Die Saat des Gerüchtes
Dampfwalze war nicht mehr zu bremsen. Als wiege die Entdeckung des Einstiegs zum Fluchtstollen nicht genug, rannte er, ohne die andern verständigt zu haben, den Hang hinunter — zum nächsten Alleingang.
Was sich auf dem See und am Bootssteg tat, bemerkte er in seinem Eifer nicht. Dazu rasselte die Kette auch zu sehr, die er eigens aus seinem Schrank geholt hatte.
Was sollte schon passieren? Die drei saßen in der Falle. Er wollte ihnen, bevor sie’s merkten, sozusagen noch den Speck wegnehmen. Das musste schnell geschehen. Keuchend kam er zum Stollenausgang, klemmte die Taschenlampe unter den Arm, schloss das Vorhängeschloss auf, dann mit dem Dietrich das Gitter, ließ es offen und kroch, so schnell er konnte, in den Stollen. Zuerst holte er seine Rennmaschine, lehnte sie draußen an den Erdhügel. Dann kroch er wieder hinein und holte die von Andi sowie Stephans alten Bock. Erneut verschwand Dampfwalze, diesmal für länger. Es kostete ihn einige Mühe, die Fressalien mit einer Schnur so zusammenzubinden, dass er kein viertes Mal hineinkriechen musste. Hatte ich nur die Kette mitgenommen! dachte er sich. Aber die lag draußen im Gras. Es ging schließlich auch so. Aber das Bündel war so schwer, dass er es trotz seiner großen Kraft nur schrittweise vorwärtsbewegen konnte. Kreuzlahm erreichte er die Nische, richtete sich auf und stöhnte vor sich hin: „Mann! Ein Fresspaket von dem Gewicht — das soll meine Mutter mal schicken!“
„Bedaure!“ antwortete eine helle Stimme. „Das Postamt ist schon geschlossen.“
Sicher diese Martina! dachte Dampfwalze und fuhr herum. Aber da war keine Martina, da war überhaupt niemand zu sehen. Nur ein Gekicher aus dem Dunkel. Dampfwalze wollte hinaus und um den Hügel herum. Doch das Gitter war zu! Ein Schloss hielt es zusammen — nicht sein Vorhängeschloss, sondern ein fremdes, ein Fahrradschloss mit Stahlseil und einer Nummernkombination, die er nicht kannte. „Aufmachen!“ rief er und leuchtete hinaus.
„Aber, aber!“ neckte die Stimme. „Wir werden doch unseren niedlichen, kleinen Goldhamster nicht entwischen lassen.“ Und wieder Gekicher.
Klarer Fall: Rosenfelserinnen! Die kommen auch immer, wenn man sie nicht brauchen kann! dachte Dampfwalze.
„Nun macht schon auf, ihr Humorwachteln!“ sagte er ruhig.
„Ich hab gerade eure Fressalien sichergestellt.“
„Pah, darauf fallen wir nicht rein. Geklaut hast du sie!“ Jetzt erkannte Dampfwalze die Stimme: Ingrid, Mückes Schwester.
„Nein, im Ernst, macht auf! Die Diebe sind hier im Stollen.“
„Wir gehen jetzt auf ein Fest!“ antwortete Ingrid. „Außerdem weiß ich die Nummer nicht. Viel Spaß inzwischen!“ Kichernd zogen sie ab, mitsamt den Rädern.
„Klasse!“ zwitscherte Beatrix. „Wo hast du nur das Schloss so schnell hergebracht?“
„Auf dem Gepäckträger war’s, eingeklemmt — und offen. Ich musste es nur zusammenschieben und die Zahlen verstellen“, antwortete Ingrid.
„Und wenn da wirklich Diebe drin sind?“ fragte Sophie.
„Dann wird sich’s ja zeigen, ob er so stark ist, wie er tut.“
Mittlerweile herrschte auf dem Burghof reges Treiben. Stephan und Ottokar hatten einen Torflügel der Lehrergarage ausgehängt und vor die Treppe zur Folterkammer geschleppt.
Andi, Mücke, Klaus, Dieter und Hans-Jürgen schoben den alten Traktor dagegen. Der kleine Eberhard zog die Handbremse an und legte den ersten Gang ein, damit er nicht wegrollte. Auch Fritz, Werner, Strehlau, der kleine Kuno, der kleine Egon, der kleine Herbert und ein gutes Dutzend weiterer Ritter waren plötzlich da und halfen mit.
„Endlich sieht man mal alle unsere Sherlock Holmese aus der Nähe!“ lästerte Klaus.
