H. P. Lovecraft


DAS GRAUEN IM MUSEUM




Eigentlich hatte Stephen Jones nur aus Langeweile und Neugier Rogers’ Museum aufgesucht. Jemand hatte ihm von den seltsamen unterirdischen Räumlichkeiten an der Southwark Street auf der anderen Seite des Flusses erzählt, in denen
Wachsfiguren ausgestellt wurden, die angeblich viel schrecklicher waren als selbst die schlimmsten Bildwerke in Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett, und so war er an einem Apriltag hineingegangen, durchaus auf eine Enttäuschung gefaßt. Seltsamerweise war er dann doch nicht enttäuscht gewesen. Die Sammlung hatte eine eigene Note. Natürlich waren auch hier die üblichen blutrünstigen Gemeinplätze vertreten Landru, Dr. Crippen, Madame Demers, Rizzio, Lady Jane Grey, zahllose verstümmelte Opfer von Krieg und Revolution und Ungeheuer wie Gilles de Rais und der Marquis de Sade -, aber es gab auch andere Ausstellungsstücke, die ihn rascher atmen ließen und ihn bewogen, bis zum Klingeln der Glocke dazubleiben. Der Mann, der diese Sammlung zusammengestellt hatte, konnte kein gewöhnlicher
Geschäftemacher sein. Manche Sachen verrieten Phantasie, ja sogar eine Art makabre Genialität.
Später erfuhr er mehr über George Rogers. Der Mann war früher bei Tussaud’s angestellt gewesen, dann aber wegen irgendwelcher Mißhelligkeiten entlassen worden. Man munkelte über seinen Geisteszustand und erzählte sich Geschichten von seltsamen Geheimriten, denen er angeblich anhing, obwohl in letzter Zeit sein Erfolg manche seiner Kritiker zum Schweigen gebracht hatte, während andere sich nur noch bestätigt fühlten. Die Teratologie und Ikonographie des Alptraums waren seine Steckenpferde, doch war er klug genug, einige seiner schlimmsten Bildwerke in einem nur für Erwachsene zugänglichen Alkoven zu verstecken. Dieser Alkoven war es, der Jones so sehr fasziniert hatte. Es gab da unförmige Zwitterwesen, wie sie nur die Phantasie gebären konnte, mit teuflischer Geschicklichkeit modelliert und grausig lebensecht koloriert.
Einige davon waren Gestalten eines bekannten Mythos -Gorgonen, Chimären, Drachen, Zyklopen und all ihre schauderhaften Gattungsgenossen. Andere entstammten dunkleren, verschwiegeneren Zyklen unterirdischer Legenden der schwarze, formlose Tsathoggua, der tentakelreiche Ktuluh, das Rüsselwesen Chaugnar Faugn und andere lästerliche Wesen aus verbotenen Büchern wie dem Necronomicon,dem Buch Eibonoder den Unaussprechlichen Kultendes von Junzt. Die schlimmsten waren jedoch Eigenschöpfungen von Rogers und stellten Wesen dar, vor deren Beschreibung auch die ältesten Geschichten zurückschreckten. Bei einigen handelte es sich um grauenhafte Zerrbilder bekannter Erscheinungsformen organischen Lebens, während andere den Fieberträumen fremder Planeten und Galaxien zu entstammen schienen. Einige davon könnte man andeutungsweise in den phantastischsten Gemälden von Clark Ashton Smith wiederfinden, doch nichts vermöchte den Effekt durchdringenden, abscheulichen Grauens anzudeuten, der durch die riesigen Ausmaße und dämonisch vollkommene handwerkliche Ausführung sowie durch die ungeheuer raffinierte Beleuchtung hervorgerufen wurde, in der die Figuren ausgestellt wurden.
Stephen Jones, der sich beiläufig schon immer für das Bizarre in der Kunst interessiert hatte, hatte Rogers in seinem muffigen Büro, das zugleich als Werkstatt diente, hinter den Museumsgewölben aufgesucht — einer schauerlichen, dämmrigen Krypta, deren einzige Lichtquellen schmale, waagrechte Fenster in der Ziegelmauer waren, auf einer Höhe mit dem uralten Kopfsteinpflaster eines versteckten Hinterhofes. Hier wurden die Figuren ausgebessert, und hier waren auch einige von ihnen entstanden. Wächserne Arme, Beine, Köpfe und Rümpfe lagen in groteskem Durcheinander auf verschiedenen Werkbänken, während verfilzte Perücken, gefährlich wirkende Zähne und glotzende Glasaugen über lange, hohe Regalbretter verstreut waren. Alle Arten von Kostümen hingen an Haken, und in einer Nische lagerten große Stapel fleischfarbener Wachsblöcke sowie Farbbüchsen und Pinsel jeder erdenklichen Sorte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schmelzofen für das Wachs, über dessen Brennkammer ein riesiger Eisenkessel beweglich aufgehängt war, so daß man das geschmolzene Wachs mühelos ausgießen konnte.

Andere Dinge in der trostlosen Krypta waren nicht so einfach zu beschreiben — Teile rätselhafter Gestalten, die zusammengesetzt Phantome wie aus einem Delirium ergeben mußten. An einem Ende war eine schwere Holztür, auf deren ungewöhnlich großes Schloß ein seltsames Symbol gemalt war. Jones, der früher einmal das gefürchtete Necronomiconin der Hand gehabt hatte, schauderte unwillkürlich, als er dieses Symbol erkannte. Dieser Schausteller, so überlegte er, mußte wahrhaftig ein Mensch mit erstaunlich umfassenden Kenntnissen auf allen möglichen dunklen und zweifelhaften Gebieten sein.
Auch das Gespräch mit Rogers enttäuschte ihn nicht. Der Mann war groß, schlank und ziemlich ungepflegt und hatte große schwarze Augen, die aus einem bleichen, unrasierten Gesicht hervorbrannten. Er war nicht ungehalten über Jones’ Eindringen, sondern schien eher froh, eine Gelegenheit zu haben, sich mit einem interessierten Menschen zu unterhalten. Seine Stimme war ungewöhnlich tief und klangvoll und von einer unterdrückten Intensität, die ans Fieberhafte grenzte. Kein Wunder, dachte Jones, daß so viele ihn für verrückt gehalten hatten.
Bei jedem seiner Besuche und diese Besuche wurden ihm mit der Zeit zur Gewohnheit hatte Jones Rogers mitteilsamer und vertraulicher gefunden. Von Anfang an hatte es Andeutungen über sonderbare Religionen und Praktiken von seilen des Schaustellers gegeben, und später wurden aus den Andeutungen richtige Erzählungen, deren Extravaganz trotz einiger bestätigender Fotografien beinahe komisch war. Es war irgendwann im Juni, an einem Abend, an dem Jones eine Flasche guten Whiskeys mitgebracht hatte und seinem Gastgeber immer wieder großzügig nachschenkte, als dieser zum erstenmal ausgesprochen wirres Zeug daherredete. Er hatte auch schon vorher die abenteuerlichsten Geschichten vom Stapel gelassen Berichte über geheimnisvolle Reisen nach Tibet, ins Innere Afrikas, in die arabische Wüste, ins Tal des Amazonas, nach Alaska und zu gewissen kaum bekannten Eilanden im Südpazifik, und er hatte auch behauptet, so monströse und halb sagenhafte Bücher wie die prähistorischen Pnakotischen Fragmente und die Dhol-Gesänge gelesen zu haben, die dem bösartigen, nichtmenschlichen Leng zugeschrieben werden, aber nichts von alledem war so unverkennbar wahnsinnig gewesen wie das, was an diesem Abend aus Rogers hervorbrach, nachdem der Whiskey ihm die Zunge gelöst hatte.
Rogers erging sich in prahlerischen Andeutungen, er habe gewisse Dinge in der Natur gefunden, auf die vor ihm noch niemand gestoßen sei, und auch greifbare Beweise für diese Entdeckungen mitgebracht. Seinen weitschweifigen Erzählungen zufolge war er in der Deutung der obskuren urzeitlichen Bücher, die er studierte, weiter gekommen als jeder andere; diese Bücher hätten ihm den Weg zu gewissen entlegenen Orten gewiesen, an denen seltsame Wesen im Verborgenen überlebt hätten, Wesen aus Epochen und Lebenszyklen vor Anbeginn der Menschheit und in einigen Fällen mit Verbindungen zu anderen Dimensionen und anderen Welten, zu denen in den vergessenen vormenschlichen Zeiten regelmäßige Beziehungen bestanden hätten. Jones staunte über die Phantasie, die solche Ideen hervorbringen konnte, und fragte sich, wie wohl Rogers’ geistige Geschichte verlaufen sein mochte. War seine Arbeit inmitten der grotesken Figuren von Madame Tussaud’s der Beginn seiner Flucht in die Phantasie gewesen, oder war die Neigung angeboren und seine Berufswahl nur eine ihrer Erscheinungsformen? Auf jeden Fall bestand ein enger Zusammenhang zwischen der Arbeit des Mannes und seinen Ideen. Es war nicht zu übersehen, worauf er mit seinen dunklen Andeutungen über die alptraumhaften Monstrositäten in dem nur für Erwachsene zugänglichen Alkoven hinauswollte. Ohne die geringste Befürchtung, sich lächerlich zu machen, ließ er durchblicken, daß nicht alle diese dämonischen Spottgeburten künstlich angefertigt seien. Jones’ unverhohlene Skepsis und Erheiterung über diese unverantwortlichen Behauptungen störten schließlich das zunehmend herzliche Verhältnis. Rogers, so viel war klar, nahm sich selbst sehr ernst, denn er wurde jetzt reizbar und mürrisch und empfing Jones nur noch, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dessen Mauer urbaner und selbstgefälliger Ungläubigkeit zu durchbrechen. Die abenteuerlichen Geschichten und Andeutungen von Riten und Opfern an namenlose alte Götter gingen weiter, und hin und wieder führte Rogers seinen Gast zu einer der Schreckgestalten in dem abgeschirmten Alkoven und zeigte ihm Merkmale, die kaum von Menschenhand herrühren konnten. Jones setzte aus schierer Faszination seine Besuche fort, obwohl er wußte, daß er die Achtung seines Gastgebers verloren hatte. Ab und zu versuchte er, Rogers dadurch bei Laune zu halten, daß er irgendeiner verrückten Andeutung oder Behauptung zustimmte, aber der hagere Schausteller ließ sich durch solche Winkelzüge nur selten täuschen.
Im September erreichte die Spannung dann einen Höhepunkt. Jones war eines Nachmittags ins Museum gekommen und schlenderte durch die düsteren Korridore, mit deren Schrecknissen er jetzt so vertraut war, als er ungefähr aus der Richtung von Rogers’ Werkstatt ein sehr merkwürdiges Geräusch vernahm. Auch andere hörten es und erschraken, als die Echos durch die weitläufigen Kellergewölbe hallten. Die drei Wärter wechselten merkwürdige Blicke, und einer von ihnen, ein dunkler, schweigsamer, ausländisch wirkender Bursche, der Rogers bei Reparaturen und beim Entwurf neuer Gestalten zur Hand ging, lächelte auf eine Weise, die seine Kollegen zu verwirren schien und Jones gegen den Strich ging. Es war das Jaulen oder Heulen eines Hundes, und es war ein Laut, wie er nur durch äußerste Angst und Qual ausgelöst werden konnte. In dieser grotesken Umgebung wirkte er doppelt schauerlich. Jones erinnerte sich, daß Hunde nicht in das Museum durften. Er wollte gerade zu der Tür gehen, die in die Werkstatt führte, als der dunkle Wärter ihn durch Zuruf und Geste zurückhielt. Mr. Rogers, so sagte der Mann mit leiser Stimme, die zugleich entschuldigend und überheblich klang, sei ausgegangen, und er habe Anweisung, während seiner Abwesenheit niemanden in die Werkstatt zu lassen. Das Jaulen sei zweifellos aus dem Hof hinter dem Museum gekommen. In dieser Gegend gebe es viele Straßenköter, die oft lautstarke Kämpfe untereinander austrügen. Im Museum gebe es nirgends Hunde, falls aber Mr. Jones Mr. Rogers sprechen möchte, könne er dies kurz vor der Schließung des Museums tun. Jones stieg daraufhin die alten Steinstufen zur Straße hinauf und nahm die Nachbarschaft in Augenschein. Die windschiefen, halb verfallenen Gebäude einstige Wohnhäuser, die jetzt zum größten Teil in Läden und Lagerhäuser umgewandelt waren -waren in der Tat sehr alt. Manche von ihnen hatten noch Giebel aus der Tudorzeit, und über der ganzen Gegend hing ein unangenehmer Geruch. Neben dem schmuddeligen Haus, in dessen Kellergeschoß sich das Museum befand, war ein niedriger Bogengang, der von einer dunklen, gepflasterten Gasse gekreuzt wurde, und in diese bog Jones ein, in der vagen Hoffnung, den Hof hinter der Werkstatt zu finden und die Sache klären zu können. Der Hof war zu dieser späten Nachmittagsstunde dämmrig, denn er war auf allen Seiten von
Häuserrückseiten umschlossen, die noch häßlicher und bedrohlicher waren als die abbröckelnden Fassaden der alten Häuser. Hund war keiner zu sehen, und Jones fragte sich, wie es möglich war, daß eine solche Rauferei keinerlei Spuren hinterlassen haben sollte.
Trotz der Behauptung des Wärters, es gebe im Museum selbst keine Hunde, sah Jones nervös auf die drei schmalen Fenster der Werkstatt im Kellergeschoß schmale, waagerechte Rechtecke, dicht an dem Pflaster, aus dessen Fugen Gras hervorwuchs, mit halbblinden Scheiben, die widerwärtig waren wie die Augen toter Fische. Links von den Fenstern führte eine Treppe zu einer fensterlosen, schwer verriegelten Tür. Einem plötzlichen Impuls folgend, ging er auf dem feuchten, holprigen Pflaster in die Hocke und versuchte, durch die Fenster in die Werkstatt zu schauen. Die Scheiben waren stark verschmutzt, aber als er sie mit seinem Taschentuch abrieb, sah er, daß die Vorhänge drinnen nicht zugezogen waren. Es war so dunkel im Keller, daß von außen nicht viel zu sehen war, aber hin und wieder tauchten einige der grotesken Utensilien gespenstisch aus der Dämmerung auf, als Jones nacheinander durch jedes der Fenster sah. Anfangs schien es ihm, als ob niemand in der Werkstatt sei, doch als er durch das Fenster ganz rechts schaute dasjenige, das der Gasse, durch die er gekommen war, am nächsten war -, sah er am anderen Ende ein Licht glimmen, das ihn vor ein Rätsel stellte. An dieser Stelle hätte überhaupt kein Licht sein dürfen. Es war eine Innenwand, und er konnte sich nicht erinnern, dort irgendeine Gasoder elektrische Lampe gesehen zu haben. Bei genauerem Hinsehen erwies sich das Glimmen als ein großes, senkrechtes Rechteck,. und das brachte ihn auf einen Gedanken. An dieser Stelle mußte sich die schwere Holztür mit dem riesigen Schloß befinden, die Tür, die stets verschlossen war und über der das kryptische Symbol aus den fragmentarischen Schriften verbotener uralter Magie sich befand. Sicher war die Tür diesmal offen, und der Raum, in den sie führte, war beleuchtet. Mehr noch als sonst beunruhigte ihn jetzt die Frage, wohin diese Tür führte und was hinter ihr liegen mochte.
Jones wanderte bis kurz vor sechs Uhr ziellos durch das öde Viertel und kehrte dann zum Museum zurück, um nach Rogers zu fragen. Er wußte selbst nicht, warum er den Mann ausgerechnet an diesem Tage unbedingt sprechen wollte, aber sicherlich hatte er unbewußte Ahnungen wegen des schrecklichen hundeähnlichen Schreis am Nachmittag und wegen des Lichtschimmers hinter der verwirrenden und
normalerweise verschlossenen Tür mit dem schweren Schloß. Die Wärter gingen gerade heim, als er ankam, und er hatte den Eindruck, daß Orabona, der dunkle ausländisch wirkende Wärter, ihn mit verschlagener, unterdrückt spöttischer Miene ansah. Dieser Blick gefiel ihm gar nicht, obwohl er oft beobachtet hatte, daß der Wärter seinen Arbeitgeber auf die gleiche Weise ansah.
Der Hauptsaal des Museums lag in gespenstischer Verlassenheit da, aber er durchschritt ihn rasch und klopfte an die Tür der Werkstatt. Es wurde ihm längere Zeit nicht geöffnet, obwohl er drinnen Schritte hörte. Nachdem er ein zweites Mal angeklopft hatte, rasselte jedoch das Schloß, und das uralte, in sechs Paneele geteilte Portal knarrte, öffnete sich widerstrebend und ließ die gebückte Gestalt von George Rogers sichtbar werden. Jones sah auf den ersten Blick, daß der Schausteller in einer ungewöhnlichen Stimmung war. Seine Begrüßung war durch eine seltsame Mischung aus Widerstreben und Triumph gekennzeichnet, und er lenkte das Gespräch unverzüglich auf die schauerlichsten und unglaublichsten Dinge.
Überlebende alte Götter unaussprechliche Opfer die Herkunft der Figuren in dem Alkoven, die nicht künstlich waren all die üblichen Prahlereien, diesmal allerdings in einem besonders vertraulichen Ton vorgebracht. Offensichtlich, so überlegte Jones, nahm der Wahnsinn des armen Kerls immer schlimmere Formen an. Von Zeit zu Zeit warf Rogers einen verstohlenen Blick auf die schwere, verschlossene Innentür am Ende des Raumes und auf ein Stück Rupfen, das nicht weit von ihr auf dem Boden lag und offenbar irgendeinen kleinen Gegenstand verhüllte. Jones wurde immer unruhiger und hatte immer weniger Lust, über die seltsamen Vorkommnisse des Nachmittags zu reden.
Rogers’ dröhnende Grabesstimme brach fast unter der Erregung seines fieberhaften Gefasels.
»Wissen Sie noch«, rief er, »was ich Ihnen über diese Ruinenstadt in Indochina erzählt habe, in der die Tcho-Tchos lebten ? Sie mußten zugeben, daß ich dort gewesen war, als Sie die Fotos sahen, obwohl Sie der Ansicht waren, ich hätte den länglichen Schwimmer im Dunkeln aus Wachs geformt. Aber wenn Sie wie ich gesehen hätten, wie er sich in den unterirdischen Tümpeln wand…
Doch das hier ist noch größer. Ich habe Ihnen nie davon erzählt, weil ich erst noch die letzten Einzelheiten klären wollte, bevor ich irgendwelche Behauptungen aufstelle. Wenn Sie sich die Fotos ansehen, werden Sie zugeben müssen, daß man eine solche Umgebung nicht nachmachen kann, und ich glaube, ich kann noch auf eine andere Art beweisen, daß Eskeine Wachsfigur aus meiner Werkstatt ist. Sie haben Es nie gesehen, denn wegen der Experimente konnte ich Es nie ausstellen.«
Der Schausteller warf einen sonderbaren Blick auf die verschlossene Tür. »Es kommt alles aus dem langen Ritual im achten Pnakotischen Fragment. Als ich es entziffert hatte, sah ich, daß es nur eine Bedeutung haben konnte. Es gab da Wesen im Norden, bevor das Land Lomar, ja bevor die Menschheit existierte, und das war eines davon. Wir mußten bis nach Alaska und von Fort Morton aus bis nach Notak fahren, aber das Ding war tatsächlich da. Riesige, zyklopische Ruinen, mehrere Hektar davon. Es war weniger übrig, als wir gehofft hatten, aber was kann man nach drei Millionen Jahren erwarten? Und hatten uns die Eskimo-Legenden nicht in die richtige Richtung geführt? Wir konnten keinen der Tölpel dazu überreden, mit uns zu gehen, und mußten mit dem Schlitten bis nach Nome zurückfahren, um Amerikaner zu bekommen. Orabona war in dem Klima zu nichts zu gebrauchen er war widerspenstig und mürrisch.
Ich erzähle Ihnen später, wie wir Es gefunden haben. Als wir das Eis aus den Pfeilern der zentralen Ruine gesprengt hatten, lag die Treppe genauso vor uns, wie wir es erwartet hatten. Es waren noch ein Paar Reliefs erhalten, und so hatten wir keine Schwierigkeiten, die Yankees davon abzuhalten, uns zu folgen. Orabona zitterte wie Espenlaub, man würde es nicht für möglich halten, wenn man sieht, wie arrogant er hier immer herumstolziert. Er wußte genug von den alten Sagen, um tüchtig Angst zu haben. Das ewige Licht war nicht mehr da, aber unsere Fackeln zeigten uns genug. Wir sahen die Gebeine von anderen, die vor uns hier waren in
unvordenklichen Zeiten, als das Klima noch warm war. Manche dieser Gebeine stammten von Wesen, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. Auf der dritten Ebene unten fanden wir den Elfenbeinthron, von dem in den Fragmenten so oft die Rede war, und ich kann Ihnen sagen, daß er nicht leer war.
Das Wesen auf dem Thron rührte sich nicht, und da wußten wir, daß Es die Nahrung eines Opfers brauchte. Aber wir wollten Es noch nicht aufwecken. Wir wollten Es lieber erst nach London schaffen. Orabona und ich holten die große Kiste von der Oberfläche, aber als wir sie gepackt hatten, zeigte sich, daß wir nicht in der Lage waren, sie die drei Treppen hinaufzuschaffen. Die Stufen waren nicht für Menschen gemacht, sie waren einfach zu hoch. Außerdem war die Kiste verteufelt schwer. Wir mußten die Amerikaner hinunterschicken. Sie waren nicht scharf darauf, in die Tiefen hinunterzusteigen, aber das Schlimmste war ja sicher in der Kiste verpackt. Wir erzählten ihnen, es seien ein paar Elfenbeinschnitzereien, archäologisches Zeug; nachdem sie den Elfenbeinthron gesehen hatten, glaubten sie uns wahrscheinlich sogar. Es ist ein Wunder, daß sie nicht auf den Gedanken kamen, wir hätten einen versteckten Schatz gefunden, und einen Anteil verlangten. Hinterher müssen sie die sonderbarsten Geschichten in Nome erzählt haben; ich bezweifle aber, daß sie noch einmal zu den Ruinen zurückgekehrt sind, obwohl dort noch der Elfenbeinthron war.«

Rogers machte eine Pause, suchte etwas auf seinem Schreibtisch und brachte einen Umschlag mit großformatigen fotografischen Abzügen zum Vorschein. Er nahm einen heraus und legte ihn mit der Vorderseite nach unten vor sich auf den Tisch, während er die übrigen Jones reichte. Es waren tatsächlich seltsame Aufnahmen: eisbedeckte Berge, Hundeschlitten, Männer in Pelzen und riesige Ruinen vor einem Schneehintergrund, Ruinen, deren bizarre Umrisse und gewaltige Steinblöcke keiner vernünftigen Erklärung zugänglich waren. Auf einer Blitzlichtaufnahme war ein unglaublicher Innenraum mit fremdartigen Reliefs und einem seltsamen Thron zu sehen, dessen Proportionen nicht für einen Menschen bestimmt sein konnten. Die Reliefs auf den gigantischen Mauern waren überwiegend symbolisch und bestanden sowohl aus unbekannten Ornamenten als auch aus gewissen Hieroglyphen, über die in blasphemischen Legenden dunkle Andeutungen gemacht werden. Über dem Thron prangte dasselbe schreckliche Symbol, das jetzt über der verschlossenen Holztür auf die Wand der Werkstatt gemalt war. Jones warf einen nervösen Blick auf das verschlossene Portal. Rogers, so viel standfest, war an seltsamen Orten gewesen und hatte seltsame Dinge gesehen. Doch diese verrückte Innenaufnahme konnte ohne weiteres eine Fälschung sein, vielleicht eine Aufnahme von einem phantasievollen Bühnenbild. Man durfte nicht zu leichtgläubig sein, aber Rogers fuhr fort:

