeter sicherlich höchst befremdet waren. Dann
jedoch hatte der Doktor den Wunsch geäußert, den Schauplatz seiner
medizinischen Beobachtungen zu wechseln, und es war ganz plötzlich
zu einer einschneidenden Veränderung gekommen. Die Clarendons
hatten den Kontinent überquert, um ein zurückgezogenes Leben in San
Francisco zu führen, wo sie das düstere alte Bannister-Anwesen bei
Goat Hill oberhalb der Bay erwarben und ihren wunderlichen Haushalt
unter den Walmdächern dieses weitläufigen Gebäudes einrichteten,
dessen Stil eine Mischung aus viktorianischem Geschmack und der
Großspurigkeit des Goldrausches war und das auf einem von hohen
Mauern umgebenen Grundstück in einer Gegend lag, die immer noch
Vorortcharakter hatte.
Dr. Clarendon fand die Arbeitsbedingungen hier
zwar besser als in New York, beklagte aber immer noch den Mangel an
Gelegenheiten, seine pathologischen Theorien zu testen und
anzuwenden. Weltfremd wie er war, hatte er nie daran gedacht, sich
um einen öffentlichen Posten zu bewerben, obwohl ihm immer klarer
wurde, daß nur die medizinische Leitung einer staatlichen oder
wohltätigen Einrichtung — eines Gefängnisses, Armenhauses oder
Hospitals ihm das weite Experimentierfeld bieten konnte, das er
brauchte, um seine Forschungen
abzuschließen und seine Entdeckungen zum
Nutzen der Wissenschaft und der ganzen Menschheit
anzuwenden.
Dann war er eines Nachmittags in der Market
Street rein zufällig James Dalton begegnet, als der Gouverneur
gerade aus dem Royal Hotel kam. Georgina war bei ihm gewesen, und
das beinahe augenblickliche gegenseitige Wiedererkennen hatte die
Dramatik der Begegnung noch verstärkt. Die Freunde, die so lange
getrennt gewesen waren und nichts voneinander gehört hatten, wußten
einander viel zu erzählen, und Clarendon freute sich zu hören, daß
er eine so bedeutende
Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zum
Freund hatte. Dalton und Georgina, die manchen Blick wechselten,
spürten mehr als nur einen Rest ihrer jugendlichen Zuneigung. An
diesem Tag wurde eine Freundschaft erneuert, die zu häufigen
Besuchen und stetig wachsendem gegenseitigen Vertrauen
führte.
James Dalton erfuhr, daß sein Jugendfreund
ein öffentliches Amt anstrebte, und getreu seiner früheren
Beschützerrolle suchte er seinen Einfluß geltend zu machen, um »dem
kleinen Alf« einen angemessenen Wirkungskreis zu verschaffen. Zwar
reichte dieser Einfluß sehr weit, doch wurde Dalton durch die
scharfe Kontrolle der gesetzgebenden Körperschaften gezwungen, mit
äußerster Diskretion vorzugehen. Schließlich wurde jedoch, kaum
drei Monate nach der überraschenden
Wiederbegegnung, das wichtigste Amt für einen
Mediziner im ganzen Staat frei. Nach Abwägung aller Faktoren und in
dem Bewußtsein, daß der Ruf und die Erfolge seines Freundes auch
die höchste Auszeichnung rechtfertigten, sah der Gouverneur eine
Möglichkeit zum Handeln. Die Formalitäten waren rasch erledigt, und
am 8. November 189wurde Dr. Alfred Schuyier Clarendon medizinischer
Direktor des kalifornischen Staatszuchthauses St.
Quentin.
In kaum mehr als einem Monat sahen sich Dr.
Clarendons Bewunderer in ihren Hoffnungen voll bestätigt.
Durchgreifende Verfahrensänderungen brachten die medizinische
Versorgung der Haftanstalt auf ein Niveau, von dem man bis dahin
nicht zu träumen gewagt hätte, und obwohl die Untergebenen
naturgemäß ihren Neid nicht ganz verbergen konnten, mußten sie
andererseits wohl oder übel die an Wunder grenzenden Erfolge des
großen Mannes anerkennen. Es folgte eine Zeit, in der aus der
bloßen Anerkennung durchaus dankbare Ergebenheit hätte werden
können, denn eines Morgens kam Dr. Jones mit sorgenvoller Miene zu
seinem neuen Vorgesetzten, um ihm zu berichten, daß ein Fall
aufgetreten sei, den er als eben jenes Dum-DumFieber diagnostiziert
hatte, dessen Erreger Clarendon entdeckt und klassifiziert
hatte.
Dr. Clarendon zeigte sich nicht überrascht,
sondern setzte seine Arbeit an dem Schriftstück fort, das vor ihm
lag.
