Ganovenbraut
Wegen Dampfwalzes Gier auf Schokolade war dem kleinen Eberhard tatsächlich das Wichtigste entgangen.
„Es gibt nur eine Möglichkeit“, hatte Ottokar gesagt. „Wir verteilen uns heute Abend auf verschiedene Posten, und zwar gleich nach dem Abendessen, bevor sich die ganzen Sherlock Holmes aufmachen.“
„Genau!“ hatte ihm Stephan zugestimmt. „Denn wenn einer von uns beim Herumschleichen gesehen wird, hat er gleich einen ganzen Rattenschwanz hinter sich.“
Weil er von dieser Taktik nichts wusste, ging der kleine Eberhard wie immer um halb zehn ins Bett. Aber er stand um halb zwölf so leise wie möglich wieder auf.
„Was machst du?“ flüsterte Kuno. „Suchst du den Dieb?“
„Man wird ja wohl noch aufs Klo dürfen!“ antwortete der kleine Eberhard und verließ das Zimmer. Auf dem Gang horchte er zuerst nach beiden Seiten, schlich dann zu seinem Schrank, zog im Dunkeln den Trainingsanzug über den Schlafanzug, zog Socken und Turnschuhe an, band sich ein Sprungseil um den Bauch, nahm seine Taschenlampe und ging den Gang entlang. Das war besser, als herumzuschleichen. Hinter jedem Schrank, in jeder Fensternische konnte jemand stehen und ihn beobachten. Da war es unverfänglicher, aufrecht und in der Mitte zu gehen.
Als er am Duschraum vorbeikam, sah er einen Schatten um die Ecke zum Südflügel huschen. Ohne weiter zu überlegen, trat er an die Wand und schaltete das Ganglicht ein.
„Idiot!“ schimpfte eine Stimme.
Neben einem der Schränke standen Klaus und Dieter und blinzelten ärgerlich ins grelle Licht. Auch sie trugen Trainingsanzüge, hatten ihre Sprungseile umgebunden und Taschenlampen dabei.
„Was macht ihr denn hier?“ fragte Eberhard.
„Wir haben an unsere lieben Muttis geschrieben und suchen einen Briefkasten“, antwortete der Witzbold.
Dieter schimpfte: „Mach das Licht aus! Los, mach schon!“ Der kleine Eberhard drehte den Schalter, ging zum Klo und rannte dann im Dunkeln den Gang des Westflügels zurück, als fürchte er, verfolgt zu werden. Doch niemand folgte ihm.
Erst im Nordflügel ging er langsamer. Es wurde ihm mulmig zumute. Nicht, weil hinter jedem Schrank einer lauern konnte, der ihn vielleicht für den Dieb hielt. Aber was geschähe, wenn der Dieb höchstpersönlich ihn erwischte? Tapfer ging der kleine Eberhard weiter, immer schön in der Mitte, in größtmöglichem Abstand von allen Nischen und Schlupfwinkeln.
Beim Portal der großen Freitreppe, die hinunterführt in den Burghof, glaubte er ein Geräusch gehört und eine Gestalt gesehen zu haben. Die Doppeltür, sonst um diese Zeit verschlossen, stand offen, kühle Luft wehte herein. Mit angehaltenem Atem huschte der kleine Eberhard hinaus und schnurstracks in die äußerste Ecke der Plattform, wo das steinerne Treppengeländer im rechten Winkel zur Hausmauer führt. Doch als er sich mit dem Hinterteil voran in die Ecke drängte, stieß er plötzlich gegen etwas Weiches. „Flasche“, flüsterte jemand kaum hörbar. Erschrocken und gleichzeitig beruhigt über den freundlichen Empfang, fragte er: „Wer bist du?“
„Andi. Und du?“
Vor Freude hätte der kleine Eberhard am liebsten gejubelt, denn mit Andi hatte er den Anschluss an die Spitzengruppe wieder, wie es im Radsport heißt. Und Rennradeln war nach wie vor Andis Lieblingssport. Eberhard flüsterte seinen Namen und zwängte sich neben Andi in die Ecke. Vielleicht wusste der schon was Neues.
„Du brauchst dir’s gar nicht erst bequem zu machen!“ raunte ihm Andi zu.
