VIER

Der ganze Raum wirkte dunkel. Es war das dunkle Holz, die massive Bauart von Schrank, Bett und altertümlich wirkender Kommode, die das Zimmer wenig behaglich erscheinen ließen. Vor Jahrzehnten mochten die Möbel in ihrer soliden Fertigungsweise das stolze Werk handwerklicher Kunst gewesen sein, doch heute ging etwas Bedrückendes von den Einrichtungsgegendständen aus.

»Fühlst du dich in dieser Düsternis wohl?«, hatte Anna Christoph einmal gefragt. Doch was hätte er ändern können? Die kleine Wohnung unter dem Dach des Siedlungshäuschens hatte er möbliert gemietet. Es sollte nur eine vorübergehende Bleibe sein, damals, als er nach Husum versetzt wurde. Ein Aufenthalt, der nach seiner damaligen Vorstellung nur kurzfristig sein konnte, da die Versetzung gegen seinen Willen erfolgte.

Inzwischen hatte er sich an Husum, die Arbeit und an die Kollegen gewöhnt. Die Aufgabe machte ihm trotz aller Belastungen Spaß, und er konnte sich nicht vorstellen, wieder an einen Schreibtisch in der Polizeiverwaltung zurückzukehren. Dabei war er bis heute nur als kommissarischer Leiter tätig, da die Position des Leiters der Kripo eigentlich eine Stelle für den höheren Dienst war. Und Christoph erfüllte nicht die Voraussetzungen für eine Beförderung zum Kriminalrat.

Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, den derzeitigen Zustand ändern zu wollen, dachte er. Ganz waren die Befürchtungen aber nicht zu verdrängen. Und weil er nicht sicher sein konnte, für immer in Husum bleiben zu können, hatte er sich bis heute nicht nach einer anderen Unterkunft umgesehen. Selbst wenn er sich stets bemühte, seiner betagten Vermieterin aus dem Weg zu gehen, so gehörte auch die alte Dame mit ihrer aufdringlichen, aber liebevoll gemeinten Bemutterung zu seinem »neuen Leben« an der Westküste. Die Distanz zu seiner Zeit in Kiel war größer als die tatsächlichen Kilometer, die Husum von der Landeshauptstadt entfernt lag.

Christoph schob geistesabwesend seine Kleidung über die Garderobenstange. Nach einer Weile stutzte er und besann sich, weshalb er vor dem Kleiderschrank stand.

So geht es häufig den Frauen, schoss es ihm durch den Kopf. Die stehen vor ihrer Garderobe und fragen sich: Was soll ich anziehen? Er schmunzelte still in sich hinein und entschloss sich, einen blauen Blazer und eine dunkelgraue Hose auszuwählen, dazu ein blaues Hemd und eine rotblau gestreifte Klubkrawatte. Christoph konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einen Schlips getragen hatte. Heute gab es allerdings einen besonderen Anlass. Polizeidirektor Grothe hatte seinen letzten Tag.

Ohne Eile nahm Christoph danach sein Frühstück ein, bevor er sich auf den Weg ins Büro machte.

Mommsen sah auf, als Christoph ins Zimmer trat, unterließ es aber, dessen Kleidung zu kommentieren.

Nach der ersten Tasse Tee rief Christoph bei der Polizei in St. Peter-Ording an.

»Wir haben bisher nichts herausgefunden«, erklärte Stefan Dettinger. »Niemand will etwas bemerkt haben. Nur das Saufgelage an der Seebrücke ist aufgefallen.«

»Wie viele waren daran beteiligt?«

Dettinger lachte hell auf. »Ein Zeuge meint, es wäre ein einsamer Trinker gewesen, während ein anderer beschwören möchte, dass dort ein Dutzend junger Männer herumgegrölt hätte. Aber wir bleiben am Ball und werden uns heute weiter umhören.«

Mommsen war aufgestanden. »Wir müssen«, mahnte er und verließ als Erster den Raum.

Aus dem Besprechungsraum am Ende des Flurs drang gedämpftes Stimmengemurmel. Es brach auch nicht ab, als Christoph den Raum betrat. Sein »Moin« wurde von den Anwesenden erwidert.

Christoph ließ sich am Kopfende des langen Tisches nieder. »Alles okay?«, fragte er in die Runde. Die Antwort bestand zum überwiegenden Teil aus einem stummen Kopfnicken. Zu Christophs Überraschung saß Große Jäger im Raum, obwohl er zuvor nicht an seinem Arbeitsplatz gewesen war.

Das Ritual der »Frühbesprechung« war den Mitarbeitern der Husumer Kripo vertraut. Christoph berichtete zuerst vom aktuellen Stand der Ermittlungen im Mordfall Ina Wiechers und zum Überfall auf Rebecca zu Rantzau. Die Exkursion nach St. Peter-Ording vom Vortag erwähnte er nur mit einem Halbsatz.

»Wie geht es Hilke?«, fragte ein Beamter dazwischen.

»Den Umständen entsprechend. Sie wird wahrscheinlich heute das Krankenhaus verlassen und nach Hause fahren. Für den Dienst fällt sie sicher eine Weile aus.«

»Soll ich mich um die beiden Jugendlichen kümmern, die wir beim Ladendiebstahl im Kaufhaus erwischt haben?«, fragte Antje Vollmer, die von Große Jäger wegen der Namensgleichheit mit einer Politikerin und – zumindest was den Vornamen betraf – mit dem langjährigen Maskottchen des Norddeutschen Rundfunks nur »das grüne Walross« genannt wurde.

»Das wäre gut«, sagte Christoph. »Was ist eigentlich aus den Anfragen besorgter Eltern in Mildstedt geworden?«

»Da war nichts dran«, erklärte die stämmige Polizistin. »Ein älterer Herr, selbst Opa, ist zu Besuch bei seiner Tochter und den Enkeln. Er hat den Kindern freundlich zugelächelt und vielleicht auch mal ein nettes Wort verloren. Daraus haben einige Eltern den Schluss gezogen, in ihrem Dorf würde jemand den Kleinen nachstellen.«

»Es ist gut, wenn die Bürger vorsorglich reagieren. Und eine Auflösung wie in diesem Fall ist die beste, die wir uns wünschen können.« Christoph sah die beiden »Gifties« an. Die »Drogisten« bearbeiteten die Fälle, die der Laie als »Rauschgiftkriminalität« bezeichnen würde.

»Wir sind einem alten Bekannten auf der Spur, der möglicherweise mit dem Apothekeneinbruch in Verbindung steht«, erklärte der Größere der beiden.

Christophs Augen wanderten zum Nächsten. Kriminalhauptmeister Schöller würde dem Chef in drei Monaten in den Ruhestand folgen. Er war der dienstälteste Beamte der Husumer Kripo und hatte intern den Ruf eines alten Schlachtrosses.

»Wie sieht es bei dir aus, Werner?«, fragte Christoph.

Schöller strahlte. »Ich habe gestern das Geständnis von dem Mann bekommen, den wir der Körperverletzung bezichtigen. Du erinnerst dich? Der Streit unten am Hafen.«

»Schön. Dann wäre das auch abgeschlossen. Woran arbeitest du jetzt?«

Nachdem der Beamte berichtet und sich niemand weiter zu Wort gemeldet hatte, war Mommsen an der Reihe.

»Erinnert ihr euch an Christophs ersten Fall in Husum? Der zunächst Verdächtige war wegen Sexualdelikten vorbestraft, hatte aber seine Strafen verbüßt. In seinem Heimatdorf hat man ihn und seine Familie gemobbt und fälschlicherweise eines Doppelmordes bezichtigt. Das Ganze endete tragischerweise damit, dass er am Ende selbst zum Täter wurde. Gestern haben wir von der Justizvollzugsanstalt Flensburg gehört, dass der Mann dort von Mithäftlingen zusammengeschlagen wurde. Das K1 mit der Kollegin Dobermann hat die Ermittlungen aufgenommen. Vermutlich ist ein Streit eskaliert, nachdem man ihn dort erneut als Kindermörder und -vergewaltiger beschimpft hat. Er liegt mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma im Flensburger Krankenhaus.«

Betroffenheit machte sich in den Gesichtern der Beamten breit. Große Jäger holte tief Luft, aber Christoph kam ihm zuvor. »Lass lieber, Wilderich. Niemand im Raum hat Zweifel daran, was du jetzt sagen möchtest. Erzähle uns lieber, was du für die Verabschiedung vom Chef geplant hast. Die wird in zwei Stunden stattfinden.«

Der Oberkommissar fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund. »Wieso ich?«

»Du wolltest etwas organisieren.«

»O Schreck. Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.«

Christoph schüttelte den Kopf. »Das ist eine schöne Blamage für uns. Wir alle haben dem Chef viel zu verdanken. Da kann es doch nicht sein, dass du zunächst zusicherst, du würdest dich um unseren Beitrag kümmern, und dann trotz mehrfacher Erinnerung darüber hinweggehst. Da fehlt mir jegliches Verständnis.« Während Große Jäger schuldbewusst den Kopf senkte, sah Christoph in die Runde. »Können wir noch etwas retten? Hat jemand eine Idee?«

Antje Vollmer räusperte sich. »Ich könnte ein Blumengesteck besorgen«, schlug sie vor.

Christoph nickte.

Nachdem sich niemand mehr zu Wort gemeldet hatte, kehrten die Beamten in ihre Büros zurück.

Als Nächstes rief Christoph die Kriminaltechnik in Kiel an. Bevor Frau Dr. Braun ihm ihr Leid über die hohe Arbeitsbelastung klagen konnte, säuselte er ins Telefon: »Moin. Darf ich vorsichtig fragen, ob Sie schon wieder oder immer noch im Büro sind? Mich würde es bei den Anforderungen, die die gesamte Landespolizei an Sie stellt, nicht wundern, wenn Sie gar keine Gelegenheit mehr haben, zwischendurch eine Mütze Schlaf zu nehmen.«

»Ach, Herr Johannes«, stöhnte die Wissenschaftlerin. »Ich fürchte, Sie sind der einzige Kollege, der Verständnis für uns hat. Die Anforderungen werden von Jahr zu Jahr mehr. Und dabei baut man ständig Personal ab. Aber niemand hört auf mich.«

Christoph nutzte eine kurze Pause, in der Frau Dr. Braun Luft holte, um zu behaupten: »Ich habe gehört, dass die oberste Polizeiführung sehr wohl um die Bedeutung Ihrer Abteilung weiß. Dort hat man auch mit Anerkennung festgestellt, dass Sie uns schon Einzelheiten zu den Morden an der Lehrerin und auf der Eisenbahnbrücke geben können.«

»So? Das überrascht mich, dass das bis dort durchgedrungen ist.« Christoph konnte sich bildlich vorstellen, wie die Frau am Telefon eine straffe Haltung annahm. Dann hörte er Papier rascheln. Das hingemurmelte »Wo hab ich bloß meine Brille?« war nicht für ihn bestimmt. »Ach. Hier. Fangen wir mit dem Besenstiel an. Es sah aus, als hätte ihn jemand übers Knie abgebrochen. Zumindest war der Stiel zersplittert. Es gab eine Reihe von Fingerabdrücken. Bisher haben wir allerdings nur die des Hausmeisters zuordnen können, die uns zu Vergleichszwecken zugestellt wurden. Wie heißt der Mann noch gleich?«

»Harry Trochowitz«, sagte Christoph.

»Richtig. Die anderen Spuren haben wir nicht in der Datei gefunden. Dafür gab es aber kurz unterhalb der Bruchstelle Mikrofasern. Wir vermuten – nein –, sind uns fast sicher, dass sie von einer Jeans stammen.«

»Können Sie dazu weitere Details aufzeigen?«, unterbrach Christoph.

»Aber Herr Johannes. Den Zauberlehrling hat Goethe leider nicht in Kiel auftreten lassen. Dann war da noch der Draht, der für das Mordwerkzeug, den Drosselknebel, verwendet wurde. Wir konnten anhand der Schnittfläche unter dem Mikroskop eindeutig feststellen, dass er von dem Begrenzungszaun an der Schule stammt.«

»Dann hat der Täter sich den Knebel, mit dem Ina Wiechers ermordet wurde, aus Teilen des Besenstiels und aus dem Draht in der Nähe des Kanuanlegers gebastelt«, sagte Christoph mehr zu sich selbst.

»Bitte? Das habe ich jetzt nicht verstanden. Aber es gibt noch einen zweiten Draht. Der kommt aus St. Peter-Ording. Der ist von …«

»Den haben wir am Hause der Familie von der Hardt gefunden«, half Christoph.

»Mag sein. Also … Auch da gibt es eine Schnittkante. Die passt zur linken Hand, mit der das Mordopfer auf der Eisenbrücke an das Gleis gefesselt war. Die linke Hand war, betrachtet aus der Fahrtrichtung des Zuges, an die rechte Schiene gefesselt. Das andere Drahtende passt wiederum zur Fessel der anderen Hand.«

Christoph stellte sich die örtlichen Gegebenheiten vor. »Das bedeutet, das Opfer hat Richtung Husum geguckt, also dem Zug entgegengesehen.«

»Ich war nicht vor Ort.« Dr. Braun schaffte es immer wieder, in ihre Stimme einen Hauch Pikiertheit zu tragen, so als wäre sie ständig beleidigt darüber, dass man sie nur im Labor arbeiten ließ.

»War das Opfer bei Bewusstsein, als es vom Zug erfasst wurde?«

»Das kann ich nur raten. Ich glaube nicht, dass der Mann sich ruhig seiner Nachtruhe hingegeben hat.«

»Ich meinte konkret, ob der Tote alkoholisiert war?«

»Genaue Laborergebnisse können Sie noch nicht erwarten. Der Schnelltest ergab aber, dass der Mann nüchtern war. Auch von Drogen oder anderen Betäubungsmitteln haben wir bis jetzt nichts feststellen können.«

Christoph atmete tief aus.

»Was ist mit Ihnen?« Dr. Braun klang tatsächlich eine Spur besorgt.

»Mir fiel gerade ein kleiner Stein vom Herzen. Wir hatten Befürchtungen, den Toten zu kennen. Es hätte ein Siebzehnjähriger aus St. Peter sein können.« Damit waren zunächst auch Nico von der Hardt und Simon Feichtshofer entlastet, überlegte er für sich.

»Zur Identität des Toten konnte die Rechtsmedizin bisher nur feststellen, dass es sich um ein männliches Wesen handelt. Relativ jung. Schätzungsweise um die zwanzig. Er …« Sie unterbrach ihre Ausführungen. »Wieso erzähle ich Ihnen das alles? Ich denke, für die Ermittlungen ist das K1 aus Itzehoe zuständig. Sie sind doch als Kripostelle gar nicht mit dem Mordfall betraut.« Erneut hörte Christoph ein Rascheln. »Wir haben den Bericht nach Itzehoe geschickt. Kein Wunder, dass wir überlastet sind, wenn wir jeden Fall mehrfach irgendwem erläutern müssen.«

»Wir sind doch nicht irgendjemand. Außerdem haben Sie uns damit sehr geholfen. Sie wollten aber noch etwas zum Toten ausführen.«

»Das weiß Itzehoe.« Es schien, als wäre Dr. Braun fast ein wenig bockig.

Christoph säuselte fast in den Hörer, was auf Große Jägers Gesicht ein breites Grinsen hervorrief. »Liebe Frau Dr. Braun. Nun haben Sie ein so überzeugendes Beispiel Ihrer fantastischen Arbeit geliefert, dass mich aus purer Neugierde auch der Rest interessiert.«

»Nun – Dr. Diether von der Rechtsmedizin meint, dass das Opfer ethnisch kein Mitteleuropäer ist.«

»Was denn?«

»Darüber schweigt er sich aus.«

»Könnte es ein Orientale gewesen sein?«

Dr. Braun schwieg einen Moment. Dann hörte er ein leichtes Kichern und war überrascht, dass die Wissenschaftlerin zu solchen Gefühlsäußerungen fähig war. »Also. Da ist etwas vom männlichen Körper so unversehrt geblieben, dass die Pathologen eindeutig feststellen konnten, dass dieser Mann nicht aus unseren Kulturkreisen stammt.«

»Sie sprechen manchmal in Rätseln. Aber ich habe Sie verstanden.«

»Das verschafft Ihnen einen kleinen Einblick in unsere Arbeit. Wir bekommen nur Bruchstücke geliefert und sollen daraus – möglichst in Stundenfrist – den kompletten Tathergang ableiten. Übrigens passt auch die DNA der Zahnbürste, die Sie uns nachgereicht haben, nicht zum Toten von der Brücke.«

Damit war eindeutig nachgewiesen, dass es sich nicht um Jan Harms handeln konnte, dessen Zahnbürste Große Jäger am Vorabend noch vom Vater des Jungen besorgt hatte.