»Also wir verschickten die Kisten von Nome aus und gelangten ohne Zwischenfall nach London. Es war das erste Mal, daß wir etwas mitbrachten, bei dem die Möglichkeit bestand, Es ins Leben zurückzuholen. Ich stellte Es nicht aus, weil ich Wichtigeres damit vorhatte. Es brauchte Nahrung in Form eines Opfers, denn es war ein Gott. Natürlich konnte es sich dabei nicht um ein Opfer handeln, wie Er es zu Seiner Zeit bekommen hatte, denn solche Wesen existieren heute nicht mehr. Aber es gab andere Wesen, die genauso gut waren. Blut ist Leben, müssen Sie wissen. Selbst die Lemuren und Elementargeister kommen hervor, wenn ihnen unter den richtigen Bedingungen das Blut von Menschen oder Tieren geopfert wird.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Erzählers wurde immer beunruhigender, so daß Jones sich unbehaglich auf seinem Stuhl wand. Rogers schien die Nervosität seines Gastes zu bemerken und fuhr mit einem besonders bösartigen Lächeln fort. »Das war letztes Jahr, daß ich Es bekam, und seither habe ich es ständig mit Riten und Opfern versucht. Orabona war keine große Hilfe, denn er war immer dagegen, daß man Es aufweckt. Er haßt Es wahrscheinlich, weil er Angst hat, was Es bedeuten wird. Er trägt ständig eine Pistole bei sich, um sich zu schützen -dieser Narr, als ob er sich gegen Es schützen könnte! Wenn er jemals diese Pistole ziehen sollte, erwürge ich ihn. Er wollte Es töten und es in Wachs nachbilden, aber ich bin bei meinem Plan geblieben, und ich werde Erfolg haben, trotz all dieser Feiglinge wie Orabona und dem spöttischen Grinsen von Skeptikern wie Ihnen, Jones! Ich habe die Riten zelebriert und bestimmte Opfer gebracht, und letzte Woche kam die entscheidende Wende.Das Opfer wurde angenommen!«
Rogers leckte sich die Lippen, während Jones unnatürlich steif dasaß. Der Schausteller erhob sich und ging durch den Raum zu dem Stück Rupfen, zu dem er so oft hingesehen hatte. Er bückte sich, packte den Fetzen an einer Ecke und sprach weiter.
»Sie haben jetzt genug über meine Arbeit gelacht. Jetzt ist es Zeit, daß Sie ein paar Fakten vorgelegt bekommen. Orabona hat mir erzählt. Sie haben heute nachmittag hier einen Hund jaulen hören. Wissen Sie, was das bedeutete?«
Jones starrte ihn an. Bei aller Neugier wäre er froh gewesen, das Kellergewölbe verlassen zu können, ohne irgend etwas über den Punkt zu erfahren, der ihn vorher so interessiert hatte. Aber Rogers war unerbittlich und begann, das Stück Rupfen hochzuheben. Darunter lag eine zermalmte, beinahe formlose Masse, die Jones nicht zu bestimmen wußte. Handelte es sich um ein einstmals lebendes Wesen, das auf irgendeine Art plattgepreßt, seines Blutes beraubt, an tausend Stellen durchlöchert und zu einer breiigen Masse zerstampft worden war? Doch es dauerte nicht lange, und Jones wußte, worum es sich handeln mußte. Es waren die Überreste eines Hundes, eines wahrscheinlich ziemlich großen Hundes von weißlicher Farbe. Seine Rasse war nicht mehr zu erkennen, denn er war auf die unaussprechlichste und gräßlichste Weise verstümmelt worden. Die Haare waren zum größten Teil abgesengt, wie durch die Wirkung einer besonders scharfen Säure, und die nackte, blutleere Haut war mit zahllosen kreisförmigen Wunden oder Einstichen übersät. Welche Art der Folter notwendig war, um solche Entstellungen herbeizuführen, überstieg Jones’ Vorstellungsvermögen.
In einer Empörung, die seinen wachsenden Abscheu noch übertraf, sprang Jones wie elektrisiert auf.
»Sie verdammter Sadist Sie Wahnsinniger Sie vollbringen eine solche Greueltat und wagen es noch, zu einem anständigen Menschen darüber zu sprechen!« Rogers ließ den Rupfen mit einem bösartigen Grinsen fallen und stellte sich seinem Gast entgegen. Seine Worte waren unnatürlich ruhig.
»Warum, glauben Sie, Sie Narr, habe ichdas getan? Ich gebe ja zu, daß das Ergebnis von unserem begrenzten menschlichen Standpunkt aus unerfreulich ist, aber was soll’s? Schließlich ist es kein Mensch. Ich habe nur ein Opfer dargebracht. Ich habe den Hund Ihmgegeben. Was geschah, ist sein Werk, nicht meines. Es brauchte das Opfer als Nahrung, und Es nahm es auf Seine Art entgegen. Aber lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie Es aussieht.«
Während Jones zögerte, kehrte der Sprecher an seinen Schreibtisch zurück und nahm das Foto in die Hand, das er mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt reichte er es Jones mit einem merkwürdigen Blick. Jones nahm es entgegen und sah es ohne besonderes Interesse an. Aber im nächsten Moment wurde sein Blick schärfer, denn die satanische Kraft des abgebildeten Objekts übte eine fast hypnotische Wirkung aus. Rogers hatte sich selbst übertreffen, als er die gräßliche Ausgeburt modellierte, die das Foto zeigte. Es war ein Werk von» infernalischer Genialität, und Jones fragte sich, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn es erst einmal ausgestellt wurde. Ein so gräßliches Ding hatte keine Daseinsberechtigung, wahrscheinlich hatte die bloße Betrachtung des fertigen Werkes den Geist seines Schöpfers verwirrt und ihn zu dem brutalen Opfer verleitet. Nur ein fester Glaube vermochte sich gegen die heimtückische Vermutung zu wehren, daß es sich bei diesem lästerlichen Ungeheuer um etwas handelte, was tatsächlich lebte oder irgendwann einmal gelebt hatte.
Das Ding auf dem Bild hockte auf einer täuschend echten Nachbildung des monströsen geschnitzten Throns auf der anderen Fotografie. Es mit einem normalen Wortschatz zu beschreiben, wäre unmöglich, denn nichts, was ihm auch nur annähernd entspräche, hat jemals die Vorstellungswelt eines vernünftigen Menschen beschäftigt. Es sollte wohl etwas darstellen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Wirbeltieren dieses Planeten hatte, obwohl man sich auch dessen eigentlich nicht sicher sein konnte. Es hatte riesige Ausmaße, denn selbst in der Kauerstellung war es fast doppelt so hoch wie Orabona, der neben ihm stand. Wenn man genau hinsah, konnte man gewisse Ähnlichkeiten mit dem Körperbau höherer Wirbeltiere erkennen.

Der Torso war fast kugelförmig, mit sechs langen, gewundenen Gliedern, die in krebsartigen Scheren oder Klauen endeten. Am oberen Ende saß eine zweite, kleinere, blasenähnliche Kugel;
diese besaß drei fischartige, dreiecksförmig angeordnete Glotzaugen, einen offenbar beweglichen Rüssel von einem Fuß Länge und kiemenartige seitliche Auswüchse, so daß man annehmen konnte, daß es sich dabei um eine Art Kopf handelte. Der größte Teil des Körpers war von etwas bedeckt, was auf den ersten Blick wie ein Fell wirkte, sich bei näherem Hinsehen jedoch als ein dichter Bewuchs aus dunklen, schlanken Tentakeln oder Saugfäden entpuppte, deren jeder mit einer Mundöffnung versehen war. Auf dem Kopf und unter dem Rüssel waren die Tentakeln länger und dichter und mit spiralförmigen Streifen versehen, so daß man sich an die
Schlangenhaare der Medusa erinnert fühlte. Davon zusprechen, daß ein solches Wesen einen Ausdruckhätte, wäre widersinnig gewesen, und doch schien es Jones, daß die drei hervortretenden Fischaugen und der schräg gehaltene Rüssel Haß, Gier und schiere Grausamkeit verkörperten, die für Menschen um so unbegreiflicher waren, als auch noch Emotionen mitzuspielen schienen, die nicht von dieser Welt oder von diesem Sonnensystem waren. In diese bestialische Phantasmagorie, so überlegte er, mußte Rogers seinen ganzen Wahnsinn und alle seine unheimliche bildhauerische Begabung gesteckt haben. Das Ding war unglaublich, und doch bewies das Foto, daß es existierte. Rogers störte ihn aus seinen Überlegungen auf.
»Na was halten Sie von Ihm? Können Sie sich jetzt denken, was den Hund zermalmt und ihn mit Millionen Mündern ausgesaugt hat? Es brauchte Nahrung — und Es wird noch mehr brauchen. Es ist ein Gott, und ich bin der erste Priester Seiner neuen Herrschaft. lä! Schab-Niggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!« Jones legte das Foto angewidert und mitleidig beiseite.
»Also wissen Sie, Rogers, das geht dann doch zu weit. Irgendwo muß eine Grenze sein. Zugegeben, es ist ein Meisterwerk, aber es ist nicht gut für Sie. Es ist besser, wenn Sie es nicht mehr ansehen befehlen Sie Orabona, es zu zerstören, und versuchen Sie, es zu vergessen. Und lassen Sie mich auch dieses grauenharte Bild zerreißen.«
Mit einem Knurren schnappte sich Rogers das Foto und legte es wieder auf seinen Schreibtisch.
»Sie Idiot, Sie, Sie glauben also immer noch, daß alles ein Schwindel ist! Sie denken immer noch, ich habe Es gemacht, und Sie denken immer noch, meine Figuren seien nichts als lebloses Wachs! Das beweist, daß Sie noch gefühlloser sind als irgendeine meiner Wachsfiguren! Aber diesmal habe ich einen Beweis, und Sie werden ihn sehen! Allerdings nicht sofort, denn Es muß nach dem Opfer ruhen, aber später. Oh ja, dann werden Sie Seine Macht nicht mehr bezweifeln.«
Als Rogers zu der Tür mit dem großen Schloß hinsah, nahm Jones seinen Hut und seinen Stock von der Bank.
»Nun gut, Rogers, später dann also. Ich muß jetzt gehen, aber ich komme morgen nachmittag wieder. Denken Sie über meinen Ratschlag nach und überlegen Sie sich, ob er nicht vernünftig ist. Fragen Sie auch Orabona, was er meint.«Rogers bleckte buchstäblich die Zähne wie ein wildes Tier.
»So, Sie müssen jetzt gehen, ja? Haben Sie jetzt doch Angst bekommen? Angst, trotz all Ihres klugen Geredes! Sie sagen, die Figuren sind nur aus Wachs, und doch laufen Sie davon, wenn ich gerade dabei bin, Ihnen zu beweisen, daß das nicht der Fall ist, Sie sind genauso wie die Burschen, die auf meine Dauerwette eingehen, daß sie es nicht wagen, die Nacht im Museum zu verbringen; wenn sie kommen, sind sie noch mutig, aber nach einer Stunde schreien sie und hämmern an die Tür, daß ich sie herauslassen soll! Ich soll Orabona fragen, ja! Ihr beide ihr seid immer gegen mich! Ihr wollt verhindern, daß Es seine irdische Herrschaft antritt!« Jones bewahrte Ruhe.
»Nein, Rogers, niemand ist gegen Sie. Und ich habe auch keine Angst vor Ihren Figuren, so sehr ich Ihre Kunst bewundere. Aber wir sind heute abend beide etwas nervös, und ich meine, es wird uns beiden gut tun, uns etwas auszuruhn.« Rogers hinderte seinen Gast wiederum am Gehen.
»Keine Angst, wie? Warum wollen Sie dann unbedingt gehen? Hören Sie zu, würden Sie es wagen, hier alleine im Dunkeln zu bleiben, oder nicht? Warum haben Sie es so eilig, wenn Sie ohnehin nicht an Es glauben?«
Rogers schien eine neue Idee gekommen zu sein, und Jones musterte ihn prüfend.

»Ich habe es gar nicht eilig, aber was würde es nützen, wenn ich noch länger hierbliebe? Was würde das beweisen? Mein einziger Einwand wäre, daß ich hier nicht bequem schlafen könnte. Aber was würde ich, würden Sie davon haben?« Diesmal kam Jones eine Idee. Er fuhr in versöhnlichem Tonfall fort.
»Schauen Sie, Rogers, ich habe Sie eben gefragt, was es beweisen würde, wenn ich hierbliebe, wo wir doch beide die Wahrheit kennen. Es würde beweisen, daß Ihre Wachsfiguren eben nur Wachsfiguren sind, und ich finde. Sie sollten Ihre Phantasie nicht so mit sich durchgehen lassen. Nehmen Sie an, ich bleibe tatsächlich hier. Wenn ich es bis morgen früh aushalte, versprechen Sie mir dann, daß Sie es sich anders überlegen, für drei Monate oder so in Urlaub gehen und Ihr neues Werk von Orabona zerstören lassen ? Was meinen Sie, ist das nicht ein faires Angebot?«
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Schaustellers war schwer zu deuten. Es war offenkundig, daß er fieberhaft nachdachte und daß von den verschiedenen, miteinander in Widerstreit liegenden Gefühlen schließlich bösartiger Triumph die Oberhand gewann. Seine Stimme klang belegt, als er zu seiner Erwiderung ansetzte.

»Einverstanden, es ist ein faires Angebot! Falls Sie bis zum Morgen durchhalten,halte ich mich an Ihren Ratschlag. Aber das ist die Bedingung. Wir gehen jetzt etwas essen und kommen dann wieder. Ich schließe Sie in dem Ausstellungssaal ein und gehe heim. Morgen früh komme ich vor Orabona zurück er kommt immer eine halbe Stunde früher als die anderen -, und sehe nach, wie es Ihnen geht. Aber lassen Sie sich nicht darauf ein, wenn Sie nicht absolutsicher sind, daß Ihre Skepsis berechtigt ist. Andere wollten vorzeitig wieder heraus, und diese Chance haben Sie auch. Ich nehme an, Sie können sich einem Polizisten bemerkbar machen, wenn Sie an die äußere Tür klopfen. Es wird Ihnen vielleicht nach einer Weile nicht mehr so gut gefallen; Sie sind zwar nicht im selben Raum mit Ihm, aber immerhin im selben Gebäude.«

Als sie durch die Hintertür in den finsteren Hof hinaustraten, nahm Rogers das in den Rupfen gewickelte gräßliche Objekt mit hinaus. In der Mitte des Hofes war ein Kanaldeckel, den der Schausteller ruhig und mit einem schaurigen Anschein von Gewohnheit hochhob. Das Ding verschwand mitsamt dem Rupfen im Labyrinth der Kanalisation. Jones schauderte und hielt einen gewissen Abstand von der hageren Gestalt ein, als sie auf die Straße hinaustraten.
Sie gingen in wortlosem Einverständnis nicht gemeinsam essen, sondern
verabredeten, sich um elf Uhr vor dem Museum zu treffen. Jones hielt eine Kutsche an und atmete freier, als er die Waterloo Bridge hinter sich hatte und auf den hell erleuchteten Strand zufuhr. Er aß in einem ruhigen Cafe zu Abend und ließ sich dann in seine Wohnung am Portland Place fahren, um ein Bad zu nehmen und ein paar Sachen zusammenzusuchen. Er fragte sich, was Rogers gerade tun mochte. Er hatte gehört, daß der Mann ein riesiges, bedrückendes Haus an der Walworth Road besaß, das voller obskurer und verbotener Bücher sowie okkulter Gegenstände und Wachsfiguren war, die er nicht öffentlich ausstellen wollte. Orabona, so hieß es, bewohnte in demselben Haus eigene Räume.
Als Jones um elf Uhr ankam, wartete Rogers schon an der Kellertür in der Southwark Street. Sie sprachen nur wenig, schienen aber beide sehr angespannt zu sein. Sie kamen überein, daß nur der eigentliche Ausstellungsraum Schauplatz der Nachtwache sein sollte, und Rogers bestand nicht darauf, daß Jones, sich in den Alkoven setzte, der nur Erwachsenen zugänglich war. Rogers löschte von der Werkstatt aus alle Lampen und schloß die Tür der Krypta mit einem der vielen Schlüssel an seinem Schlüsselbund ab. Ohne Jones die Hand zu geben, ging er auf die Straße hinaus, schloß hinter sich ab, und stieg die ausgetretenen Stufen der Treppe hinab. Jones hörte, wie sich seine Schritte entfernten, und wußte, daß seine lange, schwere Nachtwache begonnen hatte. Später, in der pechschwarzen Finsternis des großen Kellergewölbes, verwünschte Jones seine kindliche Naivität, die ihn in diese Lage gebracht hatte. Während der ersten halben Stunde hatte er in gewissen Abständen seine Taschenlampe eingeschaltet, aber jetzt saß er nur in der Dunkelheit auf einer der Besucherbänke. Der Lichtstrahl der Taschenlampe hatte jedesmal ein anderes groteskes Objekt beleuchtet eine Guillotine, ein namenloses hybrides Monster, ein bärtiges, unheildrohendes Gesicht, einen Körper, dem das Blut aus der durchschnittenen Kehle quoll. Jones wußte, daß diese Dinge nicht Wirklichkeit waren, aber nach der ersten halben Stunde war es ihm doch lieber, sie nicht ansehen zu müssen.
Warum er dem Verrückten diesen Gefallen getan hatte, wußte er kaum noch zu sagen. Es wäre ja viel einfacher gewesen, den Mann einfach sich selbst zu überlassen oder ihm einen Psychiater ins Haus zu schicken. Wahrscheinlich, so überlegte er, war es die Sympathie, die ein Künstler für einen anderen empfindet. Rogers war so hochbegabt, daß man ihm einfach helfen mußte, seine wachsende Manie zu überwinden. Jemand, der so unglaublich lebensechte Figuren ersinnen und modellieren konnte, war sicherlich nicht weit von wahrer künstlerischer Größe entfernt. Er besaß die Phantasie eines Sime oder eines Dore und das hervorragende handwerkliche Können eines Blatschka. Er hatte für die Welt des Horrors das gleiche getan, was die Blatschkas mit ihren wundervoll genauen Pflanzenmodellen aus feinstem gefärbtem Glas für die Welt der Botanik getan hatten.
Um Mitternacht drangen die Schläge einer fernen Kirchturmuhr durch die Dunkelheit, und Jones war dankbar für diese beruhigende Botschaft aus der noch existierenden Außenwelt. Das Museumsgewölbe war wie eine Gruft gespenstisch und entsetzlich einsam. Selbst eine Maus wäre Jones jetzt als Gesellschaft willkommen gewesen, aber Rogers hatte sich einmal gerühmt, daß »aus bestimmten Gründen«, wie er sagte, keine Mäuse oder auch nur Insekten jemals in das Gewölbe kamen. Das war in der Tat merkwürdig, schien aber zu stimmen. Es herrschte absolute Totenstille. Wenn nur irgend etwas zu hören gewesen wäre! Er scharrte mit den Füßen, und die Echos vervielfältigten sich gespenstisch in der Stille, aber in dem Stakkato-Widerhall klang etwas wie Spott mit. Er schwor sich, nicht anzufangen, mit sich selbst zu reden. Das wäre ein Zeichen eines beginnenden
Nervenzusammenbruchs gewesen. Die Zeit schien abnorm langsam zu vergehen. Er hätte schwören können, daß schon Stunden vergangen waren, seit er zum letztenmal auf die Uhr gesehen hatte, und doch war es eben erst Mitternacht gewesen. Wenn nur seine Sinne nicht so übernatürlich wach gewesen wären. Irgend etwas in der Dunkelheit und Stille schien sie geschärft zu haben, so daß sie schon auf schwächste Reize reagierten. Von Zeit zu Zeit schien es ihm, als hörte er ein ganz leises Summen, bei dem es sich eigentlich nicht um die normalen Nachtgeräusche der schmutzigen Straßen draußen handeln konnte, und er dachte an irrelevante Dinge wie die Sphärenmusik und das unbekannte, unzugängliche Leben fremder Dimensionen, das in das unsere eindringen kann. Rogers hatte oft über solche Dinge spekuliert. Die schwebenden Lichtpünktchen vor seinen durch die Dunkelheit geblendeten Augen bewegten sich in seltsam symmetrischen Mustern. Er hatte sich oft gefragt, was es mit diesen seltsamen Lichtstrahlen aus unergründlicher Tiefe auf sich hatte, die bei fehlender irdischer Beleuchtung vor uns funkeln, hatte aber noch nie welche beobachtet, die sich so verhielten, wie diese sich jetzt verhielten. Was ihnen fehlte, war die gelassene Ziellosigkeit gewöhnlicher Lichtfünkchen, und dadurch entstand der Eindruck eines von jeder irdischen Vorstellung entfernten Willens.
Und dann kam dieser seltsame Eindruck, daß sich irgendwo etwas rührte. Es stand nichts offen, so daß keinerlei Zugluft entstehen konnte, und doch spürte Jones, daß die Luft nicht ganz ruhte. Er meinte, fast unmerkliche Druckschwankungen wahrzunehmen, die aber nicht ganz so stark waren, daß sie von, unsichtbar herumtappenden widerwärtigen Elementargeistern hätten stammen können. Auch war es ungewöhnlich kalt. Das alles gefiel ihm überhaupt nicht. Die Luft schmeckte salzig, wie nach dem Abschaum dunkler unterirdischer Gewässer, und auch ein ganz schwacher muffiger Geruch war vorhanden. Bei Tage war ihm nie aufgefallen, daß die Wachsfiguren einen Geruch verströmten. Und auch jetzt war es eigentlich nicht der Geruch von Wachsfiguren. Es war mehr wie der schwache Geruch präparierter Tiere in einem Naturgeschichte-Museum. Das war eigenartig angesichts Rogers’ Behauptung, daß seine Figuren nicht alle künstlich seien, ja es war wahrscheinlich eben diese Behauptung, die ihm, Jones, diese Geruchsempfindungen vorgaukelte. Er mußte sich vor solchen Halluzinationen in acht nehmen hatten nicht solche Dinge den armen Rogers in den Wahnsinn getrieben?
Aber die Einsamkeit an diesem Ort war schrecklich. Selbst die fernen Glockentöne schienen aus kosmischen Abgründen zu kommen. Jones mußte dabei an das irrsinnige Bild denken, das Rogers ihm gezeigt hatte die unterirdische Halle mit dem kryptischen Thron, bei der es sich angeblich um einen Teil einer drei Millionen Jahre alten Ruine in den gefürchteten und unzugänglichen einsamen Weiten der Arktis handelte. Vielleicht war Rogers tatsächlich in Alaska gewesen, aber das Bild war sicherlich irgendwie gestellt worden. Eine andere Erklärung war angesichts der Reliefs und der grausigen Symbole nicht denkbar. Und dann diese monströse Gestalt, die auf dem Thron gesessen haben sollte welch eine Ausgeburt einer morbiden Phantasie! Jones fragte sich, wie weit er von diesem irrwitzigen Meisterwerk in Wachs entfernt sein mochte, wahrscheinlich wurde es hinter der schweren Holztür aufbewahrt, die aus der Werkstatt in irgendeinen anderen Raum führte. Aber wozu sollte es gut sein, sich über eine Wachsfigur Gedanken zu machen ? War denn nicht der Raum, in dem er sich jetzt befand, voller solcher Dinge, und waren nicht manche davon kaum weniger schrecklich als das grauenhafte »ES«? Und hinter einem dünnen Stoffschirm zu
seiner Linken befand sich der »Nur für Erwachsene« zugängliche Alkoven mit seinen unaussprechlichen Phantomen.
Die Nähe der ungezählten wächsernen Gestalten begann immer mehr an Jones’ Nerven zu zerren, während die Viertelstunden vorüberschlichen. Er kannte das Museum so gut, daß er nicht einmal im Stockfinsteren vergessen konnte, wie sie aussahen. Ja die Dunkelheit hatte sogar den Effekt, den erinnerten Bildern beunruhigende, imaginäre Merkmale hinzuzufügen. Die Guillotine schien zu knarren, und das bärtige Gesicht von Landru dem Mörder seiner fünfzig Ehefrauen verzerrte sich zu einer monströsen Grimasse. Aus dem durchschnittenen Hals von Madame Demers schien ein grausiges Gurgeln zu kommen, während ein
verstümmeltes Mordopfer ohne Kopf und Beine sich auf seinen blutigen Stümpfen immer naher heranzuschieben suchte. Jones schloß versuchsweise die Augen, um festzustellen, ob die Bilder dadurch verschwänden, aber auch das nützte nichts. Wenn er die Augen geschlossen hatte, wurden außerdem die sonderbar regelmäßigen Muster der Lichtpünktchen noch deutlicher.
Dann verfiel er auf den Gedanken, die schrecklichen Bilder, die er bis jetzt hatte vertreiben wollen, absichtlich bei sich zu behalten. Er klammerte sich gewissermaßen an sie, weil sie nun allmählich von immer schrecklicheren verdrängt wurden. Ohne sein Zutun begann sein Gedächtnis, die zutiefst unmenschlichen Ungeheuer zu rekonstruieren, die in den dunkleren Ecken hockten, und diese klumpigen Gewächse glitschten und schlängelten sich auf ihn zu, als wollten sie ihn umzingeln. Der schwarze Tsathoggua verformte sich aus einem krötenartigen Wasserspeier in eine lange, gewundene Linie mit Hunderten von Stummelfüßen, und eine hagere, gummiartige Nachthexe breitete ihre Schwingen aus, als wollte sie sich auf den Beobachter stürzen und ihn ersticken. Jones mußte an sich halten, um nicht zu schreien. Er wußte, daß er zu den traditionellen Spukgestalten der Kindheit zurückkehrte und beschloß, seinen Erwachsenenverstand zu gebrauchen, um die Phantome im Zaum zu halten. Er stellte fest, daß es ein wenig half, wenn er die Taschenlampe wieder anmachte. Mochten die Bildwerke, die sie beleuchtete, auch furchterregend sein, sie waren längst nicht so schlimm wie das, was seine Phantasie aus der pechschwarzen Nacht heraufbeschwor.