„Ich musste weg“, antwortete der kleine Eberhard. „Da war eben jemand.“
„Genau deswegen“, sagte Andi. „Ich stehe hier Posten. Also hau dich ins Bett und störe nicht die Aktion.“ Ohne Antwort ging der kleine Eberhard davon. Aber nicht zurück, sondern die große Treppe hinunter. Unten blieb er stehen und lauschte nach allen Seiten in den stockfinsteren Burghof. Obwohl oder gerade weil er nichts hörte, wurde ihm noch mulmiger zumute als drinnen.
Mensch, du hast doch keine Angst! machte er sich Mut und kam, ohne auf jemand zu stoßen, bis zum Burgfried. Dort blieb er stehen, er glaubte ein Geräusch gehört zu haben. Doch es war nur sein eigener Herzschlag. Noch ein paar Schritte, und er stand unter dem Gewölbe, von wo die Treppe zur Folterkammer hinunterführt.
Mit ausgestreckten Armen tastete er sich zu dem Pfeiler, hinter dem er sich am Mittag versteckt hatte, als Dampfwalze die Schokolade zurückbringen musste. Er fühlte den Stein, tastete weiter und weiter, bis er plötzlich in etwas Warmes, Feuchtes fasste. Ein paar Zahne schnappten zu und klemmten ihm drei Finger ein. Vor Schmerz hätte Eberhard laut aufgeschrieen, doch da bekam er einen Stoß in die Magengegend und ging zu Boden. Die Klemme um seine Finger löste sich, eine Hand tastete nach ihm, und eine Stimme brummte: „Was ist denn das für’n Gartenzwerg?“
Trotz des Flüstertons erkannte ihn der kleine Eberhard sofort: „Dampfwalze!“
Der Muskelprotz polterte los: „Das nächste mal lässt du gefälligst die Hand aus meinern Mund! Sonst sind die Fingerchen weg. Und jetzt schleich dich! Aber etwas plötzlich. Wir haben hier andere Sorgen, als nachtwandelnde Säuglinge einzufangen.“ Dampfwalzes Hand griff nach Eberhards Nacken und schob ihn weg, zog ihn aber sofort wieder zurück. Beide starrten in die Dunkelheit. Der kleine Ritter hielt den Atem an, der große schnaubte wie... wie eben eine Dampfwalze. Sie hatten ein Geräusch gehört, das Aufschlagen eines fallenden Steins oder so ähnlich, drüben beim Burgfried. Jetzt wieder! Und da sah Eberhard, weil er so klein war und sich auch noch auf den Boden kauerte, vor dem Nachthimmel die Umrisse einer Gestalt. Sie kam näher, direkt auf das Gewölbe zu. Eine zweite folgte ihr, und eine dritte!
Eberhard sah sie ganz deutlich. Er gab Dampfwalze einen Rempler, weil der immer noch so laut atmete. Zum Glück verstummte Dampfwalze sofort. Es war auch höchste Zeit, denn jetzt hörten sie schnelles Atmen keinen Meter entfernt, auf der anderen Seite des Pfeilers.
Und wenn sie herumkamen? dachten die beiden. Plötzlich musste der kleine Eberhard husten. Da wurde er auch schon gepackt, zu Boden gerissen und sehr unsanft die Treppe zur Folterkammer hinuntergeschleift.
„Lass, Dampfwalze!“ flehte er leise. „Spinnst du? Ich bin’s doch“
Dabei schleppte ihn Dampfwalze gar nicht weg. Der hatte vielmehr ganz andere Sorgen. Auch er war nach dem verräterischen Husten von einem Kerl gepackt worden, der Griffe beherrschte, gegen die er trotz seiner großen Kraft nichts ausrichten konnte. Wollte er zu einem Schlag ausholen, wurde ihm der Arm verdreht, eine kurze Hebelbewegung, und er lag auf dem Rücken. Das hatte bisher noch niemand geschafft!