»Übrigens bestand auch keine Schwangerschaft«, riss Dr. Braun Christoph aus seinen Gedanken.

»Das überrascht mich nicht«, lachte er. »Ich habe noch nie von einem Mann gehört, der ein Kind erwartet.«

Einen Moment war es ruhig in der Leitung. »Ich glaube, Sie wollen mich doch veräppeln«, beschwerte sich die Wissenschaftlerin. »Natürlich meine ich nicht den Mann, sondern die tote Frau aus dem Kanu.«

Christoph bedankte sich bei Frau Dr. Braun und berichtete seinen Kollegen von den neuen Erkenntnissen.

»Zum einen teile ich deine Erleichterung, dass das Mordopfer nicht Jan Harms war. Und wenn Ina Wiechers nicht schwanger war, entfällt auch dieses Motiv.«

»Meine Freude darüber, dass der junge Harms nicht ermordet wurde, ist begrenzt«, sagte Christoph. »Ich habe einen schrecklichen Verdacht, dass wir den Toten von der Brücke kennen.«

»Ich kann mir vorstellen, an wen du denkst.« Große Jäger zündete sich eine Zigarette an, bevor er weitersprach. »Du hast dich heute zurechtgemacht, als würdest du in der Mittagspause einen Kleinkredit beantragen wollen.«

Überrascht zuckte der Oberkommissar zusammen, als Christoph ihn anfuhr. »Ich finde deine Verhaltensweise merkwürdig. Zuerst verschweigst du deinen Aufenthalt in Friedrichstadt und dass du vor der Wohnung Fouad al-Sharas herumgelungert hast. Dann bist du eifrig bemüht gewesen, uns von der Idee abzubringen, dass der Libanese in irgendeiner Weise in die Vorgänge verwickelt sein könnte.«

»Wie kommst du darauf?« Der Oberkommissar wirkte aufgebracht.

»Auch andere in dieser Dienststelle machen sich Gedanken«, antwortete Christoph ausweichend.

Zornig drehte sich Große Jäger zu seinem Schreibtisch um. »Das kann doch nicht wahr sein«, stieß er erregt hervor. Dann ließ er mit einem lauten Krachen seine Füße in die herausgezogene Schublade fallen.

Bevor Christoph etwas erwidern konnte, klingelte Mommsens Telefon. Der junge Kommissar hörte einen Moment still zu, dann sagte er: »Ich verbinde Sie mit unserem Chef.«

»Hallo, Christoph«, meldete sich eine vertraute Stimme. »Hier ist Thomas.«

Hauptkommissar Thomas Vollmers war der Leiter der Kieler Mordkommission, wie das K1 im Volksmund genannt wurde.

»Dein junger Kollege hatte uns um Amtshilfe gebeten. Ihr wollt wissen, wie es dem jungen Mädchen geht, das hier in der Uniklinik liegt.«

»Rebecca Ehrenberg zu Rantzau«, sagte Christoph.

»Genau. Der Kollege Horstmann war im Krankenhaus. Leider haben wir nichts in Erfahrung bringen können. Die junge Dame wird hermetisch abgeschirmt. Das Krankenhauspersonal hat uns jeden Kontakt untersagt. Wir haben auch keine Informationen über den Gesundheitszustand erhalten. Du weißt, dass Frank Horstmann ein altes Schlitzohr ist.«

»Ich glaube, ein solches Schlachtross hat wohl jede Dienststelle im Lande. Ich habe auch so einen Oberkommissar im Stall.«

Vollmers lachte laut auf. »Ich fürchte, deiner ist im ganzen Land bekannt. Unter uns Dienststellenleitern kursiert das Gerücht, dass es eine Strafe der Behördenleitung ist, Große Jäger ertragen zu müssen.«

»So kann man nur sprechen, wenn man ihn nicht kennt. Es gibt wohl nur wenig so engagierte Polizisten, auch wenn seine Methoden bisweilen sehr unkonventionell sind.«

»Von dieser Sorte gibt es noch andere. Ich habe neulich in einem Fall mit einem Kriminalrat vom Staatsschutz zusammenarbeiten müssen, den ich auch nicht als Vorgesetzten haben möchte.«

»Wie heißt der?«

»Lüder Lüders. Schon mal gehört?«

»Nein«, gestand Christoph ein. »Aber wenn wir schon einmal über die Kollegen lästern … Ihr habt in Kiel das Ohr immer ein bisschen näher an der Gerüchteküche. Heute wird unser Chef pensioniert. Wir wissen immer noch nicht, wer die Nachfolge antritt. Da hüllt man sich in Schweigen.«

Christoph hörte ein Stöhnen in der Leitung. »Personalentscheidungen werden nicht mit uns vom Fußvolk abgestimmt. In der Latrine wird ein gewisser Doktor aus Flensburg stark gehandelt.«

»Diese Befürchtungen sind auch bis zu uns durchgedrungen.«

»Wann kommst du wieder nach Kiel zurück? Deine Mission sollte nur vorübergehend sein.«

»Ich habe meinen Koffer schon gepackt«, spottete Christoph. »Ab Montag sollst du die Husumer Kripo übernehmen. Dann kehre ich zum LKA zurück.«

Christoph vernahm einen gespielten Aufschrei des Kieler Kollegen. »Gott bewahre. Das wäre ja wie bei Pater Braun. Der wurde auch immer strafversetzt.«

Wie gut, dass keiner von euch weiß, wie schön es hier ist, dachte Christoph. Sonst würdet ihr mir den Posten in Husum noch streitig machen. Er wünschte Vollmers alles Gute und dankte ihm für die Unterstützung.

Als Christoph aufgelegt hatte, drehte sich Große Jäger zu ihm um, grinste ihn übers ganze Gesicht an und hielt den Zeigefinger mit dem Trauerrand unter dem Fingernagel in die Höhe. Unverkennbar war die Erleichterung im Gesicht des Oberkommissars zu lesen. Natürlich hatte er das über ihn ausgeschüttete Lob mitbekommen. Ihm war deutlich anzumerken, dass ihn die Auseinandersetzung mit Christoph zuvor doch zu schaffen gemacht hatte.

»Wir sind unterbrochen worden, als wir die Möglichkeit erörterten, dass Fouad al-Shara das Mordopfer von der Eisenbahnbrücke sein kann«, sagte Große Jäger.

»Manches deutet darauf hin. Wir sollten bei der Mutter in Friedrichstadt etwas besorgen, aus dem das LKA einen DNA-Abgleich durchführen kann. Dann hätten wir Gewissheit. Eine Identifizierung kann man beim Zustand des Opfers wohl niemandem zumuten. Wir sollten auch versuchen, vielleicht mit Unterstützung von Nachbarn, herauszufinden, wie der junge Libanese zuletzt gekleidet war. Und ob es andere signifikante Anhaltspunkte gibt. Uhr. Schmuck. Körpermerkmale.«

Mommsen stand auf. »Ich kümmere mich darum. Soll ich die Sachen direkt nach Kiel bringen?«

Christoph überlegte einen Moment. »Das wäre vielleicht das Beste.« Dann hob er entschuldigend die Schultern. »Das ist jetzt ein unglücklicher Moment, wenn du bei der Verabschiedung vom Chef nicht dabei bist.«

»Ist schon gut«, sagte Mommsen und verließ den Raum. Christoph musste ihm nicht erklären, wie die Prioritäten gelagert waren, auch wenn Mommsen sich gern selbst von Polizeidirektor Grothe verabschiedet hätte.

Danach rief Christoph im Eidergymnasium an. Missmutig erklärte der Schulleiter, dass weder Nico von der Hardt noch Jan Harms heute zum Unterricht gekommen waren. Auch Vater und Tochter Hauffe waren der Schule ferngeblieben.

»Wenn wir uns ziemlich sicher sind, dass Jan Harms nicht das Mordopfer von der Eisenbahnbrücke ist, sollten wir uns noch einmal in St. Peter umhören, ob der Junge inzwischen wieder aufgetaucht ist«, sagte Christoph. Große Jäger folgte ihm wortlos.

Der Oberkommissar schwieg auch während der Fahrt an die Spitze Eiderstedts. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit kritisierte er weder Christophs Fahrstil, nachdem er ihm widerstandslos das Lenkrad überlassen hatte, noch gab er Kommentare zum Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer ab.

Im Zentrum des Kurortes herrschte reges Treiben. Urlauber schlenderten mit aller Gelassenheit dieser Welt durch St. Peter, als hätten sie die Beschaulichkeit selbst erfunden. Es wirkte, als würden Stress und Belastungen des Alltags der Feriengäste am Ortseingangsschild zurückbleiben. Wem es sonst in der Schlange im Supermarkt nicht schnell genug gehen konnte, der stand mit seinen Kindern an der Hand geduldig vor dem Eisstand an. Ein bedächtig auf der engen Fahrbahn rangierender Rentner löste kein wütendes Hupen der hinter seinem Fahrzeug wartenden Autos aus, und selbst die zweite Suchrunde über den engen Parkplatz brachte niemanden aus der Ruhe.

»Merkwürdig, welche Verwandlung mit den Menschen vorgeht, wenn sie ihr Urlaubsdomizil an unserer Küste erreicht haben«, sagte Christoph, als sie nur wenig schneller als im Schritttempo durch die hübsche Straße von St. Peter-Bad nach St. Peter-Dorf rollten.

»Das scheint sich aber irgendwann zu geben«, brummte Große Jäger. »Jedenfalls ist die Bedachtsamkeit bei dem überdrehten Nico und dem Anabolikapaket abhandengekommen.«

Wenig später hielten sie vor der Villa von Wilken F. Harms. Der Mann öffnete ihnen persönlich die Tür.

»Moin«, sagte er freundlich und trat bereitwillig zur Seite. »Kommen Sie rein. Ich hab mir gedacht, dass Sie noch mal reinkieken. Ist wegen gestern, nä?« Sie waren noch nicht im Hausflur, als er Christoph ansprach: »Was woll’n Sie trinken? Ihr Kollege – das weiß ich. Der will bestimmt ‘nen Weizen.«

»Danke, wir möchten beide nicht«, sagte Christoph.

»O! Scheint ja ‘nen büschen ernst zu sein.« Harms schaffte es, einen bekümmerten Gesichtsausdruck anzunehmen. »Aber Platz kann ich Ihnen doch anbieten.«

Er zeigte im geräumigen Wohnzimmer auf die Esszimmermöbel. »Oder sitzen Sie lieber auf’n Sofa?«

Christoph hatte am Esstisch Platz genommen. Den Tisch mit einer über Eck gelegten weißen Tischdecke zierte eine Blumenvase, aus der Gerbera herausragten. Über ihren Köpfen pendelte eine balkenähnliche Lampe mit vier Glühbirnen, die durch geriffeltes gelbes Glas umfasst wurden. Wie bei früheren Besuchen staunte Christoph erneut über den konservativen Einrichtungsstil. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn plötzlich die Großmutter um die Ecke gebogen wäre und gestrahlt hätte: »Habe ich nicht ein gemütliches Heim für mein Kind geschaffen?«

Bevor Christoph seine erste Frage stellen konnte, begann Harms zu erzählen. »War ‘nen büschen dümmerich von mir. Gestern. Aber Jan war so dun gewesen, dass ich ihn nicht der Öffentlichkeit präsentieren konnte. Ist schon peinlich genug, dass ‘ne Reihe von Leuten hier im Dorf wissen, wie die Knaben gesoffen haben.«

»Sie hätten uns viel Arbeit erspart, wenn Sie uns nur einen kleinen Hinweis gegeben hätten.«

»Kann sein. Ich hab ja nicht viel Erfahrung mit der Polizei. Mit so was komm’ wir sonst nicht in Berührung. So hab ich gedacht, dass Sie mein’ Jung vielleicht was anhängen wollen wegen der Eskapaden – drüben an der Brücke.«

»Welche Brücke meinen Sie?«, mischte sich Große Jäger ein.

Harms sah den Oberkommissar erstaunt an. »Na – die weiße Brücke, wie wir Alten ganz früher gesagt haben. Ich hatte gehört, dass man Patrick Wittenbrink nach Tönning gebracht hat. Mensch, der Jung ist erst zwölf – oder so. Das gibt doch Ärger. Ich kenn sein’ Vater. Der macht Terz. Da können Sie sicher sein. Da wollt ich Jan raushalten. Das müssen Sie doch verstehen. Ist ja nicht gut für den Ruf der Restfamilie Harms. Die Leute zerreißen sich sowieso schon das Muulwerk, weil wir beide hier friedlich ohne Frau leben. Und dann sind da noch die Neider, die uns das gute Leben nicht gönnen tun.«

»Wo war Ihr Sohn?«

Harms wies mit dem Zeigefinger gegen die Zimmerdecke. »Da. Das hätt aber nix gebracht, wenn Sie gestern mit ihm gesprochen hätten. Der war voll wie ‘ne Strandhaubitze.« Er lächelte nachsichtig, bevor er zu sich selbst sagte: »War ‘ne schöne Schweinerei, das alles wegzumachen, was der vollgespuckt hat. Hoffentlich war ihm das ‘ne Lehre.« Er sah Verständnis suchend die beiden Polizisten an. »Manchmal hast du es nicht leicht als alleinerziehender Vater.«

»Wie ist Jan nach Hause gekommen?«

»Das weiß er selbst auch nicht mehr. Ich hab ihn gehört, als er gegen die Haustür gefallen ist. Als ich öffnete, lehnte er sich gerade gegen den Rahmen und leerte seinen Mageninhalt aus. Ich hab vielleicht gezittert, dass mich keiner von den Nachbarn sieht, als ich hinterher den Eingang geschrubbt habe.«

Der Mann ist ein Naturtalent als Schauspieler, dachte Christoph, als Harms die beiden Beamten mit einem treuen Dackelblick ansah. »Noch böse?«, fragte Jans Vater.

Christoph fiel es schwer, ernst zu bleiben.

»Wir lassen uns nicht gern an der Nase herumführen«, sagte Große Jäger.

Harms verlieh seinem Gesicht einen bekümmerten Ausdruck. »Kommt nicht wieder vor«, versprach er. »Beides nicht. Auch nicht, dass sich Jan so volllaufen lässt. Na? Wie ist’s? Wollen Sie jetzt ‘nen Weizen?«

Als Christoph erneut verneinte, vermied er es, dabei Große Jäger anzusehen. Er war sich nicht sicher, ob der Oberkommissar der Versuchung widerstehen konnte, obwohl es erst Vormittag war.

Wenig später klingelten sie an der Haustür von Isabelle von der Hardt. Aus dem Gebäude drang das schrille Geräusch eines Staubsaugers. Nach dem zweiten Versuch erstarb das Sausen, und eine Frau, sie mochte Ende fünfzig sein, öffnete ihnen.

»Moin. Ist Frau von der Hardt im Hause?«, fragte Christoph.

Die Frau schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Die ist nicht da.«

»Und Herr Feichtshofer? Oder Herr von der Hardt?«

»Beide.«

»Was, beide?«

»Beide sind da.«

»Können wir mit ihnen sprechen?«

Die Frau sah Christoph ratlos an. »Beiden?«

»Herrn Feichtshofer«, sagte Christoph, bevor die Frau sie weiter in ein Frage-und-Antwort-Spiel verwickelte.

»Moment.« Die Haustür schloss sich wieder, und es dauerte fünf Minuten, bis die Frau wieder erschien.

»Er fragt, was Sie wollen.«

Große Jäger schob Christoph sanft zur Seite. »Schluss mit dem Geplänkel. Wir sind von der Polizei und wollen die beiden Herren abholen, wenn sie sich nicht augenblicklich sputen und mit uns plaudern.«

Die Frau schluckte heftig und stürmte dann zurück ins Haus. Diesmal ließ sie die Tür offen. Kurz darauf kam Feichtshofer zum Eingang getrottet.

»Wird das eine Dauerveranstaltung mit Ihnen?«

»Hör mal zu, du Knackarsch.« Große Jäger war sichtlich verärgert über die Behandlung, die ihnen widerfuhr. »Wenn wir dich eingebuchtet haben, hast du vierundzwanzig Stunden am Tag mit Leuten wie uns zu tun.«

Deutlich sah Christoph das Erschrecken in Feichtshofers Augen. »Ist schon gut. Was wollen Sie denn?«

»Nicht dumm vor der Tür stehen.«

»Kommen Sie.« Feichtshofer führte die beiden Beamten in ein kleines Zimmer, das wie ein intimes Zweitwohnzimmer aussah. Ein kunterbunter Zweisitzer, ein niedriger Tisch, zwei leichte Sessel und ein lichtes Regal aus Stahlrohr und Glas bildeten die Einrichtung, die durch Grafiken an den Wänden und einen Flatscreen ergänzt wurde. Die Bose-Anlage stand auf dem Fußboden, die drei Lautsprecher des Systems waren im Raum verteilt. Es sah noch unfertig aus. Dafür sprach auch, dass das Regal kaum mit Utensilien bestückt war.