»Ich weiß«, sagte er ruhig. »Ich habe diesen
Fall schon gestern entdeckt. Ich bin froh, daß Sie die Krankheit
erkannt haben. Lassen Sie den Mann auf die Isolierstation bringen,
obwohl ich nicht glaube, daß das Fieber ansteckend ist.« Dr. Jones,
der seine eigenen Ansichten über die Ansteckungsgefahr hatte, war
froh über diese Vorsichtsmaßnahme und beeilte sich, die Anordnung
auszuführen. Als er wiederkam, erhob sich Clarendon, um nach dem
Patienten zu sehen und erklärte Jones, er werde den Fall alleine
übernehmen. Der Assistenzarzt, der sich in seiner Hoffnung
getäuscht sah, die Methoden des großen Mannes studieren zu können,
blickte seinem Vorgesetzten nach, wie dieser alleine zu der Station
ging, auf der sich der Patient befand, und sah sich zum erstenmal
wieder in seinen Ressentiments gegenüber dem neuen Direktor
bestätigt, seit seine anfänglichen Eifersuchtsgefühle aufrichtiger
Bewunderung gewichen waren.
Als er die Station erreicht hatte, trat
Clarendon hastig ein, warf einen Blick auf das Bett und ging noch
einmal vor die Tür, um nachzusehen, wie weit die Neugier Dr. Jones
getrieben haben mochte. Als er sah, daß niemand auf dem Korridor
war, schloß er die Tür und untersuchte den Kranken. Es handelte
sich um einen besonders widerwärtigen Häftling, und er schien
Höllenqualen auszustehen. Sein Gesicht war grauenhaft verzerrt, und
die Knie hatte er in der stummen Verzweiflung der Todgeweihten
scharf angezogen. Clarendon untersuchte ihn genau, zog die fest
geschlossenen Augenlider hoch, maß Puls und Temperatur und löste
schließlich eine Tablette in Wasser auf und flößte dem Kranken die
Flüssigkeit ein. Schon bald war der Höhepunkt des Anfalls
überschritten, der Körper entspannte sich, der Ausdruck wurde
normal, und der Patient begann leichter zu atmen. Durch leichtes
Reiben der Ohren erreichte der Arzt dann, daß der Mann die Augen
aufschlug. Es war Leben in ihnen, denn sie bewegten sich hin und
her. Aber es fehlte ihnen das feine Feuer, das wir als Spiegel der
Seele anzusehen gewohnt sind.
Clarendon lächelte, als er sah, wie friedlich
der Patient geworden war und fühlte sich im Besitz einer
allmächtigen Wissenschaft. Er hatte schon länger von dem Fall
gewußt, und es war ihm gelungen, den Mann durch wenige Minuten
Arbeit dem Tod zu entreißen. Noch eine Stunde, und der Patient wäre
verloren gewesen; trotzdem hatte Jones die Symptome seit Tagen
gesehen, sie aber nicht zu deuten gewußt, und sich dann, als er die
Krankheit diagnostiziert hatte, nicht zu helfen gewußt. Doch der
Sieg des Menschen über die Krankheit kann nie vollkommen sein.
Clarendon versicherte den mißtrauischen Häftlingen, die als
Krankenpfleger arbeiteten, die Krankheit sei nicht ansteckend, und
ließ den Patienten baden, mit Alkohol abreiben und wieder ins Bett
legen. Aber am nächsten Morgen wurde ihm mitgeteilt, der Mann sei
nach Mitternacht unter schrecklichen Qualen und mit solchen
Schreien und Zuckungen gestorben, daß die Pfleger fast in Panik
geraten waren. Der Arzt nahm diese Nachricht mit gewohntem
Gleichmut auf, wie immer auch seine Gefühle als Wissenschaftler
gewesen sein mochten, und ordnete an, der Patient sei in Kalk zu
begraben. Mit einem philosophischen Schulterzucken begann er dann
seine gewohnte Morgenvisite.
Zwei Tage später schlug die Krankheit erneut
zu. Diesmal waren drei Männer auf einmal betroffen, und es ließ
sich nicht mehr verheimlichen, daß eine Dum-DumFieber-Epidemie
ausgebrochen war. Clarendon, der so unbeugsam an seiner Theorie
festgehalten hatte, das Fieber sei nicht ansteckend, erlitt einen
schweren
Autoritätsverlust und geriet auch noch
dadurch in Schwierigkeiten, daß die Pfleger
sich weigerten, die Patienten zu versorgen.
Aufopferung im Dienste der
Wissenschaft und zum Nutzen der Menschheit
war ihre Sache nicht. Sie waren Häftlinge, die nur auf der
Krankenstation Dienst taten, weil damit Vergünstigungen verbunden
waren, und als ihnen der Preis dafür zu hoch schien, zogen sie es
vor, auf diese Vergünstigungen zu verzichten.