Aber das Verfahren hatte auch Nachteile. Selbst im Licht seiner Lampe meinte er ein leichtes, verstohlenes Zittern des Stoffschirms wahrzunehmen, der den schrecklichen Alkoven verdeckte. Er wußte, was dahinter lag, und schauderte. Die Einbildungskraft ließ die entsetzliche Gestalt von Yog-Sothoth vor ihm , erstehen, nur ein Konglomerat irisierender Kugeln, und doch von bösartigster Vieldeutigkeit. Was war diese schaurige Masse, die langsam auf ihn zuschwebte und an den Schirm anstieß, der ihr im Weg stand? Eine kleine Ausbuchtung in dem Stoff ganz rechts ließ an das spitze Horn des Gnophkeh denken, das haarige Fabelwesen aus dem Grönlandeis, das bald auf zwei, bald auf vier und bald auf sechs Beinen ging. Um diese Phantasmagorien zu vertreiben, schritt Jones mit brennender Taschenlampe beherzt auf den höllischen Alkoven zu. Natürlich waren all seine Ängste grundlos und doch schien es nicht so, als wehten die langen Gesichtstentakeln des Großen Ctuluh fast unmerklich hin und her, langsam und stetig? Er wußte, daß sie flexibel waren, hatte aber noch nicht bemerkt, daß der Luftzug, der durch die Annäherung eines Menschen entstand, schon ausreichte, sie in Bewegung zu versetzen.
Er kehrte auf seinen Sitzplatz außerhalb des Alkovens zurück, schloß die Augen und ließ die symmetrischen Lichtfünkchen gewähren. Die ferne Turmuhr schlug ein einziges Mal. War es möglich, daß es erst ein Uhr war? Er leuchtete mit der Taschenlampe auf seine Uhr und sah, daß es genau eins war. Es würde ihm in der Tat schwer werden, bis zum Morgen auszuharren. Rogers würde gegen acht erscheinen, noch vor Orabona. Draußen in den anderen Kellerräumen würde es schon viel früher hell werden, aber kein Lichtstrahl würde hier zu ihm hereindringen. Alle Fenster dieses Raumes, bis auf die drei schmalen, die zum Hof hinausgingen, waren zugemauert worden. Alles in allem eine ermüdende Nachtwache.
Die Halluzinationen waren jetzt überwiegend akustischer Natur, er hätte schwören können, daß er in der Werkstatt hinter der verschlossenen Tür verstohlen tappende Schritte hörte. Er durfte nicht an die versteckte Schreckensgestalt denken, die Rogers »Es« nannte. Dieses Ungeheuer war eine Blasphemie, es hatte seinen Schöpfer in den Wahnsinn getrieben, und jetzt beschwor sogar der bloße Gedanke daran eingebildete Schrecknisse herauf. Es konnte nicht in der Werkstatt sein, es befand sich ja hinter der schweren Holztür mit dem großen Schloß. Sicher waren diese Schritte nur Einbildung.
Dann meinte er zu hören, wie sich der Schlüssel in der Werkstattür drehte. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hin, aber die alte, in sechs Paneele aufgeteilte Tür war nach wie vor geschlossen. Er versuchte es wieder mit der Dunkelheit und den geschlossenen Augen, aber schon bildete er sich ein, ein Quietschen oder Knarren zu hören; diesmal war es nicht die Guillotine, sondern die langsam und verstohlen sich öffnende Tür der Werkstatt. Er war fest entschlossen, nicht zu schreien. Wenn er erst einmal zu schreien anfing, war es um ihn geschehen. Und doch war jetzt ein Tappen oder Schlurfen zu hören, und es kam langsam auf ihn zu. Er mußte die Kontrolle über sich selbst behalten. War ihm das nicht auch gelungen, als die namenlosen Hirngespinste ihn umzingelt hatten? Das Schlurfen kam näher, und er erlahmte in seinem tapferen Vorsatz. Aber er schrie nicht, sondern stieß nur mit erstickter Stimme hervor: »Ist da jemand? Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Es kam keine Antwort, aber das Schlurfen ging weiter. Jones wußte nicht, wovor er sich mehr fürchtete, davor, seine Taschenlampe anzuknipsen, oder davor, im Dunkeln sitzenzubleiben, während etwas auf ihn zugekrochen kam, was er nicht kannte. Dieses Ding war anders, das spürte er genau, als die Chimären des Abends. Seine Hände und sein Hals zuckten krampfhaft. Stillzuhalten war ihn» unmöglich, und die Finsternis begann, unerträglich zu werden. Erneut rief er hysterisch: »Halt! Wer da?«. Und dann knipste er seine Taschenlampe an. Zu Tode entsetzt über das, was er sah, ließ er die Lampe fallen und schrie, nicht nur einmal, sondern unzählige Male.

Was da aus der Dunkelheit auf ihn zugeschlurft kam, war ein riesiges, lästerliches schwarzes Ungeheuer, halb Affe und halb Insekt. Sein Fell hing ihm lose auf den Knochen, und sein faltiger, mit toten Augen starrender, viel zu kleiner Kopf schwankte wie trunken hin und her. Seine Vordertatzen waren ausgestreckt, mit weit gespreizten Krallen, und der ganze Körper war trotz des völligen Fehlens eines Gesichtsausdrucks in unverkennbarer, boshafter Mordlust angespannt. Als nun die Schreie verstummten und die Dunkelheit zurückgekehrt war, machte es einen Satz und hatte Jones im nächsten Moment zu Boden geworfen. Dieser wehrte sich nicht, denn er war in Ohnmacht gefallen.

Jones’ Schwächeanfall dauerte offenbar nur einen Moment, denn das
unaussprechliche Ungeheuer schleifte ihn noch wie ein Affe durch die Dunkelheit, als er wieder zum Bewußtsein kam. Was ihn vollends wach machte, waren die Geräusche, die das Monstrum von sich gab, oder genauer gesagt, die Stimme, mit , der es sie machte. Es war eine menschliche Stimme, und er kannte sie. Nur eine ganz bestimmte Person konnte der Besitzer dieser heiseren, fieberhaften Stimme sein, die in merkwürdigem Singsang ein unbekanntes Wesen anrief.
»lä! lä!« heulte die Stimme. »Ich komme, o Rhan-Tegoth, komme mit der Nahrung, du hast lange gewartet und Entbehrungen gelitten, doch nun bekommst du, was versprochen wurde. Das und noch mehr, denn anstelle von Orabona wird es jemand von hohem Rang sein, der dich bezweifelt hat. Du wirst ihn zermalmen und aussaugen, mit all seinen Zweifeln, und stark davon werden. Und in alle Ewigkeit wird er den Menschen als Monument deines Ruhms gezeigt werden. Rhan-Tegoth, Unendlicher und Unbezwinglicher, ich bin dein Sklave und Hohepriester. Du bist hungrig, und ich nähre dich. Ich las das Zeichen und fand dich. Ich werde dich mit Blut sättigen, und du sollst mich mit Macht sättigen. lä! Schab-Niggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!«
Schlagartig fielen alle Ängste der Nacht wie ein entbehrlich gewordenes Gewand von ihm ab. Er war wieder Herr seiner selbst, denn nun kannte er die nur allzu irdische und materielle Gefahr, der er begegnen mußte. Dies war kein monströses Fabelwesen, sondern ein gefährlicher Irrer. Es war Rogers, der sich mit einem von ihm selbst entworfenen, grotesken Kostüm verkleidet hatte, und nun dem Teufelsgott, den er aus Wachs gebildet hatte, ein schauriges Opfer bringen wollte. Er war offenbar vom Hinterhof aus in die Werkstatt gegangen, hatte sich verkleidet und sich dann angeschlichen, um sein verängstigt in der Falle sitzendes Opfer zu packen. Er verfügte über ungeheure Körperkräfte, und Jones wußte, daß er rasch handeln mußte, um seinen ungeheuerlichen Plan zu vereiteln. Er beschloß, das Vertrauen des Irren auf seine Bewußtlosigkeit auszunützen und ihn in einem günstigen Moment zu überraschen. Als er über eine Schwelle geschleift wurde, wußte er, daß sie sich jetzt in der stockfinsteren Werkstatt befanden.
Mit der Kraft der Todesangst sprang Jones plötzlich aus der halbliegenden Stellung auf, in der er über den Boden gezerrt wurde. Für einen Augenblick entriß er sich so den Händen des überrumpelten Irrsinnigen, und im nächsten Moment gelang es ihm durch einen glücklichen Zufall, seine eigenen Hände um den grotesk verhüllten Hals seines Peinigers zu legen. Gleichzeitig bekam Rogers ihn jedoch wieder zu fassen, und schon war ein verzweifelter Kampf auf Leben und Tod entbrannt. Jones’ sportliches Training war seine einzige Rettung, denn der wahnsinnige Angreifer, bar jeder Hemmung der Fairneß, des Anstands oder auch nur des Selbsterhaltungstriebs, verwandelte sich in eine blindwütige Tötungsmaschine, so schrecklich wie ein Wolf oder ein Panther.
Gutturale Schreie akzentuierten hin und wieder das schreckliche Handgemenge im Dunkeln. Blut spritzte, Kleider zerrissen, und Jones spürte schließlich, daß er den seiner gespenstischen Maske entkleideten, bloßen Hals seines Widersachers umklammerte. Er sagte kein Wort, bot nur alle Kräfte zur Rettung seines Lebens auf. Rogers trat, stach, schlug, biß, kratzte und spuckte und fand trotzdem zwischendurch noch die Kraft, ganze Sätze hervorzustoßen, von deren ritualisierter Sprache Jones jedoch nur immer wieder den Namen »Rhan-Tegoth« verstand, der wie das Echo unendlich fernen Knurrens und Bellens klang. Die Kämpfenden wälzten sich auf dem Boden, warfen Werkbänke um oder stießen an Wände und den gemauerten Sockel des Schmelzofens. Bis zum Schluß konnte Jones nicht wissen, ob er sich würde retten können, doch dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Ein Stoß mit dem Knie gegen Rogers’ Brust ließ diesen erschlaffen, und im nächsten Moment wußte er, daß er gesiegt hatte.
Obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, stand Jones auf und tastete
sich auf der Suche nach dem Lichtschalter an der Wand entlang, denn seine Taschenlampe war weg. In seinen zerfetzten Kleidern schleppte er sich vorwärts und zerrte seinen reglosen Gegner hinter sich her, weil er einen plötzlichen Angriff fürchtete, falls der Wahnsinnige zu sich kam. Er fand den Schaltkasten und probierte verschiedene Hebel aus. Als dann plötzlich das wüste Durcheinander in der Werkstatt in gleißendes Licht getaucht war, ging er daran, Rogers mit
herumliegenden Stricken und Gürteln zu fesseln. Die Verkleidung des Schaustellers oder das, was davon übrig war war aus einem seltsamen lederähnlichen Material. Aus irgendeinem Grunde bekam Joneseine Gänsehaut, wenn er es berührte, und es schien auch einen fremdartigen, rostigen Geruch zu verströmen. In den normalen Kleidern darunter fand Jones Rogers’ Schlüsselbund, den er als Unterpfand für seine endgültige Befreiung an sich nahm. Die Rollos vor den kleinen, schlitzartigen Fenstern waren alle heruntergezogen, und er ließ sie so.
Nachdem er sich über einem Spülstein von den blutigen Spuren des Kampfes gesäubert hatte, zog Jones die am normalsten wirkenden und noch am besten sitzenden Kleider an, die er unter den Kostümen für die Wachsfiguren finden konnte. Er prüfte die Tür zum Hinterhof und stellte fest, daß sie sich von innen ohne Schlüssel öffnen ließ. Er behielt jedoch den Schlüsselbund, um wieder in das Museum gelangen zu können, wenn er später mit Verstärkung zurückkehrte, denn es blieb jetzt natürlich nichts anderes übrig, als einen Psychiater zu holen. Es gab kein Telefon in dem Museum, aber er würde sicherlich eine Apotheke oder ein die ganze Nacht geöffnetes Restaurant finden, von wo aus er anrufen konnte. Er hatte schon fast die Tür aufgemacht, um hinauszugehen, als ihm eine Flut wüster Schmähungen von der anderen Seite des Raums her sagte, daß Rogers, dessen einzige erkennbare Verletzung ein langer, tiefer Kratzer auf der linken Wange war, wieder zu sich gekommen war.
»Brut von Noth-Yidik und Auswurf von K’thun! Sohn der Köter, die im Malstrom Azathoths jaulen! Sie wären heilig und unsterblich gewesen, und jetzt verraten sie Es und Seinen Priester! Aber hüten Sie sich denn Es ist hungrig! Eigentlich war Orabona vorgesehen, dieser verfluchte, verräterische Hund, der sich gegen mich und Es auflehnt, aber ich wollte Ihnen den Vortritt lassen. Jetzt müßt ihr beide aufpassen, denn Es kennt kein Erbarmen, wenn es ohne seinen Priester ist.
lä! lä! Die Rache ist nahe! Wissen Sie, daß Sie unsterblich geworden wären? Schauen Sie sich den Schmelzofen an! Es ist Wachs im Kessel, und das Feuer braucht nur noch angezündet werden. Ich wäre mit Ihnen genauso verfahren wie mit anderen Lebewesen. Ha! Sie, der Sie darauf geschworen hätten, daß all meine Figuren aus Wachs sind, wären selbst zur Wachsfigur geworden! Der Schmelzofen war bereit! Wenn Es sich gütlich getan und Sie wie der Hund gewesen wären, den ich Ihnen zeigte, hätte ich Ihre eingefallenen, durchlöcherten Überreste unsterblich gemacht! Wachs wäre das Geheimnis gewesen. Sagten Sie nicht, ich sei ein großer Künstler? Wachs in jeder Pore, Wachs über jedem Quadratzentimeter von Ihnen lä! lä! Und von da an hätte die Welt Ihren zerfleischten Kadaver betrachtet und sich gefragt, wie ich ein solches Ungeheuer hätte ersinnen und herstellen können! Ha! Und Orabona wäre als nächster drangekommen, und nach ihm noch andere und so
wäre meine wächserne Familie immer größer geworden! Sie Hund, glauben Sie immer noch, ich hätte meine Wachsfiguren alle
gemacht?Wollen wir nicht lieber sagen präpariert?Sie kennen inzwischen die seltsamen Orte, an denen ich gewesen bin, und die seltsamen Dinge, die ich mitgebracht habe. Sie Feigling! Sie könnten sich niemals dem dimensionalen Schlurfer stellen, dessen Fell ich überwarf, um Ihnen Angst einzujagen; der bloße Anblick des lebenden Schlurfers oder auch nur der Gedanke an ihn, würde Sie auf der Stelle vor Angst sterben lassen! lä! lä! Es wartet hungrig auf das Blut, das sein Leben ist!« Rogers hatte sich an die Wand gelehnt und rieb sich an seinen Fesseln.
»Hören Sie zu, Jones, wenn ich Sie gehen lasse, lassen Sie mich dann auch gehen? Es muß von seinem Hohepriester betreut werden. Orabona reicht aus, um es am Leben zu erhalten, und wenn er geopfert ist, werde ich seine Überreste in Wachs konservieren, damit die Welt sie betrachten kann. Sie hätten es selbst sein können, aber Sie haben die Ehre zurückgewiesen. Ich werde Sie nicht mehr belästigen. Lassen Sie mich gehen, und ich teile mit Ihnen die Macht, die Es mir verleihen wird. lä! lä! Groß ist Rhan-Tegoth! Lassen Sie mich gehen! Lassen Sie mich gehen! Es darbt dort unten hinter der Tür, und wenn Es stirbt, können die Alten Wesen nie mehr wiederkehren. Ha! Ha! Lassen Sie mich gehen!«
Jones schüttelte nur den Kopf, obwohl die entsetzlichen Phantasien des Schaustellers ihn abstießen. Rogers, der jetzt mit glühenden Augen die verschlossene Holztür anstarrte, schlug jetzt immer wieder seinen Kopf an die Ziegelmauer und kickte mit seinen gefesselten Beinen. Jones fürchtete, er könnte sich verletzen, und ging auf ihn zu, um ihn an irgendeinen festen Gegenstand zu fesseln. Rogers wich auf dem Boden rutschend vor ihm zurück und brach in frenetisches Geheul aus, das schauerlich in seiner monströsen Unmenschlichkeit und von einer schier unglaublichen Lautstärke war. Es schien unmöglich, daß eine menschliche Kehle so laute und durchdringende Töne hervorbringen konnte, und Jones dachte, daß er nicht würde um Hilfe telefonieren müssen, falls das noch lange anhielt. Sicherlich würde ein Polizist nachsehen kommen, selbst wenn man bedachte, daß es in diesem verlassenen Lagerhausviertel keine Nachbarn » gab, die etwas hören konnten.
»Wza-y’ei! Wza-y’ei!«heulte der Wahnsinnige. Y’kaa haa bho n, Rhan-Tegoth Cthulhu fthagn Oi! Oi! Oi! Oi! Rhan-Tegoth. Rhan-Tegoth, Rhan-Tegoth!« Der straff gefesselte Wahnsinnige, der begonnen hatte, über den mit Unrat übersäten Boden zu rutschen, erreichte jetzt die verschlossene Holztür und schlug unablässig mit dem Kopf dagegen, daß es donnernd widerhallte. Jones hatte Angst davor, sich ihm zu nähern, um ihn noch mehr zu fesseln, und wünschte sich, er wäre nicht so erschöpft von dem Kampf gewesen. Dieses grausige Nachspiel zerrte an seinen Nerven, und er spürte, wie die namenlose Furcht ihn wieder beschlich, die er im Dunkeln empfunden hatte. Alles an Rogers und seinem Museum war so teuflisch makaber und beschwor so schwarze Abgründe jenseits des Lebens herauf! Es war ihm zuwider, an das wächserne Meisterwerk des abnormen Genies zu denken, das in diesem Moment ganz in der Nähe in der Finsternis hinter der schweren, verschlossenen Tür lauern mußte.
Und nun geschah etwas, was abermals einen eiskalten Schauer über Jones’ Rücken
sandte und jedes einzelne Haar, selbst die winzigen Härchen auf seinem Handrücken, in unsagbarem Entsetzen sich sträuben ließ. Rogers hatte jäh aufgehört zu schreien und mit seinem Kopf an die massiven Planken der Tür zu stoßen; er versuchte, sich in sitzende Stellung aufzurichten, und hielt den Kopf schräg, als lauschte er angestrengt. Gleichzeitig breitete sich ein Lächeln teuflischen Triumphes auf seinem Gesicht aus, und er begann wieder verständlich zu sprechen, diesmal in einem heiseren Flüstern, das einen merkwürdigen Gegensatz zu der Stentor-Stimme bildete, mit der er eben noch gebrüllt hatte.
»Hören Sie, Sie Narr! Spitzen Sie die Ohren! Eshat mich gehört und kommt. Hören Sie, wie es dort drunten am Ende der Rampe plätschernd aus seinem Wasserloch steigt ? Ich habe tief hinunter gegraben, weil für Es nichts gut genug ist. Es ist amphibisch, müssen Sie wissen, Sie haben ja die Kiemen auf dem Bild gesehen.

Es kam auf die Erde vom bleigrauen Yuggoth, wo die Städte unter dem tiefen, warmen Ozean liegen. Es kann dort nicht aufrecht stehen, es ist zu groß, es muß sitzen oder kauern. Geben Sie mir meine Schlüssel, wir müssen Es herauslassen und vor ihm niederknien. Dann werden wir hinausgehen und einen Hund oder eine Katze suchen oder vielleicht einen Betrunkenen -, damit Es die Nahrung bekommt, die Es braucht.«
Nicht was der Verrückte sagte, sondern wie er es sagte, brachte Jones völlig aus der Fassung. Die grenzenlose, irrwitzige Zuversicht und Aufrichtigkeit des wahnsinnigen Gestammels waren ungeheuer ansteckend. Angesichts eines solchen Reizes konnte die Phantasie eine reale Bedrohung in der teuflischen Wachsfigur sehen, die unsichtbar dicht hinter den schweren Planken der Tür lauern mußte. Jones musterte die Tür, von der eine unheilige Faszination ausging, und bemerkte, daß sie an mehreren Stellen deutliche Risse aufwies, obwohl auf dieser Seite keine Spuren von Gewaltanwendung zu entdecken waren. Er fragte sich, wie groß der Raum war, der dahinterlag, und wie die Wachsfigur aufgestellt sein mochte. Die Idee des Wahnsinnigen von einem Wasserloch und einer Rampe war genauso raffiniert wie all seine anderen Phantastereien.
In einem einzigen schrecklichen Augenblick verschlug es dann Jones vollends den Atem. Der Ledergürtel, mit dem er Rogers hatte festschnallen wollen, fiel ihm aus den schlaffen Händen, und ein krampfhaftes Beben erschütterte ihn von Kopf bis Fuß. Er hätte ja wissen können, daß dieser Ort ihn genau wie Rogers zum Wahnsinn treiben würde, und nun war er tatsächlich wahnsinnig geworden. Er war wahnsinnig, denn jetzt überfielen ihn Halluzinationen, die noch weit unheimlicher waren als alles, was ihn in den frühen Nachtstunden heimgesucht hatte. Der Wahnsinnige hatte ihn aufgefordert, auf das Plätschern eines mythischen Monsters in einem Wasserloch hinter der Tür zu horchen und nun, Gott war sein Zeuge, hörte er es tatsächlich! Rogers sah, wie das Grauen sich über Jones’ Gesicht legte und es zu einer starren Maske der Angst verzerrte. Er kicherte.
»Jetzt glauben Sie mir endlich, Sie Narr! Jetzt endlich begreifen Sie! Sie hören Es, und Es kommt! Geben Sie mir die Schlüssel, Sie Narr wir müssen Ihm huldigen und Ihm dienen!«
Aber Jones konnte nicht mehr auf menschliche Worte achten, mochten sie irrsinnig oder vernünftig sein. Schreckensstarr stander da, nur halb bei Bewußtsein, und schauerliche Bilder zogen in rasender Folge vor seinem inneren Auge vorüber. Es plätscherte tatsächlich. Er hörte tatsächlich ein Tappen oder Schlurfen wie von großen nassen Tatzen auf einer harten Unterlage. Kein Zweifel, irgend etwas näherte sich. Aus den Rissen in der» abscheulichen Holztür stieg ihm ein stechender, tierischer Geruch in die Nase, ähnlich und doch auch wieder unähnlich dem in den Raubtiergehegen des Zoologischen Gartens im Regent’s Park.
Er merkte nicht, ob Rogers sprach oder nicht. Alles Reale war verblaßt, und er war zum hilflosen Opfer von Träumen und Halluzinationen geworden, die so unnatürlich waren, daß sie fast objektiv und von ihm losgelöst waren. Er meinte aus dem unbekannten Abgrund hinter der Tür ein Schnüffeln oder Schnauben zu hören, und als ein plötzliches Bellen oder Trompeten an seine Ohren drang, wußte er nicht, ob es von dem gefesselten Wahnsinnigen kam, dessen Bild vor seinen Augen
verschwamm. Das Foto von jenem verfluchten Ungeheuer tauchte immer wieder in seiner Vorstellung auf. Ein solches Wesen hatte kein Recht, am Leben zu sein, denn hatte es ihn nicht zum Wahnsinn getrieben?
Während er noch überlegte, bedrängte ihn ein weiterer Beweis für seinen Wahnsinn. Irgend etwas schien am Riegel der verschlossenen Tür zu zerren. Es tappte und kratzte und rüttelte an den Planken. Die Tür erzitterte immer wieder wie unter einem weichen, gewichtigen Anprall, und das dumpfe Geräusch wurde immer lauter. Der Gestank war entsetzlich. Und jetzt wurde der von innen geführte Angriff gegen die Tür so bösartig und heftig, daß die Planken wie unter den Stößen einer
Belagerungsmaschine erbebten. Ein ominöses Knacken war zu hören Holz splitterte -würgender Gestank breitete sich aus eine Planke brach heraus -eine schwarze Tatze mit einer krebsartigen Schere … »Hilfe! Hilfe! Gott helfe mir! … Aaaaaa! …« Vage erinnert sich Jones noch daran, daß seine Schreckensstarre jählings in eine wilde, kopflose Flucht umschlug, wie man sie nur aus den schlimmsten Alpträumen kennt. Offenbar rannte er wie von Furien gehetzt durch die schauerliche Krypta, riß die Tür nach draußen auf, die hinter ihm krachend ins Schloß fiel, hastete die ausgetretene Steintreppe hinauf und raste ziellos und wie besessen aus dem dumpfen gepflasterten Hinterhof hinaus auf die schmutzigen Straßen von Southwark. Hier endet seine Erinnerung. Er weiß nicht mehr, wie er nach Hause kam, jedoch deutete nichts darauf hin, daß er eine Kutsche anhielt. Wahrscheinlich legte er die ganze Strecke von blindem Instinkt getrieben laufend zurück über die Waterloo Bridge, den Strand entlang, an Charing Cross vorbei und über den Haymarket und durch die Regent Street in sein eigenes Viertel. Er hatte immer noch die kuriosen
Museumskleider an, als er so weit zu sich kam, daß er den Arzt rufen konnte. Eine Woche später erlaubte ihm der Nervenspezialist, das Bett zu verlassen und im Freien spazierenzugehen.
Aber er hatte den Ärzten nicht viel gesagt. Über seinem ganzen Erlebnis hing eine Wolke des Wahnsinns und des Alptraums, und er spürte, daß er sich nur durch Schweigen retten konnte. Als er wieder zu Kräften kam, ging er sorgfältig alle die Zeitungen durch, die sich seit jener schrecklichen Nacht angesammelt hatten, fand aber keinerlei Hinweis auf ungewöhnliche Vorgänge in dem Museum. Wie viel war tatsächlich Realität gewesen ? Wo endete die Wirklichkeit, und wo begannen die morbiden Träume? Hatte er in jenem finsteren Museumssaal vollständig den Verstand verloren, und war der ganze Kampf mit Rogers nur ein Fiebertraum gewesen ? Es hätte ihm sehr geholfen, seinen Seelenfrieden wiederzufinden, wenn er einige dieser beunruhigenden Fragen hätte klären können. Er mußtedieses Foto von dem wächsernen Wesen gesehen haben, das Rogers »Es« nannte, denn kein anderes Gehirn als das von Rogers konnte eine solche Phantasmagorie ausgeheckt haben. Es vergingen noch vierzehn Tage, bevor er den Mut aufbrachte, wieder die Southwark Street aufzusuchen. Er ging am hellichten Vormittag hin, zu einer Zeit also, da die Straßen mit den verfallenden Läden und Lagerhäusern von munterem, normalem Leben erfüllt waren. Das Schild des Museums war noch vorhanden, und als er auf das Haus zuging, sah er, daß das Museum geöffnet hatte. Der Portier erkannte ihn wieder und nickte ihm freundlich zu, während er all seinen Mut zusammennahm und das Gebäude betrat, und im Gewölbe unten legte einer der Wärter gut gelaunt die Hand an die Mütze. Vielleicht war doch alles nur ein Traum gewesen. Würde er es wagen, an der Werkstattür anzuklopfen und nach Rogers zu sehen?
Dann tauchte Orabona auf und begrüßte ihn. Sein dunkles, glattes Gesicht war ein bißchen sardonisch, aber Jones spürte,daß der Mann ihm nicht unfreundlich gesinnt war. Er sprach mit leichtem Akzent.
»Guten Morgen, Mr. Jones. Sie haben sich ja eine ganze Weile nicht bei uns blicken lassen. Wollten Sie Mr. Rogers sprechen? Es tut mir leid, aber er ist nicht da. Er mußte geschäftlich nach* Amerika verreisen. Ja, es kam ganz plötzlich. Ich vertrete ihn solange, hier und in seinem Haus. Ich gebe mir Mühe, Mr. Rogers’ hohen Standard zu halten, bis er wieder da ist.«
Der Ausländer lächelte vielleicht nur aus Liebenswürdigkeit. Jones wußte kaum, was er sagen sollte, erkundigte sich dann aber doch zaghaft nach dem Tag, der auf seinen letzten Besuch gefolgt war. Orabona schien sich über die Fragen sehr zu amüsieren und gab ihm überlegte Antworten.
»Ach ja, Mr. Jones, der 28. letzten Monats. Ich erinnere mich daran, aus mehreren Gründen. Am Morgen das heißt, noch bevor Mr. Rogers hier war fand ich die Werkstatt in größter Unordnung vor. Ich mußte sehr viel aufräumen. Mr. Rogers hatte noch spät in der Nacht gearbeitet, wissen Sie. Ein wichtiges neues Schaustück war in die entscheidende Phase seiner Entstehung getreten. Ich nahm mich des Exemplars sofort an, als ich hereinkam.
Es war eine knifflige Arbeit, aber ich habe natürlich von Mr. Rogers sehr viel gelernt. Er ist, wie Sie wissen, ein wahrhaft großer Künstler. Als er dann auch kam, half er mir, die Figur fertigzustellen ohne seine Hilfe wäre ich nicht weit gekommen -, aber dann verließ er uns schon bald, ohne sich auch nur zu verabschieden. Wie ich schon sagte, er mußte in einer dringenden Angelegenheit verreisen. Zur Fertigstellung der Figur waren komplizierte chemische Reaktionen erforderlich. Dabei ging es nicht ohne lautes Getöse ab. Ein paar Fuhrleute auf dem Hof draußen bildeten sich deshalb ein, sie hätten mehrere Pistolenschüsse gehört ein amüsanter, wenn auch
verständlicher Irrtum.
Was nun das neue Schaustück angeht, so haben wir damit Pech gehabt. Es ist ein großes Meisterwerk, von Mr. Rogers entworfen und im wesentlichen von ihm ausgeführt. Er wird sich darum kümmern, sobald er zurück ist.« Orabona lächelte.
»Wir bekamen Schwierigkeiten mit der Polizei. Wir stellten es vor einer Woche zum erstenmal aus, und zwei Besucher fielen in Ohnmacht. Einer bekam vor dem Schaustück einen epileptischen Anfall. Die Figur ist, müssen Sie wissen ein bißchen stärker -als die übrigen. Auch wesentlich größer. Natürlich stand sie in dem Alkoven. Tags darauf kamen zwei Männer von Scotland Yard, um es sich anzusehen, und meinten, es sei zu makaber, um öffentlich gezeigt zu werden. Wir mußten es auf ihr Geheiß entfernen. Das war jammerschade, denn es ist ein so wundervolles Kunstwerk, aber ich hielt mich nicht für befugt, die Anordnung in Mr. Rogers’ Abwesenheit gerichtlich anzufechten. Das Aufsehen, das dadurch entstünde, käme ihm jetzt gar nicht gelegen, aber wenn er wieder da ist wenn er wieder da ist -«
Aus einem unerfindlichen Grunde fühlte Jones, wie eine Welle des Unbehagens und Abscheus in ihm aufstieg. Aber Orabona fuhr fort.
»Sie sind ein Kenner, Mr. Jones. Ich bin sicher, daß ich gegen kein Gesetz verstoße, wenn ich Ihnen die Figur zeige, gewissermaßen privat. Ohne Mr. Rogers’ Entscheidung vorgreifen zu wollen es ist möglich, daß wir die Figur eines Tages wieder zerstören, aber das wäre ein Verbrechen.«
Einen Moment lang überlegte Jones, ob er nicht lieber ablehnen und das Weite suchen sollte, aber Orabona hatte ihn schon mit der Begeisterung eines Künstlers am Arm gepackt und zog ihn mit. Vor dem Alkoven, der mit unsäglichen
Schreckgestalten vollgestopft war, standen keine Besucher. In der hinteren Ecke war eine große Nische mit einem Vorhang abgeteilt worden, und auf diese ging der Assistent lächelnd zu.
»Sie müssen wissen, Mr. Jones, der Titel dieses Schaustücks ist »Das Opfer für Rhan-Tegoth.« Jones fuhr zusammen, aber Orabona schien es nicht zu bemerken.
»Der formlose, kolossale Gott figuriert in gewissen obskuren Legenden, die Mr. Rogers studiert hat. Das ist natürlich alles Unsinn, wie Sie Mr. Rogers so oft versichert haben. Er soll aus dem Weltraum auf die Erde gekommen sein und vor drei Millionen Jahren in der Arktis gelebt haben. Er ging mit den Opfern, die ihm dargebracht wurden, recht eigenartig und, wie Sie sehen werden, recht grausam um. Mr. Rogers hatte die Gruppe verblüffend lebensecht modelliert, bis hin zum Gesicht des Opfers.«
Jones, der jetzt heftig zitterte, klammerte sich an das Messinggeländer vor der zugehängten Nische. Er wollte Orabona schon in den Arm fallen, als dieser den Vorhang zur Seite zog, doch ein anderer Impuls hielt ihn zurück. Der Ausländer lächelte triumphierend. »Schauen Sie!« Jones wurde schwindlig, obwohl er sich an dem Geländer festhielt.
»Großer Gott!«
Volle zehn Fuß hoch, trotz seiner tückisch geduckten Haltung, aus der unendliche kosmische Bösartigkeit sprach, stand ein Ungeheuer von unvorstellbar
grauenerregendem Äußeren im Begriff, von einem zyklopischen, mit grotesken Reliefs geschmückten Elfenbeinthron zu gleiten. Mit den mittleren beiden seiner sechs Beine hielt es ein zermalmtes, plattgedrücktes, verzerrtes und blutloses Ding gepackt, das millionenfach durchlöchert und stellenweise wie mit scharfer Säure angeätzt war. Nur der zerfleischte Kopf des Opfers, der verkehrt herum auf einer Seite herabbaumelte, deutete darauf hin, daß es sich um ein Wesen handelte, das einmal ein Mensch gewesen war.
Das Monstrum bedurfte keines Titels für einen, der ein gewisses teuflisches Foto gesehen hatte. Dieses abscheuliche Bild war nur allzu wirklichkeitsgetreu gewesen, hatte aber trotzdem nicht das ganze Grauen vermittelt, das die gigantische Wirklichkeit hervorrief. Der kugelförmige Rumpf die blasenartige Andeutung eines Kopfes die drei Fischaugen der einen Fuß lange Rüssel die geblähten Kiemen die zahllosen kurzen, mit Saugnäpfen versehenen Tentakeln die sechs gewundenen Gliedmaßen mit ihren schwarzen Tatzen und krebsartigen Scheren gütiger Gott! Wie bekannt ihm diese schwarze Tatze mit den Scheren vorkam!
Orabonas Lächeln war im höchsten Grade abstoßend. Jones würgte und starrte das gräßliche Schaustück mit wachsender Faszination an, die ihn verwirrte und verstörte. Welche Ahnung eines nur halb erkannten Schrecknisses zwang ihn, das Ungeheuer noch länger zu betrachten und nach Einzelheiten zu suchen? Das hatte Rogers in den Wahnsinn getrieben … Rogers, den hervorragenden Künstler … Er hatte gesagt, sie seien nicht künstlich …
Dann sah er, was ihn so faszinierte. Es war der baumelnde wächserne Kopf des Opfers. Das Gesicht war nicht ganz unkenntlich, und es kam Jones irgendwie bekannt vor. Es ähnelte dem vom Wahnsinn verzerrten Gesicht des armen Rogers. Jones sah genauer hin, ohne eigentlich zu wissen, was ihn dazu trieb. War es nicht verständlich, daß ein wahnsinniger Egozentriker seinem Meisterwerk seine eigenen Züge verlieh? Oder gab es noch etwas, was sein Unterbewußtsein längst wahrgenommen hatte und nur aus schierem Entsetzen unterdrückte?
Das Wachs des verstümmelten Gesichts war ungeheuer raffiniert bearbeitet worden. Diese Einstiche wie genau sie den zahllosen Wunden glichen, die jenem bedauernswerten Hund zugefügt worden waren! Aber da war noch etwas anderes. Auf der linken Wange war eine Unregelmäßigkeit zu erkennen, die irgendwie nicht ins Bild passen wollte, so als hätte der Bildhauer versucht, einen Fehler zu kaschieren, der ihm beim ursprünglichen Modellieren unterlaufen war. Je länger Jones schaute, um so mehr graute es ihm vor diesem Rätsel, und dann fiel ihm jäh etwas ein, was sein Entsetzen auf die Spitze trieb. Diese Nacht des Grauens der Kampf der gefesselte Irre und die lange, tiefe Schramme in der linken Wange des realen, lebenden Rogers …
Jones’ Hände lösten sich von dem Geländer, und er sank ohnmächtig nieder. Orabona lächelte immer noch.
DAS WIMMELNDE CHAOS von Elizabeth Berkeley und H. P. Lovecraft