Frau von der Hardts Liebhaber ließ sich in einen der Sessel fallen, ohne den Besuchern Platz anzubieten. Christoph setzte sich auf den Zweisitzer, während Große Jäger den zweiten Sessel ganz nah an Feichtshofer heranschob und sich gegenüber platzierte, sodass sich ihrer beider Beine an den Knien berührten. Der Fitnesstrainer rückte ein Stück zurück, aber Große Jäger folgte ihm mit seinem Stuhl.

»Wissen Sie, dass Juristen nicht an der Uni, sondern beim Repetitor studieren?«, fragte Große Jäger.

Feichtshofer sah ihn ratlos an. Er hatte nichts verstanden.

»Die lernen durch ständiges Wiederholen. Aber selbst das scheint nicht bei jedem zu wirken. Nun möchte ich Ihnen noch rechtlich auf die Sprünge helfen.« Große Jäger war wieder zum Siezen übergegangen. »Wir wiederholen jetzt unsere Lektion von gestern. Und zwar so lange, bis wir zu einem Happy End kommen. Ist das klar?«

Der Mann nickte vorsichtshalber, obwohl ihm anzusehen war, dass er den Sinn der Ausführungen des Oberkommissars nicht begriffen hatte.

»Lektion eins: Wie sind Sie in den Besitz von Ina Wiechers Handy’ gekommen?«

Feichtshofer sah zu Christoph herüber, als würde er von ihm Hilfe erwarten. Als keine Reaktion erfolgte, blickte er seitlich an Große Jäger vorbei auf den Fußboden, der aus hellen Dielenbrettern bestand.

»Gut. Ich habe Ihre Antwort deutlich vernommen. Sie haben die Frau ermordet und sich dann das Handy angeeignet.«

»Das stimmt doch nicht. Ich habe Ina nicht umgebracht«, rief der Mann aufgebracht. Sein Kopf war puterrot angelaufen, die Schläfenadern traten deutlich hervor. »Ich habe das Handy doch gar nicht in Händen gehalten.«

»Bei unserem letzten Besuch haben Sie aber noch gestanden, das Mobiltelefon an Nico weitergegeben zu haben.«

»Das habe ich nur so gesagt. Weil … weil … Ach, ich weiß es nicht mehr.« Er schnaufte tief durch die Nase. »Sie haben mich so durcheinandergebracht, dass ich nicht mehr wusste, was ich erzählt habe.«

»Ob Ihre Chefin weiß, wie konfus Sie sind?«, lästerte Große Jäger. Doch Feichtshofer ging nicht darauf ein. Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Wange.

»Ich bin einfach zu blöd, weil ich den Scheißtyp nicht reinreißen wollte.«

»Und da haben Sie sich selbst des Diebstahls bezichtigt?«

Der Mann winkte ab. »Wo bin ich da nur reingeraten«, stöhnte er. »Isabelle stellt sich unheimlich an mit ihrem Nico. Wenn dem lieben Kleinen etwas querläuft, ist sie schlecht drauf. Meistens muss ich als Prellbock dafür herhalten.«

»Wofür werden Sie eigentlich von Frau von der Hardt bezahlt? Es ist doch richtig, dass die Dame des Hauses Sie aushält.«

»Typisch Spießer«, keifte Feichtshofer in Große Jägers Richtung.

Der Oberkommissar grinste. »Kann man vermuten, dass Sie für gelegentliche Eiweißspenden honoriert werden?«

Der Fitnesstrainer sah Große Jäger ratlos an. »Hä?«, fragte er.

Bevor sein Kollege das Gespräch auf dieser Ebene weitertreiben konnte, mischte sich Christoph ein. »Sie behaupten, das Handy nicht in Besitz gehabt zu haben. Ihr erstes Geständnis haben Sie abgegeben, um Nico zu schützen.«

Feichtshofer atmete tief durch. »Ja, so ist es«, stöhnte er gedehnt.

»Sie haben uns viel Mühe bereitet mit Ihren widersprüchlichen Aussagen«, sagte Christoph.

Große Jäger beugte sich vor und tippte mit beiden Zeigefingern auf die Knie des Mannes. »Schon mal was von der Echternacher Springprozession gehört?«

»Was soll das sein?«

»In dem Stück kommen Narren vor. Daher dachte ich, Sie wüssten davon. Im Übrigen wäre es in manchen Situationen günstiger, über etwas mehr Allgemeinbildung zu verfügen, als in den Beipackzetteln von Hormonpräparaten vermittelt wird.«

Feichtshofer war durch das Verhör so weit angeschlagen, dass er Große Jägers Spitze gar nicht mehr registrierte.

»Nun erzählen Sie uns noch einmal, was vorgestern Abend geschehen ist«, forderte Christoph den Mann auf.

Der rückte mit seinem Stuhl ein weiteres Stück von Große Jäger ab. Diesmal folgte ihm der Oberkommissar nicht.

»Ich war hier. Allein. Das kommt oft vor, dass ich keine Ahnung hab, wo sich Nico rumtreibt. Ich habe ein Video geguckt, als ich hörte, wie er nach Hause kam. Erst krachte die Haustür gegen die Wand, dann torkelte Nico durch die Diele und riss den Messingschirmständer um. Ich bin raus aus dem Zimmer und wollte ihm was erzählen. Aber das hat er gar nicht mitgekriegt, so voll war er. Er hatte sich die vollgekotzte Hose an der Treppe ausgezogen und ist dann nach oben verschwunden.«

»Was ist mit der Hose geschehen?«

»Das war eine Sauerei. Ich habe das Dreckding in den Müll geworfen.«

»War es eine Jeans?«

»Ja. Wieso?«

»Die Hose ist noch in der Mülltonne?«

»Nee. Heute war Abfuhr. Man weiß nie, wann Isabelle von ihren Reisen wieder zurückkommt. Ich wollte nicht, dass sie den Stall sieht. Wie gesagt – dann wär sie ausgeflippt.«

»Und warum haben Sie uns das nicht gleich erzählt? Immerhin hätten Sie sich damit ein, wenn auch fragwürdiges Alibi verschafft, als wir Sie fragten, wo Sie den Abend zugebracht haben.«

»Ich war ja zuerst an der Schule. Aber dann bin ich hierher.« Feichtshofer schlug mit der linken Faust in die rechte offene Handfläche, dass es klatschte. »Mit dem Alibi … Darüber hab ich nicht nachgedacht. Wenn schon. Wer hätte mir was nachweisen können. Die Polizei hätte bestimmt rausgekriegt, dass ich nix getan habe.«

»Ihr Vertrauen ehrt uns. Trotzdem ist es nicht richtig, uns in die Irre zu führen.«

»War vielleicht nicht in Ordnung von mir. Aber dem da oben gönne ich die Pest an den Hals. Dem würde ich gern eins auswischen.«

»Haben Sie nach dieser Aktion das Haus noch einmal verlassen?«

»Warum denn? Wo sollte ich hin?«

Sie hatten im Augenblick keine weiteren Fragen an Feichtshofer. Christoph bat den Mann, Nico zu holen.

Der erschien eine Weile später und lehnte sich lässig in den Türrahmen. Die bloßen Beine, die unter den Bermudashorts hervorguckten, hatte er über Kreuz verschränkt. Ein schwarzes T-Shirt mit einem Totenkopf auf der Brust trug er lose über dem Hosenbund. In der linken Hand hielt er einen Aschenbecher, in den er die Asche der Zigarette aus der anderen Hand abstreifte.

»Ich hab null Bock auf diese ewige Quatscherei. Sind unsere Bullen so bescheuert, dass sie sich immer wieder neue Fragen einfallen lassen?«

»Ich möchte Sie noch einmal bitten, sich uns gegenüber zivilisiert zu verhalten.«

Nico zog an seiner Zigarette und blies kunstvoll Ringe in die Luft. »Ach nee. Und was ›zivilisiert‹ bedeutet, bestimmen die Bullen. Toller Polizeistaat.«

Große Jäger war aufgesprungen. »Nun hör mal zu, du Ziegenbart. Du trägst diese Versuchsanordnung von Mickerhaaren am Kinn doch nur deshalb, weil man dich unter der Dusche sonst nicht als Mann erkennen würde. Und deshalb kommt zwischen deinen Lippen nur halb garer Mist hervor.«

Der Junge ließ ein verächtlich klingendes Lachen hören. »Nun lach ich mir ‘nen Ast. Der Unterpolyp meldet sich zu Wort.«

Christoph mischte sich ein. »Herr von der Hardt. Kennen Sie Maike Hauffe näher?«

»Was meinen Sie damit?«

Immerhin hat er mich nicht geduzt, registrierte Christoph.

»Haben Sie ein Verhältnis mit dem Mädchen?«

Nico bog sich vor Lachen, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr künstlich klang. »Sag mal, tickt ihr nicht sauber? Verhältnis! Das ist etwas für euch Gruftis. Frag doch den Wichser«, dabei zeigte er mit der Spitze seiner Zigarette auf Feichtshofer. »Ein Dschi-Dschi flachlegen ist doch kein Verhältnis.«

»Was ist ein Dschi-Dschi?«

»Geiles Girl. Mann! Seid ihr bekloppt.«

»Sie geben zu, mit Maike intime Beziehungen gehabt zu haben?« Christoph ließ sich durch die Aggressivität des jungen Mannes nicht beirren.

»Das geht euch ‘nen feuchten Kehricht an.«

»Immerhin ist Maike schwanger.«

»Na und? Das weiß ich schon lange.«

»Sind Sie der Vater? Das lässt sich durch eine DNA einfach nachweisen.«

»Nix DNA. Maike ist sechzehn. Und ich bin volljährig. Hat sie behauptet, vergewaltigt worden zu sein? Siehste. Wer sie bestückt hat, interessiert die Bullerei überhaupt nicht. Ist das klaro?«

Leider hatte der Junge recht. In diesem Punkt waren sie machtlos, obwohl es vielleicht für die Ermittlungen von Interesse gewesen wäre.

»Ist Maikes Vater auch dieser Auffassung?«, hakte Christoph nach.

»Fragen Sie ihn doch selbst. Diese Fehlfarbe …«

»Sparen Sie sich diese rassistischen Bemerkungen!«

»Wollt ihr mich nicht ausreden lassen? Der Typ hat doch Dynamit im Blut. So jähzornig, wie der ist. Ich glaube, der braucht keine Bullen, um die Sache allein zu klären.«

»Und nun fürchten Sie sich vor ihm? Genauso wie vor Ina Wiechers, die Ihre schulische Karriere zu zerstören drohte.«

»Vor Hauffe, diesem Schisser? Den mach ich doch platt, bevor der atmen kann.«

Große Jäger hatte sich Nico von der Hardt nahezu unmerklich genähert. Jetzt stand er direkt vor ihm. »Hör mal, du Flachwichser. Wenn du Arschgeige meinst, wir Gruftis können nur wie Goethe schwadronieren, dann hast du dich getäuscht. Ich spreche Deutsch in Varianten, von denen so eine Hohlladung wie du nicht den Hauch einer Ahnung hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Zweitausgabe von Maulheld wie du jemals von einem vernünftigen Girlie auch nur auf Geruchsnähe herangelassen wird. Du – und Vater? Du musst doch aufs Damenklo, weil dich als Mann niemand ernst nimmt. Hast du eine Ahnung, wie das ist, wenn die wirklich harten Jungs dir das Labskaus rektal füttern, nachdem wir dich eingebuchtet haben? Und das ist noch harmlos. Was meinst du, wie du im Knast stinken wirst, weil du dich während der ganzen Zeit vor lauter Furcht nicht nach der Seife bücken wirst? Ist das klar?«

Nico hatte sich vom Türrahmen gelöst und war einen Schritt zurückgewichen. »Ist schon gut, Mann«, stöhnte er. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so humorlos sind.«

Christoph sah, wie Große Jäger nur mühsam ein breites Grinsen unterdrücken konnte. Der Oberkommissar hatte es in seiner unnachahmlichen Art wieder einmal geschafft, eine vermeintlich harte Festung zu knacken. Nicos Kapitulation war deutlich daran zu erkennen, dass er Große Jäger siezte.

»Maike ist ein prima Mädchen«, sagte der Junge trotzig. »Wir verstehen uns gut. Und mehr sage ich nicht dazu.«

»Wir wissen inzwischen, dass Sie das Handy nicht von Herrn Feichtshofer bekommen haben. Wollen Sie uns endlich sagen, wie Sie in den Besitz des Geräts gelangt sind? Es könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Mörder von Ina Wiechers sich am ehesten das Handy aneignen konnte.«

Nico schluckte heftig. »Ehrlich. Mit dem Mord habe ich nichts zu tun. Okay. Ich habe die alte Schabracke nicht leiden können. Aber deshalb bringe ich sie doch nicht um. Die Sache mit der Schule – das hätte meine Mutter schon zurechtgebogen. Irgendwie.«

Er schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und suchte vergeblich nach Feuer. »Scheiße. Ich habe keinen Taschendrachen an Bord.«

Große Jäger reichte ihm sein Feuerzeug.

Nachdem Nico einen tiefen Zug genommen hatte, fuchtelte er mit seiner Hand in der Luft herum, als würde er die Rauschschwaden vertreiben wollen. »War saublöd von mir«, gestand er ein. »Ich war im Sekretariat. Die Papiermieze hat seit einiger Zeit Faulfieber. So sagen wir, wenn jemand nicht wirklich krank ist und nur blaumachen will. Also – kurz gesagt: Da lag das Ding. Ich habe es mitgehen lassen. War Scheiße. Sonst klaue ich nicht. Habe ich nicht nötig. Ich sage es meiner Mutter, und schon ist das Ding gefrühstückt.«

»Lag dort noch mehr herum?«

»Natürlich. Die Bude ist doch voll mit Kram.«

»Haben Sie dort ein Notebook gesehen?«, fragte Christoph.

»Nee. Das war da nicht. Bestimmt.«

»Da haben Sie sich einiges ans Bein gebunden. Den Diebstahl werden wir nicht unterdrücken können. Die Sache mit dem Komasaufen an der Seebrücke wird auch noch Folgen haben. Wie Sie das Ihrer Mutter erklären wollen, wird Ihre Sache sein.«

Zum ersten Mal machte der junge von der Hardt keinen aggressiven, sondern eher einen unglücklichen Eindruck.

Es war ein frostiger Abschied, als die beiden Beamten das Haus verließen.

Vom Auto aus riefen sie Mommsen an.

»Ich bin auf dem Weg nach Kiel«, berichtete der junge Kommissar. »Es war nicht einfach, die Mutter zu überzeugen, dass wir etwas Persönliches von ihrem Sohn benötigen. Ein Nachbar hat beim Dolmetschen geholfen. Nicht nur die Mutter, sondern auch andere Bewohner des Hauses waren sehr aufgeregt. Sie haben mich bedrängt und wollten wissen, wo Fouad ist. Das Ganze ging einher mit Vorwürfen der Ausländerdiskriminierung gegen alles und jeden. Dann ist da noch etwas.«

Mommsen legte eine Kunstpause ein. »Ich habe mir die Armbanduhr und die vermutlich letzte Bekleidung des Libanesen beschreiben lassen. Anschließend habe ich mit der Spurensicherung gesprochen.« Erneut folgte eine kurze Pause. »Es scheint, als gäbe es da Übereinstimmungen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir das Opfer von der Eisenbahnbrücke identifiziert haben.«

»Wir sollten das K1 aus Itzehoe informieren«, schlug Christoph vor.

»Ist schon geschehen«, sagte Mommsen. »Die Kriminaltechnik hat aber noch etwas festgestellt. Ihr erinnert euch, dass an der Leiche von Ina Wiechers Mikrospuren einer Jeans entdeckt wurden? Vermutlich von derselben Hose sind Spuren an einem Klettverschluss hängen geblieben, mit dem Fouad al-Shara seine Handytasche am Hosengürtel befestigt hatte.«

»Wie haben die das herausbekommen? Von dem Opfer war, nachdem der Zug es überrollt hatte, nicht mehr viel übrig«, staunte Christoph.

»Das kann ich dir auch nicht sagen«, erwiderte Mommsen.