Als er sich wieder aufrichten konnte, blendete ihn ein Lichtstrahl oben vom Wehrgang. Und dann sah er seinen Bezwinger: kein Gesicht, das er kannte, aber in seinem Alter ungefähr. Dampfwalze blieb schier das Herz stehen, denn es war – ein Mädchen. Ohne Zweifel! Die Schmach traf ihn wie ein Faustschlag. Blind vor Wut, schnellte er vor, packte es an einem Bein, versuchte auch einen Hebelgriff aber da hatte ihn das Mädchen plötzlich im Genick, und zwar ziemlich schmerzhaft, mit seiner ganzen Kraft versuchte Dampfwalze, sich auf den Rücken zu wälzen. Doch wieder war das Mädchen schneller, fasste seine Handgelenke, riss ihm die Arme nach hinten und stieß ihm mit dem Knie ans Steißbein, dass er stöhnend zurücksank. „Nein, dass ich das erleben darf!“ sagte jemand. Es war Mücke, der plötzlich vor ihm stand, die Taschenlampe in der Hand. „Wo ist sie?“ knirschte Dampfwalze.
Mücke grinste. „Weg. Sie hatte Mitleid mit dir. Wer prügelt sich schon gern mit einem Schwächeren.“
Dampfwalze blieb der Mund offen stehen.
Da kam Stephan von seinem Posten in der Toreinfahrt herüber.
„Was war?“ fragte er atemlos.
Auch Ottokar, der den Ausgang zum Sportplatz bewacht hatte, stand plötzlich da. „Wo sind sie?“
„Spurlos verschwunden“, antwortete Mücke ruhig.
Das bestätigte auch Andi, der als letzter dazukam. „Einen habe ich zum Burgfried wetzen sehen. Ich bin ihm zwar nach, aber auf einmal war er weg.“
„Das war ein Mädchen“, sagte Mücke.
„Ein Mädchen?“ fragten die drei.
„Daher der Lippenstift an der Zigarette“, erklärte Mücke.
„Und die andern“ fragte Ottokar. „Es war nur das Mädchen da.“
„Erzähle!“ forderte ihn Stephan auf. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„Also“, begann Mücke in einem Ton, als gehe ihn die ganze Geschichte eigentlich nichts an, „ich sitze da auf meinem Posten auf dem Wehrgang. Nichts rührt sich. Da höre ich plötzlich unten Dampfwalze husten und gleich darauf stöhnen und keuchen. Also habe ich mit meiner Taschenlampe hinuntergeleuchtet. Ich dachte, ich sehe nicht recht! Da wirft sich ein Mädchen gerade Dampfwalze über die linke Schulter und lässt ihn, als wäre es nichts, wie einen Pudding aufs Pflaster klatschen.“
Mit zusammengekniffenen Lippen standen die Ritter da, um nicht vor Lachen herauszuplatzen.
„Ich sage euch, das ist eine Gangsterbraut. Die kann Judo“, verteidigte sich der besiegte Riese und rieb sich die schmerzende Schulter. „Wäre der blöde Eberhard nicht gekommen...“
„War der auch bei dir?“ fragte Andi.
Dampfwalze nickte. Stephan und Ottokar sahen einander an.
„Unser Eberhard?“ ‘ fragten sie.
„Ich stehe da hinter meiner Säule, plötzlich steckt mir jemand drei Finger in den Mund!“ erklärte Dampfwalze. „Warum lässt du ihn auch offen?“ Mückes Frage brachte den Muskelprotz in Harnisch.
„Den Eberhard hast du natürlich nicht über den Hof schleichen sehen. Du hattest ja nur Augen für das Mädchen.“
„Bist du ganz sicher, dass es Eberhard war?“ fragte Ottokar. „Klar! Er hat es selber gesagt, bevor er gehustet hat.“
„Und wo ist er jetzt?“ wollte Stephan wissen.
Dampfwalze rieb sich noch immer die Schulter und sagte: „Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich wieder im Bett.“
„Da gehören Kinder ja auch hin um diese Zeit!“ meinte Andi.
„Schau mal, ob er dort ist“, sagte Ottokar. „Und wir suchen uns einen anderen Platz für unser Palaver. Hier kann uns die halbe Schule zuhören.“
Andi verschwand; wortlos gingen die anderen die steile Treppe hinunter in die Folterkammer, setzten sich auf den steinernen Richtertisch und hörten bei Kerzenlicht Dampfwalze zu, der den Hergang noch einmal in allen Einzelheiten schilderte. „Wenn du vor dir auf der andern Seite der Säule jemand gehört hast und dann von hinten angefallen worden bist, dann waren’s doch mehrere?“ kombinierte Stephan.