Über die Freuden und Qualen des Opiumgenusses ist viel geschrieben worden. Die Ekstasen und Schrecken von De Quincey und den Paradis artificielsBaudelaires sind mit einer Kunstfertigkeit beschrieben und interpretiert worden, die sie unsterblich machen, und die Welt kennt die Schönheit, das Grauen und das Mysterium dieser obskuren Reiche, in die der inspirierte Träumer versetzt wird. Aber mag auch noch so viel erzählt worden sein, noch nie hat es jemand gewagt, die Artder Phantasmen anzudeuten, die dem Geist auf diese Weise enthüllt werden, oder die Richtungder üppig verzierten und exotischen Straßen anzugeben, auf die die Droge den Menschen unwiderstehlich führt. De Quincey fühlte sich zurück nach Asien gezogen, dem Land wimmelnder, nebelhafter Schatten, das so erschreckend alt ist, daß »das ungeheure Alter der Rasse und des Namens das Gefühl für die Jugend des Individuums überwältigt«, aber weiter wagte er nicht zu gehen. Diejenigen, die doch weitergingen, kehrten nur selten zurück, und selbst wenn, waren sie hinterher entweder stumm oder nicht mehr bei Sinnen. Ich nahm nur ein einziges Mal Opium, im Jahr der Seuche, als die Ärzte bemüht waren, die Qualen zu lindern, die sie nicht heilen konnten. Ich bekam eine Überdosis mein Arzt war vor Entsetzen und Überarbeitung erschöpft -, und ich machte eine wahrhaft weite Reise. Ich kehrte am Schluß zurück und blieb am Leben, aber meine Nächte sind von seltsamen Erinnerungen angefüllt, und ich habe auch nie wieder einem Arzt erlaubt, mir Opium zu geben.
Der Schmerz und das Pochen in meinem Kopf waren schlechthin unerträglich geworden, als mir die Droge verabreicht wurde. An die Zukunft dachte ich nicht mehr, mein ganzes Sinnen und Trachten war allein darauf gerichtet, Erlösung von meinen Qualen zu finden, sei es durch Heilung, Bewußtlosigkeit oder Tod. Ich war halb im Delirium, so daß es mir schwerfällt, den genauen Augenblick des Übergangs zu bezeichnen, aber ich glaube, die Wirkung muß eingesetzt haben, kurz bevor das Pochen aufhörte, schmerzhaft zu sein. Ich bekam, wie gesagt, eine Überdosis, und daher waren meine Reaktionen wahrscheinlich weit von allem Normalen entfernt. Das Gefühl des Fallens, seltsam unabhängig von Schwerkraft oder Richtung, war am deutlichsten, doch es gab da auch den schwächeren Eindruck von der unsichtbaren Gegenwart unermeßlich großer Menschenmengen, die ihrer Natur nach unendlich vielgestaltig waren, aber doch alle irgendwie zu mir in Beziehung standen. Manchmal war es nicht eigentlich so, als ob ich fiele, sondern so, als fielen das Universum oder die Epochen der Ewigkeit an mir vorbei. Plötzlich hörte der Schmerz auf, und ich begann, das Pochen mit einer äußeren statt einer inneren Kraft zu assoziieren. Auch das Fallen hatte aufgehört, und an seine Stelle war ein Gefühl unbehaglicher, vorübergehender Ruhe getreten, und als ich angestrengt lauschte, meinte ich wahrzunehmen, daß das Pochen das der riesigen, unergründlichen See war, wenn ihre düsteren, kolossalen Brandungswogen nach einem Sturm von titanischen Ausmaßen eine verlassene Küste verheeren. Dann schlug ich die Augen auf. Einen Moment lang schien meine Umgebung verschwommen, wie ein hoffnungslos unscharfes Projektionsbild, doch nach und nach wurde mir bewußt, daß ich mich einsam und allein in einem merkwürdigen und schönen Raum befand, der von vielen Fenstern erhellt war. Über die eigentliche Natur dieses Gemachs konnte ich mir keine Vorstellung bilden, denn meine Gedanken waren noch im ärgsten Aufruhr, aber ich sah farbenfrohe Teppiche und Draperien, kunstvoll gearbeitete Tische, Sessel, Ottomanen und Diwane sowie zierliche Vasen und Ornamente, die eine Andeutung von Exotik vermittelten, ohne eigentlich fremdartig zu sein. Diese Dinge bemerkte ich, doch sie standen in meinem Bewußtsein nicht obenan. Langsam, doch unerbittlich, über alle anderen Eindrücke sich erhebend, bemächtigte sich meiner eine schwindelerregende Furcht vor dem Unbekannten, eine Furcht, die um so größer war, als ich sie nicht zu ergründen vermochte, und die sich auf eine verstohlen sich nähernde Bedrohung zu beziehen schien, nicht den Tod, sondern etwas Namenloses, Unerhörtes, das noch unendlich viel widerwärtiger und grauenhafter sein mußte. Im nächsten Augenblick wurde mir klar, daß das unmittelbare Symbol und der Anlaß meiner Furcht das schreckliche Pochen war, das unaufhörlich und mit unerträglicher Regelmäßigkeit in meinem erschöpften Gehirn pulsierte. Es schien von einem Punkt außerund unterhalb des Gebäudes zu kommen, in dem ich stand, und mit den erschreckendsten geistigen Bildern einherzugehen. Ich spürte, daß irgendeine schreckliche Szene oder ein grauenerregendes Objekt hinter den mit Seide behängten Wänden lauerte, und schrak davor zurück, durch die kunstvoll vergitterten, überwölbten Fenster zu schauen, die sich auf so verwirrende Weise allenthalben auftaten. Als ich sah, daß all diese Fenster Läden hatten, schloß ich diese alle, wobei ich den Blick abwandte, um nicht nach draußen zu blicken. Dann zündete ich mit einem Feuerzeug, das ich auf einem der Tischchen fand, die vielen Kerzen an, die in arabesken Leuchtern an den Wänden standen. Das Gefühl größerer Sicherheit, das mir die geschlossenen Fensterläden und das künstliche Licht gaben, beruhigte meine Nerven in gewissem Grade, aber es gelang mir nicht, das monotone Pochen auszusperren. Nun da ich ruhiger war, wurde das Geräusch ebenso faszinierend, wie es furchterregend war, und ich verspürte einen widersprüchlichen Wunsch, trotz meiner immer noch starken Scheu seinen Ursprung ausfindig zu machen. Indem ich eine Portiere an der Seite des Raumes öffnete, die dem Pochen am nächsten war, erblickte ich einen kleinen und reich drapierten Korridor, der mit einer geschnitzten Tür und einem großen Erkerfenster abschloß. Zu diesem Fenster zog es mich unwiderstehlich, obwohl meine vagen Ängste ebenso sehr darauf bedacht schienen, mich zurückzuhalten. Als ich mich ihm näherte, sah ich in der Ferne ein chaotisches Wirbeln von Wassern. Dann, als ich es erreicht hatte und nach allen Seiten hinausschaute, brach das stupende Bild meiner Umgebung mit verheerender Gewalt über mich herein.
Es bot sich mir ein Anblick, wie ich ihn noch nie geschaut hatte und wie ihn kein Lebender je gesehen haben kann, es sei denn im Delirium des Fiebers oder im Inferno des Opiums. Das Bauwerk stand auf einer schmalen Landspitze zumindest war es fetzt eine Landspitze volle dreihundert Fuß über dem Grund, der noch vor kurzem ein siedender Strudel irrwitziger Wassermassen gewesen sein mußte. Beiderseits des Hauses fiel ein frisch ausgewaschener Steilhang von roter Erde in die Tiefe, während vor mir die gewaltigen Wogen noch immer schrecklich heranrollten und sich mit gespenstischer Monotonie und boshafter Willkür in das Land fraßen. Ein oder zwei Meilen entfernt hoben und senkten sich bedrohliche Brecher von mindestens fünfzig Fuß Höhe, und am fernen Horizont lagerten greuliche schwarze Wolken von groteskem Umriß, brütend und lauernd wie widerwärtige Geier. Die Wellen waren dunkel und blau-violett, beinahe schwarz, und rissen wie grobe, gierige Hände an der weichen roten Erde des Ufers. Ich konnte nur mutmaßen, daß irgendein verderblicher Geist des Meeres dem festen Land einen Vernichtungskrieg erklärt hatte, womöglich ermuntert durch den zornigen Himmel.
Als ich endlich die Benommenheit abschüttelte, die dieses unnatürliche Schauspiel mir verursacht hatte, wurde mir klar, daß ich in höchster physischer Gefahr schwebte. Unter meinen Augen hatte das Ufer bereits wieder viele Fuß an das Meer verloren, und es konnte nicht mehr lange dauern, bevor das Haus gänzlich unterspült in den schrecklichen Abgrund der peitschenden Wogen stürzen würde. So eilte ich denn auf die gegenüberliegende Seite des Bauwerks und trat, als ich dort eine Tür fand, augenblicklich ins Freie, und schloß sie hinter mir ab mit einem merkwürdigen Schlüssel, der drinnen gehangen hatte. Ich konnte nun mehr von meiner seltsamen Umgebung überblicken und bemerkte eine einzigartige Teilung, die in dem feindseligen Ozean und Firmament zu bestehen schien. Auf den beiden Seiten des schmalen Vorgebirges herrschten ganz verschiedene Verhältnisse. Zu meiner Linken, dem Lande zu, erstreckte sich eine sanft atmende See mit großen grünen Wellen, die friedlich unter einer strahlenden Sonne heranrollten. Irgend etwas an der Art und Stellung dieser Sonne ließ mich schaudern, aber ich wußte damals nicht und wüßte auch heute nicht zu sagen, was es gewesen ist. Auch zu meiner Rechten war Meer, aber es war blau, still und nur ganz sachte gewellt, während der Himmel darüber dunkler und das ausgewaschene Ufer eher weiß als rötlich war.
Ich wandte nun mein Augenmerk dem Lande zu und fand neuerlich Grund zum Staunen, denn die Vegetation war anders als alles, was ich je gesehen oder wovon ich gelesen hatte. Sie war offenkundig tropisch oder zumindest subtropisch, ein Eindruck, den die starke Hitze der Luft bestätigte. Manchmal meinte ich, seltsame Analogien zu der Flora meines Vaterlandes zu entdekken, stellte mir vor, daß die vertrauten Pflanzen und Sträucher in einem anderen Klima wohl solche Gestalt annehmen könnten, doch die gigantischen und allgegenwärtigen Palmen waren unbezweifelbar fremdartig. Das Haus, das ich gerade verlassen hatte, war sehr klein, kaum größer als ein Bauernhaus, doch es war offensichtlich aus Marmor erbaut, und seine Architektur war sonderbar und kompliziert, eine eigenartige Mischung aus okzidentalen und orientalischen Formen. An den Ecken waren korinthische Säulen, aber das rote Ziegeldach ähnelte dem einer chinesischen Pagode. Von der Tür landeinwärts verlief ein Pfad aus einzigartig weißem Sand, etwa vier Fuß breit und zu beiden Seiten von stattlichen Palmen und unbekannten blühenden Büschen und Pflanzen gesäumt. Er lag mehr auf der Seite des Vorgebirges, wo das Meer blau und das Ufer weißlich waren. Diesen Pfad entlang zu fliehen fühlte ich mich gedrängt, als verfolgte mich ein böser Geist aus dem donnernden Ozean. Zuerst führte der Weg leicht bergan, dann erreichte ich eine sanfte Kuppe. Hinter mir sah ich die Szene, die ich verlassen hatte, die ganze Landspitze mit dem Häuschen und dem schwarzen Wasser, mit der grünen See auf der einen und der blauen See auf der anderen Seite und einem namenlosen und unbenennbaren Fluch, der sich über das alles
herabsenkte. Ich habe es nie mehr gesehen, und ich frage mich oft … Nach diesem letzten Blick ging ich weiter und betrachtete das Panorama, das sich landeinwärts vor mir ausbreitete.
Der Pfad verlief, wie bereits erwähnt, an der rechten Küste, wenn man landeinwärts ging. Vor mir und zu meiner Linken erblickte ich nun ein prachtvolles Tal von vielen Tausenden Morgen, dicht bewachsen mit wehenden, übermannshohen tropischen Gräsern. Fast am äußersten Rand meines Gesichtskreises stand eine riesige Palme, die mich faszinierte und mich zu locken schien. Unterdessen hatten mein Staunen und die geglückte Flucht von der gefährdeten Halbinsel meine Ängste weitgehend zerstreut, doch als ich mich müde auf den Pfad sinken ließ, um zu rasten, und dabei müßig die Hände in den warmen, weißgoldenen Sand grub, überfiel mich abermals ein akutes Gefühl der Gefahr und Bedrohung. Irgendein Schrecknis in dem wehenden hohen Gras gesellte sich zu der diabolisch donnernden See, und ich fuhr auf und rief laut und ohne Sinn und Verstand:
»Tiger? Tiger? Ist es ein Tiger? Bestie? Bestie? Ist es eine Bestie, vor der ich mich fürchte?« Ich dachte zurück an eine alte, antike Geschichte von Tigern, die ich gelesen hatte, versuchte, mich des Autors zu erinnern, hatte jedoch Schwierigkeiten. Dann fiel mir trotz meiner Angst wieder ein, daß die Geschichte von Rudyard Kipling war, und mir wurde nicht bewußt, wie grotesk es war, ihn für einen antiken Autor zu halten. Ich sehnte mich nach dem Band, der diese Geschichte enthielt, und war schon beinahe entschlossen, zu dem verdammten Häuschen zurückzukehren, um ihn zu holen, als die Vernunft und die Lockung der Palme mich doch noch davon abhielten.