»Unser Kind ist ein pfiffiges Kerlchen«, brummte Große Jäger anerkennend, nachdem Christoph das Gespräch beendet hatte. »Und damit stehen wir vor einem Problem. Wo liegt die Verbindung zwischen diesen beiden Morden? Es gibt wohl kaum noch einen Zweifel, dass wir es mit demselben Mörder zu tun haben. Die Jeansspuren und die ›Drahtmethode‹. Außerdem bringen diese Spuren noch eine andere Tatsache ans Tageslicht.« Versonnen lächelnd sah er Christoph an. »Hast du im Ernst geglaubt, ich könnte in Verbindung mit dem Tod des Libanesen stehen?«

»Du hattest vor Zeugen gedroht, al-Shara alle machen zu wollen.«

»Da war ich zornig, weil der Kerl Hilke übel zugerichtet hat.«

»Dein Verhalten war merkwürdig. Du hast verheimlichen wollen, wo du dich in der Nacht aufgehalten hast, als der Libanese ermordet wurde. Außerdem wurde dein Auto vor dessen Haus gesehen. Was würdest du in einem solchen Fall denken?«

»Nun, ja. Wahrscheinlich hätte ich die gleiche blöde Idee, die dir im Kopf herumgeisterte«, gab Große Jäger zu. »Aber das ist doch völlig abwegig. Hast du eigentlich den Quatsch geglaubt, den du von dir gegeben hast? Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil …«

Christoph lachte spöttisch. »Du mit deinem guten Herzen.«

Große Jäger sah ihn treuherzig an. »Ich habe geglaubt, dass mich die Schuld trifft, als man Hilke tätlich angegriffen hat. Wenn ich sie nicht allein auf dem Marktplatz zurückgelassen hätte, wäre das nicht geschehen. Das wollte ich wiedergutmachen, indem ich den Täter ergreife. Und die ungeplante Sauferei mit dem Hausmeister – das war dumm.«

Christoph klopfte dem Oberkommissar kameradschaftlich auf den Oberschenkel. »Du bist zwar ein alter Querkopf, aber eine Gewalttat hätte ich dir mit Sicherheit nicht zugetraut. Nun lass uns aber einen Gedanken daran verschwenden, welche Motive es für die beiden Morde gibt.«

»Wenn Ina Wiechers, die kein Kind von Traurigkeit war, nun auch eine erotische Beziehung mit dem Libanesen hatte? Niemand hat uns weismachen wollen, dass die Frau ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat. Vielleicht ist Fouad deshalb immer um die Schule herumgeschlichen. Und ein anderer Lover der Lehrerin war eifersüchtig.« Große Jäger kratzte sich an seinen Bartstoppeln. »Oder bei seiner Schnüffelei auf dem Schulgelände hat Fouad etwas gesehen, das den Täter verraten würde«, sagte Große Jäger.

»Grundsätzlich ist das nicht auszuschließen. Dagegen spricht aber, wie die Tat ausgeführt wurde. Wenn nur ein lästiger Zeuge beseitigt werden soll, betreibt der Täter nicht einen solchen Aufwand, indem er den Libanesen zur Brücke schleppt und festbindet. Der Junge muss grauenvolle Stunden verbracht haben, weil ihm bewusst war, was ihm droht, wenn der erste Zug kommt. Ich mag mir diese Situation nicht vorstellen. Die Handlungsweise des Täters ist fern jeder Menschlichkeit. Selbst wenn man einen abgrundtiefen Hass gegen einen anderen hegt, denkt man sich nicht ein solches Vorgehen aus. Das war die grausamste Hinrichtung, von der ich je gehört habe. Man muss Zweifel haben, ob hier ein geistig gesunder Mensch gehandelt hat.«

Große Jäger schwieg eine Weile betreten, bevor er antwortete. »Die Spurensicherung sprach immer von Jeans. Und von Feichtshofer haben wir gehört, dass Nico von der Hardt eine angeblich vollgespuckte und verdreckte Jeans in den Hausmüll geworfen hat. Dieser Spur müssen wir unbedingt folgen.«

»Stopp«, warf Christoph ein. »Die Jeans hat nicht Nico entsorgt, sondern Feichtshofer. Der Bodybuilder hat gesagt, dass er die Hose in den Müll geworfen hat. Logisch betrachtet entlastet das Nico, da er ein mögliches Beweisstück nicht selbst beiseitegeschafft hat.«

»Und wenn uns die beiden mit ihrer vorgeblichen Animosität nur etwas vorgespielt haben und gemeinsame Sache machen?«

»Auszuschließen ist grundsätzlich nichts.«

»Mensch, da gibt es so viele schöne und verantwortungsvolle Berufe, bei denen du nicht immer nur vor einem Berg von Fragen stehst. Stell dir vor, du bist Vorstandsprecher einer großen Bank. Da steht kein Fragezeichen hinter der Überlegung, wie viel Geld du dir jeden Monat einstecken darfst.«

Christoph schüttelte den Kopf. »Du und deine krausen Gedanken. Deshalb bin ich Polizist geworden, damit ich nie in die Situation geraten kann, dir als Verdächtiger gegenüberzustehen.«

Große Jäger nahm Kontakt zur Dienststelle auf und bat Kriminalhauptmeister Schöller, sich darum zu bemühen, Nicos Jeans vor der endgültigen Entsorgung durch die Müllabfuhr zu retten.

»Werner war hellauf begeistert von dieser Aufgabe«, sagte der Oberkommissar, nachdem er das Gespräch mit Husum abgeschlossen hatte. Bevor er weiterberichten konnte, rief Oberkommissar Dettinger von der Polizei St. Peter-Ording an.

»Ich habe einen Zeugen gefunden, der mit seinem Hund Gassi gegangen ist. Das war kurz vor elf. Der Mann kann sich an diese Uhrzeit erinnern, weil er jeden Abend nach den Tagesthemen seinen Hund nach draußen führt.«

»Armer Köter«, fuhr Große Jäger dazwischen. »Dem Vieh platzt am Freitag und Sonntag die Blase. An diesen Tagen kommen die Tagesthemen immer später.«

»Was meint ihr?«, fragte Dettinger dazwischen.

»Der Kommentar war nicht für die Öffentlichkeit«, sagte Christoph.

»Die Zeugenaussage stimmt auch zeitlich mit dem anderen Einsatz überein. Ich war um elf Uhr an der Seebrücke, als ich dorthin gerufen wurde, und habe den hilflosen Patrick Wittenbrink gefunden. Zu der Zeit waren die beiden Jungs schon Richtung Dorf unterwegs. Der Zeuge …«

»Der Mann mit dem Hund«, warf Große Jäger ein.

»Genau. Der hat beobachtet, wie sich einer der beiden Jugendlichen auf der Straße übergeben hat. Ich bin zur angegebenen Stelle gefahren. Dort sieht man immer noch die Überreste. Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Probe nehmen soll. Solche Entscheidungen liegen bei euch von der Kripo.«

»Wir kümmern uns darum.«

»Außerdem waren an dem Gelage noch zwei weitere Jugendliche beteiligt. Ich kenne auch die Namen. Ein Siebzehnjähriger und ein sechzehnjähriges Mädchen. Die beiden sind aber nicht bis zum Schluss geblieben und waren anscheinend auch nicht so betrunken wie die drei anderen Beteiligten.«

»Danke, Stefan«, schloss Große Jäger und fuhr, zu Christoph gewandt, fort: »Damit dürften Jan Harms und Nico von der Hardt als Täter ausscheiden. Ich traue keinem von beiden zu, dass sie die Trunkenheit so vollkommen gespielt haben, nur um sich ein Alibi zu verschaffen.« Der Oberkommissar stöhnte theatralisch. »Das vereinfacht die Sache ungemein. Jetzt kommen nicht mehr alle zweiundachtzig Millionen Bundesbürger als Tatverdächtige infrage.«

Zu Recht behaupten viele Menschen, das Paradies auf Erden hätte der liebe Gott mit ihrer Heimat geschaffen. An diesem Tag trug Petrus aber zusätzlich sein Scherflein dazu bei, dass der Born der Lebensfreude in Nordfriesland zu finden war. Ein strahlend blauer Himmel, ein sanfter Hauch, der die würzige Seeluft vom Wasser herübertrug, und die lässige Beschaulichkeit, die man sonst nur den kleinen Hafenorten rund um das Mittelmeer zuschreibt, waren Balsam für die Seele.

Ob der Chef das auch so empfindet?, dachte Hilke, als sie in der Ludwig-Nissen-Straße aus dem Auto ihres Mannes stieg. Gegen seinen Protest hatte sie darauf bestanden, an der Abschiedsfeier für Polizeidirektor Grothe teilzunehmen.

Langsam schlenderte sie über den Parkplatz auf den Eingang des Hotels Altes Gymnasium zu, das für sich in Anspruch nahm, zu den renommiertesten des Landes zu gehören. Zur rechten Hand erstreckte sich der Neubau mit den komfortablen Zimmern. Sie umrundete den Teich vor dem wuchtigen Portal mit dem geschwungenen Baldachin und trat in das prachtvolle Foyer des unter Denkmalschutz stehenden Backsteingebäudes.

Große Kronleuchter an der dunklen Holzbalkendecke gaben dem Entree heute ein anderes Ambiente als zu jener Zeit, in der Rudolf Eucken an der Husumer Gelehrtenschule als Lehrer tätig war. Kaum jemand weiß heute noch, dass der Mann der zweite Deutsche ist, der mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden ist. Überhaupt ist es interessant, dass das Schaffen fast der Hälfte der deutschen Preisträger mit Schleswig-Holstein verbunden ist, wenn man Thomas Mann und Günter Grass mit einbezieht, dachte Hilke.

Gleich am Eingang sah sie die große Hinweistafel. »Empfang PD Grothe – Historische Aula – 1. Etage.« Hilke wollte den Raum durchqueren, als sie Ruth Fehling bemerkte. Die langjährige Sekretärin des Chefs, wie immer stilvoll in einem eleganten Kostüm gekleidet, trat auf sie zu.

»Frau Hauck. Das ist schön, dass Sie gekommen sind. Da wird sich der Chef freuen. Wie geht es Ihnen?«

Hilke wehrte ab. »Danke. Gut. Es sind nur noch ein paar kleine Wehwehchen. Das wird schon wieder.«

Frau Fehling zeigte auf die Treppe im Hintergrund. »Dort geht es hinauf.«

Mühsam erklomm sie die Stufen. Sie mochte sich nicht anmerken lassen, dass ihr körperliche Anstrengungen immer noch Mühe bereiteten, auch wenn ihre beiden Töchter darauf wenig Rücksicht nahmen. Die Hausfrau und Mutter hatte immer zu »funktionieren«.

Aus der Aula drang gedämpftes Stimmengewirr. Sie betrat den beeindruckenden Raum mit den restaurierten Ornamentfenstern und Fresken und ließ das schlichte, aber beeindruckende Interieur einen Moment auf sich wirken.

Dann entdeckten sie Kollegen von der Polizeidirektion. Sie musste eine Reihe von Händen schütteln und immer wieder erneut bekunden, dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehen würde. Sie hielt vergeblich Ausschau nach Christoph, Große Jäger oder Mommsen.

Einer der »Drogisten« kam auf sie zu.

»Christoph und der Onkel sind unterwegs. Harm ist auf dem Weg ins LKA. Und Werner Schöller flucht wie ein Rohrspatz. Er sitzt auf der Dienststelle und versucht, die Müllabfuhr zu stoppen«, erklärte der Kollege. »Mehr weiß ich nicht. Im Augenblick geht es ziemlich rund.« Er wurde ernst. »Ich habe auch noch nichts davon gehört, dass man den Typen, der dich so zugerichtet hat, erwischt hat.«

»Früher oder später fassen wir ihn«, sagte Hilke tapfer und nahm einem Kellner ein Glas Orangensaft ab, nachdem sie den angebotenen Sekt verschmäht hatte. Sie entdeckte Polizeirat Christiansen im Gewühl und drückte ihm die Hand. Dann sah sie Dr. Starke aus Flensburg. Der braun gebrannte Kriminaldirektor balancierte lässig ein Sektglas zwischen Daumen und Zeigefinger und bemühte sich, eine kleine Gruppe von Männern in ein Gespräch zu verwickeln. Hilke schlug einen Bogen um die Ansammlung und zog sich in eine Ecke zurück, in der sie einen Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt und einer gestreiften Fliege entdeckte.

»Hallo, Peter«, grüßte sie den ehemaligen Kollegen, den sie aus ihrer Zeit bei der Schleswiger Kripo kannte.

Sie wechselten ein paar belanglose Worte, und sie musste erneut ihre Geschichte wiederholen, bevor der Schleswiger seine Stimme senkte.

»Hast du Dr. Starke schon entdeckt?«

Hilke nickte.

»Weißt du von dem Gerücht, dass er Nachfolger von Grothe werden soll?«

Entsetzt sah Hilke den Mann an. Sicher wurden solche Vermutungen schon seit geraumer Zeit geäußert. Aber Peters Talent, früher als andere von kommenden Entwicklungen zu hören, kannte sie noch aus Schleswiger Zeiten.

»Sag bloß«, war ihr ganzer Kommentar.

Peter nickte heftig, dass die Fliege wackelte. »Doch. Ich hab es aus zuverlässiger Quelle.« Er zwinkerte mit dem rechten Auge. »Du weißt schon. Ist ja nicht unbekannt, dass Dr. Starke karrieregeil ist. Er will mit Macht nach oben. Sieht so aus, als müsste er dabei noch eine Zwischenstation bei euch in Husum einlegen.«

Das war in der Tat eine wenig erfreuliche Nachricht. Einen Moment wünschte sich Hilke, sie wäre zu Hause geblieben.

»Das ist aber noch nicht alles«, wisperte Peter. »Die Leitung der Kripostelle Husum ist eine Position des höheren Dienstes, also Kriminalrat.«

»Und? Sie wird kommissarisch durch Christoph Johannes wahrgenommen.«

»Ja. Man erzählt sich, dass der ungern und nur unter Protest nach Husum gekommen ist. Jetzt soll er wieder zurück. Nach Kiel. Ins LKA

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Christoph hat sich gut eingelebt und fühlt sich pudelwohl bei uns.«

»Mag ja alles sein. Trotzdem wird ein Neuer gehandelt. Vielleicht sagt dir der Name etwas?«

Peter tat geheimnisvoll und wartete darauf, dass Hilke nachfragte.

»Wer soll es sein?«

»Lüders heißt der. Kriminalrat in der Abteilung drei. Staatsschutz.«

»Nie gehört.«

»Soll ein merkwürdiger Kerl sein. Zyniker. Einzelgänger. Aber versteht wohl etwas vom Geschäft.«

Sie wurden durch eine Gruppe von Männern unterbrochen, die die Aufmerksamkeit der Anwesenden im Saal auf sich zog. Angeführt vom Landrat folgten der Bürgermeister und ein dritter Mann im dunklen Anzug.

»Das ist der Leiter der Polizeiabteilung im Innenministerium«, raunte Peter ihr ins Ohr. Kurz darauf betrat der Landespolizeidirektor die Aula. Nicht nur Dank der zwei goldenen Sterne und des Eichenlaubs war er eine imposante Erscheinung. Der Mann war in der Landespolizei eine Institution, auch wenn er sich nach der Polizeireform »nur noch« Leiter des Landespolizeiamtes nennen konnte. Wie ein königlicher Hofmarschall schritt der oberste Polizist zur Stirnseite der Aula voran, in angemessenem Abstand gefolgt vom Chef.

Anhaltender Beifall begleitete Polizeidirektor Johannes Grothe, der in seiner Uniform mit den drei goldenen Sternen all denen, die ihn vom Dienst her kannten, fast ein wenig unwirklich erschien. Ohne Hosenträger und vor allem ohne brennende Zigarre wirkte er fast fremd, auch wenn die Uniformjacke vor dem Bauch mächtig spannte.

Wilderich würde jetzt wahrscheinlich eine Wette anbieten, ob die Knöpfe die Veranstaltung über halten, überlegte Hilke.

Bei Grothe hatte sich eine kleine rundliche Frau eingehakt. Mit ihren frisch frisierten Haaren und dem pastellfarbenen Kleid, das fast bis zur Mitte der Wade reichte, wirkte sie unsicher, als sie schutzsuchend neben ihrem Mann durch das Spalier schritt. Frau Grothe, die ebenso bodenständig war wie ihr Mann und das Leben im überschaubaren Wesselburen liebte, trug ihre Verlegenheit deutlich zur Schau. Die Bernsteinkette und die cremefarbene Handtasche in der rechten Armbeuge erinnerten ein wenig an die englische Königin. Nur in der kräftigen Statur zeigten sich deutliche Unterschiede.