Aber Dampfwalze schüttelte den Kopf. „Nur die Gangsterbraut.“
Auch Ottokar äußerte Zweifel: „Das geht doch rein technisch gar nicht. Es müssen mehrere gewesen sein. Überleg noch mal!“
„Nein! Auf Eberhards Husten hin hat sie natürlich einen großen Bogen gemacht und ist dann von hinten gekommen.“
„Mit Erfolg“, frotzelte Mücke. Da kam Andi zurück.
„In seinem Bett ist er nicht!“
„Dann hat sie ihn wahrscheinlich entführt“, meinte Mücke, doch es klang nicht, als sei das sein Ernst. Dampfwalze, der noch immer seine Schulter massierte, stand auf und verkündete: „Ich muss unbedingt was essen.“
„Lass bloß das Paket drin“, warnte Ottokar.
„Warum? Jetzt, wo ich sie erwischt habe, weiß sie doch...“ Er trat auf die zwischen die Steinfliesen eingelassene Holzleiste.
„Erwischt ist gut!“ brummte Mücke. Weiter kam er nicht, denn die Tür des Kastens war aufgegangen. Nur, Paule kam nicht wie sonst drohend mit der Sense heraus. Er klemmte. Neben ihm stand ein verschnürtes Bündel im Trainingsanzug und mit einem Tuch über dem Mund: der kleine Eberhard.
Die Ritter staunten nicht lange, sondern handelten. Vorsichtig hoben sie ihn heraus, lösten das Sprungseil, mit dem er gefesselt war, und befreiten ihn von dem Tuch, worauf er schrecklich hustete und wie ein Maikäfer nach Luft schnappte.
„Lass ihn erst mal zu sich kommen“, schimpfte Stephan, als Dampfwalze den arg Zerschundenen sofort mit Fragen bestürmte.
„Gib ihm lieber was von deiner Schokolade.“
Das ließ sich Dampfwalze nicht zweimal sagen. Die Schachtel stand noch hinter Paule. Auch die Schokolade war noch drin. Er nahm eine Tafel, gab Eberhard eine Hälfte und schob sich die andere auf einmal in den Mund.
Ottokar schüttelte den Kopf. „Ich sag’s ja, wenn einer eine große Klappe hat...“
Der tapfere kleine Ritter kaute und schniefte, hustete und schluckte und berichtete gleichzeitig. Er verschwieg auch nicht, dass er mittags an der Tür gelauscht hatte und durch sein Husten an allem schuld sei.
„Und wie sahen die zwei aus?“ wollte Stephan wissen.
„Keine Ahnung. Es war ja dunkel. Nur beim Fesseln hat der eine mal kurz geleuchtet. Aber von uns sind sie nicht. Die sprechen einen ganz komischen Dialekt.“
Ottokar stand auf und rieb sich die Hände. „Jetzt ist mir aber schon bedeutend wohler!“
„Mir auch!“ pflichtete ihm Stephan bei und wandte sich an Eberhard: „Du bist zwar eine neugierige Tüte, aber ausnahmsweise eine nützliche. Hast dich ganz beachtlich gehalten. Nur eines merk dir: Bis der Fall geklärt ist, gilt strengste Geheimhaltung!“
„Ehrensache“, der kleine Eberhard hob die rechte Hand und grinste mit seinem zerschundenen Gesicht, „vorausgesetzt, ich bin auch weiterhin dabei.“
„Und ob du dabei bist“, bestätigte Ottokar. „Dir werden noch die Zähne klappern! Du wirst unser Lockvogel!“
„Die Idee!“ Andi schlug sich auf die Schenkel, während der kleine Eberhard zweifelnd von einem zum andern sah. „Wie geht das? Was muss ich da tun?“
Mücke lächelte wie ein guter Vater. „Gar nichts, mein Junge. Du bist nur der Regenwurm am Angelhaken. Du wirst zwar gefressen, aber dadurch erwischen wir sie.“