Ob ich der Verlockung zurückzugehen ohne die entgegenwirkende Faszination der riesigen Palme widerstanden hätte, das weiß ich nicht. Diese Faszination war jetzt am stärksten, und ich verließ den Pfad und kroch auf Händen und Knien den Abhang hinunter ins Tal, trotz meiner Angst vor dem Gras und den Schlangen, die es beherbergen mochte. Ich war entschlossen, so lange wie möglich gegen alle Bedrohungen von See oder Land um Leben und Vernunft zu kämpfen, obgleich ich mitunter die Niederlage fürchtete, wenn das tückische Zischeln der unheimlichen wehenden Gräser sich mit dem immer noch hörbaren, irritierenden Donnern der fernen Brecher verband. Oft blieb ich stehen und hielt mir schützend die Hände über die Ohren, doch auch so konnte ich die abscheulichen Geräusche nicht ganz unterdrücken. Ewigkeiten, so schien mir, waren vergangen, als ich mich endlich zu der lockenden Palme hinaufschleppte und mich still in ihren schützenden Schatten legte.
Nun folgten Geschehnisse, die mich abwechselnd zu den Extremen der Ekstase und des Entsetzens brachten, Geschehnisse, deren ich mich nur zitternd erinnere und die ich nicht zu deuten wage. Kaum war ich unter das tief hängende Laubwerk der Palme gekrochen, als von ihren Wedeln ein junges Kind herabfiel, ein Kind von nie gesehener Schönheit. Obgleich zerlumpt und staubig, trug dieses Wesen die Züge eines Fauns oder Halbgottes und schien im dichten Schatten des Baumes beinahe Licht auszustrahlen. Es lächelte und streckte mir die Hand hin, doch bevor ich aufstehen und etwas sagen konnte, hörte ich in luftiger Höhe feinen, melodischen Gesang, in dem sich hohe und tiefe Töne mit sublimer, ätherischer Harmonie verbanden. Die Sonne war unterdessen unter den Horizont gesunken, und im Dämmerlicht sah ich, daß eine Aureole flackernden Lichts den Kopf des Kindes umgab. Mit silberheller Stimme sprach es mich an: »Es ist das Ende. Sie sind durch das Zwielicht von den Sternen gekommen. Jetzt ist alles vorbei, und jenseits der Arinurischen Ströme werden wir glückselig in Teloe wohnen.« Während das Kind sprach, sah ich einen weichen Lichtschimmer, der durch die Blätter der Palme fiel, und mich erhebend begrüßte ich zwei Gestalten, von denen ich wußte, daß sie die Vorsänger unter denen waren, die ich gehört hatte. Ein Gott und eine Göttin müssen sie gewesen sein, denn solche Schönheit ist nicht sterblich; und sie nahmen meine Hand und sagten: »Komm, Kind, du hast die Stimmen gehört, und alles ist gut. In Teloe, jenseits der Milchstraße, und in den Arinurischen Strömen sind Städte ganz aus Bernstein und Chalcedon. Und auf ihren facettenreichen Kuppeln glitzern die Bilder fremder und schöner Sterne. Unter den Elfenbeinbrücken von Teloe fließen Flüsse aus flüssigem Gold, und auf ihnen schwimmen Vergnügungsboote, die unterwegs sind nach dem blühenden Cytharion der Sieben Sonnen. Und in Teloe und Cytharion wohnen nur Jugend, Schönheit und Lust, und man hört auch keine Geräusche, es sei denn Gelächter, Gesang und die Laute. Nur die Götter wohnen in Teloe von den goldenen Flüssen, doch unter ihnen sollst du wohnen.«
Indes ich verzückt lauschte, wurde ich plötzlich einer Veränderung in meiner Umgebung gewahr. Die Palme, die eben noch meine erschöpfte Gestalt beschattet hatte, befand sich jetzt ein gutes Stück links und deutlich unter mir. Sie schwebte offenbar in der Atmosphäre, begleitet nicht nur von dem merkwürdigen Kind und dem strahlenden Paar, sondern auch von einer stetig wachsenden Menge halbleuchtender, mit Weinlaub umkränzter junger Männer und Mädchen mit fröhlichen Gesichtern und im Wind wehendem Haar. Langsam erhoben wir uns gemeinsam, wie von einer duftenden Brise getragen, die nicht von der Erde kam, sondern von den goldenen Sternennebeln, und das Kind flüsterte mir ins Ohr, ich müsse stets nach oben schauen in die Bahnen des Lichts und niemals zurück zu der Sphäre, die ich eben verlassen hatte. Die jungen Männer und Mädchen sangen nun zur Begleitung der Laute liebliche Choriamben, und ich war eingehüllt von einem Frieden und einem Glück, tiefer, als ich es mir je vorgestellt hatte, als das Eindringen eines einzigen Lautes mein Schicksal änderte und meine Seele zerbrach. Durch die entzückenden Weisen der Sänger und Lautenisten kam wie als höhnische, dämonische Begleitung aus den Abgründen unter uns dieses fluchwürdige, abscheuliche Donnern und Toben des furchtbaren Ozeans, und als diese schwarzen Brecher ihre Botschaft in mein Ohr pochten, vergaß ich die Worte des Kindes und schaute zurück, hinab auf die Szene des Unheils, der ich entkommen zu sein glaubte.
Durch den Äther sah ich tief drunten die vermaledeite Erde sich drehen, auf ewig sich drehen, mit zornigen, stürmischen Seen, die gegen wilde, öde Küsten anrannten und Gischt an die zerbrökkelnden Türme verlassener Städte warfen. Und unter einem gespenstischem Mond glommen Anblicke, die ich nie beschreiben, Anblicke, die ich nie vergessen könnte; Wüsten von leichenartigem Lehm und Dschungel des Verfalls und der Dekadenz, wo sich einst die volkreichen Ebenen und Dörfer meines Heimatlandes erstreckten, und Malströme strudelnder Ozeane, wo einst die mächtigen Tempel meiner Vorväter standen. Um den Nordpol dampfte ein Morast ekliger Gewächse und miasmatischer Dämpfe, zischend vor dem Anprall der ständig steigenden Wogen, die aus den schaurigen Tiefen aufquollen. Dann zerriß ein gellendes Krachen die Nacht, und quer über die Wüste der Wüsten tat sich eine rauchende Kluft auf. Immer noch schäumte und nagte der schwarze Ozean, die Wüste von beiden Seiten her verzehrend, während der Riß in der Mitte immer weiter und weiter klaffte.
Es war jetzt kein Land mehr übrig außer der Wüste, und immer noch fraß und fraß der wütend schäumende Ozean weiter. Auf einmal schien es mir, als hätte auch die donnernde See Angst vor etwas bekommen, Angst vor den dunklen Göttern der inneren Erde, die größer sind als der böse Gott der Wasser, aber es half nichts, es gab keine Umkehr, und die Wüste hatte schon zu sehr unter diesen Alptraumwogen gelitten, um ihnen jetzt zu helfen. So fraß der Ozean die letzten Reste des Landes und ergoß sich in den rauchenden Abgrund, und so gab er alles wieder hin, was er erobert hatte. Von den eben erst überfluteten Ländereien floß er wieder ab, Tod und Verfall offenbarend, und aus seinem uralten, unvordenklichen Bett tropfte er eklig, umnachtete Geheimnisse aus den Jahren entdeckend, als die Zeit noch jung und die Götter noch ungeboren waren. Über den Wellen erhoben sich trauernde, erinnerte Türme. Der Mond legte blasse Linien des Lichts auf das tote London, und Paris erstand aus seinem feuchten Grab, um sich mit Sternenstaub weihen zu lassen. Dann erhoben sich Türme und Monolithen, die in Trauer, aber nicht in der Erinnerung waren, schreckliche Türme und Monolithen von Ländern, von denen die Menschen nie wußten, daß es Länder waren.
Es war jetzt kein Pochen mehr zu hören, nur noch das unirdische Rauschen und Zischen der Wasser, die in die Kluft stürzten. Der Rauch aus dieser Kluft hatte sich in Dampf verwandelt und verbarg beinahe die Welt, indem er dichter und immer dichter wurde. Er verbrühte mir Gesicht und Hände, und als ich aufschaute, um zu sehen, was mit meinen Gefährten geschah, sah ich, daß sie alle verschwunden waren. Dann war plötzlich alles zu Ende, und ich wußte nichts mehr, bis ich auf dem Bett der Rekonvaleszenz aufwachte. Als die Dampfwolke aus dem plutonischen Abgrund schließlich die ganze Oberfläche vor meinen Blicken verbarg, schrie das ganze Firmament in einer Agonie wahnsinnigen Donners auf, der den zitternden Äther erschütterte. In einem einzigen, delirösen Blitzen und Krachen geschah es; ein blendender, betäubender Holocaust von Feuer, Rauch und Donner, der den bleichen Mond auflöste, als er ins Leere fortschoß.
Und als der Rauch sich verzog und ich auf die Erde hinabschauen wollte, sah ich vor dem Hintergrund kalt blinkender Sterne nur die sterbende Sonne und die blassen, traurigen Planeten, die ihre Geschwister suchten.
FLÜGEL DES TODES von Hazel Heald und H. P. Lovecraft

Das Orange Hotel steht in Bloemfontein, Südafrika, unweit des Bahnhofs an der High Street. Am Sonntag, dem 24. Januar 1932. saßen vier Männer schreckensbleich in einem Zimmer im dritten Stock. Einer von ihnen war George C. Titteridge, der Hotelbesitzer, der zweite der Polizist lan De Witt von der Hauptwache, der dritte Johannes Bogaert, der Leichenbeschauer, und der vierte, der noch den gefaßtesten Eindruck machte, der Arzt Dr. Cornelius Van Keulen.
Auf dem Fußboden lag, in der drückenden Sommerhitze nur allzu deutlich wahrnehmbar, der Leichnam eines Mannes, aber er war es nicht, vor dem sich die Männer fürchteten. Ihre Blicke wanderten von dem Tisch, auf dem eine kuriose Ansammlung von Gegenständen lag, zur Decke, an deren glatte, weiße Fläche riesige Schriftzeichen mit zittriger Hand in Tinte gemalt worden waren, und ab und zu warf Dr. Van Keulen auch einen verstohlenen Blick auf ein abgegriffenes, in Leder gebundenes Notizbuch, das er in der linken Hand hielt. Das Grauen der vier Männer schien sich zu gleichen Teilen auf das Notizbuch, das Gekritzel an der Decke und eine tote Fliege von merkwürdigem Aussehen zu beziehen, die in einer Flasche Ammoniak auf dem Tisch schwamm. Auf dem Tisch sah man außerdem noch ein offenes Tintenfaß, einen Federhalter und eine Schreibunterlage, einen Arztkoffer, eine Flasche Salzsäure und einen Krug, der etwa zu einem Viertel mit Mangandioxyd gefüllt war.
Das abgegriffene Notizbuch war das Tagebuch des Toten auf dem Fußboden und hatte den Männern sofort verraten, daß der Name, unter dem sich der Mann ins Hotelregister eingetragen hatte »Frederick N. Mason, Bergbaugesellschaften, Toronto, Kanada« falsch war. Aber auch noch über andere, schreckliche Dinge gab das Tagebuch Aufschluß, und noch weitaus grauenhaftere Dinge konnte man aufgrund der Eintragungen nur ahnen, ohne daß sie klar oder auch nur halbwegs glaubwürdig wurden. Dieses Schwanken zwischen Glauben und Ungläubigkeit eine charakteristische Haltung für Menschen, die ihr ganzes Leben inmitten der schwarzen, unveränderlichen Geheimnisse des brütenden Afrika verbracht haben war es, was die Männer trotz der sengenden Januarhitze so schaudern ließ. Das Notizbuch war nicht besonders groß, und die Einträge waren in einer zierlichen Handschrift ausgeführt, die jedoch auf den letzten Seiten nervös und fahrig wurde. Die Einträge waren kurz und anfangs durch größere zeitliche Abstände getrennt, am Schluß jedoch täglich. Die Bezeichnung Tagebuch wäre nicht ganz richtig, denn es war nur von einer bestimmten Art von Tätigkeiten des Verfassers die Rede. Dr. Van Keulen erkannte den Namen des Toten in dem Augenblick, da er das Buch aufschlug, denn es war der Name eines prominenten Berufskollegen von ihm, der seit langem als Afrika-Spezialist gegolten hatte. Beim Weiterlesen mußte der Arzt entsetzt feststellen, daß dieser Mann offenbar etwas mit einem grauenhaften Verbrechen zu tun hatte, das etwa vier Monate zuvor durch die Zeitungen gegangen war, jedoch bislang nicht hatte aufgeklärt werden können. Und je mehr er las, um so stärker wurden sein Entsetzen, sein Abscheu und seine panische Angst.
Was hier folgt, ist in seinen wesentlichen Teilen der Text, den der Arzt in jenem düsteren und zunehmend widerwärtigen Zimmer laut vorlas, während die anderen drei schwer atmeten, auf ihren Stühlen herumrutschten, immer wieder einmal scheue Blicke zur Decke, zum Tisch und zu dem Leichnam auf dem Boden warfen oder einander ungläubig ansahen:

tagebuch <>VON dr.MED.thomas slauenwite
Betreffend die Bestrafung von Dr. Henry Sargent Moore aus Brooklyn, New York, Professor für Zoologie, Abteilung Wirbellose, Columbia University, New York, N. Y., vorbereitet zum Verlesen nach meinem Tode zum Zwecke der Bekanntmachung meiner Rache, die ansonsten möglicherwiese nicht mir zugeschrieben würde, auch wenn sie Erfolg hat.
5. Januar 1919 Ich bin nun fest entschlossen, Dr. Henry Moore zu töten, und ein Vorfall in jüngster Zeit brachte mich auf einen Gedanken, wie ich dabei zu Werk gehen könnte. Von nun an werde ich konsequent handeln, und deshalb werde ich auch dieses Tagebuch führen. Es dürfte kaum erforderlich sein, noch einmal die Umstände darzustellen, die mich zu dieser Handlungsweise gezwungen haben, denn die informierte Öffentlichkeit ist mit allen wichtigen Fakten vertraut. Ich wurde am
12. April 1885 in Trenton, New Jersey, geboren als Sohn von Dr. Paul Slauenwite, vormals Pretoria, Transvaal, Südafrika. Der Tradition unserer Familie folgend, studierte ich Medizin, und mein Vater (der im Jahre 1916 starb, als ich mit einem südafrikanischen Regiment in Frankreich stationiert war) riet mir, mich auf afrikanische Fieberkrankheiten zu spezialisieren; nach meinem Examen an der Columbia University widmete ich mich längere Zeit der Forschung und lernte dabei die Gebiete von Durban in Natal bis zum Äquator kennen.
In Mombasa stellte ich meine neue Theorie von der Entwicklung und Übertragung des remittierenden Fiebers auf, wobei ich nur in geringem Umfang auf die Schriften des verstorbenen Regierungsarztes Sir Norman Sloane zurückgriff, die ich in dem Haus fand, das ich bewohnte. Durch die Veröffentlichung meiner Ergebnisse wurde ich auf einen Schlag berühmt. Man sprach bereits von meiner Anwartschaft auf eine der höchsten Positionen im südafrikanischen Gesundheitsdienst und sogar davon, daß ich wahrscheinlich zum Ritter geschlagen werden würde, sobald ich die Einbürgerung beantragt hätte, und demzufolge unternahm ich die notwendigen Schritte.
Dann geschah der Vorfall, dessentwegen ich Henry Moore töten werde. Dieser Mann, der in Amerika und Afrika jahrelang mein Studienkollege und Freund gewesen war, nahm sich ganz bewußt vor, mir die Urheberschaft an meiner eigenen Theorie abzusprechen; er verbreitete, Sir Norman Sloane habe mich in allen wichtigen Einzelheiten vorweggenommen, und ließ durchblicken, ich hätte wahrscheinlich mehr von Sloane’s Aufzeichnungen gefunden, als ich zuzugeben bereit sei. Um diese absurde Verdächtigung zu untermauern, legte er gewisse persönliche Briefe von Sir Norman vor, aus denen in der Tat hervorging, daß der ältere Mann zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war wie ich und sie schon bald veröffentlicht hätte, wenn er nicht plötzlich gestorben wäre. Insoweit hatte er also recht, und ich konnte nur mein Bedauern ausdrücken. Was ich ihm nicht verzeihen konnte, war die aus Neid geborene Unterstellung, ich hätte Sir Norman auch die Grundzüge meiner Theorie gestohlen. Die britische Regierung ignorierte vernünftigerweise die Anwürfe, verweigerte mir nun jedoch die in Aussicht gestellten Ehrungen mit der Begründung, meine Theorie sei zwar eine eigenständige geistige Leistung, jedoch objektiv gesehen nicht neu.
Ich mußte bald feststellen, daß meine Karriere in Afrika nicht mehr so recht vorankam, obwohl ich all meine Hoffnungen auf eine solche Karriere gesetzt und sogar auf meine amerikanische Staatsbürgerschaft verzichtet hatte.
Regierungsvertreter in Mombasa, zumal solche, die Sir Norman persönlich gekannt hatten, verhielten sich mir gegenüber nun ausgesprochen reserviert. Damals nahm ich mir bereits vor, es Moore früher oder später heimzuzahlen, obwohl ich noch nicht wußte, wie ich es anstellen sollte. Er hatte mich um meinen frühen Ruhm beneidet und seine Korrespondenz mit Sir Norman dazu benutzt, mich zu ruinieren. Und all dies, obwohl er mein Freund war und ich sein Interesse an Afrika geweckt und ihn unterwiesen und inspiriert hatte, bis er seinen derzeitigen bescheidenen Ruhm als Afrika-Entomologe erlangt hatte. Ich half ihm auf die Beine, und zum Dank ruinierte er mich. Dafür werde ich ihn eines Tages vernichten.
Als ich sah, daß ich in Mombasa an Boden verlor, bewarb ich mich um meine derzeitige Position im Landesinneren, in M’gon-ga, nur fünfzig Meilen von der Grenze von Uganda entfernt. Es ist ein Handelsposten für Baumwolle und Elfenbein, ip dem außer mir nur acht Weiße leben. Ein schreckliches Loch, fast am Äquator und mit beinahe jeder Art von Fieberkrankheit verpestet, die der Menschheit bekannt ist. Überall giftige Schlangen und Insekten und Nigger mit Krankheiten, von denen der medizinische Laie noch nie etwas gehört hat. Aber meine Arbeit ist nicht schwer, und ich habe immer genug Zeit, um mir Gedanken darüber zu machen, was ich Henry Moore antun könnte. Ich leiste mir den Spaß, seinem Buch Dipteren Zentral-und Südafrikaseinen Ehrenplatz in meinem Regal einzuräumen. Es scheint sogar so eine Art Standardwerk geworden zu sein -man arbeitet an der Columbia, der Harvard und der Wisconsin University damit -, aber alles, was besonders gut daran ist, geht auf Anregungen von mir zurück.
Letzte Woche kam ich durch Zufall auf eine Idee, wie ich Moore töten könnte. Eine Gruppe von Leuten aus Uganda brachte einen Schwarzen mit einer merkwürdigen Krankheit, die ich noch nicht diagnostiziert habe. Er war lethargisch und hatte sehr niedrige Temperatur sowie einen merkwürdig schlurfenden Gang. Die meisten anderen hatten Angst vor ihm und behaupteten, er stehe unter dem Zauber eines Medizinmanns, aber Gobo, der Dolmetscher, meinte, er sei von einem Insekt gestochen worden. Ich habe keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, denn er hat nur einen winzigen Stich am Arm. Der ist allerdings stark gerötet und von einem bläulichen Ring umgeben. Sieht gespenstisch aus, kein Wunder, daß die Boys von Schwarzer Magie munkeln. Sie haben anscheinend schon ähnliche Fälle gesehen und meinen, es sei kein Kraut dagegen gewachsen. Der alte N’Kuru, einer der GallaBoys in M’gonga, ist der Ansicht, daß es sich um den Stich der Teufelsfliege handeln muß, der zur allmählichen Auszehrung und schließlich zum Tod des Opfers führe, worauf die Fliege, falls sie selbst noch am Leben ist, die Seele und Persönlichkeit des Opfers übernimmt und mit dessen Bewußtsein und all seinen Vorlieben und Abneigungen umherfliegt. Eine seltsame Legende ich kenne kein Insekt dieser Gegend, dessen Stich so gefährlich ist, daß solche Geschichten von ihm ausgehen könnten. Ich injizierte dem Schwarzen er heißt Mevana eine starke Dosis Chinin und entnahm ihm eine Blutprobe, habe aber noch kaum Fortschritte gemacht. Es ist sicherlich ein merkwürdiger Erreger vorhanden, den ich jedoch auch nicht annähernd zu identifizieren vermag. Am ähnlichsten ist er dem Bazillus, den man bei Ochsen, Pferden und Hunden findet, die von der Tsetsefliege gestochen wurden, aber Tsetsefliegen infizieren den Menschen nicht, und wir sind ja ohnehin zu weit im Norden.
Wichtig ist daran nur, daß ich jetzt weiß, wie ich Moore töten werde. Wenn es in dieser Gegend Insekten gibt, die so giftig sind, wie die Eingeborenen behaupten, werde ich dafür sorgen, daß er von einem unverdächtigen Absender mehrere Exemplare davon zugeschickt bekommt, mit der ausdrücklichen Versicherung, daß es sich um harmlose Insekten handle. Man kann sich darauf verlassen, daß er alle Vorsicht außer acht läßt, wenn es darum geht, eine unbekannte Spezies zu studieren und dann werden wir sehen, wie die Natur ihren Lauf nimmt. Es dürfte nicht allzu schwer sein, ein Insekt aufzufinden, vor dem Schwarze so große Angst haben. Erst muß ich jedoch sehen, wie es dem armen Mevana ergeht, und dann werde ich meinen eigenen Todesboten suchen.
7. Jan. Mevanas Befinden hat sich nicht gebessert, obwohl ichihm alle Gegengifte injiziert habe, die ich kenne. Er hat Zitteranfälle, bei denen er angstvoll davon faselt, daß bei seinem Tod seine Seele in das Insekt übergehen wird, das ihn gestochen hat, aber dazwischen verfällt er immer wieder in fast vollständige Bewußtlosigkeit. Die Herztätigkeit ist noch stark, so daß ich Hoffnung habe, ihn doch noch durchzubringen. Ich werde es auf alle Fälle versuchen, denn er kann mich wahrscheinlich besser als irgend jemand sonst in die Gegend führen, wo er gestochen wurde.
Unterdessen werde ich an Dr. Lincoln schreiben, meinen Vorgänger hier, denn Allen, der Leiter der Faktorei, sagt mir, er wisse sehr viel über die Krankheiten, die in dieser Gegend hier vorkommen. Er müßte schon etwas von der Todesfliege gehört haben. Er ist jetzt in Nairobi, und ein schwarzer Bote müßte mir eigentlich innerhalb einer Woche eine Antwort bringen können, wenn er die halbe Entfernung mit der Eisenbahn zurücklegt.
10. Jan. Der Zustand des Patienten unverändert, aber ich habe gefunden, was ich suchte! Es steht in einem alten Band mit örtlichen Gesundheitsunterlagen, den ich sorgfältig durchgesehen habe, während ich auf die Antwort von Lincoln wartete. Vor dreißig Jahren gab es eine Epidemie, der Tausende von Eingeborenen in Uganda zum Opfer fielen, und sie wurde zweifelsfrei auf eine seltene Fliege mit dem Namen Glossina palpaliszurückgeführt eine Verwandte der Tsetsefliege, Glossina marsitans.Sie lebt im Gebüsch an den Ufern von Seen und Flüssen und ernährt sich vom Blut von Krokodilen, Antilopen und noch größeren Säugetieren. Wenn diese Tiere mit dem Erreger der Schlafkrankheit infiziert sind, nimmt die Fliege diesen auf und entwickelt nach einer Inkubationszeit von 31 Tagen akute Infektiosität. In den nächsten 75 Tagen bringt ihr Stich jedem Lebewesen den sicheren Tod.
Bei diesem Insekt handelt es sich zweifellos um die »Teufelsfliege«, von der die Nigger reden. Jetzt weiß ich, wie ich vorgehen muß. Ich hoffe, Mevana steht es durch. Ich müßte in vier oder fünf Tagen von Lincoln hören er hat in diesen Dingen einen sehr guten Ruf. Mein größtes Problem ist, wie ich Moore den Fliegen aussetzen kann, ohne daß er sie erkennt. Bei seiner Pedanterie ist ihm zuzutrauen, daß er alles über sie weiß, da es ja schon Unterlagen über sie gibt.
15. Jan. — Habe soeben Nachricht von Lincoln bekommen, deralles bestätigt, was über Glossina palpalisin den Unterlagen steht. Er hat ein Mittel gegen
Schlafkrankheit, das in zahlreichen Fällen zum Erfolg geführt hat, wenn es nicht zu spät verabreicht wurde. Intramuskuläre Injektionen von Tryparsamid. Da Mevana vor etwa zwei Monaten gestochen wurde, weiß ich nicht, ob das Mittel anschlagen wird, aber Lincoln meint, es hätte schon Fälle gegeben, die sich über 18 Monate hinzogen, also bin ich vielleicht doch noch nicht zu spät dran. Lincoln hat mir etwas davon mitgeschickt, und ich habe Mevana eben eine starke Dosis injiziert. Er ist jetzt bewußtlos. Sie haben seine Hauptfrau aus dem Dorf geholt, aber er erkennt sie nicht einmal. Falls er sich erholt, kann er mir sicherlich zeigen, wo die Fliegen vorkommen. Er ist angeblich ein großer Krokodiljäger und kennt ganz Uganda wie sein eigenes Dorf. Ich werde ihm morgen erneut eine Spitze geben.
16. Jan. Mevana wirkt heute etwas munterer, aber die Herztätigkeit hat sich etwas verlangsamt. Ich werde mit den Injektionen fortfahren, die Dosen jedoch etwas verringern.
17. Jan. Genesung macht Fortschritte. Mevana schlug heute nach der Injektion die Augen auf und schien fast bei Bewußtsein zu sein, wenn auch noch sehr benommen. Ich hoffe, Moore weiß nichts von Tryparsamid. Wahrscheinlich kennt er es nicht, denn er hat sich nie viel um Medizin gekümmert. Mevanas Zunge ist anscheinend gelähmt, aber ich vermute, das wird sich geben, wenn ich ihn nur aufwecken kann. Könnte selber einen längeren Schlaf gut gebrauchen, aber nicht von dieser Art!
25. Jan. Mevana fast gesund! Noch eine Woche, und er kann mich in den Dschungel führen. Er hatte Angst, als er zum erstenmal zu sich kam, davor, daß seine Persönlichkeit nach seinem Tod auf die Fliege übergehen würde, faßte aber Mut, als ich ihm sagte, er würde wieder gesund werden. Seine Frau, Ugowe, sorgt jetzt gut für ihn, und ich kann mich ein bißchen ausruhn. Als nächstes sind die Todesboten an der Reihe!
3. Feb. — Mevana ist wiederhergestellt, und ich habe mit ihm über die Fliegenjagd gesprochen. Er hat große Angst, noch einmal die Stelle aufzusuchen, wo er gestochen wurde, aber ich appelliere an seine Dankbarkeit. Außerdem bildet er sich ein, daß ich Krankheiten nicht nur heilen, sondern auch fernhalten kann. Sein Mut könnte einen Weißen beschämen ich zweifle nicht, daß er mich hinbringen wird. Wenn ich dem Leiter der Faktoreisage, daß es um die örtliche Gesundheitsarbeit geht, wird er mich für die paar Tage beurlauben.
i z.März Endlich in Uganda! Habe neben Mevana noch fünf Boys, aber sie sind alle Gallas. Die örtlichen Eingeborenen waren nicht zu bewegen, in diese Gegend zu gehen, weil sich herumgesprochen hat, was Mevana passiert ist. Dieser Dschungel ist ein Ort der Pestilenz durchzogen von ungesunden Dünsten. Die Seen haben offenbar alle keinen Abfluß. An einer Stelle stießen wir auf Reste zyklopischer Ruinen, um die sogar die Gallas einen weiten Bogen machten. Sie behaupten, diese Megalithen seien älter als die Menschheit und ein Schlupfwinkel der »Fischer von draußen« was immer das bedeuten mag und der bösen Gottheiten Tsatogwa und Klulu gewesen. Bis zum heutigen Tag wird ihnen ein unheilvoller Einfluß
zugeschrieben, der irgendwie mit den Teufelsfliegen zusammenzuhängen scheint.
15. März Heute morgen den Mlolo-See erreicht, an dessen Ufer Mevana gestochen wurde. Ein höllisches, mit grünem Schlamm bedecktes Wasserloch voller Krokodile; Mevana hat eine Fliegenfalle aus feinem Drahtgeflecht mit einem Köder aus Krokodilfleisch aufgestellt. Die Falle hat eine kleine Einflugöffnung, und wenn die Fliege einmal drin ist, findet sie den Ausweg nicht mehr. Die Biester sind ebenso dumm wie gefährlich und gierig nach frischem Fleisch oder Blut. Ich hoffe, wir können mehrere Exemplare fangen. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mit ihnen experimentieren muß; ich muß eine Möglichkeit finden, ihr Aussehen zu verändern, damit Moore sie nicht erkennt. Wahrscheinlich kann ich sie mit irgendwelchen anderen Arten kreuzen und auf diese Weise eine Bastardform schaffen, deren Fähigkeit, den Erreger zu übertragen, nicht beeinträchtigt sein wird. Wir werden sehen. Ich muß warten, habe aber jetzt keine Eile mehr. Wenn ich so weit bin, werde ich mir von Mevana infiziertes Fleisch besorgen lassen, um meine kleinen Todesbringer damit zu füttern, und dann ab geht die Post.
16. März — Glück gehabt. Zwei Käfige voll. Fünf kräftige Exemplare mit Flügeln, die wie Diamanten glitzern. Mevana setzt sie in einen großen Kanister um, der mit feinem Drahtgeflecht verschlossen ist, und ich glaube, wir haben sie gerade rechtzeitig gefangen. Wir können sie ohne Schwierigkeiten nach M’gonga schaffen. Nehmen viel Krokodilfleisch als Nahrung mit. Es ist zweifellos zum größten Teil infiziert.
20. April Wieder in M’gonga, im Labor beschäftigt. Habe bei Dr. Joost in Pretoria Tsetsefliegen für Kreuzungsexperimente bestellt. Eine solche Kreuzung, falls sie überhaupt gelingt, müßte Bastarde ergeben, die schwer zu erkennen, dabei aber genauso tödlich wie Glossina palpaltssind. Falls das fehlschlägt, werde ich es mit anderen Dipteren aus dem Landesinneren versuchen;
ich habe schon zu Dr. Vanderfelde in Nyangwe nach anderen Kongo-Typen geschickt. Werde Mevana nun doch nicht bitten müssen, mir noch mehr infiziertes Fleisch zu besorgen, denn ich habe festgestellt, daß ich Kulturen des Erregers Trypanosoma gambienseaus dem Fleisch, das wir letzten Monat besorgten, in Reagenzgläsern fast unbegrenzt am Leben erhalten kann. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich frisches Fleisch infizieren und meine geflügelten Boten damit füttern — und dann bon voyage!
18. Juni — Heute kamen meine Tsetsefliegen von Joost. Die Käfige für die Züchtungsversuche sind schon lange fertig, und ich bin jetzt dabei, meine Auswahl zu treffen. Habe vor, den Lebenszyklus mit Ultraviolettstrahlen zu beschleunigen. Die Apparatur dafür besitze ich glücklicherweise schon. Natürlich sage ich niemandem, was ich tue. Die Unwissenheit der wenigen Leute hier erleichtert es mir, meine Ziele geheimzuhalten und so zu tun, als ob ich nur aus medizinischen Gründen bestehende
Arten untersuchte.
19.Juni Die Kreuzung ist fruchtbar! Gute Eiablage letzten Mittwoch, und jetzt habe ich schon hervorragende Larven. Falls die reifen Insekten genauso seltsam aussehen wie diese, brauche ich nichts weiter zu tun. Ich bereite für die verschiedenen Exemplare eigene numerierte Käfige vor.
7. Juli Die neuen Kreuzungen sind geschlüpft! Tarnung hervorragend, was den Rumpf betrifft, aber der Glanz der Flügel läßt immer noch an Glossina
palpaltsdenken. Der Thorax erinnert entfernt an die Streifen der Tsetsefliege. Leichte Abwandlungen bei den Individuen. Füttere alle mit verseuchtem Krokodilfleisch, und wenn sich die Infektiosität entwickelt hat, werde ich die Fliegen an ein paar Schwarzen ausprobieren — natürlich so, daß es wie zufällig wirkt. Es gibt hier so viele leicht giftige Fliegen, daß man so etwas ohne weiteres tun kann, ohne Verdacht zu erregen. Ich werde eine der Fliegen in meinem dicht mit Fliegendraht
abgesicherten Speisezimmer freilassen, wenn Batta, mein Boy, mir das Frühstück bringt, und mich selber vorsehen. Wenn sie ihre Arbeit getan hat, werde ich sie einfangen oder erschlagen, was bei der Dummheit dieser Tiere kein Kunststück sein dürfte oder sie mit Chlorgas vergiften. Falls es das erstemal nicht klappt, werde ich es so oft probieren, bis ich Erfolg habe. Natürlich halte ich das Tryparsamid bereit, für den Fall, daß ich selber gestochen werde aber ich werde aufpassen, daß das nicht passiert, denn ein absolut sicheres Mittel gibt es nicht.
10. Aug. Infektiösität eingetreten. Konnte es so einrichten, daß Batta gestochen wurde. Fing die Fliege, als sie noch auf seiner Haut saß, und setzte sie wieder in ihren Käfig. Gab ihm Jod zur Schmerzlinderung, der arme Teufel ist mir auch noch dankbar dafür. Werde morgen eine der Varianten auf Gamba ansetzen, den Boten des Faktoreileiters. Weitere Tests wage ich hier nicht zu unternehmen, aber sollten doch noch weitere Versuche erforderlich sein, werde ich einige Exemplare nach Ukala bringen und dort die zusätzlichen Daten ermitteln.
n. Aug. Gamba nicht gestochen, konnte aber die Fliege lebend wieder einfangen. Batta scheint immer noch wohlauf und hat keine Schmerzen am Rücken, wo er gestochen wurde. Werde etwas Zeit verstreichen lassen, bevor ich es noch einmal mit Gamba probiere.
14. Aug. Insekten-Sendung von Vanderfelde endlich eingetroffen. Nicht weniger als sieben verschiedene Arten, einige davon mehr oder weniger giftig. Füttere sie gut, für den Fall, daß Kreuzung mit Tsetsefliege nicht funktioniert. Manche dieser Tierchen sehen ganz anders aus als Glossina palpalts,aber das Problem ist, daß fruchtbare Kreuzungen mit diesen Arten vielleicht nicht möglich sind.
17. Aug. Habe Gamba an diesem Nachmittag erwischt, mußte aber die Fliege auf ihm totschlagen. Sie stach ihn in die linke Schulter. Habe den Stich versorgt, und Gamba ist genauso dankbar wie Batta. Battas Zustand immer noch unverändert.
2.0. Aug. Keine Veränderung bei Gamba, auch bei Batta nicht. Experimentiere mit einer neuen Art von Tarnung, um die Hybridisierung zu ergänzen ein Farbstoff, mit dem sich der verräterische Glanz der Flügel verändern läßt. Ein bläulicher Schimmer wäre am besten; könnte vielleicht eine ganze Partie Insekten damit einsprühen. Werde mit Preußischblau und Turnbullsblau experimentieren.
25. Aug. Batta klagte heute über Schmerzen am Rücken; vielleicht kommen die Dinge jetzt in Gang.
3. Sept. Bin mit meinen Experimenten ein gutes Stück vorangekommen. Batta zeigt Anzeichen von Lethargie und sagt, der Rücken tue ihm ständig weh. Gamba hat ein unangenehmes Gefühl in der Schulter, in die er gestochen wurde.
24. Sept. Battas Zustand verschlechtert sich zusehends. Er macht sich Sorgen wegen des Insektenstichs. Er meint, es müsse eine Teufelsfliege gewesen sein, und beschwor mich, sie zu töten denn er sah, wie ich sie in den Käfig tat -, bis ich vorgab, sie sei längst eingegangen. Er meinte, er wolle nicht, daß seine Seele nach seinem Tod in die Fliege übergehe. Ich gab ihm Injektionen von destilliertem Wasser, um ihn bei Laune zu halten. Die Fliege besitzt offenbar alle Eigenschaften von Glossina palpalis.Gamba ist ebenfalls schwach und zeigt die gleichen Symptome wie Batta. Vielleicht probiere ich bei ihm das Tryparsamid aus, denn daß der Stich wirkt, ist schon hinreichend bewiesen. Bei Batta werde ich jedoch nicht eingreifen, denn ich möchte eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, wie lange es dauert, bis ein gestochener Mensch stirbt.
Die Experimente mit der Färbung entwickeln sich gut. Ein isomere Form von Ferroferrizyanid mit einer Beimischung von Kalisalz kann in Alkohol gelöst und mit verblüffender Wirkung auf die Insekten gesprüht werden. Es färbt die Flügel blau, ohne den dunklen Thorax nennenswert zu verändern, und geht nicht mehr ab, wenn die Exemplare mit Wasser besprüht werden. Mit dieser Tarnung werde ich wahrscheinlich die vorhandenen Tse-tse-Kreuzungen verwenden können, so daß ich mich nicht mit weiteren Experimenten aufzuhalten brauche. Mag er auch noch so schlau sein, eine blauflügelige Fliege mit einem an Tsetsefliegen erinnernden Thorax wird er nicht erkennen. Diese ganze Färberei muß ich natürlich strikt geheim halten. Ich darf hinterher auf keine Weise mit den blauen Fliegen in Verbindung gebracht werden.
9. Okt. Batta ist lethargisch und liegt den ganzen Tag auf seinem Bett. Habe Gamba zwei Wochen lang Tryparsamid verabreicht und glaube, er wird sich erholen.