Das Ehepaar Grothe nahm in der ersten Reihe Platz, eingerahmt von den anderen Würdenträgern oder denen, die sich selbst dafür hielten.

Peter stieß Hilke an, als sich Dr. Starke beinahe unsanft an anderen Leuten vorbeidrängelte, um ebenfalls einen Stuhl zu ergattern, mit entrüstetem Gesicht aber nur einen Platz in der zweiten Reihe fand.

Der Beamte aus dem Innenministerium eröffnete die Veranstaltung mit einem Grußwort des Ministers und betonte die bedeutende Rolle, die Johannes Grothe während seiner Zeit bei der schleswig-holsteinischen Polizei gespielt hatte. Es waren aber eher austauschbare Worte – ein Manuskript –, in das jeder andere beliebige Name hätte eingefügt werden können.

Im Unterschied dazu fand der Landespolizeidirektor sehr persönliche Worte. Man hatte den Eindruck, als müsse er heute von einem lieben Freund beruflich Abschied nehmen anstatt von einem verdienstvollen Polizeibeamten.

Der Landrat würdigte Grothes Verdienste für die Region. Natürlich klang es so, als wäre es dem Chef allein zu verdanken, dass sich die Bürger an der Nordspitze Deutschlands sicher vor den Auswüchsen der Kriminalität fühlen konnten. Es ließ sich nicht vermeiden, dass auch der Bürgermeister eine Lobeshymne loswerden wollte.

Nach Hilkes Auffassung wurde es wieder persönlicher, als der Vorsitzende des Personalrats dem Chef im Namen aller Mitarbeiter der Polizeidirektion dankte. Er fand die richtigen Worte, um das auszudrücken, was wohl alle dachten.

»Chef«, schloss er seinen Beitrag, »wir werden Sie vermissen. Das sei Ihnen versichert.«

Grothe wischte sich verstohlen die Augenwinkel. Er fiel ihm sichtlich schwer, seine Rührung zu verbergen. Nordfriesland – das war sein Land gewesen. Hier hatte er die Aufgabe gefunden, die sein Lebensinhalt gewesen war.

Mit zunächst stockenden Worten, dann aber immer flüssiger, ließ der Chef noch einmal seine langen Jahre bei der Polizei Revue passieren. Kurz vor dem Ende seiner Ausführungen hielt er abrupt inne, griff sich an die Brust und förderte sein Zigarrenetui aus der Innentasche der Uniform zutage. Unter dem tosenden Applaus der Anwesenden entzündete er eine seiner dicken Zigarren, blies aus vollen Wangen mit einem schelmischen Lachen den Rauch in die Luft und sagte: »Damit ihr mich nie vergesst.« Dann zog er seine Frau gegen deren Widerstand vor die Versammlung, nahm sie zärtlich in den Arm und flüsterte ihr zu: »Ohne dich, meine Grete, wäre das alles nicht machbar gewesen.«

Der Beifall währte minutenlang. Und niemand bemerkte zunächst, wie sich die große Tür der Aula behutsam geöffnet hatte und plötzlich mit fröhlichem Geschrei eine kunterbunte Kinderschar den Festsaal stürmte, gefolgt von Karlchen, der in seiner schrillen Aufmachung jedes Kind in den Schatten stellte.

Die Kinder gruppierten sich zu einem Chor und sangen mit unverdorbener Inbrunst und durch kleine spaßige Einlagen und Kunststücke unterbrochen heimatliche Folklore. Eine Sechsjährige mit deutlich sichtbaren Zahnlücken rezitierte Theodor Storms »Graue Stadt am Meer«. Niemanden störte es, dass die Kleine zahlreiche Texthänger hatte und Karlchen soufflierte. Und bei der abschließenden Hymne der Küstenbewohner »Wo die Nordseewellen« stimmten alle Anwesenden ein.

Während die Abschiedsgeschenke an den Chef überreicht wurden und er sich besonders über den Humidor aus Riozedernholz freute, für den die Mitarbeiter der Polizeidirektion gesammelt hatten, tauchte Ruth Fehling neben Hilke auf. »Warum muss der Mensch einem immer solche Schrecken einjagen?«

Hilke sah die Sekretärin des Chefs verständnislos an. »Wer? Herr Grothe?«

»Nein«, lachte Frau Fehling. »Ihr Kollege Große Jäger. Seit Wochen habe ich gezittert, weil ich nichts von ihm gehört habe. Er hatte versprochen, sich um das Rahmenprogramm für die Verabschiedungsfeier zu kümmern. Er hätte doch nur ein Wort verlauten lassen können, dass er alles mit dem Lebenspartner von Herrn Mommsen abgestimmt hat. Karlchen – so sagen Sie doch – hat den Auftritt der Kinder von langer Hand vorbereitet.« Frau Fehling schüttelte heftig ihren Kopf. »Also. So was.«

Was sollte Hilke darauf erwidern? Sie reihte sich in die Schlange derer ein, die dem Chef ein letztes Mal ein paar persönliche Worte sagen und ihm die Hand drücken wollten. Dann schlich sie unbemerkt zum Ausgang. Vor der Tür des Hotels griff sie zu ihrem Handy und wählte Christophs Nummer, um ihn zu informieren.

Der dünne Rauchfaden kräuselte sich gen Himmel. Versonnen sah Große Jäger dem blauen Dunst nach, der von seiner Zigarette aufstieg. Er lehnte gegen das Autodach, inhalierte und lauschte mit einem Ohr ins Wageninnere.

Christoph hatte den Lautsprecher auf Mithören gestellt, so bekam der Oberkommissar Hilkes Bericht über die Abschiedsfeier des Polizeidirektors mit.

»Jetzt hast du dich ganz umsonst fein herausgeputzt«, lästerte Große Jäger und musterte Christoph, der immer noch seinen Blazer und die Krawatte trug. Er war – wie jeden Tag – mit seiner abgewetzten Jeans, dem Holzfällerhemd und der fleckigen Lederweste bekleidet.

»Du hast die arme Frau Fehling ganz schön an der Nase herumgeführt. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass sie die Fassung verloren hat, aber die Überraschung, die du für den Chef zum Abschied organisiert hast, hättest du zumindest ihr ankündigen können.«

Große Jäger zeigte seine nikotingelben Zähne. »Wäre es dann noch eine Überraschung gewesen? Gottlob ist Karlchen ausgesprochen verschwiegen und diskret und hat auch gegenüber Harm nichts verraten.« Er lächelte versonnen in sich hinein. »Nun ja. Du erzählst deiner Ehefrau ja auch nicht alles. Im Übrigen hatte ich zunächst die Idee, dass deine Anna einen Bauchtanz aufführen sollte. Das wäre bei den alten Männern aus Kiel sicher gut angekommen. Ich fürchtete aber, dass ich von ihr einen Korb bekommen hätte. Dann hatte ich überlegt, ob ich Blödmann ein paar Kunststücke beibringe und als Hundedompteur auftrete. Aber da war nichts zu machen. Der verflixte Köter hat seinen eigenen Willen.« Er wollte sich eine weitere Zigarette anzünden, aber Christoph hielt ihn davon ab.

»Wir sollten jetzt gehen«, sagte er und stieg aus. Missmutig trottete Große Jäger hinter ihm auf den Eingang des Eidergymnasiums zu. Die Tür war verschlossen, aber wie auf Kommando erschien der Hausmeister.

»Moin, Harry«, begrüßte ihn Große Jäger jovial. »Ist dein Boss noch da?«

Trochowitz zeigte auf ein älteres Herrenrad, das deutliche Gebrauchsspuren aufwies. »Müsste eigentlich. Sein Drahtesel steht da noch.«

»Dann lass uns mal rein.«

»Wie ich euch kenne, wollt ihr zuerst in meinen Werkraum gucken. Da habt ihr immer so gemacht«, sagte der Hausmeister.

»Heute nicht, Harry. Ich glaube, die Bierkiste, die dort stand, ist inzwischen leer.«

Trochowitz senkte das Haupt wie ein ertappter Schüler. Plötzlich blieb Christoph stehen und zeigte auf das Schild an der Tür eines Klassenraumes. »Ist das die Zehnte?«

»Von Beethoven?«, lästerte Große Jäger. »Toll. Endlich haben wir sie gefunden. Bisher waren nur neun bekannt. Und die letzte hat der Alte auch nicht zu Ende gekriegt.«

Trochowitz starrte den Oberkommissar mit offenem Mund verständnislos an.

»Klassenlehrer der 10 a ist doch Herr Hauffe?«

»Ja«, antwortete der Hausmeister und zog das »a« dabei kunstvoll in die Länge. »Warum?«

»Wo halten die Lehrer sich auf, wenn sie in einer Freistunde oder nach dem Unterricht noch Arbeiten in der Schule zu erledigen haben?«

»Im Lehrerzimmer. Ist doch logisch«, erklärte Trochowitz. »Der Klassenraum ist voll. Da sitzen die Schüler.«

»Ich meine, nachmittags, wenn die Kinder nicht mehr im Hause sind.«

Der Hausmeister grinste breit. »Dann sind die Lehrer auch weg.«

»Nehmen wir an, sie haben noch etwas in der Schule zu erledigen.«

Jetzt zuckte der Mann im grauen Kittel die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht im Lehrerzimmer. Ich weiß es wirklich nicht.«

Christoph probierte die Türklinke. Der Klassenraum war verschlossen.

»Das ist wegen der Sachen, die da drin sind«, erklärte Trochowitz. »Hier wird wie sonst was geklaut.«

Christoph erinnerte sich an die Aussage Nico von der Hardts, der unbemerkt Ina Wiechers’ Handy aus dem unbesetzten Sekretariat hatte entwenden können.

»An dem Tag, als Rebecca Ehrenberg zu Rantzau überfallen wurde, waren doch Herr van Oy und zwei Lehrer in der Schule.«

»Ich glaube.«

»Frau Wieslmayr und Herr Hauffe.«

Trochowitz sah Christoph mit großen Augen an.

»Sie haben damals gesagt, der libanesische Junge wäre um die Schule herumgeschlichen. Das hat auch Herr Hauffe bestätigt. Wo haben Sie den Jugendlichen gesehen?«

»Na – vorne. Auf dem Schulhof vorm Haus.«

Christoph zeigte auf die Tür des Klassenraumes. »Können Sie die bitte einmal öffnen?«

Der Hausmeister kramte sein Schlüsselbund hervor, suchte und murmelte vor sich hin: »Hier ist der Generalschlüssel.«

Christoph trat ein. Das Zimmer sah wie tausend andere Unterrichtsräume aus. Die Tische standen in Hufeisenform, und da der Platz nicht ausreichte, waren in der Mitte weitere Tische aufgestellt. In die hintere Ecke drückte sich ein Blechschrank, der rund um das Schloss zahlreiche Kratzspuren aufwies. Es sah aus, als hätten ganze Schülergenerationen versucht, ihn zu öffnen.

Die Wände waren mit Kratzern und Farbspuren übersät. Von der Decke blätterte die Farbe ab, und in den Fensternischen hatten sich dunkle Flecken von der eindringenden Feuchtigkeit gebildet. Die Tafel an der Stirnseite war oberflächlich gewischt. Schwach konnte Christoph noch englische Vokabeln darauf erkennen.

Den Schülern zugewandt stand der Tisch des Lehrers etwas abseits. Christoph nahm auf dem Drehstuhl Platz und betrachtete die Tischplatte, die noch intensiver zerkratzt war als die Pulte der Schüler. Offensichtlich hatten die Kinder über die Jahrgänge hinweg ihr Vergnügen daran gefunden, Sprüche und Schimpfwörter in den Lehrerarbeitsplatz zu ritzen.

Große Jäger und der Hausmeister standen am Eingang und sahen ihm schweigend zu. Es war still im Raum. Während des Unterrichts wird der Pädagoge diese Ruhe kaum genießen können, überlegte Christoph und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen.

Im Hintergrund sah man die Treene, Friedrichstadts Hausfluss, obwohl der Ort damit warb, dass er an der Eider lag. Hier mündete die Treene. Früher war sie die Grenze zwischen der dänischen und der niederdeutschen Besiedlung, die sächsischen Ursprungs war. Zu Zeiten der Wikinger diente sie als Teil des Schifffahrtsweges zwischen Nord- und Ostsee. Jetzt schimmerte das Wasser zwischen dem dichten Reet, das die Ufer säumte. Dahinter erstreckte sich die Marsch, die an dieser Stelle aber nicht landwirtschaftlich genutzt wurde. Es musste ein Paradies für viele Tierarten sein, die sich in diesem feuchten Areal tummeln konnten.

Christoph zeigte aus dem Fenster. »Hält sich dort manchmal jemand auf?«

»Nee. Eigentlich nicht. Da kriegen Sie nasse Füße. Manchmal erwische ich Schüler, die sich in der Pause hinters Haus schleichen, um dort eine durchzuziehen. Aber dahinten – nö. Da latscht keiner längs«, erklärte Trochowitz eifrig.

Christoph stand auf. »Danke.«

»Ach. Dafür nicht«, sagte der Hausmeister und schloss hinter ihnen ab. Man sah ihm an, dass er die Aktion nicht verstanden hatte, aber sich auch nicht traute, Fragen zu stellen.

Kurz darauf traten sie ins Zimmer des Schulleiters. Van Oy sah irritiert auf. »Guten Tag, die Herren. Sie sehen mich überrascht.«

»Manchmal erscheinen wir mit Tatütata, ein anderes Mal auf leisen Sohlen«, erklärte Große Jäger. »Wir haben noch ein paar Fragen an Sie.«

Van Oy sah übernächtigt aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und dunkle Schatten umrahmten sie. Die gesunde braune Gesichtsfarbe war einem grauen Schleier gewichen.

Es bedurfte mehrerer Anläufe, um Trochowitz dazu zu bewegen, das Büro des Schulleiters zu verlassen. Erst nachdem van Oy ihn energisch zurechtgewiesen hatte, zog sich der Hausmeister zurück.

»Es gibt eine Reihe offener Fragen, zu denen Sie uns etwas sagen können. Ich darf Sie diesmal aber bitten, bei der Wahrheit zu bleiben«, sagte Christoph.

Der Schulleiter holte tief Luft. »Sie wollen mir doch nicht unterstellen, dass ich lüge«, entrüstete er sich.

»Sie haben uns mehr als einmal angelogen.«

»Wie verhält es sich mit Ihren Ansprüchen an die christliche Ethik, die Sie als Schild vor sich hertragen?«, fuhr Große Jäger dazwischen.

»Das sind unqualifizierte Anwürfe, die Sie vorbringen.« Wie bei ihrem früheren Besuch begann van Oy zu schwitzen. Feine Perlen erschienen auf seiner Stirn.

»Sie haben uns weiszumachen versucht, dass Sie nicht genau wissen, wo Ina Wiechers wohnte. Dabei ist es erwiesen, dass Sie die Frau in ihrer Wohnung in Garding besucht haben.«

»Das stimmt nicht«, protestierte der Schulleiter heftig.

»Sie sollten kooperativer werden. Ihr Leugnen kostet uns nur Zeit und zusätzlichen Aufwand. Wir nehmen Sie mit auf unsere Dienststelle und führen eine Gegenüberstellung durch. Es gibt Zeugen, die Sie einwandfrei identifiziert haben. Ich fürchte, Sie unterschätzen die Polizei.«

Van Oy blickte gehetzt zwischen Christoph und Große Jäger hin und her. Dann wischte er sich verstohlen mit einem Taschentuch die schweißnasse Stirn.

»Schön«, sagte er kaum wahrnehmbar. »Ich war einmal vor dem Haus von Ina Wiechers.«

»Nur einmal?«

»Es kann auch zwei- oder dreimal gewesen sein.«

»Was wollten Sie da?«

»Frau Wiechers war in unserem Kollegium. Sie hat manche Dinge sehr kritisch beurteilt. Das wollte ich mit ihr besprechen.«

»Sie fürchteten, die Frau würde der Schulaufsicht mitteilen, dass an dieser Schule offensichtlich nicht alles mit rechten Dingen zugeht und manchem Schüler – sagen wir – hilfreiche Unterstützung gewährt wird, wenn die Eltern durch Spenden die Qualität der schulischen Ausstattung verbessern.«

»So können Sie das nicht sagen. Kein Lehrer an dieser Schule ist bestechlich.«

»Wie nennen Sie es denn?«

»Die Kolleginnen und Kollegen haben keine Mühe gescheut, auch schwächeren Schülern hilfreich unter die Arme zu greifen.«

»Das wird durch die Schulaufsicht weiter untersucht werden«, sagte Christoph. »Uns interessiert, ob Ina Wiechers diese Günstlingswirtschaft so weit gestört hat, dass sie dafür sterben musste.«

»Um Himmels willen. Nein!« Es war fast ein Aufschrei.