„Jetzt ist es wieder wie früher“, meinte Fritz und strahlte.
„So“, verkündete Ottokar, nachdem er noch unter jedes Rad einen Keil geschoben hatte. „Jetzt können sie kommen!“
„Schon da!“ antwortete eine helle Stimme. Aus dem Dunkel des Torbogens kamen die Mädchen.
Mücke schlug die Hände zusammen. „Ach, du Schreck! Das sind ja mindestens zwei Kähne voll.“
„Was tut ihr denn hier?“ fragte Stephan.
„Wir sind eingeladen!“ Beatrix zog die Nase hoch. „Falls ihr nichts dagegen habt.“
„Eingeladen?“ Stephan blieb der Mund offen stehen.
„Tut doch nicht so!“ sagte Beatrix. „Dass hier eine große Fresserei steigt, haben wir doch gewusst, seit ihr unsere Speisekammer geplündert habt!“
„Da muss sich ja einer mächtig wichtig gemacht haben!“ sagte Ottokar. „Wer hat euch denn eingeladen?“
„Er!“ Sophie deutete auf den kleinen Kuno.
„Seit wann hört ihr auf Wickelkinder?“ fragte Mücke, während Andi, Klaus und Dieter sich den Kleinen vornahmen.
„Ich habe nur...“, verteidigte sich der kleine Kuno.
Hier unterbrach ihn Mini-Ritter Eberhard: „Geärgert hast du dich, weil ich dabei war und du nicht!“
Bevor es aber zum Zweikampf der Fliegengewichte kam, trat Ottokar dazwischen. „Wenn unser Kunolein sich als Gastgeber aufgespielt hat, dann soll er sich auch um seine Gäste kümmern! Wir haben im Augenblick andere Probleme.“
„Der alte Quatsch! Die Herren Ritter nehmen sich mal wieder enorm wichtig!“ höhnte Ingrid, und die Mädchen umringten Klein Kuno.
„Ich hätte gern Kaviar mit neuen Kartoffeln!“ — „Ich möchte Eisbein mit Sauerkraut!“ — „Ich Eis ohne Bein und mit Sahne!“ schnatterten sie durcheinander.
Ottokar und Stephan erklärten inzwischen Beatrix, Ingrid und Sophie, was geschehen war.
Plötzlich unterbrach Sophie: „Dann stimmt’s doch, was Dampfwalze gesagt hat!“
„Dampfwalze?“ fragte Mücke. „Wo ist der überhaupt?“
„Unten, in dem komischen Käfig“, antwortete Beatrix und erzählte die Geschichte mit dem Fahrradschloss.
„Dieses Riesenross!“ schimpfte Ottokar. „Und ihr müsst natürlich dazwischenfunken! Los! Schnell!“
Unbemerkt von den Rittern und Mädchen, die den kleinen Kuno ärgerten, bis er den Tränen nahe war, flitzten Ottokar, Stephan, Beatrix, Mücke, Ingrid, Andi, Sophie, Klaus, Pummel und Eugen zum Tor hinaus, über die Zugbrücke, und den Hang hinunter. Hinterher der kleine Eberhard! Schon von weitem hörten sie Keuchen, Stöhnen und unterdrückte Schreie.
„Die werden doch unsere Dampfwalze nicht auseinandernehmen!“ sagte Andi besorgt.
Taschenlampen flammten auf, und Klaus brummte: „Mann! Das war das Foto des Jahres!“ In der Nische, in die der Stollen mündet, stand Dampfwalze mit dem Rücken zum Gitter und versuchte mit einer Salami zwei Typen abzuwehren — ungefähr in seinem Alter.
Die beiden wollten ihn um jeden Preis da weghaben, wo er stand. Denn mit seinem Rücken versperrte Dampfwalze genau die Stelle, wo das Fahrradschloss Tür und Gitter zusammenhielt. Gleichzeitig versuchte das zu den beiden Typen gehörende Mädchen mit einer Metallsäge an das Schloss heranzukommen. Sie wurde aber immer wieder von dem wie ein Berserker um sich schlagenden Muskelprotz abgedrängt.
„Vorsichtig!“ brüllte Dampfwalze, als er die Ritter bemerkte.
„Lasst sie nicht entkommen.“
Stephan war schon am Gitter und wollte dem Mädchen die Metallsäge entwinden. Aber das Biest bog ihm einen Finger um, so dass er losließ. Auch die anderen Ritter versuchten, die drei durch das Gitter festzuhalten und die Mädchen beleuchteten den Kampfplatz. Ottokar hatte sich eine Wurst geangelt und bearbeitete damit einen der Typen, der Dampfwalze gerade das linke Bein wegziehen wollte.