25. Okt. — Batta geht es sehr schlecht, aber Gamba hat sich fast erholt.
18. Nov. Batta ist gestern gestorben, und es passierte etwas Seltsames, was mich angesichts der Eingeborenen-Legenden und Battas eigener Ängste schaudern ließ. Als ich nach seinem Ableben ins Labor kam, hörte ich in Käfig 12., der die Fliege, die Batta gestochen hat, enthielt, ein höchst ungewöhnliches Summen. Das Insekt war wie tollwütig, wurde aber völlig ruhig, als ich auftauchte, setzte sich auf das Drahtgeflecht und sah mich auf die kurioseste Art an. Es streckte sogar die Beine durch den Draht. Als ich vom Abendessen mit Allen zurückkam, war die Fliege tot. Offenbar war sie wild geworden und hatte sich an den Seiten des Käfigs zu Tode gestoßen.
Es ist wirklich merkwürdig, daß dies ausgerechnet passierte, als Batta starb. Wenn dies einer der Schwarzen gesehen hätte, hätte er es sofort mit dem Übergang der Seele des armen Teufels auf die Fliege erklärt. Ich werde jetzt in naher Zukunft meine blaugefärbten Hybriden auf den Weg bringen. Die Bastarde sind offenbar noch etwas giftiger als die reinen Exemplare von Glossina palpalis.Batta starb drei Monate und acht Tage nach der Infektion, aber es gibt natürlich immer einen großen Unsicherheitsfaktor. Ich wünschte mir fast, ich hätte auch bei Gamba nicht eingegriffen.
5. Dez. Damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich meine Boten zu Moore schaffen kann. Es muß so aussehen, als ob sie von irgendeinem Entomologen kämen, der sein Dipteren Zentralund Südafrikasgelesen hat und der Meinung ist, Moore werde Interesse daran haben, diese »neue und nicht identifizierbare Spezies« zu untersuchen. Außerdem muß glaubhaft gemacht werden, daß die blauflügelige Fliege harmlos ist, beispielsweise durch einen Hinweis auf lange Erfahrungen der Eingeborenen. Moore wird dann keinen Verdacht schöpfen, und eine der Fliegen wird ihn früher oder später mit Sicherheit erwischen, wenn auch nicht abzusehen ist, wann das genau sein wird.
Ob ich Erfolg habe, werde ich nur aus den Briefen meiner New Yorker Freunde erfahren, die mir immer noch von Zeit zu Zeit über Moore berichten, obwohl die Zeitungen sicher seinen Tod melden werden. Vor allem darf ich kein Interesse an seinem Fall zeigen. Ich werde verreisen und die Fliegen unterwegs aufgeben, darf dabei aber nicht erkannt werden. Es wird am besten sein, wenn ich einen langen Urlaub mache, ins Landesinnere fahre, mir einen Bart wachsen lasse, das Päckchen in Ukala absende und mich dabei als Entomologe auf der Durchreise ausgebe, mir dann den Bart wieder abnehme und hierher zurückkehre.
15. April 19 30 Nach langer Reise wieder in M’gonga. Alles ist nach Plan gelaufen, mit der Präzision eines Uhrwerks. Habe die Fliegen an Moore abgeschickt, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nahm am 15. Dezember Weihnachtsurlaub und machte mich sofort mit allem nötigen auf den Weg. Hatte mir einen guten Versandbehälter gebastelt, in dem auch Platz für etwas verseuchtes Krokodilfleisch als Nahrung für die Todesbringer Platz hatte. Ende Februar war mein Bart so weit, daß ich kaum noch zu erkennen war.
Tauchte am 9. März in Ukala auf und schrieb im Büro der Handelsniederlassung mit der Maschine einen Brief an Moore. Unterschrieb mit »Nevil WayIand-Hall« angeblich ein Entomologe aus London. Glaube, genau den richtigen Ton getroffen zu haben Interesse eines Fachkollegen und all dies. Erwähnte ganz nebenbei, daß die Exemplare »absolut harmlos« seien. Niemand schöpfte den geringsten Verdacht. Nahm mir den Bart ab, sobald ich wieder im Busch war, um bei der Rückkehr hierher nicht unregelmäßig gebräunt zu sein. Verzichtete auf einer kurzen Sumpfstrecke auf eingeborene Träger ich kann ungeheuer viel in einem Rucksack unterbringen, und mein Orientierungssinn ist hervorragend. Gut, daß ich diese Art des Reisens gewöhnt bin. Erklärte meine zu lange Abwesenheit mit einem Fieberanfall und damit, daß ich mich einmal im Busch verlaufen hätte.
Aber jetzt kommt der psychologisch schwierigste Teil ich muß auf Neuigkeiten über Moore warten, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß er erst gestochen wird, wenn das Gift nicht mehr wirksam ist, aber bei seiner Unvorsichtigkeit stehen die Chancen hundert zu eins gegen ihn. Ich bereue nichts; nach dem, was er mir angetan hat, verdient er das und noch mehr. 30. Juni 1930 — Hurra! Der erste Schritt hat geklappt! Erfuhr soeben von Dyson an der Columbia University, daß Moore unbekannte blauflügelige Fliegen aus Afrika zugeschickt bekommen hat und vor einem Rätsel steht. Kein Wort davon, daß er gestochen worden wäre, aber ich kenne Moores schlampige Arbeitsweise und bin sicher, daß es in nächster Zukunft passieren wird!
27. Aug. 1930 Brief von Marton in Cambridge. Er berichtet, Moore fühle sich sehr abgeschlagen und erzähle von einem Insektenstich im Nacken von einer rätselhaften neuen Art, die er etwa Mitte Juni bekommen hätte. Habe ich Erfolg gehabt? Moore stellt offenbar keine Verbindung zwischen dem Stich und seiner Schwäche her. Falls er wirklich von einer meiner Fliegen gestochen wurde, dann war diese noch infektiös.
12. Sept. 1930 Sieg! Dyson berichtet in seinem letzten Brief, daß Moore in beklagenswertem Zustand ist. Er führt seine Krankheit jetzt auf den Stich zurück, den er am 19. Juni gegen Mittag bekam, und rätselt immer noch, um welche Insektenart es sich handelt. Versucht fieberhaft, mit einem »Nevil Wayiand-Hall« Verbindung aufzunehmen, der ihm die Fliegen geschickt hat. Von den rund hundert, die ich abgeschickt hatte, haben ihn offenbar ungefähr 75 lebend erreicht. Einige entkamen, als er gestochen wurde, aber aus einigen Eiern, die seit der Absendung gelegt wurden, sind Larven geworden. Diese Larven, so berichtet Dyson, läßt Moore jetzt ausbrüten. Wenn die Fliegen ausschlüpfen, wird er die Kreuzung zwischen Tsetse und Palpalis wahrscheinlich identifizieren — aber das wird ihm dann auch nichts mehr helfen. Allerdings wird er sich fragen, warum die blauen Flügel nicht vererbt werden!
8. Nov. 1930 Aus Briefen von mehreren Freunden erfahre ich, daß Moore ernstlich erkrankt ist. Heute kam einer von Dyson. Er schreibt, Moore sei absolut ratlos wegen der Hybriden, die aus den Larven ausgeschlüpft sind, und sei inzwischen zu der Vermutung gekommen, daß die Elterntiere ihre blauen Flügel auf irgendeine künstliche Weise bekommen haben. Er müsse jetzt fast ständig das Bett hüten. Von Tryparsamid keine Rede.
13. Febr. 1931 Schlechte Nachrichten. Moore geht es immer schlechter, und er weiß offenbar kein Gegenmittel, aber ich glaube, daß er jemanden in Verdacht hat. Letzten Monat bekam ich einen sehr kühlen Brief von Morton, in dem nichts mehr über Moore stand; und jetzt schreibt Dyson ebenfalls ziemlich reserviert Moore habe so seine Theorien über die ganze Geschichte. Er zieht überall telegraphisch Erkundigungen über einen »Wayland-Hall« ein in London, Ukala, Nairobi, Mombasa und anderen Städten natürlich ohne Erfolg. Ich nehme an, er hat Dyson gesagt, wen er im Verdacht hat, aber Dyson glaubt ihm noch nicht. Fürchte jedoch, daß Morton ihm glaubt.
Ich werde mir überlegen müssen, wie ich mich hier absetzen und meine Identität für immer verwischen kann. Was für ein Ende für eine Karriere, die so vielversprechend begann! Auch das ist Moores Werk aber diesmal muß er im voraus dafür bezahlen! Ich werde wohl nach Südafrika gehen und unterdessen schon in aller Stille Gelder auf den Namen meines neuen Selbst deponieren »Frederick Nasmyth Mason aus Toronto, Kanada, Makler für Bergbaugesellschaften«. Werde zur Identifikation eine neue Unterschrift einüben. Falls sich das ganze als unnötig erweist, kann ich mir die Gelder ja jederzeit zurücküberweisen lassen.
15. Aug. 1931 Ein halbes Jahr ist vergangen, und die Spannung läßt immer noch nicht nach. Dyson und Morton ebenso wie mehrere andere Bekannte schreiben mir anscheinend überhaupt nicht mehr. Dr. James aus San Francisco hört ab und zu etwas von Moores Freunden und schreibt, Moore liege fast ständig im Koma. Er kann seit Mai nicht mehr gehen. Solange er noch sprechen konnte, klagte er ständig darüber, daß ihm kalt sei. Jetzt kann er auch nicht mehr sprechen, obwohl man annimmt, daß er ab und zu noch halb zum Bewußtsein kommt. Seine Atmung ist kurz und schnell und auch in einigem Abstand noch zu hören. Es besteht kein Zweifel, daß Trypanosoma gambiensesich von ihm ernährt aber er hält sich besser als die Nigger hier. Batta war nach drei Monaten und acht Tagen erledigt, und Moore lebt immer noch, obwohl er schon vor über einem Jahr gestochen wurde. Hörte letzten Monat Gerüchte über eine intensive Suche in der Umgebung von Ukala nach einem »Wayland-Hall«. Brauche mir aber wahrscheinlich keine Sorgen zu machen, denn es gibt absolut nichts, was mich mit dieser Geschichte in Verbindung bringen könnte.
7. Okt. 1931 Es ist zu Ende! Meldung in der Mombasa Gazette.Moore starb am 10.September nach einer Reihe von Zitteranfällen und mit starker Untertemperatur. Das wäre erledigt ! Ich hatte mir geschworen, ihn zu vernichten, und ich habe es getan. Die Zeitung brachte einen dreispaltigen Bericht über seine lange Krankheit und seinen Tod sowie die ergebnislose Suche nach einem »Wayland-Hall«. Offenbar war Moore eine prominentere Figur in Afrika, als ich mir vorgestellt hatte. Das Insekt, das ihn gestochen hat, wurde jetzt anhand der überlebenden Exemplare einwandfrei identifiziert, und auch die künstliche Flügelfärbung wurde aufgedeckt. Es gilt als gesichert, daß die Fliegen mit Tötungsabsicht präpariert und verschickt wurden. Moore, so scheint es, teilte Dyson mit, welchen Verdacht er hatte, doch dieser hält genau wie die Polizei still, weil es keine Beweise gibt. Alle Feinde von Moore werden überprüft, und Associated Press kündigte eine Untersuchung an, »in die möglicherweise ein prominenter Arzt einbezogen wird, der sich zur Zeit im Ausland aufhält«!
Ein Hinweis ganz am Schluß des Berichts — zweifellos reines Fabulieren eines Sensarionsjournalisten jagt mir angesichts der Legenden der Schwarzen und der Art, wie die Fliege wild wurde, als Batta starb, einen Schauder über den Rücken. Es scheint, daß in der Nacht von Moores Tod etwas Seltsames passierte; Dyson wurde vom Summen einer blauflügeligen Fliege geweckt, die dann sofort zum Fenster hinausflog, unmittelbar bevor die Krankenschwester aus Moores meilenweit entfernter Wohnung in Brooklyn anrief und ihm vom Tod seines Freundes berichtete. Was mich jedoch am meisten beschäftigt, ist die afrikanische Seite der Geschichte. Einige Leute erinnern sich an den bärtigen Fremden, der den Brief tippte und das Päckchen abschickte, und die Polizei durchkämmt das Land nach Eingeborenen, die ihn vielleicht durch den Busch getragen haben. Ich habe zwar nur wenige gebraucht, aber falls die Polizisten die Ubandes verhören, die mich durch den N’Kini-Dschungel trugen, werde ich mehr erklären müssen, als mir lieb wäre. Es sieht aus, als sei für mich der Zeitpunkt gekommen, von der Bildfläche zu verschwinden;
morgen werde ich wahrscheinlich meine Kündigung einreichen und alle
Vorbereitungen treffen, um mit unbekanntem Ziel zu verreisen, sobald die Kündigung wirksam wird.
9. Nov. 1931 Es hat Schwierigkeiten mit meiner Kündigung gegeben, aber jetzt bin ich frei. Ich wollte mich nicht bei Nacht und Nebel davonmachen, um nicht noch zusätzlich Verdacht auf mich zu lenken. Letzte Woche berichtete mir James über Moores Tod, aber auch nicht mehr als in den Zeitungen stand. Seine Bekannten in New York sind offenbar sehr zurückhaltend mit Details, obwohl sie alle von einer gründlichen Untersuchung sprechen. Von meinen Freunden im Osten habe ich nichts mehr gehört. Moore muß einen gefährlichen Verdacht geäußert haben, bevor er endgültig in Bewußtlosigkeit sank, aber sicherlich hat er nicht den geringsten Beweis gehabt.
Trotzdem werde ich keinerlei Risiko eingehen. Am Donnerstag breche ich nach Mombasa auf, und von dort aus fahre ich mit dem Dampfer die Küste hinunter nach Durban. Von da an werde ich mich unsichtbar machen, schon bald jedoch als der Makler Frederick Nasmyth Mason aus Toronto in Johannesburg auftauchen. Damit geht mein Tagebuch zu Ende. Sollte ich doch nicht in Verdacht geraten, wird es nach meinem Tode seinen ursprünglichen Zweck erfüllen und der Welt mitteilen, was sonst unbekannt bleiben müßte. Sollte sich dagegen der Verdacht doch erhärten und bestehen bleiben, wird es die vagen Anschuldigungen bestätigen und verwirrende Lücken in der Beweiskette schließen. Falls mir irgendwie Gefahr droht, werde ich es natürlich vernichten müssen.
Nun, Moore ist tot, er hat es verdient, jetzt ist auch Dr. Thomas Slauenwite tot. Und wenn der Körper, der einst Thomas Slauenwite gehörte, tot ist, soll die Öffentlichkeit diese Aufzeichnungen erhalten.
15. Jan. 1932. Ein neues Jahr und die widerstrebende Fortsetzung dieses Tagebuchs. Diesmal schreibe ich ausschließlich, um mich zu erleichtern, denn es wäre absurd zu glauben, der Fall sei nicht endgültig abgeschlossen. Ich wohne unter meinem neuen Namen im Vaal Hotel in Johannesburg, und bislang hat noch niemand meine Identität in Zweifel gezogen. Ich habe hin und wieder unverbindliche Gespräche mit Geschäftsleuten geführt, um meiner Rolle als Makler gerecht zu werden, und glaube, es wird mir tatsächlich gelingen, in dieser Branche Fuß zu fassen. Später werde ich nach Toronto fahren und ein paar Beweise für meine fiktive Vergangenheit schaffen.
Was mich jedoch beunruhigt, ist ein Insekt, das heute gegen Mittag in mein Zimmer eindrang. Wie angesichts meiner Nervenbelastung nicht anders zu erwarten, habe ich natürlich in letzter Zeit alle möglichen Alpträume über blaue Fliegen gehabt. Dieses Ding war jedoch nur allzu real, und ich habe absolut keine vernünftige Erklärung dafür. Das Insekt summte eine volle Viertelstunde um mein Bücherregal und entzog sich jedem Versuch, es zu fangen oder zu töten. Das Seltsamste war seine Farbe und sein Aussehen es hatte nämlich blaue Flügel und war in jeder Hinsicht das genaue Abbild meiner künstlich gezüchteten kleinen Todesbringer. Ich kann mir jedoch überhaupt nicht vorstellen, daß es sich wirklich um eines dieser Insekten handelte. Ich habe alle gefärbten und ungefärbten Hybriden, die ich nicht an Moore schickte, beseitigt, und kann mich nicht erinnern, daß eines entkommen wäre. Kann es sich bei der ganzen Geschichte um eine Halluzination handeln? Oder ist es denkbar, daß eines der Exemplare, die in Brooklyn entkamen, als Moore gestochen wurde, den Weg nach Afrika zurückgefunden hat? Es gab da ja diese groteske Geschichte von der blauen Fliege, die Dyson weckte, als Moore starb und wenn man es genau bedenkt, ist es natürlich nicht absolut unmöglich, daß einige der Insekten überlebten und auf irgendeine Weise wieder nach Afrika gelangten. Es ist auch durchaus möglich, daß die blaue Flügelfarbe sich erhalten hat, denn die Färbung war fast so dauerhaft wie eine Tätowierung. Das wäre jedenfalls die einzige rationale Erklärung für diesen Vorfall, obwohl es schon sehr kurios wäre, daß sich das Insekt so weit nach Süden verirrt haben könnte. Es könnte sich jedoch um irgendeinen erblichen Heimkehrinstinkt der Tsetse-Erbanlage handeln. Schließlich ist die Kreuzung von dieser Seite her in Südafrika beheimatet.
Ich muß aufpassen, daß ich nicht gestochen werde. Natürlich ist das ursprüngliche Gift falls es sich denn wirklich um eine der Fliegen handelt, die Moore entkommen sind schon längst unwirksam geworden, aber das Insekt muß sich ja auch auf dem Rückflug nach Afrika irgendwie ernährt haben, und wenn es dabei durch
Zentralafrika gekommen ist, kann es sich durchaus neu infiziert haben. Das ist sogar sehr wahrscheinlich, denn der Teil seiner Erbanlagen, der von Glossina palpaltsstammt, würde es natürlich nach Uganda mit all seinen
Schlafkrankheitserregern zurückführen. Ich habe noch etwas Tryparsamid ich brachte es nicht über mich, meinen Arzneikoffer zu vernichten, mag er auch noch so verräterisch sein -, aber seit ich mehr über das Thema gelesen habe, bin ich mir der Wirkung der Droge nicht mehr so sicher. Sie gibt einem eine Chance, sich gegen die Krankheit zu wehren, und hat mit Sicherheit Gamba gerettet, aber die Aussichten sind insgesamt sehr gering.
Absolut seltsam ist es, daß diese Fliege angesichts dieser unendlichen Weite Afrikas ausgerechnet in mein Zimmer geflogen sein soll! An einen Zufall kann man dabei kaum noch denken. Falls sie wiederkommt, werde ich sie ganz bestimmt töten. Ich wundere mich immer noch, daß sie mir heute entkommen konnte, denn
normalerweise sind diese Biester außerordentlich dumm und leicht zu fangen. War es vielleicht doch nur eine Illusion ? Die Hitze macht mir in letzter Zeit mehr zu schaffen als je zuvor — noch mehr als seinerzeit oben in Uganda.
16. Jan. Verliere ich den Verstand? Die Fliege kam heute mittag wieder und zeigte ein so ungewöhnliches Verhalten, daß ich mir keinen Reim darauf machen kann. Die einzige Erklärung ist, daß ich das Opfer von Wahnvorstellungen bin. Das Insekt tauchte aus dem Nichts auf und flog geradewegs zu meinem Bücherregal, wo es immer wieder vor einem Exemplar von Moores Dipteren Zentralund
Südafrikaskreiste. Hin und wieder ließ es sich auf der Oberkante oder dem Rücken des Bandes nieder, und gelegentlich kam es auf mich zugeschossen, zog sich aber jedesmal wieder zurück, bevor ich mit einer zusammengefalteten Zeitung nach ihm schlagen konnte. Derart schlaues Verhalten ist bei den notorisch dummen afrikanischen Dipteren völlig unbekannt. Fast eine halbe Stunde lang versuchte ich, das verdammte Ding zu erwischen, aber schließlich entkam es doch durch ein Loch in dem Fliegengitter am Fenster, das mir nicht aufgefallen war. Manchmal hatte ich fast den Eindruck, daß es sich über mich lustig machen wollte, indem es sich in die Reichweite meiner Waffe begab und dann behende auswich, als ich zuschlug. Ich muß achtgeben, daß ich den Verstand nicht verliere.
17. Jan. Entweder ich bin verrückt, oder die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, wie wir sie kennen, sind auf dieser Welt außer Kraft gesetzt. Diese verfluchte Fliege kam kurz vor Mittag von irgendwoher ins Zimmer geflogen und umsummte abermals das Exemplar von Moores Dipterenin meinem Bücherregal. Wieder versuchte ich, sie zu fangen, und wieder erging es mir nicht anders als gestern. Schließlich flog das widerwärtige Insekt zu dem offenen Tintenfaß auf meinem Tisch und tauchte sich ein nur die Beine und den Thorax, nicht jedoch die Flügel. Dann flog es zur Decke hinauf, an der es dann in einem Bogen entlangkroch, so daß es eine Tintenspur hinterließ. Nach einer Weile vollführte es einen kleinen Sprung und hinterließ einen einzelnen Tintenpunkt, der mit der Spur nicht zusammenhing;
dann ließ es sich direkt vor meinem Gesicht herabfallen und summte davon, bevor ich es fangen konnte.
Die ganze Geschichte kam mir monströs und unheimlich vor, obwohl ich mir selbst nicht erklären kann, warum. Als ich die Tintenspur an der Decke aus verschiedenen Blickrichtungen betrachtete, kam sie mir immer bekannter vor, und dann dämmerte es mir plötzlich, daß sie ein perfektes Fragezeichen darstellte. Kann man sich ein Zeichen denken, das auf bösartigere Weise zu der Situation gepaßt hätte ? Es ist ein Wunder, daß ich nicht in Ohnmacht fiel. Die Hotelangestellten haben es bis jetzt noch nicht bemerkt. Ich habe am Nachmittag und am Abend die Fliege nicht gesehen, habe jedoch mein Tintenfaß zugeschraubt. Ich glaube, die Untat, die ich an Moore begangen habe, rächt sich jetzt und erregt mir makabre Halluzinationen. Vielleicht gibt es diese Fliege überhaupt nicht.
18. Jan. In welche Hölle eines Wirklichkeit gewordenen Alptraums bin ich gestürzt! Was heute geschah ist etwas, was normalerweise nicht geschehen könnte und doch hat auch ein Hotelangestellter die Zeichen an der Decke gesehen und mir bestätigt, daß sie wirklich da sind.Als ich heute vormittag gegen elf an einem Manuskript arbeitete, sah ich etwas blitzschnell in meinem Tintenfaß verschwinden und wieder herauskommen, bevor ich nachsehen konnte, was es war. Als ich aufschaute, sah ich diese teuflische Fliege wieder an der Decke entlangkriechen und gewundene Tintenspuren hinterlassen. Ich konnte nichts dagegen tun, faltete aber eine Zeitung, um die Kreatur zu erschlagen, falls sie sich nahe genug heranwagen sollte. Als sie mehrere Bögen an die Decke gemalt hatte, flog sie in eine dunkle Ecke und verschwand, und als ich zu der nun noch mehr verunstalteten weißen Fläche aufschaute, sah ich, daß die neue Tintenspur unverkennbar eine riesige Ziffer 5 bildete!
Eine Zeitlang war ich fast bewußtlos von einer Welle namenlosen Entsetzens, die ich mir nicht restlos erklären konnte. Dann nahm ich all meine Entschlußkraft zusammen und wurde aktiv. Ich ging in eine Apotheke und kaufte mir etwas Klebstoff und andere Dinge, die man zur Herstellung einer klebrigen Falle braucht; außerdem beschaffte ich mir ein zweites Tintenfaß. In mein Zimmer zurückgekehrt, füllte ich mein neues Tintenfaß mit der klebrigen Flüssigkeit, stellte es an die Stelle, wo das alte gestanden hatte, und ließ es offen. Dann versuchte ich mich auf ein Buch zu konzentrieren. Ungefähr um drei Uhr hörte ich das verfluchte Insekt wieder und sah, wie es das neue Tintenfaß umkreiste. Es schwebte bis dicht über die klebrige Oberfläche herab, berührte diese aber nicht und schoß dann in gerader Linie auf mich zu, zog sich aber wieder zurück, bevor ich nach ihm schlagen konnte. Dann flog es zum Bücherregal hinüber und umkreiste Moores Abhandlung. Es ist zutiefst beunruhigend und diabolisch, wie es den Eindringling immer wieder zu diesem Buch zieht.
Das Schlimmste kam am Schluß. Das Insekt löste sich von Moores Buch, flog hinüber zum offenen Fenster und begann, rhythmisch gegen das Drahtgeflecht zu fliegen. Es prallte mehrmals kurz hintereinander dagegen, machte dann eine Pause, prallte wieder mehrmals dagegen usw. Eine Zeitlang verfolgte ich wie gebannt dieses Schauspiel, doch dann ging ich zum Fenster hinüber, um das widerwärtige Ding endlich totzuschlagen, aber ich hatte wieder kein Glück. Das Ding flog einfach quer durchs Zimmer zu einer Lampe und begann auf dem steifen Lampenschirm den gleichen Rhythmus zu trommeln. Ich war der Verzweiflung nahe und ging daran, alle Türen und auch das Fenster zu schließen, in dessen Fliegengitter das unsichtbare Loch war. Es schien mir unerläßlich, dieses hartnäckige Wesen zu töten, dessen Verfolgung mich dem Wahnsinn nahebrachte. Das Trommeln ging immer noch weiter, und ich hatte wohl unbewußt mitgezählt, denn plötzlich fiel mir auf, daß jede der Serien genau /««/Schläge enthielt.
Fünf die gleiche Zahl, die das Insekt heute vormittag mit Tinte an die Decke geschrieben hatte. Konnte da irgendein Zusammenhang bestehen? Ein wahnsinniger Gedanke, denn das hätte bedeutet, daß die Fliege mit menschlichem Verstand und der Kenntnis geschriebener Ziffern begabt gewesen wäre. Ein menschlicher Verstand erinnerte das nicht an die primitivsten Legenden der Schwarzen in Uganda? Aber da war ja auch noch diese teuflische Geschicklichkeit im Ausweichen vor meinen Schlägen, die im auffälligen Gegensatz zu der sonst unverkennbaren Dummheit dieser Insekten stand. Während ich meine zusammengefaltete Zeitung weglegte und mich mit wachsendem Grauen hinsetzte, schwirrte das Insekt zur Decke hinauf und verschwand durch ein Loch an der Stelle, wo das Heizungsrohr in das Zimmer über mir führte.
Das Verschwinden der Fliege beruhigte mich nicht, denn ich zermarterte mir mit den abenteuerlichsten Spekulationen das Gehirn. Wenn diese Fliege tatsächlich mit menschlicher Intelligenz begabt war, woher kam dann diese Intelligenz? War etwa doch etwas Wahres an den Vorstellungen der Eingeborenen, daß diese Kreaturen die Persönlichkeit ihrer Opfer in sich aufnehmen, nachdem diese gestorben sind? Und falls dem so war, wessen Persönlichkeit hatte dann diese Fliege? Ich war schon zu dem Schluß gekommen, daß es sich um eines der Exemplare handeln mußte, die Moore an dem Tag entkommen waren, an dem er gestochen wurde. War dies der Todesbote, der Moore gestochen hatte? Wenn ja, was wollte das Insekt von mir?Was wollte es überhaupt von mir? Der kalte Schweiß brach mir aus, als mir einfiel, wie sich die Fliege, die Batta gebissen hatte, nach Battas Tod verhalten hatte. War ihre eigene Persönlichkeit durch die ihres toten Opfers ersetzt worden? Und dann war da diese sensationelle Meldung von der Fliege gewesen, die angeblich Dyson geweckt hatte, als Moore starb. Und was die Fliege betraf, die mich so hartnäckig quälte war es möglich, daß sie von einer rachelüsternen menschlichen Persönlichkeit angetrieben wurde ? Wie sie immer um Moores Buch herumsummte! Weiter wagte ich nicht zu denken. Ganz plötzlich bildete sich in mir die Gewißheit, daß dieses Insekt tatsächlich infiziert war, und zwar auf die virulenteste Weise. Angesichts der bösartigen Vorsätzlichkeit, die aus all seinen Bewegungen sprach, mußte es sich sicherlich in voller Absicht mit den tödlichsten Bazillen ganz Afrikas aufgeladen haben. Mein Verstand war inzwischen so zerrüttet, daß ich die menschlichen Eigenschaften des Insekts für selbstverständlich ansah.
Ich rief bei der Rezeption an und bat, mir einen Handwerker zu schicken, der das Loch an dem Heizungsrohr und eventuelle weitere Fugen und Ritzen in meinem Raum verschließen würde. Ich sagte, ich hätte unter einer Fliegenplage zu leiden, und der Mann zeigte sich sehr verständnisvoll. Als der Handwerker kam, zeigte ich ihm die Tintenspuren an der Decke, die er sofort sah. Sie waren also tatsächlich vorhanden! Die Ähnlichkeit mit einem Fragezeichen und der Ziffer fünf faszinierte ihn so, daß er immer wieder den Kopf schüttelte. Er verstopfte schließlich alle Löcher, die er finden konnte, und flickte das Fliegengitter am Fenster, so daß ich jetzt beide Fenster offen lassen kann. Offensichtlich hielt er mich für etwas exzentrisch, zumal da kein Insekt aufgetaucht war, seit er im Zimmer war. Aber so etwas ist mir längst gleichgültig geworden. Bis jetzt ist die Fliege heute abend nicht wieder aufgetaucht. Der Himmel weiß, was sie ist, was sie will und was aus mir werden wird!
19. Jan. Ich weiß vor Entsetzen nicht mehr ein noch aus. Das Ding hat mich berührt.Irgend etwas Monströses, Dämonisches ist hier am Werk, und ich bin das hilflose Opfer. Als ich am Vormittag vom Frühstück zurückkam, strich dieser geflügelte Sendbote der Hölle über meinen Kopf hinweg ins Zimmer und fing wie gestern wieder an, gegen den Fliegendraht anzurennen. Diesmal waren es jedoch jeweils nur vierSchläge in einer Reihe. Ich rannte ans Fenster und versuchte, das Insekt zu fangen, aber es entkam mir wieder und flog hinüber zu Moores Buch, das es wie zum Spott umsummte. Seine Fähigkeiten zu stimmlichem Ausdruck sind begrenzt, aber ich merkte, daß es immer vier kurze Summtöne hintereinander von sich gab.
Ich war inzwischen endgültig wahnsinnig geworden, denn ich schrie es an: »Moore, Moore, um Gottes willen, was willst du von mir?«Daraufhin hörte die Kreatur zu kreisen auf, kam auf mich zugeflogen und vollführte in der Luft einen tiefen, eleganten Bogen nach unten, der irgendwie an eine Verbeugung erinnerte. Dann flog sie zu dem Buch zurück. Dies alles glaubte ich jedenfalls wahrzunehmen, doch ich kann meinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen.
Und dann kam das Schlimmste. Ich hatte meine Tür offengelassen, in der Hoffnung, das Monster würde hinausfliegen, wenn ich es schon nicht fangen konnte, aber gegen halb zwölf schloß ich die Tür, in der Annahme, es sei nicht mehr im Zimmer. Dann setzte ich mich hin, um zu lesen. Es war genau Mittag, als ich ein Kitzeln im Nacken verspürte, doch als ich hinlangte, war nichts da. Einen Moment später spürte ich erneut das Kitzeln, und ehe ich eine Bewegung machen konnte, kam diese Ausgeburt der Hölle von hinten angeflogen, vollführte erneut die spöttische, elegante
Verbeugung in der Luft und flog durchs Schlüsselloch hinaus von dem ich mir nicht hätte träumen lassen, daß es dafür groß genug war.
Das Ding hatte mich berührt, daran konnte kein Zweifel sein. Es hatte mich berührt, ohne mich zu verletzen, und dann fiel mir siedend heiß ein, daß Moore mittags in den Nacken gestochen worden war.Seither hat sich das Ding nicht wieder gezeigt, aber ich habe alle Schlüssellöcher mit Papier verstopft und werde eine zusammengefaltete Zeitung in die Hand nehmen, so oft ich die Tür aufmache, um das Zimmer zu verlassen oder zu betreten.
2.0. Jan. Ich kann noch immer nicht ganz an das Übernatürliche glauben, und doch fürchte ich, daß ich verloren bin. Diese Geschichte ist einfach zu viel für mich. Heute kurz vor Mittag erschien dieses Monstrum draußenvor dem Fenster und begann wieder mit seinem Getrommel, diesmal aber mit nur jeweils drei Schlägen. Als ich ans Fenster trat, flog es davon. Ich habe immer noch genug Kraft in mir, um eine weitere Verteidigungsmaßnahme zu ergreifen. Ich nahm beide Fliegengitter heraus, bestrich sie mit dem klebrigen Zeug, das ich schon für das Tintenfaß verwendet hatte, und setzte sie wieder ein. Wenn diese Kreatur wieder zu trommeln anfangen will, wird ihr das zum Verhängnis werden!
Den Rest des Tages blieb ich ungestört. Aber werde ich das durchstehen, ohne den Verstand zu verlieren?
21. Jan. Im Zug nach Bloemfontein.
Ich bin geschlagen. Das Ding gewinnt. Es verfügt über eine diabolische Intelligenz, gegen die ich machtlos bin. Es erschien heute morgen draußen vor dem Fenster, berührte aber das klebrige Drahtgeflecht nicht.Statt dessen ging es auf Abstand und begann, in Kreisen herumzusummen jeweils zwei hintereinander,und dann machte es eine Pause. Nachdem es dies mehrmals wiederholt hatte, flog es über die Dächer der Stadt davon. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, denn diese
Andeutungen von Zahlenlassen eine grauenhafte Deutung zu. Am Montag war es die Zahl fünf,am Dienstag vier,am Mittwoch drei,und heute ist die zweian der Reihe. Fünf, vier, drei, zwei -was kann das anderes bedeuten, als ein monströses Abzählen der Tage?Zu welchem Zweck, das können nur die bösen Mächte des Universums wissen. Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, meine Koffer zu packen und aufzugeben, und jetzt habe ich den Nachtexpreß nach Bloemfontein genommen. Flucht mag zwecklos sein, aber was bleibt mir sonst übrig?
22. Jan. Bin im Orange Hotel in Bloemfontein abgestiegen, einem komfortablen, tadellos geführten Haus, aber das grausige Insekt ist mir gefolgt. Ich hatte alle Türen und Fenster geschlossen, alle Schlüssellöcher verstopft, überall nach Fugen und Ritzen gesucht und alle Rollos heruntergezogen, aber kurz vor Mittag hörte ich ein dumpfes Klopfen an einem der Fliegengitter vor dem Fenster. Ich wartete, und nach einer langen Pause kam noch ein Klopfen. Eine zweite Pause und noch einmal ein einzelnes Klopfen. Ich ließ das Rollo hoch und sah wie erwartet diese vermaledeite Fliege. Sie beschrieb einen einzigen großen, langsamen Kreis in der Luft und flog dann davon. Ich war bis ins Mark erschüttert und mußte mich auf die Couch legen. Eins!Das war eindeutig der Inhalt dieser letzten Botschaft des Monsters. Ein Klopfen, einKreis. Bedeutete dies, daß mir noch einTag bis zu einem unsäglichen Ende blieb ? Sollte ich abermals fliehen oder mich hier verbarrikadieren, indem ich das Zimmer hermetisch abdichtete?
Nachdem ich eine Stunde geruht hatte, fühlte ich mich in der Lage, etwas zu unternehmen, und bestellte einen großen Vorrat an Konservendosen und
abgepackten Lebensmitteln, außerdem Bettwäsche und Handtücher. Morgen werde ich unter keinen Umständen irgendeine Tür oder ein Fenster öffnen. Der Schwarze, der die Lebensmittel und die Wäsche brachte, warf mir einen sonderbaren Blick zu, aber es ist mir längst gleichgültig, wie exzentrisch oder wahnsinnig ich anderen erscheine. Ich werde von Mächten verfolgt, die viel schlimmer sind als der Spott der Menschen. Als ich meine Vorräte bekommen hatte, untersuchte ich jeden Quadratmillimeter der Wände und verstopfte auch die kleinste Öffnung, die ich finden konnte. Nun endlich werde ich wieder einmal richtig ausschlafen können.
[An dieser Stelle wird die Handschrift unregelmäßig, fahrig und fast unleserlich.]
23. Jan. Es ist kurz vor Mittag, und ich spüre, daß etwas Schreckliches geschehen wird. Ich habe letzte Nacht nicht so gut geschlafen, wie ich dachte, obwohl ich in der vorangegangenen Nacht im Zug kaum ein Auge zugetan hatte. Ich stand früh auf und hatte Schwierigkeiten, mich auf irgend etwas zu konzentrieren, sei es Lesen oder Schreiben. Dieses langsame, überlegte Abzählen der Tage ist zuviel für mich. Ich weiß nicht, was nun wirklich aus den Fugen geraten ist die Natur oder mein Kopf. Ungefähr bis um elf tat ich kaum etwas anderes, als im Zimmer auf und ab zu gehen.