»Darüber hinaus haben Sie versucht, die Kollegin auch privat zu bedrängen.«

Van Oy sah Christoph entsetzt an. »So etwas würde ich nie im Leben tun.«

»Ina Wiechers war ungebunden, lebenslustig und einem gelegentlichen Flirt durchaus nicht abgeneigt.«

»Davon habe ich bis eben nichts gewusst. Ich bin für die Schule verantwortlich. Das schließt das Kollegium mit ein, beschränkt sich aber auf die dienstlichen Belange. Was der Einzelne in seiner Freizeit macht, berührt mich nicht.«

»Sie sind mit der Gestaltung Ihrer eigenen Freizeit hinreichend ausgelastet.«

Erneut tupfte sich van Oy die Stirn. Er wartete auf eine Erklärung zu Christophs Vorwurf.

»Weiß Ihre Frau, dass Sie nachts unterwegs waren?«

»Ich?«

»Im Augenblick unterhalten wir uns mit Ihnen.«

»Wieso sollte ich die Nacht über nicht in meiner Wohnung gewesen sein?«

»Das fragen wir uns auch. Wo waren Sie in der Nacht zu Donnerstag?«

»Daheim. Allerdings allein. Mich hat niemand besucht. Sie können meine Frau fragen. Wir haben spätabends noch miteinander telefoniert.«

»Das war kurz vor elf Uhr.«

»Kann sein. Vielleicht auch später.«

»Vom Festnetz?«

»Ja.«

»Das ist nicht möglich, weil Sie kurz darauf Ihre Wohnung verlassen haben. Sie waren volle vier Stunden außer Haus.«

»Das stimmt nicht«, protestierte der Schulleiter und wurde dabei leichenblass.

»Mensch, welches Fach unterrichten Sie eigentlich? Allgemeine Lebenskunde mit dem Spezialgebiet: ›Wie lüge ich am effektivsten‹?« Große Jäger hatte seine Stimme erhoben, sodass seine Frage dröhnend auf van Oy niederprasselte. Der zuckte wie unter einem Hieb zusammen.

»Das ist alles so schlimm. Die vielen unerklärlichen Ereignisse … Zuerst der Mord an Frau Wiechers. Dann der Überfall auf Rebecca zu Rantzau. Ich habe genug Baustellen, die mich belasten.«

»Das ist aber keine Entschuldigung dafür, uns permanent anzulügen«, warf ihm Christoph vor. »Erklären Sie mir bitte, weshalb Sie uns die Unwahrheit gesagt haben, als wir nach der Adresse von Ina Wiechers fragten.«

Der Schulleiter griff zu einer Wasserflasche, die neben dem Schreibtisch stand, füllte sich ein Glas zu einem Drittel voll und trank. Dabei zitterte seine Hand so heftig, dass ein Teil der Flüssigkeit aus dem Mund hinaus- und am Kinn hinablief. Er wischte es mit dem Taschentuch, das er schon eine ganze Weile zerknüllt in der anderen Hand hielt, ab.

»Ich war so erschrocken über die Ermordung, dass ich spontan versucht habe, meinen Besuch in Garding zu verschweigen.«

»Weil Sie befürchteten, wir würden dann intensiver nachhaken?«

Van Oy nickte schwach.

»Gibt es einen triftigen Grund, weshalb wir das nicht wissen sollten?«

»Nun ja … Also!« Er schluckte heftig. »Eigentlich nicht.«

»Sie wissen, dass wir dringend Handy und Notebook des Mordopfers suchen. Das Handy haben wir inzwischen gefunden.«

Der Schulleiter sah Christoph mit weit aufgerissenen Augen an.

»Das erleben wir oft, dass der Laie staunt, was die Polizei alles herausbekommt«, lästerte Große Jäger zwischendurch. »Was meinen Sie, warum die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten so hoch ist?« Er klopfte sich gegen die eigene Brust. »Bei uns in Husum liegt sie bei über einhundert Prozent.«

Van Oy war so verstört, dass er den Widerspruch in dieser Aussage gar nicht bemerkte.

»Die beiden Sachen hat ein Schüler gefunden.«

»Nennen Sie uns seinen Namen.«

»Patrick Wittenbrink aus St. Peter.«

Christoph und Große Jäger wechselten einen raschen Blick. »Wissen Sie, dass Patrick mit einer Alkoholvergiftung im Tönninger Krankenhaus liegt?«

Der Schulleiter nickte zur Bestätigung.

»Ich denke einmal laut«, warf Große Jäger ein. »Am Komasaufen an der Seebrücke waren aus Ihrer Schule auch Nico von der Hardt und Jan Harms beteiligt. Kann es sein, dass Nico einen ausgegeben hat auf das Handy?«

»Ich weiß es nicht«, jammerte van Oy.

»Wo hat Patrick die beiden Dinge gefunden?«

»Nach eigener Aussage im Gestrüpp. Auf halbem Weg zu den Kanus.«

»Warum haben Sie uns das nicht gemeldet? Sie haben dadurch die Ermittlungsarbeiten erheblich behindert.«

»Als das Telefon weg war – da habe ich mich fürchterlich erschrocken. Dabei kam es mir gar nicht auf das Handy an.«

»Wir wissen Bescheid. Viel wichtiger war das Notebook.«

Der Schulleiter nickte zustimmend. »Richtig.«

»Auf dem befindet sich belastendes Material. Ina Wiechers hat ihre Beobachtungen notiert und zu einem Bericht zusammengefasst, den sie an die Schulaufsicht weiterleiten wollte.«

Van Oy senkte den Kopf. Er musste durch keine Geste bestätigen, dass dieser Verdacht richtig war.

»Wo ist das Notebook?«

»Bei mir zu Hause.«

»Mit dem Bericht?«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Den habe ich gelöscht.«

Große Jäger lachte auf. »So was. Da hätten Sie den jüngsten Ihrer Schüler fragen können. Das lässt sich ganz einfach rekonstruieren. Wie kommen Sie bloß auf die Idee, dass wir das nicht herausfinden? Dann fahren wir jetzt zu Ihrer Wohnung und holen das Gerät.«

»Das geht doch nicht. Meine Frau ist zu Hause.«

»Na und? Glauben Sie im Ernst, dass sich alles unter den Teppich kehren lässt, was Sie verzapft haben?«, sagte Große Jäger, als würde er zu einem ungehörigen Schüler sprechen.

Van Oy tat einen tiefen Seufzer. Er öffnete die Schublade seines Schreibtisches, kramte darin herum und zog drei bedruckte Blätter hervor, die er Christoph übergab. »Hier. Das ist der Bericht von Ina Wiechers.«

Belustigt tippte sich Große Jäger an die Stirn. »So etwas Blödes habe ich selten erlebt. Da druckt der Mensch das aus, bevor er es auf dem Computer löscht. Nun aber zur letzten Frage. Und da wollen wir endlich die Wahrheit hören. Wo sind Sie nachts gewesen?«

»Ich war wirklich nicht weg«, jammerte der Schulleiter und blieb trotz weiterer Nachfragen bei dieser Behauptung.

Christoph hatte es dem Oberkommissar überlassen, van Oy in die Zange zu nehmen, während er – scheinbar geistesabwesend – aus dem Fenster auf den Pausenhof und den Zugang zum Schulgelände blickte.

Als sie sich vom Direktor des Eidergymnasiums verabschiedeten, hatte dieser immer noch nicht eingestanden, die Wohnung in der Nacht, als der junge Libanese auf der Eiderbrücke sterben musste, verlassen zu haben. Christoph trug Ina Wiechers’ Bericht.

»Warum hast du so hingebungsvoll aus dem Fenster gestarrt?«, fragte Große Jäger, als sie zum Auto gingen.

»Mir ist aufgefallen, dass man von van Oys Büro aus den Schulhof und den Eingang zum Schulgelände überblicken kann. Im Unterschied zu Hauffes Klassenraum. Da sieht man nur die Treene und die feuchte Marsch. Was ist, wenn Fouad al-Shara um die Schule geschlichen ist, um sich an Rebecca zu Rantzau heranzumachen? Ich kann mir vorstellen, dass er bei den einheimischen Mädchen auf Ablehnung gestoßen ist. Für die nötige Distanz haben zudem Leute wie Nico von der Hardt gesorgt. Wir haben das selbst miterlebt. Vielleicht hat Fouad geglaubt, bei einem asiatischen Mädchen – er kannte ja nicht die Zusammenhänge – eher Erfolg zu haben. Und nachdem er auch da einen Korb erhalten hatte, rächte er sich, indem er Rebecca überfiel und ihre Hand verstümmelte.«

»An diesem Gedanken könnte etwas dran sein«, brummte Große Jäger zustimmend.

»Und das hat unser Täter mitbekommen und seinerseits Fouad al-Shara durch Mord bestraft. Es war ja eine besonders grauenhafte Methode, mit der der Libanese getötet wurde.«

»Und du hast schon einen Verdacht? Warum hättest du sonst die Überlegungen angestellt, von welchem Platz aus man al-Shara hätte entdecken können?«

»Kannst du dir vorstellen, was Rebeccas Vater unternommen hätte, wenn er herausgefunden hätte, dass das Leben seiner Tochter quasi vor den Augen der Lehrer des Eidergymnasiums zerstört worden ist? Du hast selbst erlebt, wie sich der Herr Professor in unserem Büro aufgeführt hat.«

»Da ist es denkbar, dass van Oy in seinen Bestrebungen, noch etwas für die Schule zur retten, ausgerastet ist. Schließlich hat er für die Mordnacht kein Alibi. Hm! Warum haben wir ihn nicht verhaftet?«

»Weil es im Augenblick nur eine Theorie ist, wir es aber nicht beweisen können. Und ein Motiv, Ina Wiechers zu töten, hat er auch. Wir haben noch keinen Nachweis dafür, dass …«

»… er der Frau an die Wäsche wollte«, unterbrach Große Jäger.

»Du und deine direkte Ausdrucksweise. Also – das haben wir noch nicht beweisen können. Immerhin hätte er auch einen weiteren Grund. Hier.« Christoph hielt den Bericht hoch, den der Schulleiter von Ina Wiechers’ Notebook abgezogen hatte. »Nun verrate mir zunächst einmal, wie sich die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten von über einhundert Prozent errechnet, mit der du dich vorhin gerühmt hast?«, fragte Christoph.

»Ist doch ganz einfach«, sagte Große Jäger lachend. »Es kommt schon mal vor, dass wir einen Falschen verhaften, bevor wir den Richtigen erwischen. Das ergibt rechnerisch eine Quote von über einhundert.«

»Übrigens scheint Nico von der Hardt endgültig vom Mordverdacht entlastet zu sein. Fouad al-Shara wurde auf die Schienen gebunden, als Nico volltrunken war. Und den Mord an Ina Wiechers wird er auch kaum begangen haben. Es macht keinen Sinn, dass er Handy und Notebook zunächst wegwirft, das Mobiltelefon aber später aus dem Sekretariat entwendet, um es recht tollpatschig in Heide an den Schüler zu verkaufen.«

Große Jäger stimmte Christoph zu.

Sie hatten das Auto erreicht und setzten sich hinein. Neugierig beugte sich der Oberkommissar zu Christoph hinüber und las mit.

»Erfahrungsbericht über meinen Einsatz am Eidergymnasium Friedrichstadt

Vor drei Jahren wurde ich von Bad Oldesloe an diese Schule versetzt. Ich bin Klassenlehrerin der 7b und unterrichte als Fachlehrerin Mathematik und Französisch.

Im Unterschied zu den Schulen, an denen ich bisher tätig war, habe ich den Eindruck, dass das Kollegium am Eidergymnasium nahezu kollektiv resigniert hat. Dem Einzelnen ist nicht abzusprechen, dass er seine Arbeit verrichtet, aber mir scheint, als würde das Engagement über die Vermittlung der notdürftigsten Grundlagen des Lehrplans nicht hinausgehen.

Die Ursache dafür vermute ich in der inhomogenen Zusammensetzung der Schüler. Im Unterschied zu Schulen in sozialen Brennpunkten fand ich an dieser Lehrstätte überdurchschnittlich viele Kinder aus wirtschaftlich gut gestellten Familien vor.

Es scheint sich seit geraumer Zeit eingebürgert zu haben, dass leistungsschwächere Schüler, die an anderen Gymnasien das Klassenziel nicht erreichen würden oder denen die Reife nicht attestiert werden kann, mit ausgesprochenem Wohlwollen durchgeschleppt werden. Zwar habe ich keine Bestätigung dafür, dass einzelnen Kollegen oder gar der Schulleitung persönliche Vorteile (Bestechung) zuteilgeworden sind, aber viele Eltern unterstützen über einen Förderverein die Infrastruktur des Hauses in außergewöhnlich großzügiger Weise. Dadurch erhalten auch einige andere Eltern Anreize, ihre Kinder am Eidergymnasium anzumelden. Insgesamt genießt die Schule in der Region aber keinen guten Ruf. Das haben Sie, sehr geehrter Herr Dr. Wöhrmann …«

»Wer ist das?«, fragte Große Jäger.

»Ich glaube, ich habe den Namen schon in der Zeitung gelesen. Es müsste der Schulrat sein.« Dann lasen sie weiter.

»Das haben Sie, Herr Dr. Wöhrmann, mir bei unserem letzten Gespräch auch vertraulich angedeutet. Es ist allgemein bekannt, dass der Fortbestand des Eidergymnasiums aufgrund zu geringer Anmeldezahlen zur Disposition steht. Deshalb unternimmt Studiendirektor van Oy alles, um die Eltern der angehenden Fünftklässler von den Vorzügen dieser Schule zu überzeugen. Ich habe den Eindruck, dass er sogar Teile der Mittel aus dem Topf des Fördervereins an ›kooperationswillige Grundschulen‹ verteilt. Darunter versteht er, dass die Lehrerschaft dieser Schulen auf die Eltern einwirkt, ihre Kinder zum Eidergymnasium und nicht nach Husum zu schicken, da sonst unweigerlich die Schließung der relativ kleinen Schule droht. Hiergegen stemmen sich die Kolleginnen und Kollegen mit vereinten Kräften und sehen in neuen Lehrern Eindringlinge in ihre Welt. Leider ist es mir in den drei Jahren nicht gelungen, Kontakt zu dieser eingeschworenen Clique – so kann man fast sagen – zu gewinnen. Man schirmt sich ab und bemüht sich mit Mitteln, die ich nahezu schon als Mobbing bezeichnen möchte, Außenstehenden keinen Zugang zum inneren Zirkel zu gewähren. Das Ganze wird im Wesentlichen durch den Schulleiter getragen, der am meisten um seine Position fürchtet. Für mich selbst sehe ich an dieser Schule keine Perspektiven und bitte um Versetzung. Gern bin ich bereit, Ihnen weitere, auch pikante, Details in einem persönlichen Gespräch vorzutragen, die Ihnen mit Sicherheit als Entscheidungshilfe für die Überlegungen, das Eidergymnasium nicht fortbestehen zu lassen, von Nutzen sein könnten.«

Die beiden Beamten sahen sich an.