„Vorsicht, Jerry!“ rief der andere und bückte sich, um Dampfwalze das rechte Bein wegzuziehen. Doch da bekam er einen Tritt von Andi, dass er nach hinten taumelte. Pummel, Eugen, Mücke und Mini-Ritter Eberhard machten sich auf ihre Weise nützlich. Sie lagen auf dem Bauch und sammelten zwischen den Füßen der Kämpfenden die Fressalien zusammen und versuchten, sie durch das Gitter in Sicherheit zu bringen.
„Los, Martina!“ rief der eine. Das Mädchen bückte sich nach einer Wurst, um sich gegen die Püffe von draußen zu wehren. Doch der Mini-Ritter war schneller. „Ätsch!“ sagte er und zog den Salami-Prügel vor ihr durchs Gitter. Ottokar, Klaus und Andi, jetzt alle drei mit Würsten bewaffnet, stießen und schlugen wacker zu.
„Wessen Fahrradschloss ist das?“ fragte Dieter. „Meines“, antwortete Stephan. „Dann mach’s doch auf!“
„Ich weiß die Nummer nicht mehr.“
„Mann! Hat ‘n Schloss und weiß die Nummer nicht!“
„Weil er’s nie braucht, du Depp!“ sagte Klaus. „Das kommt von unserer Ehrlichkeit.“
„Los, Mini, hol ‘ne Blechzange!“ rief Mücke. „Selber“, antwortete der kleine Eberhard. „Ich bleib jetzt da. Ich bin vier Stunden bei Paule im Kasten gehockt.“
„Habt ihr das gehört?“ sagte das Mädchen Martina. „Da hätten wir ja eine Geisel gehabt!“
„Ihr seid eben Flaschen!“ rief Klaus hinein.
„Einen haben wir ja noch!“ rief der, den sie Jerry nannten.
„Komm, Beni, weg mit ihm!“ Und sie zogen an Dampfwalze, der sich mit aller Kraft am Gitter festhielt.
„Bindet mich fest!“ brüllte er heraus. Da sprang Ingrid vor.
Sie bückte sich ins Gras, hob Dampfwalzes Kette und das große Vorhängeschloss auf und reichte beides dem kleinen Eberhard.
Der verstand sofort. Während die Großen Jerry und Beni abwehrten, wickelte er die Kette trotz seiner kurzen Arme dem Muskelprotz zweimal um den Bauch. Dann hakte er hinter den Gitterstäben das Vorhängeschloss hinein.
„Fertig, Dampfwalze!“
„Prima, Mini!“ antwortete der und drehte Martina, die gerade nicht aufpasste, den Arm auf den Rücken. „So, von wegen Judo!“
Doch die Freude dauerte nicht lange. Wieder stürmten sie auf ihn ein. Stephan, Ottokar, Andi und Dieter hatten alle Hände voll zu tun, den Gefesselten zu entlasten. Beatrix, die das Geschehen mit Stephans Taschenlampe beleuchtete, rannte vor und fischte etwas durch das Gitter. Es war die Metallsäge. Bei Dampfwalzes Griff hatte Martina sie fallen lassen.
Beatrix klemmte sich die Taschenlampe unter den Arm und sägte das schon angesägte Stahlseil vollends durch. „Es ist auf!“ rief sie.
„Nichts wie weg!“ brüllte Jerry, der alles mitbekommen hatte.
Er trat mit dem Fuß so fest durchs Gitter, dass Ottokar hinten überfiel, und stürmte hinaus. Die Mädchen kreischten vor Schreck und vergaßen für einen Augenblick, den Kampfplatz zu beleuchten.
Glücklicherweise reagierte Mücke nicht minder schnell. Er stellte dem herausstürmenden Jerry ein Bein, der schlug der Länge nach hin und der ihm folgende Beni darüber.
„Licht!“ brüllte Ottokar am Boden liegend. Während sich ein halbes Dutzend Ritter auf die beiden stürzte, versuchte Dampfwalze, Martina festzuhalten, die sich ebenfalls davonmachen wollte. Aber sie biss ihn in die Hand, dass er losließ.
„Halt!“ brüllte Dampfwalze. „Haltet sie!“
Sophie blendete Martina. Klaus und Beatrix stürzten sich auf das Mädchen. Einen Augenblick lang hatte auch der kleine Eberhard Lust mitzuraufen. Doch da fiel ihm Wichtigeres ein: Dampfwalze musste befreit werden. Die anderen würden die drei schon überwältigen und wieder einsperren.