Dann hörte ich etwas in den Lebensmittelpäckchen rascheln, die mir gestern gebracht wurden, und diese dämonische Fliege kam vor meinen Augen
herausgekrochen. Ich griff mir etwas Flaches und schlug trotz meiner hysterischen Angst nach dem Ding, aber wie üblich ohne Erfolg. Wenn ich auf es zuging, wich mir dieses blaugeflügelte Horrorwesen wie gewöhnlich aus, flog zum Tisch, auf dem ich meine Bücher gestapelt hatte, und ließ sich für eine Sekunde auf Moores Dipteren Zentralund Südafrikasnieder. Als ich ihm folgte, flog es zur Uhr auf dem Kaminsims und setzte sich auf das Zifferblatt dicht neben die Zahl zwölf. Ehe ich mich versah, begann es ganz langsam und zielbewußt in der Richtung, in der die Zeiger laufen, um das Zifferblatt zu kriechen. Es krabbelte unter dem Minutenzeiger hindurch, beschrieb den Bogen nach unten und nach oben, krabbelte unter dem Stundenzeiger durch und blieb schließlich genau auf der Zahl zwölf stehen. Don ließ es mit einem summenden Geräusch seine Flügel flattern.
Soll das irgendein Vorzeichen sein? Ich bin schon so abergläubisch wie die Schwarzen. Es ist jetzt kurz nach elf! Ist mir für zwölf Uhr das Ende bestimmt? Ich habe nur noch ein letztes Zufluchtsmittel; den Gedanken daran hat mir meine abgrundtiefe Verzweiflung eingegeben. Ich wollte, ich hätte schon eher daran gedacht. Ich erinnerte mich daran, daß ich in meinem Arzneikoffer die beiden Substanzen habe, die man zur Erzeugung von Chlorgas braucht, und habe
beschlossen, den Raum mit dem tödlichen Dampf zu füllen und so die Fliege zu
ersticken, während ich mich selbst mit einem in Ammoniak getränkten, vors Gesicht gehaltenen Taschentuch schütze. Zum Glück habe ich genug Ammoniak bei mir. Diese behelfsmäßige Maske wird wahrscheinlich die scharfen Chlordämpfe neutralisieren, bis das Insekt tot ist oder wenigstens so weit betäubt, daß ich es zermalmen kann. Aber ich muß schnell machen. Woher will ich wissen, daß das Insekt sich nicht plötzlich auf mich stürzt, ehe ich mit meinen Vorbereitungen fertig bin? Eigentlich dürfte ich keine Zeit mehr mit diesem Tagebuch verschwenden. Später -beide Chemikalien Salzsäure und Mangandioxyd -stehen fertig zum Mischen auf dem Tisch. Ich habe mir das Handtuch über Nase und Mund gebunden und eine Flasche Ammoniak in Reichweite stehen, um es damit zu tränken, bis das Chlorgas sich verflüchtigt hat. Ich habe beide Fenster abgedichtet. Aber was diese Teufelsfliege macht, gefällt mir gar nicht. Sie ist immer noch auf dem Zifferblatt, kriecht aber ganz langsam von der Zahl zwölf rückwärts auf den langsam hochsteigenden Minutenzeiger zu. Wird dies mein letzter Eintrag in dieses Tagebuch sein ? Es wäre sinnlos, den Verdacht abzustreiten, der mich beschleicht. Nur allzuoft steckt ja ein Körnchen unfaßlicher Wahrheit in den abenteuerlichsten und phantastischsten Legenden. Versucht die Persönlichkeit von Henry Moore, mir in Gestalt dieses blaugeflügelten Teufels den Garaus zu machen? Ist dies die Fliege, die ihn stach und deshalb sein Bewußtsein aufnahm, als er starb? Wenn dem so ist, und wenn sie mich sticht, wird dann meine eigene Persönlichkeit die von Moore verdrängen und in diesem summenden Körper eingeschlossen sein, wenn ich später an dem Stich sterbe? Aber vielleicht muß ich gar nicht sterben, selbst wenn sie mich sticht. Ich habe ja immer noch das Tryparsamid. Und ich bereue nichts. Moore mußte sterben, was auch immer die Folgen sein mögen. Etwas später.
Die Fliege ist auf der Uhr in der Nähe der Ziffer neun stehengeblieben. Es ist jetzt elf Uhr dreißig. Ich tränke das Taschentuch über meinem Gesicht mit Ammoniak und halte die Flasche bereit. Dies wird der letzte Eintrag sein, bevor ich die beiden Chemikalien vermische und das Chlorgas entweicht. Ich sollte nicht länger zögern, aber es beruhigt mich, alles aufzuschreiben. Von diesen Blättern abgesehen, habe ich schon vor Tagen mein letztes bißchen Vernunft eingebüßt. Die Fliege scheint unruhig zu werden, und der Minutenzeiger nähert sich ihr. Nun das Chlorgas… [Ende des Tagebuchs]

Als am Sonntag, dem 2.4. Januar 1932, der exzentrische Gast in Zimmer 303 des Orange Hotels sich auch auf wiederholtes Klopfen nicht meldete, verschaffte sich ein schwarzer Hotelangestellter mit einem Passepartout-Schlüssel Zugang zu dem Zimmer und floh augenblicklich schreiend die Treppe hinunter, um dem Portier zu sagen, was er in dem Zimmer vorgefunden hatte. Der Portier rief die Polizei an und holte den Geschäftsführer, und dieser begleitete den Polizeibeamten De Witt, den Leichenbeschauer Bogaert und den Arzt Dr. Van Keulen in das grausige Zimmer.

Der Gast lag tot auf dem Fußboden, das Gesicht nach oben und mit einem Taschentuch umwickelt, das stark nach Ammoniak roch. Die Gesichtszüge unter dem Tuch zeigten einen Ausdruck äußersten Entsetzens, der sich auf die Beobachter übertrug. Am Nacken des Mannes fand Dr. Van Keulen einen frischen Insektenstich dunkelrot, mit einem violetten Ring -, der von einer Tsetsefliege oder auch einem weniger harmlosen Insekt stammen konnte. Die Untersuchung ergab, daß der Tod nicht durch den Stich, sondern durch Herzversagen infolge panischer Angst eingetreten war obwohl die später vorgenommene Autopsie ergab, daß sich im Blutkreislauf des Toten der Erreger der Schlafkrankheit befand.