»Das ist starker Tobak«, sagte Große Jäger. »Wer das liest, kann nachvollziehen, dass van Oy die Weitergabe dieses Textes verhindern wollte. Der Mann verliert nicht nur seinen Job an seinem Wohnort, sondern läuft auch noch Gefahr, dass sein Verhalten von der Schulaufsicht näher beleuchtet wird. Möglicherweise ergeben sich daraus Konsequenzen für die Dienstaufsicht, wenn man ihm Begünstigung im Amt nachweisen kann.«

»Du wirst Leute wie Isabelle von der Hardt oder Wilken Harms nicht dazu bewegen können, als Zeugen gegen die Lehrerschaft auszusagen. Schließlich haben die vom ›System van Oy‹ profitiert.«

»Dafür aber auch bezahlt.«

Christoph schmunzelte. »Das sind für die Leute doch nur Peanuts. Die glauben, sich ein Stück Papier wie das Reifezeugnis für ihren Nachwuchs mit Geld kaufen zu können. Du hast doch Nicos Mutter selbst sagen hören, dass ihr Sohn unbedingt den gymnasialen Schulabschluss haben soll. Und wenn der nicht durch Intelligenz oder ein positives Lernverhalten des Kindes zu erreichen ist, dann besorgt man sich ihn eben anders. Nach deren Auffassung haben beide Seiten davon profitiert, denn die Mehrheit der Lehrer hat sich den stressigen Anforderungen, die an anderen Schulen an sie gestellt würden, entzogen. Und nun droht das alles zu platzen, weil eine Zugereiste wie Ina Wiechers nicht mitmachen wollte.«

»Und dafür musste sie sterben?«, überlegte Große Jäger laut. »Und der Übergriff von Fouad al-Shara auf Rebecca stört auch die heile Welt, die man sich hier geschaffen hat.«

»Denkbar«, murmelte Christoph. »Aber noch fehlen uns Beweise. Dass wir uns eine Theorie zurechtgelegt haben, dürfte keinen Richter überzeugen. Wir müssen van Oy dazu bewegen, dass er seine nächtliche Abwesenheit eingesteht.«

»Wir haben die Aussage der Nachbarin.«

»Ob die bei ihrer Behauptung bleibt, wenn sie von einem Rechtsanwalt in die Mangel genommen wird, ist fraglich. Denk doch an die merkwürdige Wandlung, die sich plötzlich vollzogen hat, als sie mit uns sprach.«

»Wir könnten van Oy in die Mangel nehmen. Er wäre nicht der Erste, dem wir ein paar dunkle Geheimnisse entlocken können. Schließlich wissen wir von ihm, dass er fortwährend lügt und nur unter Druck tröpfchenweise mit der Wahrheit herausrückt.«

»Es passt vieles zusammen. Aber an mir nagt ein letzter Zweifel. Ich möchte lieber noch einmal sehen, ob wir nicht auch noch Füllmaterial für die Fugen in unserem Puzzle finden.«

»Du kannst deine Herkunft vom Schreibtisch nicht verhehlen«, spottete Große Jäger, zog die Nase hoch, runzelte die Stirn und schob hinterher: »Du bist und bleibst eben ein Kieler.« Dann lachte er herzhaft, als sich Mommsen am Telefon meldete und sagte: »Ich bin jetzt in Kiel.«

»Noch so einer.«

»Das verstehe ich nicht. Ich fürchte, das musst du mir erklären«, bat Mommsen.

»Ach Quatsch. Kinder müssen nicht alles wissen. Was hast du für Neuigkeiten?«

»Ich war zunächst beim LKA. Dort hat man mir gesagt, dass das K1 aus Itzehoe die Identität des Opfers von der Eiderbrücke festgestellt hat. Es ist der libanesische Jugendliche.«

»Das wissen wir auch«, brummte Große Jäger. »Wie sind die Itzehoer darauf gekommen?«

»Keine Ahnung. Man wusste in Kiel nur, dass das Opfer einwandfrei identifiziert werden konnte. Und dann war ich mit Hauptkommissar Vollmers in der Uniklinik. Wir konnten kurz mit Rebecca sprechen, allerdings nur wenige Minuten. Mehr hat uns der Arzt nicht erlaubt. Das Mädchen sagt, sie wäre auf dem Flur der Schule von hinten überfallen worden. Der Täter hat ihr etwas über den Kopf gestülpt und sie dann in einen Raum gezerrt. Dort hat er auf ihre Hand eingeschlagen. Sie kann nicht sagen, womit.«

»Hat sie etwas erkennen können?«

»Nein. Leider nicht. Das Einzige, woran sie sich noch vage zu erinnern glaubt, ist, dass der Täter Jeans getragen hat.«

»Diese vermaledeiten Jeans verfolgen uns. Angeblich hat Nico von der Hardt eine solche Hose in den Müll geworfen. Werner Schöller versucht im Augenblick, den Müllwagen ausfindig zu machen. Verrate mir aber, wie ihr an Rebeccas wildem Vater vorbeigekommen seid.«

»Der Arzt meinte, Professor Ehrenberg zu Rantzau hätte seine Zustimmung erteilt, dass seine Tochter in Anwesenheit eines Arztes mit der Polizei sprechen dürfte. Er war davon ausgegangen, dass wir dort vorstellig würden.«

»Dann sieh zu, dass du schnell wieder nach Husum kommst, sonst ist kein Stück Kuchen mehr für dich übrig vom Abschied deines Chefs«, lästerte Große Jäger.

Er hatte das Gespräch gerade beendet, als sich Frau Fehling meldete. »Mit Ihnen habe ich noch ein ernsthaftes Wort zu wechseln«, schalt sie den Oberkommissar. »Aber jetzt benötige ich dringend Herrn Johannes.«

»Sie möchten bitte sofort nach Husum kommen«, bat sie Christoph, als der das Telefonat übernommen hatte.

»Das ist im Augenblick ungünstig. Wir sind in den Ermittlungen.«

»Es sei Ihnen versichert, dass ich Sie nicht angerufen hätte, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

»Schön. Wir kommen«, gab Christoph nach.

»Nur Sie. Vielleicht kann Herr Große Jäger inzwischen allein vor Ort tätig werden.«

Der Oberkommissar atmete tief durch, nachdem Christoph seine Rückkehr nach Husum zugesagt hatte. »Wir wollen ohnehin zurück ins Büro.«

»Ich möchte hier noch etwas erledigen. Da gibt es einen weiteren offenen Punkt, den ich geklärt wissen möchte«, widersprach Christoph.

»Schön. Dann setzt du mich am Marktplatz ab. Dort ist das Café Hinrichs. Das ist bekannt für seine Torten. Ich gönne mir eine kleine Pause.« Versonnen strich er sich über seinen Schmerbauch.

Kurz darauf war Christoph auf dem Weg nach Husum.

Die Fahrt hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als er gehofft hatte. Auf der Bundesstraße herrschte lebhafter Verkehr. Da pendelten nicht nur die Arbeitnehmer, die traditionell das frühe Arbeitsende am Freitag zur Heimfahrt nutzten, an den auswärtigen Kennzeichen waren auch die zahlreichen Besucher zu erkennen, die das Wochenende an der Küste oder auf einer der Inseln verbringen wollten. Und vielen von ihnen begegnete man am Sonnabend beim Bummel durch Husum wieder.

Christoph parkte hinter dem Haus der Polizeidirektion. Unterwegs hatte ihn ein weiterer Anruf Frau Fehlings erreicht. Die Sekretärin des Chefs hatte ihn gebeten, direkt in Grothes Büro zu kommen. So erklomm er mit großen Schritten die Stufen zur zweiten Etage. Die wie immer elegant gekleidete Frau empfing ihn voller Ungeduld.

»Sie können gleich durchgehen.«

Aus dem Büro des Polizeidirektors klang lautes Stimmengewirr. Christoph klopfte an, aber niemand reagierte. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt. Durch die schmale Öffnung drang dichter blauer Rauch.

»Ah, mein Junge, da sind Sie ja«, hörte er aus dem Dunst die Stimme Grothes. »Kommen Sie herein.«

Christoph konnte sich nicht erinnern, vom Chef jemals in dieser Weise begrüßt worden zu sein. Er sah sich um. Der Landespolizeidirektor hatte vor dem Schreibtisch gesessen, stand jetzt auf und gab Christoph die Hand. Grothe zeigte auf die einzige Frau in der Runde. »Meine Gattin«, stellte er vor. Aus dem Hintergrund trat Dr. Starke hervor. Der Kriminaldirektor machte kein glückliches Gesicht. Er hielt sich mit der linken Hand das Sakko zu, während er Christoph die Hand reichte. »Guten Tag, Herr Johannes«, kam es dünn über seine Lippen. Der Leiter der Bezirkskriminalinspektion hatte Mühe, seinen Hustenreiz zu unterdrücken, während der oberste Polizist des Landes und die Frau des Chefs den Eindruck erweckten, als wären sie Grothes Überfälle mit der qualmenden Zigarre gewohnt.

Das wird ab morgen Vergangenheit sein, dachte Christoph und bemühte sich, den Anflug von Wehmut nicht zu zeigen.

»Wir haben gehört, dass Sie und Ihre Mitstreiter durch wichtige Ermittlungen verhindert waren, vorhin unsere kleine Runde zu komplettieren«, sagte der Polizeidirektor.

Dr. Starke hüstelte. »Welchen Fall meinen Sie?«, fragte er.

Doch Grothe tat, als hätte er die Frage des Flensburgers überhört. Christoph registrierte, wie ein Lächeln über das Antlitz des Landespolizeidirektors huschte.

»Mir liegt am Herzen, Ihnen noch einmal persönlich für Ihren Einsatz bei uns in Husum zu danken. Ich gebe zu, skeptisch gewesen zu sein, als Sie uns von Kiel angekündigt wurden. Sie haben nicht nur mich und die Mitarbeiter unserer Dienststelle durch Ihre Leistungen überzeugt, sondern Ihre hervorragende Arbeit ist bis zur obersten Führung vorgedrungen. Dafür möchten Ihnen …« Grothe unterbrach seine Ausführungen, weil er mittlerweile selbst lachen musste, nachdem er eine Weile im Wechsel das heitere Mienenspiel des Landespolizeidirektors und den finsteren Gesichtsausdruck Dr. Starkes verfolgt hatte. »Also, Sie wissen, mein Junge, ich bin Dithmarscher. Wir sind bekannt dafür, keine langen Reden zu halten. Der Ministerpräsident, mein alter Freund und Weggefährte«, Grothe zeigte mit der Spitze seiner Zigarre auf den Landespolizeidirektor, »und noch ein paar andere höhere Besoldungsklassen sind der Überzeugung, Sie sollten sich künftig mit einer anderen Amtsbezeichnung schmücken.« Grothe reichte ihm die Hand und drückte sie. Die anderen schlossen sich an, wobei Dr. Starke es vermied, Christoph in die Augen zu sehen.

»Die Urkunde habe ich auch irgendwo«, erklärte Grothe und begann, in seiner Schreibtischschublade zu kramen.

Es war die typische Art des Chefs, etwas mitzuteilen. Wobei er heute in der Tat erstaunlich beredsam schien. In Christophs Laufbahn des gehobenen Dienstes hatte er nun die höchste Position erreicht, die zu vergeben war. Er war jetzt Erster Kriminalhauptkommissar. Das war zweifellos das Abschiedsgeschenk des Chefs an ihn, dachte Christoph, und in Zeitraffer liefen noch einmal die Bilder seiner Zeit mit Grothe vorüber, die erste Begegnung, die Unterstützung bei schwierigen Missionen, Grothes unnachahmliche Art der Menschenführung … Das Leben war ein ständiger Wandlungsprozess und immer im Fluss, aber der Abschied vom Chef ging Christoph doch näher, als er sich das früher hätte vorstellen können.

»Vielen Dank, Chef«, sagte er. Bei der Anrede, die alle Husumer Mitarbeiter wie selbstverständlich verwandten, zuckte es lebhaft um Dr. Starkes Mundwinkel. »Auch ich möchte Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen für …«

Mit einer Handbewegung unterbrach Grothe ihn. »Keine weiteren Reden heute, mein Junge. Mein Freund und Weggefährte«, erneut zeigte die Zigarrenspitze auf den Landespolizeidirektor, »und seinesgleichen haben schon genug erzählt. Und ab jetzt muss ich auch noch meine Grete täglich ertragen. Nun bildet euch – hier in Husum – bloß nicht ein, dass ich euch vermissen werde. Das Einzige, was mir fehlt, ist die Ruhe, die ich in diesem Zimmer hier während der Dienstzeit genießen konnte. Und nun … raus an die Front. Sie werden schließlich nicht für Plauderstündchen vom Innenminister bezahlt, schon gar nicht, wo Ihre Arbeit das Land jetzt noch ein bisschen mehr kosten wird.«

Grothe wandte sich ab, wie es immer seine Art gewesen war. Es war still im Zimmer. Niemand sagte einen Ton. Und der Mann mit dem roten Kopf, der immer ein wenig an einen angriffslustigen Dithmarscher Stier erinnerte, versuchte vergeblich, seine Rührung zu verbergen.

Christoph deutete eine leichte Verbeugung an und verließ auf leisen Sohlen das Büro Grothes. Der Abschied war ein Spiegel der Art und Weise, wie sie beide in den Jahren der Zusammenarbeit miteinander umgegangen waren. Vielleicht war es klug, überlegte Christoph, wenn man den Husumern den Namen von Grothes Nachfolger noch vorenthielt, denn mit Sicherheit vermochte keiner die menschliche Lücke zu schließen, die durch die Pensionierung des Chefs entstanden war.

Langsam ging Christoph die Treppe zur ersten Etage hinunter. Dort befanden sich die Räume der Kriminalpolizeistelle. Er war irritiert. Die Beförderung hatte ihn völlig überrascht. Der Chef hatte im Vorhinein keine Andeutung verlauten lassen. So war Christoph immer noch ein wenig abwesend, als Frau Fehling ihm gratuliert hatte.

Er betrat Werner Schöllers Büro. Der Kriminalhauptmeister sah auf. »Das ist eine dankbare Aufgabe für den Freitagnachmittag«, stöhnte Schöller. »Hast du dich schon einmal mit dem Innenleben der Abfallwirtschaft beschäftigt? Vielleicht ist das gar nicht so schwierig, wenn es nicht der Freitagnachmittag wäre. In Deutschland endet an diesem Werktag das öffentliche Leben zur Mittagsstunde.«

Schöller trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Ist auch schon wieder kalt.« Dann drehte er sich zu Christoph um, der auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz genommen hatte.

»Müll ist eine einfache Sache. Ich stelle die Tonnen am Tage der Abfuhr vor den Gartenzaun. Meine Frau schiebt sie nach der Leerung wieder zurück. Bleibt mir nur noch, mich über die hohen Gebühren zu ärgern.« Er griff unter einen Schreibblock, der vor ihm lag, hob ihn ein paar Zentimeter in die Höhe und ließ ihn wieder fallen. »Manchmal liest man ja etwas über die Müllabfuhr in Nordfriesland. Aber wenn ich ehrlich bin … Ich blättere da immer drüber weg.«

»Werner, sei mir nicht böse, aber ich habe es eilig. Wilderich wartet in Friedrichstadt auf mich. Wir haben noch einen dringenden Termin.«

»Da hättest du zur Abfallwirtschaft gehen müssen. Die sind alle schon im Wochenende.« Schöller lehnte sich zurück, streckte die Arme in die Höhe und verschränkte die Hände ineinander über dem Kopf. »Der Dreck wird von einem Privatunternehmer eingesammelt.«

»Den kenne ich. Die Firma ist in ganz Nordfriesland tätig.«

»Dann wird das Zeug nach Ahrenshöft gekarrt. Dort ist der zentrale Anlieferungspunkt für unseren Kreis, zumindest für das Festland. Die Inseln haben Sonderregeln.«

»Was geschieht dann?«, fragte Christoph ungeduldig.