Dampfwalze kapierte schneller, als es sonst seine Art war. Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche, und der kleine Eberhard öffnete in aller Ruhe das Vorhängeschloss. Dampfwalze löste die Kette und trat ins Freie. „Prima, Mini. Halt mal.“
Er drückte ihm die Kette in die Hand, schob Klaus beiseite, den Martina gerade bezwungen harte, sprang sie mit Hechtsprung an, so dass sie hinten überfiel, riss ihr die Arme auf den Rücken und schleppte sie zum Gitter zurück. „So, Mini. Jetzt kannst du zumachen.“ Gemeinsam sperrten sie das Mädchen ein. „Halt!“ rief da Stephan und schleppte zusammen mit Dieter den sich wild, aber vergeblich wehrenden Jerry her. Erneut öffnete Eberhard das Gitter. Dampfwalze stieß mit der Salami nach Martina. Das erwies sich als dringend nötig, denn sie war drauf und dran, wieder zu entwischen.
„Super, Mini!“ sagte Dieter. Doch das Lob ging in einem vielstimmigen Aufschrei unter. Beni hatte Ottokar mit einem tollen Griff überlistet und war entkommen. „Da hinunter ist er!“ rief Beatrix.
„Ausschwärmen!“ schrie Ottokar und rannte ins Dunkel, Dampfwalze hinterher. Alles wetzte durch die Gegend, teils mit, teils ohne Taschenlampe. Nur Sophie behielt das Gitter mit den Gefangenen und dem MiniRitter davor im Lichtkreis ihrer Taschenlampe. „Seid ihr richtige Ganoven?“ fragte Eberhard. Martina lachte. „Ganz schön neugierig für so eine halbe Portion.“
Schreie drunten am Ufer beendeten den Wortwechsel. Sie kamen vom Bootssteg und gingen in ein Johlen über. Helle Stimmen, denen sich von allen Seiten dunkle zugesellten. Dann urplötzlich Ruhe und nach einer kleinen Ewigkeit vielstimmiger Jubel.
„Verdammt!“ fluchte Jerry und stampfte mit dem Fuß auf.
„Nur ruhig Blut, Junge!“ sagte der kleine Eberhard und grinste den Gefangenen an.
Doktor Waldmann kam. Interessiert schaute er durch das Gitter, wie man es in einem Zoo tut. „Da wart ihr ja sehr erfolgreich! Alles weitere wird sich morgen finden.“ Er gähnte und verschwand wieder.
Vom Ufer herauf näherte sich ein stattlicher Triumphzug, denn mittlerweile war die gesamte Ritterschaft auf den Beinen. Voraus marschierten der kleine Herbert und der kleine Egon.
„Wir haben ihn!“ riefen sie.
„Wer ist wir?“ fragte Mini-Ritter Eberhard.
„Die Mädchen haben ihn gefangen! Er wollte mit dem Boot weg.“
Tatsächlich hatten die Rosenfelserinnen Beni überwältigt.
Als er zum Steg gekommen war, hatten sie ihn festgehalten, bis die Ritter da waren.
Dampfwalze, Dieter und Pummel wiederholten das Spiel: Mit Salamiwürsten fuchtelten sie durch das Gitter, um Martina und Jerry in Schach zu halten, während der kleine Eberhard aufschloss. Stephan und Ottokar stießen den Ausreißer hinein.
„Feierabend!“ sagte Mücke. „Mal muss der Mensch ja auch wieder schlafen, ob er nun Schüler ist oder Dieb.“
„Wir sind keine Diebe!“ brüllte Beni aus dem Käfig. Andi winkte ab. „Fressalien gehen grade noch. Aber Räder?“ Die Rosenfelserinnen hatten es plötzlich eilig. Während Ottokar die Wachen einteilte, brachten Stephan und Dampfwalze die Mädchen und die Fressalien hinunter an den Steg.
„Entschuldige, dass ich dich eingesperrt hab!“ sagte Ingrid.
„Ich habe das vorhin für einen Flachs gehalten.“
„Schon gut“, brummte Dampfwalze. „Auf die Weise hab ich Martina auch mal richtig in den Griff bekommen.“
„Eines versteh ich nicht“, sagte Stephan zu Beatrix. „Was habt ihr unten am Steg gemacht, als der Kerl wegwollte? Oben bei uns war’s doch viel interessanter.“
Die Mädchen grinsten und Beatrix sagte schließlich: „Es ist nicht immer nur da interessant, wo ihr seid. Dahinter werdet ihr schon noch kommen. Gute Nacht.“