Auf dem Tisch lagen verschiedene Gegenstände ein in Leder gebundenes Buch mit den hier wiedergegebenen Tagebucheinträgen, ein Federhalter, eine Schreibunterlage, ein offenes Tintenfaß, ein Arzneikoffer mit den goldenen Initialen »T. S.«, Flaschen mit Ammoniak und Salzsäure sowie ein etwa zu einem Viertel gefüllter Krug mit Mangandioxyd. Die Ammoniakflasche bedurfte genauerer Untersuchung, weil etwas in der Flüssigkeit zu schwimmen schien. Bei näherem Hinsehen erkannte Leichenbeschauer Bogaert, daß es sich um eine Fliege handelte.
Es war offenbar eine Kreuzung, die vage an eine Tsetsefliege erinnerte, doch die Flügel, die trotz der Wirkung des konzentrierten Ammoniaks schwach bläulich wirkten, waren absolut rätselhaft. Irgend etwas daran weckte in Dr. Van Keulen die Erinnerung an etwas, was er in der Zeitung gelesen hatte eine Erinnerung, die das Tagebuch schon bald bestätigen sollte. Die unteren Teile der Fliege wirkten wie mit Tinte gefärbt, und zwar so stark, daß das Ammoniak die Färbung nicht hatte ausbleichen können. Wahrscheinlich war sie irgendwann in das Tintenfaß gefallen, wobei jedoch merkwürdig war, daß die Flügel keine Tintenspuren aufwiesen. Aber wie war das Insekt durch den schmalen Hals in die Ammoniakflasche geraten? Es war, als ob das Tier absichtlich hineingekrochen sei, um seinem Leben selbst ein Ende zu setzen!
Am seltsamsten aber war, was De Witt an der glatten, weißen Decke sah, als er seine Blicke durchs Zimmer schweifen ließ. Sein überraschter Aufschrei ließ auch die anderen hinaufschauen -sogar Dr. Van Keulen, der schon seit einer Weile das abgegriffene lederne Notizbuch mit einem aus Entsetzen, Faszination und
Ungläubigkeit gemischten Ausdruck durchgeblättert hatte. Was die Männer da an der Decke sahen, war eine Reihe zittriger Spuren, wie sie ein in Tinte getauchtes, krabbelndes Insekt hinterlassen könnte. Und alle mußten sofort an die Tintenfärbung der Fliege denken, die eigenartigerweise in der Ammoniakflasche gefunden worden war.
Aber das waren keine zufälligen Tintenspuren. Schon auf den ersten Blick wirkten sie gespenstisch vertraut, und bei genauerer Betrachtung konnten alle vier Männer nur ungläubig staunen. Der Leichenbeschauer Bogaert sah sich unwillkürlich im Zimmer nach irgendwelchen Möbelstücken oder Gegenständen um, die man so hätte aufeinandertürmen können, daß ein Mensch die Zeichen an die Decke hätte malen können. Aber da er nichts dergleichen entdeckte, fuhr er nur fort, neugierig und ungläubig an die Decke zu starren.
Denn diese Tintenspuren bildeten ohne jeden Zweifel deutlich erkennbare
Buchstaben des Alphabets, die sich zu sinnvollen Worten zusammenschlössen. Der Arzt war der erste, der diese Worte entzifferte, und die anderen hörten atemlos zu, als er die verrückt klingende Mitteilung vorlas, die nicht von menschlicher Hand geschrieben sein konnte:

»seht MEIN tagebuch ES STACH MICH ich STARB DANN SAH ICH DASS ICH IN IHMWAR die SCHWARZEN HABEN RECHT seltsame MÄCHTE DER natur jetzt WERDE ICH ERTRÄNKEN WAS ÜBRIG IST -«

Während die anderen noch in sprachloser Verblüffung dastanden, begann Dr. Van Keulen, laut aus dem abgegriffenen, in Leder gebundenen Tagebuch vorzulesen.



DAS LETZTE EXPERIMENT von Adolphe de Castro und H. P. Lovecraft

Nur wenige kennen die Hintergründe der Clarendon-Affäre oder wissen auch nur, daß es überhaupt Hintergründe gibt, die nicht in die Zeitungen gelangten. Die Affäre erregte in San Francisco in der Zeit vor dem Brand ungeheures Aufsehen, sowohl wegen der Panik und der Bedrohung, die mit ihr einhergingen, als auch deswegen, weil der Gouverneur des Staates in die Vorgänge verwickelt war. Gouverneur Dalton, so wird man sich erinnern, war Clarendons bester Freund und heiratete später seine Schwester. Weder Dalton noch Mrs. Dalton sprachen jemals über die peinliche Angelegenheit, aber irgendwie sickerten die Tatsachen doch durch, wenn auch nur innerhalb eines kleinen Kreises. Wäre dem nicht so, und hätte nicht die Zeit einen Schleier der Unpersönlichkeit über die Beteiligten geworfen, so würde man immer noch zögern, die seinerzeit so streng gehüteten Geheimnisse ans Licht zu holen.
Die Ernennung von Dr. Alfred Clarendon zum medizinischen Direktor des Zuchthauses St. Quentin im Jahre 1898 wurde in ganz Kalifornien mit Begeisterung aufgenommen. San Francisco hatte nun endlich die Ehre, einen der größten Biologen und Ärzte seiner Zeit in seinen Mauern zu beherbergen, und man durfte erwarten, daß führende Pathologen aus aller Welt in die Stadt strömen würden, um seine Methoden zu studieren, von seinen Ratschlägen und Forschungen zu profitieren und sich Anregungen für die Bewältigung ihrer eigenen Probleme zu Hause zu holen. Kalifornien würde beinahe über Nacht zu einem Mittelpunkt medizinischer Forschung mit weltweitem Ruf und Einfluß werden.
Gouverneur Dalton, der darauf bedacht war, die Nachricht in ihrer ganzen Bedeutung zu verbreiten, sorgte dafür, daß die Presse ausführliche und angemessene Berichte über den neuen Amtsinhaber brachte. Bilder von Dr. Clarendon und dem Haus, das er in der Nähe des alten Goat Hill bewohnte. Abrisse seiner beruflichen Laufbahn und seiner vielfältigen Ehrungen und populäre Berichte über seine bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen erschienen in allen wichtigen Tageszeitungen Kaliforniens, so daß die Bevölkerung bald einen gewissen Stolz auf den Mann empfand, dessen Erforschung der Pyämie in Indien, der Pest in China und ähnlicher Leiden überall in der Welt die Medizin schon bald mit einem Gegengift von revolutionärer Bedeutung bereichern würde einem grundlegenden Gegengift, das dem Fiebersyndrom von der Wurzel her zu Leibe rücken und letztlich die Ausrottung des Fiebers in all seinen mannigfachen Erscheinungsformen gewährleisten würde.

Der Ernennung war eine lange und nicht ganz unromantische Geschichte von früher Freundschaft, langer Trennung und Wiederbegegnung unter dramatischen Umständen vorausgegangen. James Dalton und die Familie Clarendon waren zehn Jahre zuvor in New York Freunde gewesen. Freunde und auch noch mehr, denn die einzige Tochter des Arztes, Georgina, war Daltons Jugendfreundin, während der Arzt selbst in den Schulund College-Jahren sein bester Kamerad und beinahe sein Protege gewesen war. Der Vater von Alfred und Georgina, ein Wall-Street-Pirat der schlimmsten Sorte, hatte Daltons Vater gut gekannt, so gut, daß er ihm in einem denkwürdigen Kampf an der Börse im Lauf eines einzigen Nachmittags alles abjagte, was er besaß. Dalton Senior, der keine Hoffnung hatte, sich von diesem Schlag noch einmal zu erholen, und seinem einzigen Sohn seine Lebensversicherung zukommen lassen wollte, hatte sich prompt eine Kugel in den Kopf geschossen, aber James hatte nicht nach Vergeltung getrachtet. Solche Dinge gehörten seiner Meinung nach einfach dazu, und ihm lag nichts daran, dem Vater des Mädchens, das er heiraten wollte, und des angehenden jungen Wissenschaftlers, den er in den Jahren ihres gemeinsamen Studiums bewundert und unterstützt hatte, zu schaden. Statt dessen wandte er sich der Rechtswissenschaft zu, gründete seine eigene kleine Praxis und bat den »alten Clarendon« zu gegebener Zeit um die Hand seiner Tochter. Der alte Clarendon hatte sich rundweg geweigert, einen armen Schlucker, der sich eben erst als Anwalt seine Sporen verdienen wollte, zu seinem Schwiegersohn zu machen, woraufhin sich eine heftige Auseinandersetzung entspann. James, der dem alten Freibeuter nun endlich sagte, was er ihm schon viel früher hätte sagen müssen, hatte in höchster Erregung das Haus und die Stadtverlassen und binnen eines Monats das Leben in Kalifornien begonnen, das ihn nach manchen Kämpfen mit Politikern und Interessengruppen ins Amt des Gouverneurs geführt hatte. Von Alfred und Georgina hatte er sich nur ganz kurz verabschiedet, und er hatte nie von den Folgen jener Szene in Clarendons Bibliothek erfahren. Nur um einen Tag hatte er die Nachricht vom Tod des alten Clarendon durch einen Schlaganfall verpaßt, und dadurch hatte seine ganze Laufbahn eine andere Richtung genommen. Er hatte in den folgenden zehn Jahren Georgina nicht geschrieben, da er wußte, wie ergeben sie ihrem Vater war, sondern gewartet, bis er eine Position erreicht hatte, die alle Einwände gegen die Verbindung entkräften würde. Und auch mit Alfred hatte er keine Verbindung aufgenommen, dessen Gleichmut im Angesicht von Zuneigung und Heldenverehrung stets den Beigeschmack der bewußten Gestaltung seines Schicksals und der Selbstgenügsamkeit des Genies gehabt hatte. Mit einer auch für damalige Zeit ungewöhnlichen Zielbewußtheit hatte er seinen Weg gemacht, den Blick fest in die Zukunft gerichtet; er war selbst Junggeselle geblieben und war von der intuitiven Überzeugung erfüllt, daß Georgina ebenfalls auf ihn wartete. In diesem Glauben wurde Dalton nicht enttäuscht. Georgina, die sich gefragt haben mochte, warum sie nie eine Nachricht von ihm erhielt, fand kein Liebesglück außer in ihren Hoffnungen und Träumen und war schon bald ganz mit den neuen Pflichten ausgefüllt, die der Aufstieg ihres Bruders mit sich brachte. Alfreds Entwicklung hatte die Hoffnungen, die man in den vielversprechenden jungen Mann gesetzt hatte, vollauf bestätigt; der schlanke Junge war in aller Stille die Stufen der Wissenschaft mit einer beinahe schwindelerregenden Schnelligkeit und Ausdauer hinaufgeeilt. Mager und asketisch, mit in Stahl gefaßtem Pince-nez und braunem Spitzbart, war Dr. Alfred Clarendon mit fünfundzwanzig bereits eine Autorität und mit dreißig ein international bekannter Wissenschaftler. Da er den praktischen Erfordernissen des Lebens mit der Nachlässigkeit des Genies begegnete, war er auf die Fürsorge und das Organisationstalent seiner Schwester angewiesen und insgeheim dankbar dafür, daß ihre Erinnerungen an James sie vor jeder anderweitigen Bindung bewahrt hatten.


Georgina führte die Geschäfte und den Haushalt des großen Bakteriologen und war stolz auf seine Fortschritte in der Bekämpfung des Fiebers. Sie ertrug geduldig seine Launen, beschwichtigte seine gelegentlichen Ausbrüche von Fanatismus und bereinigte die Zerwürfnisse mit seinen Freunden, die hin und wieder daraus entstanden, daß er jeden, der sich nicht mit Haut und Haaren der Suche nach der reinen Wahrheit verschrieben hatte, seine unverhohlene Verachtung spüren ließ. Kein Zweifel, Clarendon stieß gewöhnliche Sterbliche oft vor den Kopf, denn er wurde nicht müde, den Dienst am einzelnen im Gegensatz zum Dienst an der Menschheit insgesamt herabzuwürdigen und Gelehrte abzukanzeln, die ihre wissenschaftliche Tätigkeit nicht von häuslichen und anderweitigen privaten Interessen zu trennen vermochten. Seine Feinde nannten ihn einen Langweiler, doch seine Bewunderer, die immer wieder staunten, in welche Ekstasen er sich hineinzusteigern vermochte, schämten sich beinahe, jemals Wünsche und Ambitionen außerhalb der erhabenen Sphäre der reinen Wissenschaft gehabt zu haben. Dr. Clarendon unternahm häufige Reisen, und auf den kürzeren ließ er sich im allgemeinen von Georgina begleiten. Dreimal hatte er jedoch im Zusammenhang mit der Erforschung exotischer Fieberkrankheiten und halblegendärer Seuchen lange, einsame Reisen in seltsame, ferne Gegenden unternommen, denn er wußte, daß die meisten Krankheiten der Erde in den Ländern des geheimnisumwitterten Asien entsprangen. Von jeder dieser Fahrten hatte er merkwürdige Andenken mitgebracht, die seinem Haus ein exzentrisches Gepräge gaben, darunter eine unnötig große Anzahl tibetischer Diener, die er irgendwo in U-Tsang während einer Epidemie aufgelesen hatte, von der die Welt nie etwas erfahren hatte, in deren Verlauf er jedoch den Erreger des Dum-Dum-Fiebers entdeckt und isoliert hatte. Diese Männer, größer als die meisten Tibeter und offenbar von einem in der übrigen Welt kaum bekannten Stamme, waren so hager und dürr, daß man sich fragte, ob der Doktor sie in der Erinnerung an die anatomischen Modelle seiner Studienjahre ausgewählt habe. In den losen schwarzen Seidengewändern, die sie nach Clarendons Wunsch tragen mußten, boten sie einen im höchsten Grade grotesken Anblick, und ihre niemals lächelnden Gesichter und die Lautlosigkeit und Steifheit ihrer Bewegungen ließen sie noch phantastischer erscheinen und gaben Georgina oft das absonderliche, beklemmende Gefühl, in die Welt von Vathekoder von Tausendundeiner

Nachtversetzt zu sein. Der Seltsamste von allen war jedoch Clarendons rechte Hand und Mädchen für alles, ein Mann namens Surama, den Clarendon von einem langen Aufenthalt in Nordafrika mitgebracht hatte, bei dem er gewisse rätselhafte Fieberkrankheiten studiert hatte, die in Abständen bei den Tuareg in der Sahara vorkamen, deren Abstammung von der urzeitlichen Rasse des versunkenen Atlantis ein altes archäologisches Gerücht ist. Surama, ein Mann von hoher Intelligenz und scheinbar unerschöpflicher Bildung, war ebenso unnatürlich mager wie die tibetischen Diener, und seine dunkle, pergamentähnliche Haut spannte sich so straff über den kahlen Schädel und das bartlose Gesicht, daß jeder Schädelknochen gespenstisch hervortrat — wobei dieser Totenschädel-Effekt noch durch die glanzlos brennenden schwarzen Augen verstärkt wurde, die so tief lagen, daß man normalerweise nur zwei dunkle, leere Höhlen wahrzunehmen meinte. Im Gegensatz zum idealen Untergebenen schien er trotz seiner unbeweglichen Miene Mühe zu haben, seine Gefühle zu verbergen. Man hatte den Eindruck, daß er sich insgeheim ständig über etwas amüsierte, zumal da er mitunter auch noch ein tiefes, gutturales Kichern oder Glucksen von sich gab wie das einer Riesenschildkröte, die eben irgendein Pelztier in Stücke gerissen hat und nun wieder zum Meer hinunter kriecht. Seine Rasse schien kaukasisch zu sein, ließ sich aber nicht näher bestimmen. Manche von Clarendons Bekannten meinten, er sehe trotz seiner akzentfreien Sprache wie ein Angehöriger einer hohen Hindu-Kaste aus, während die meisten Georgina — die ihn nicht leiden konnte — zustimmten; sie äußerte mehrmals, ihrer Meinung nach wäre eine Pharaonen-Mumie, auf wunderbare Weise zum Leben erweckt, das reine Ebenbild dieses sardonischen Gerippes.
Dalton, der sich ganz auf seine politische Karriere konzentrierte und infolge der merkwürdigen Eigenbrötelei des alten Westens kaum über die Vorgänge an der Ostküste unterrichtet war, hatte den kometenhaften Aufstieg seines einstigen Kameraden nicht verfolgt, und auch Clarendon seinerseits hatte nie etwas von Dalton gehört, der mit seiner Position als Gouverneur denkbar weit außerhalb seiner Interessensphäre lag. Da sie finanziell unabhängig waren, hatten die Clarendons viele Jahre hindurch den Familiensitz an der East Nineteenth Street in Manhattan bewohnt, dessen Hausgeister von den bizarren Gestalten Suramas und der Tibeter sicherlich höchst befremdet waren. Dann jedoch hatte der Doktor den Wunsch geäußert, den Schauplatz seiner medizinischen Beobachtungen zu wechseln, und es war ganz plötzlich zu einer einschneidenden Veränderung gekommen. Die Clarendons hatten den Kontinent überquert, um ein zurückgezogenes Leben in San Francisco zu führen, wo sie das düstere alte Bannister-Anwesen bei Goat Hill oberhalb der Bay erwarben und ihren wunderlichen Haushalt unter den Walmdächern dieses weitläufigen Gebäudes einrichteten, dessen Stil eine Mischung aus viktorianischem Geschmack und der Großspurigkeit des Goldrausches war und das auf einem von hohen Mauern umgebenen Grundstück in einer Gegend lag, die immer noch Vorortcharakter hatte.

Dr. Clarendon fand die Arbeitsbedingungen hier zwar besser als in New York, beklagte aber immer noch den Mangel an Gelegenheiten, seine pathologischen Theorien zu testen und anzuwenden. Weltfremd wie er war, hatte er nie daran gedacht, sich um einen öffentlichen Posten zu bewerben, obwohl ihm immer klarer wurde, daß nur die medizinische Leitung einer staatlichen oder wohltätigen Einrichtung — eines Gefängnisses, Armenhauses oder Hospitals ihm das weite Experimentierfeld bieten konnte, das er brauchte, um seine Forschungen

abzuschließen und seine Entdeckungen zum Nutzen der Wissenschaft und der ganzen Menschheit anzuwenden.
Dann war er eines Nachmittags in der Market Street rein zufällig James Dalton begegnet, als der Gouverneur gerade aus dem Royal Hotel kam. Georgina war bei ihm gewesen, und das beinahe augenblickliche gegenseitige Wiedererkennen hatte die Dramatik der Begegnung noch verstärkt. Die Freunde, die so lange getrennt gewesen waren und nichts voneinander gehört hatten, wußten einander viel zu erzählen, und Clarendon freute sich zu hören, daß er eine so bedeutende
Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zum Freund hatte. Dalton und Georgina, die manchen Blick wechselten, spürten mehr als nur einen Rest ihrer jugendlichen Zuneigung. An diesem Tag wurde eine Freundschaft erneuert, die zu häufigen Besuchen und stetig wachsendem gegenseitigen Vertrauen führte.
James Dalton erfuhr, daß sein Jugendfreund ein öffentliches Amt anstrebte, und getreu seiner früheren Beschützerrolle suchte er seinen Einfluß geltend zu machen, um »dem kleinen Alf« einen angemessenen Wirkungskreis zu verschaffen. Zwar reichte dieser Einfluß sehr weit, doch wurde Dalton durch die scharfe Kontrolle der gesetzgebenden Körperschaften gezwungen, mit äußerster Diskretion vorzugehen. Schließlich wurde jedoch, kaum drei Monate nach der überraschenden
Wiederbegegnung, das wichtigste Amt für einen Mediziner im ganzen Staat frei. Nach Abwägung aller Faktoren und in dem Bewußtsein, daß der Ruf und die Erfolge seines Freundes auch die höchste Auszeichnung rechtfertigten, sah der Gouverneur eine Möglichkeit zum Handeln. Die Formalitäten waren rasch erledigt, und am 8. November 189wurde Dr. Alfred Schuyier Clarendon medizinischer Direktor des kalifornischen Staatszuchthauses St. Quentin.
In kaum mehr als einem Monat sahen sich Dr. Clarendons Bewunderer in ihren Hoffnungen voll bestätigt. Durchgreifende Verfahrensänderungen brachten die medizinische Versorgung der Haftanstalt auf ein Niveau, von dem man bis dahin nicht zu träumen gewagt hätte, und obwohl die Untergebenen naturgemäß ihren Neid nicht ganz verbergen konnten, mußten sie andererseits wohl oder übel die an Wunder grenzenden Erfolge des großen Mannes anerkennen. Es folgte eine Zeit, in der aus der bloßen Anerkennung durchaus dankbare Ergebenheit hätte werden können, denn eines Morgens kam Dr. Jones mit sorgenvoller Miene zu seinem neuen Vorgesetzten, um ihm zu berichten, daß ein Fall aufgetreten sei, den er als eben jenes Dum-DumFieber diagnostiziert hatte, dessen Erreger Clarendon entdeckt und klassifiziert hatte.

Dr. Clarendon zeigte sich nicht überrascht, sondern setzte seine Arbeit an dem Schriftstück fort, das vor ihm lag.
»Ich weiß«, sagte er ruhig. »Ich habe diesen Fall schon gestern entdeckt. Ich bin froh, daß Sie die Krankheit erkannt haben. Lassen Sie den Mann auf die Isolierstation bringen, obwohl ich nicht glaube, daß das Fieber ansteckend ist.« Dr. Jones, der seine eigenen Ansichten über die Ansteckungsgefahr hatte, war froh über diese Vorsichtsmaßnahme und beeilte sich, die Anordnung auszuführen. Als er wiederkam, erhob sich Clarendon, um nach dem Patienten zu sehen und erklärte Jones, er werde den Fall alleine übernehmen. Der Assistenzarzt, der sich in seiner Hoffnung getäuscht sah, die Methoden des großen Mannes studieren zu können, blickte seinem Vorgesetzten nach, wie dieser alleine zu der Station ging, auf der sich der Patient befand, und sah sich zum erstenmal wieder in seinen Ressentiments gegenüber dem neuen Direktor bestätigt, seit seine anfänglichen Eifersuchtsgefühle aufrichtiger Bewunderung gewichen waren.
Als er die Station erreicht hatte, trat Clarendon hastig ein, warf einen Blick auf das Bett und ging noch einmal vor die Tür, um nachzusehen, wie weit die Neugier Dr. Jones getrieben haben mochte. Als er sah, daß niemand auf dem Korridor war, schloß er die Tür und untersuchte den Kranken. Es handelte sich um einen besonders widerwärtigen Häftling, und er schien Höllenqualen auszustehen. Sein Gesicht war grauenhaft verzerrt, und die Knie hatte er in der stummen Verzweiflung der Todgeweihten scharf angezogen. Clarendon untersuchte ihn genau, zog die fest geschlossenen Augenlider hoch, maß Puls und Temperatur und löste schließlich eine Tablette in Wasser auf und flößte dem Kranken die Flüssigkeit ein. Schon bald war der Höhepunkt des Anfalls überschritten, der Körper entspannte sich, der Ausdruck wurde normal, und der Patient begann leichter zu atmen. Durch leichtes Reiben der Ohren erreichte der Arzt dann, daß der Mann die Augen aufschlug. Es war Leben in ihnen, denn sie bewegten sich hin und her. Aber es fehlte ihnen das feine Feuer, das wir als Spiegel der Seele anzusehen gewohnt sind.
Clarendon lächelte, als er sah, wie friedlich der Patient geworden war und fühlte sich im Besitz einer allmächtigen Wissenschaft. Er hatte schon länger von dem Fall gewußt, und es war ihm gelungen, den Mann durch wenige Minuten Arbeit dem Tod zu entreißen. Noch eine Stunde, und der Patient wäre verloren gewesen; trotzdem hatte Jones die Symptome seit Tagen gesehen, sie aber nicht zu deuten gewußt, und sich dann, als er die Krankheit diagnostiziert hatte, nicht zu helfen gewußt. Doch der Sieg des Menschen über die Krankheit kann nie vollkommen sein. Clarendon versicherte den mißtrauischen Häftlingen, die als Krankenpfleger arbeiteten, die Krankheit sei nicht ansteckend, und ließ den Patienten baden, mit Alkohol abreiben und wieder ins Bett legen. Aber am nächsten Morgen wurde ihm mitgeteilt, der Mann sei nach Mitternacht unter schrecklichen Qualen und mit solchen Schreien und Zuckungen gestorben, daß die Pfleger fast in Panik geraten waren. Der Arzt nahm diese Nachricht mit gewohntem Gleichmut auf, wie immer auch seine Gefühle als Wissenschaftler gewesen sein mochten, und ordnete an, der Patient sei in Kalk zu begraben. Mit einem philosophischen Schulterzucken begann er dann seine gewohnte Morgenvisite.
Zwei Tage später schlug die Krankheit erneut zu. Diesmal waren drei Männer auf einmal betroffen, und es ließ sich nicht mehr verheimlichen, daß eine Dum-DumFieber-Epidemie ausgebrochen war. Clarendon, der so unbeugsam an seiner Theorie festgehalten hatte, das Fieber sei nicht ansteckend, erlitt einen schweren
Autoritätsverlust und geriet auch noch dadurch in Schwierigkeiten, daß die Pfleger
sich weigerten, die Patienten zu versorgen. Aufopferung im Dienste der
Wissenschaft und zum Nutzen der Menschheit war ihre Sache nicht. Sie waren Häftlinge, die nur auf der Krankenstation Dienst taten, weil damit Vergünstigungen verbunden waren, und als ihnen der Preis dafür zu hoch schien, zogen sie es vor, auf diese Vergünstigungen zu verzichten.