»Du musst zwischen Entsorgung und Verwertung unterscheiden«, erklärte Schöller. »Verwertung bedeutet, dass …«

»Ich kann es mir vorstellen. Werner, bring es bitte auf den Punkt. Wo finden wir den Müll, der heute Morgen aus St. Peter-Ording abgeholt wurde?«

Schöller wirkte fast ein wenig beleidigt. »Was glaubst du, was ich hier seit Stunden herauszufinden suche? Was ich dir eben erzählt habe, gilt nicht für die Restmülltonne. Die Müllwagen kippen die Abfälle – zumindest aus der Region Eiderstedt – auf einen großen Haufen in Katharinenheerd. Und weil Freitag ist, bleibt der Dreck liegen, bis er irgendwann unsortiert zur Verbrennung nach Neumünster geschafft wird. Und wie ich dir zu erklären versuchte, habe ich keinen mehr erreichen können, der sich kompetent fühlt, mir zu sagen, wo die Fuhre aus St. Peter gerade ist. Vorne? Links? Rechts? Oben? Oder besser gesagt: sein könnte. Denn festlegen will sich niemand.«

»Dann lass dir die Namen und Anschriften der Müllleute geben. Vielleicht ist jemandem eine Jeans aufgefallen.«

Schöller sah Christoph mit einem nahezu mitleidigen Lächeln an. »Mal ehrlich. Wenn du diesen für uns alle wichtigen Job der Müllabfuhr erledigen würdest – könntest du dich an eine alte Jeans erinnern? Ich glaube nicht, dass die Männer in jede einzelne Tonne sehen, um festzustellen, was die Nachbarn entsorgen.«

Christoph atmete tief durch. »Wahrscheinlich hast du recht, Werner. Trotzdem dürfen wir nichts unversucht lassen. Vor allem müssen wir unsere ganzen Bemühungen dokumentieren.«

»Was glaubst du, wie lange ich schon bei diesem Verein dabei bin?«

»Sorry, Werner. Falls du weiterkommen solltest, kannst du mich übers Handy erreichen. Auf jeden Fall sollten wir verhindern, dass der Müll ohne unsere Zustimmung abgeholt wird. Ich möchte nicht, dass die Jeans durch Unaufmerksamkeit unwiderruflich entsorgt wird. Sie könnte ein wichtiges Indiz sein.«

Sie wurden durch ein hartnäckiges Klingeln der Telefonanlage unterbrochen. Schöller sah auf das Display. »Das ist für dich. St. Peter.«

»Dettinger«, meldete sich der Leiter der Polizeistation des Nordseebades. »Wir hatten eben einen Einsatz am Immenseeweg.«

»Da wohnt doch die Familie von der Hardt?«

»Deshalb rufe ich an. Frau von der Hardt hat uns alarmiert.«

»Wieso ist die in St. Peter?«

»Das kann ich nicht sagen. Sie behauptet, heute aus Hamburg zurückgekehrt zu sein. Vor der Tür stand ein dunkelblauer BMW, ich nehme an …«

»Den kenne ich«, unterbrach Christoph. »Ein Dreier-Cabrio.«

»Nein. Ein M6 Coupé. Obwohl ich als Polizist mir sicher nie so ein Auto leisten werde, kann ich sie unterscheiden. Die Frau war zunächst sehr aufgebracht. Es dauerte eine Weile, bis sie zusammenhängend berichten konnte, was geschehen war. Nach ihrer Aussage war sie von einer Geschäftsreise zurückgekehrt. Während ihrer Abwesenheit haben sich im Hause ihr Sohn und ein Angestellter aufgehalten.«

»Angestellter ist gut«, schob Christoph dazwischen. »Das ist ihr Lover.«

»War ihr Liebhaber«, korrigierte Stefan Dettinger. »Denn der Mann ist flüchtig. Sein Name ist …«

»Wir kennen ihn. Simon Feichtshofer.«

»Stimmt. Feichtshofer ist mit einem BMW-Cabrio …« Dettinger unterbrach seine Ausführungen für einen Moment. »Könnte das der Wagen sein, den du gemeint hast? Ich habe auch das Kennzeichen.«

»Das brauchen wir jetzt nicht.«

»Mit diesem Fahrzeug ist Feichtshofer geflohen.«

»Warum? Was ist geschehen?«

»Nun mal langsam. Frau von der Hardt erzählte, dass die beiden Männer sie mit einer ganzen Reihe von unglaubwürdig klingenden Geschichten überfallen haben. Dabei hat ein Wort das andere gegeben. Der Sohn und der andere Mann haben sich gegenseitig der Lüge bezichtigt, bis Feichtshofer – nach Aussage der Frau – über Nico hergefallen ist und den jungen Mann brutal zusammengeschlagen hat.«

»Wie geht es ihm?«

»Er ist nach Tönning ins Krankenhaus gebracht worden. Mehr kann ich dazu im Augenblick nicht sagen. Ich habe gefragt, ob der Flüchtige den BMW gestohlen hat, aber Frau von der Hardt wollte dazu weder eine verbindliche Aussage machen noch Strafanzeige erstatten. Das gilt auch für den tätlichen Angriff auf ihren Sohn. Sie wollte das Ganze zuvor mit ihrem Anwalt besprechen.«

»Hat sie den Namen des Anwalts genannt? Ist in diesem Zusammenhang der Name Professor Ehrenberg zu Rantzau gefallen?«

»Sie sprach nur von ihrem Anwalt. Wie der heißt, hat sie nicht gesagt.«

»Hat sie sonst noch etwas verlauten lassen, einen Grund für den Übergriff auf ihren Sohn genannt?«

»Nachdem sich ihre erste Erregung gelegt hatte, war sie sehr verschlossen und wollte keine weiteren Aussagen machen, weder zum wahrscheinlichen Motiv Feichtshofers noch zur Auseinandersetzung nach ihrer Rückkehr. Ich habe leider nicht herausbekommen, aus welchem Grund sich die Männer geprügelt haben. Wobei – hm – das offenbar keine richtige Schlägerei, sondern eine ziemlich einseitige Angelegenheit war.«

»Ist Nico mit irgendeinem Gegenstand niedergeschlagen worden?«

»Nein. Ganz bestimmt nicht. Feichtshofer hat dazu nur seine Fäuste benutzt. Aber das hat offenbar ausgereicht. Der junge von der Hardt sah nicht gut aus – um das dezent zu umschreiben –, als ich eintraf. Was soll nun geschehen? Löst ihr eine Fahndung nach Feichtshofer aus?«

»Wir werden ihn sicher zur Fahndung ausschreiben«, sagte Christoph zum Abschluss. »Merkwürdig ist allerdings, dass die Mutter von sich aus nichts unternehmen will.«

»Als Frau von der Hardt sich beruhigt hatte, wirkte sie nach meiner Auffassung sehr unberührt. Viel zu cool für eine Mutter, deren Sohn gerade arg zugerichtet worden ist. Ich habe mich gewundert, dass sie Nico anfuhr, er solle sich zusammenreißen, als der junge Mann zwischendurch vor Schmerzen aufstöhnte. Mein lieber Mann – die möchte ich trotz ihres ganzen Geldes nicht als Mutter haben. Schön. Sobald ich Neues in Erfahrung bringen kann, melde ich mich wieder.«

Werner Schöller hatte dem Telefonat aufmerksam gelauscht. »Mir scheint, da geht es richtig rund. Was ist, wenn wir die Jeans finden und damit eine Beweislage schaffen, weil die Mikrofasern identisch sind mit denen aus Friedrichstadt und von der Eisenbahnbrücke?«

»Ich gehe davon aus, dass Nico von der Hardt für die beiden Morde nicht infrage kommt. Und um meine These zu beweisen, suchen wir die Hose.«

»Ich nehme an, der Junge hat noch mehr Jeans. Vielleicht hat er eine der anderen getragen.«

Christoph legte Schöller vertraulich die Hand auf die Schulter. »Es würde uns die Sache sicher vereinfachen, wenn wir alle Jeans aus dem Einzugsbereich einsammeln könnten, in dem wir den Mörder vermuten. Stell dir vor, wie man in Süddeutschland über uns spotten würde, wenn die Bildzeitung als Titelzeile schreibt: Husumer Polizei lässt die männlichen Bürger Nordfrieslands nackt herumlaufen.«

»Jetzt sprichst du schon wie Große Jäger«, stellte Werner Schöller fest. »Gut, ich werde mich weiter bemühen. Was soll geschehen, wenn wir den derzeitigen Lagerort des Mülls aus St. Peter kennen?«

»Wir werden sehen«, antwortete Christoph ausweichend und musste unwillkürlich noch einmal an den Chef denken, der in der darüberliegenden Etage seine letzten Stunden im Polizeidienst verbrachte. Bis gestern wäre er zu Grothe gegangen. Der Polizeidirektor hätte mit seinen Verbindungen eine Lösung gefunden, und wenn die Einsatzhundertschaft aus Eutin quer durch das Land angerückt wäre, um die Abfallberge zu durchstöbern. Und jetzt?, dachte Christoph. Wir wissen immer noch nicht, wer die Nachfolge Grothes antreten wird. Jedenfalls war es kein gutes Omen, dass Dr. Starke vorhin an Christophs Beförderungszeremoniell teilgenommen hatte.

Christoph ging in sein Büro und suchte im Computer nach dem BMW M6 Coupé, von dem Stefan Dettinger gesprochen hatte. Der Wagen war erst drei Monate alt und auf Isabelle von der Hardt zugelassen. Warum ließ die Frau Feichtshofer gewähren und ermöglichte ihm die Flucht mit ihrem Auto, dem Dreier-BMW? Es schien Christoph, als würde Nicos Mutter durch ihre Zurückhaltung etwas verbergen wollen.

Christoph fuhr zurück nach Friedrichstadt. Er wunderte sich, dass Große Jäger sich zwischendurch nicht voller Ungeduld gemeldet hatte.

Auf der Bundesstraße kam ihm eine nicht abreißende Kolonne von Autos entgegen, deren Insassen das schöne Septemberwochenende an der Küste genießen wollten. Auch hatten zahlreiche Touristen den Weg nach Friedrichstadt gefunden und schlenderten durch die malerische Altstadt des Idylls zwischen Eider und Treene.

Christoph fand einen Parkplatz im Zentrum des Ortes und erklomm die Stiege zum Obergeschoss des Cafés, von dem aus man einen Blick auf die Große Brücke, die Gracht und die Kleine Brücke hatte, an der sie die tote Ina Wiechers gefunden hatten. Zwischen den Kronen der mächtigen Bäume am Burggraben konnte man das Wohnhaus der Hauffes sehen.

Große Jäger saß an einem Fensterplatz und sah auf, als Christoph eintrat. »Da freue ich mich aber, dass du mich nicht völlig vergessen hast«, sagte er zur Begrüßung. »Ich weiß jetzt auch, weshalb du dich heute so in Schale geworfen hast.«

»Ich wollte dem Chef zum Abschied meine Referenz erweisen.«

Der Oberkommissar lachte laut auf, dass die Leute vom Nachbartisch neugierig herübersahen. »Wenn man mich zum General befördern würde, würde ich meine Hose auch vorher bügeln.« Er reichte Christoph seine Hand über den Tisch. »Herzlichen Glückwunsch. Du hast es wirklich verdient.« Große Jäger hüstelte, dann zwinkerte er vertraulich mit dem linken Auge. »Ich habe auch lange um deine Beförderung kämpfen müssen, aber Peter Harry wollte sich nicht überzeugen lassen. Als Nordfriese ist er der Überzeugung, dass Kieler nun einmal nicht in Spitzenpositionen gehören. Diese Meinung teile ich übrigens. Andererseits – es wäre unfair, dich persönlich für den genetischen Defekt deiner Herkunft verantwortlich zu machen.«

»Na ja«, sagte Christoph lachend, »ihr Einheimischen müsst zusammenhalten. Besonders du bist der Urtyp des Küstenbewohners. Das beginnt bei deinem landestypischen Namen und …« Christoph winkte ab. »Woher hast du diese Neuigkeit? Der Flurfunk scheint ja gut zu funktionieren.«

Der Oberkommissar spitzte die Lippen. »Nö, eigentlich nicht. Aber heute Abend treffen sich Harm, Karlchen, Anna und ich im Dragseth. Übrigens bist du auch eingeladen. Viele Grüße von den anderen und – du sollst deine Kreditkarte nicht vergessen. Dafür lade ich dich jetzt ein.«

Christoph genoss das Kännchen Kaffee, während Große Jäger ihn über den Rand seiner Tasse anblinzelte. »Was ist von dem Gerücht zu halten, dass wir einen neuen Kripochef nach Husum bekommen?«

»Ich habe auch nur diese vage Vermutung gehört. Wenn du auf Kriminalrat Lüders anspielst … Ich bin nicht der richtige Adressat deiner Frage. Ebenso wenig kann ich deine nächste Frage beantworten, die ich dir von der Nasenspitze ablese. Es ist kein Wort darüber gefallen, wer die Nachfolge des Chefs antritt.«

Als Große Jäger die Rechnung verlangte, registrierte Christoph, dass der Oberkommissar während der Wartezeit drei Kännchen Kaffee und zwei Stück Eierlikörtorte zu sich genommen hatte.

»Du stellst dich auch jeder Herausforderung«, lästerte Christoph.

Versonnen strich sich Große Jäger über den Schmerbauch. »Ich hätte ja noch einmal eine Observation in diesem Städtchen vornehmen können. Aber bei meinem ersten Anlauf hat das in keiner Weise dein Wohlgefallen gefunden. Welche Vorhaltungen würdest du mir machen, wenn ich die Zeit genutzt hätte, den Bürgermeister zu beobachten, und morgen wäre er tot? Hättest du dann wieder mich verdächtigt? Übrigens …« Der Oberkommissar zeigte auf Hauffes Haus, »da ist während der Zeit, die ich mich hier aufgehalten habe, keiner hineingegangen oder herausgekommen.«

»Willst du mir weismachen, dass du zwischendurch nicht eine einzige biologische Pause eingelegt hast?«

Große Jäger griente übers ganze Antlitz. »Natürlich war ich mal pinkeln.« Er hatte so laut gesprochen, dass ihm die Aufmerksamkeit zweier älterer Damen vom Nachbartisch zuteilwurde. Der Oberkommissar zeigte mit ausgestreckter Hand auf die Frauen. »Und die Deerns waren zwischendurch auch auf Klo. Nicht wahr, Mädels?«

Christoph war nicht überrascht, dass die anderen Gäste Große Jägers Gruß bei der Verabschiedung nicht erwiderten.

Vor der Tür empfing sie die würzig-frische Luft. Ein leichter Wind trug den unnachahmlichen Geschmack der Nordsee herüber. Es war die fehlende Industrie, das verhältnismäßig geringe Verkehrsaufkommen und die ständige Luftbewegung, die das Atmen in dieser Region leichter erscheinen ließ als in den großen Zentren des Landes.

Große Jäger wandte sich nach rechts.

»Halt!«, rief ihm Christoph hinterher.

»Wieso? Zur Prinzenstraße geht es hier entlang.«

»Das ist unwidersprochen.«

»Wollen wir nicht zu van Oy? Ich hätte großes Vergnügen, mir eine weitere Lügengeschichte aus seinem großen Repertoire anzuhören. Außerdem ist er uns noch eine Antwort schuldig: Wo war er in der Nacht, als Fouad al-Shara ermordet wurde?«

»Das ist unser Stichwort«, erwiderte Christoph ernst. »Wir haben noch eine traurige Pflicht zu erfüllen.« Er berichtete, dass die Identität des Toten auf der Eisenbahnbrücke einwandfrei festgestellt worden war. »Wir haben mit den Itzehoer Kollegen vereinbart, dass wir die Nachricht vom Tod des Sohnes überbringen.«

Statt einer Antwort kratzte sich Große Jäger nur die Bartstoppeln. »Wo steht dein Wagen?«, fragte er.

Christoph zeigte auf den Parkplatz. »Dort drüben, direkt neben dem Marktbrunnen.«

Während der kurzen Fahrt zum heruntergekommenen Haus am Stadtrand wechselten die beiden Beamten kein Wort. Als sie ihr Fahrzeug vor dem Gebäude parkten, unterbrach die muntere Schar der spielenden Kinder ihr Treiben und musterte die Neuankömmlinge mit neugierigen Augen.

Im Treppenhaus empfing sie die merkwürdige Geruchsmischung aus Muff und orientalischen Gewürzen, die Christoph schon bei früheren Besuchen aufgefallen war. Sie klopften an die Tür, die zur Wohnung al-Sharas führte. Es blieb still. Auch als Große Jäger sein Ohr gegen das Holz legte, war kein Laut zu vernehmen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau shoppen gegangen ist«, sagte der Oberkommissar. »So langsam bekomme ich ein schlechtes Gefühl. In diesem Fall sind zu viele Merkwürdigkeiten geschehen.«

»Vielleicht ist Fouads Mutter im Garten. Dort habe ich sie schon einmal beim Wäscheaufhängen angetroffen.«

Große Jäger widersprach nicht, obwohl die Skepsis aus seinem Gesicht nicht gewichen war.

Sie umrundeten das Haus. Die Kinder flüchteten vor den Polizisten wie ein Fischschwarm und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie die beiden sich ratlos im Garten umsahen. Ein kleiner Junge mit dunklen Haaren und pechschwarzen Augen zeigte sich besonders mutig, als Große Jäger ihm zuwinkte. Halb hinter der Hausecke verborgen, streckte ihm der Knirps die Zunge entgegen. Als der Oberkommissar mithilfe beider Hände dem Kind »eine lange Nase« zeigte, fing der Bursche an zu kichern und versuchte, die Geste zu imitieren.

Christoph hatte seinen Blick an der rückwärtigen Hausfront entlangschweifen lassen. Die Fenster, von denen er vermutete, dass sie zur Wohnung der al-Sharas gehörten, waren verschlossen. Zugezogene Vorhänge versperrten den Blick, obwohl man vom Garten aus nicht viel mehr hätte entdecken können.

»Ich würde gern wissen, was hinter diesen Fenstern ist«, sagte Große Jäger. Ihm war die Ungeduld deutlich anzumerken.

»Wir können dort nicht eindringen. Dafür gibt es keinen Grund.«

»Ich mache mir Sorgen um die Frau. Teilst du nicht meine Auffassung, dass Gefahr im Verzug ist?«

In diesem Moment bog der Mann um die Ecke, der ihnen schon früher in diesem Haus begegnet war. An jedem Hosenbein hing eines der Kinder, die vorhin vor den Polizisten geflüchtet waren. Der Rest der Schar trottete wie eine Entenfamilie in sicherer Entfernung hinter dem Hausbewohner hinterher.

»Was suchen Sie hier schon wieder?«, fragte der Mann. Seine Stimme klang zornig. »Warum bespitzelt uns die Polizei?«

»Wir möchten zu Frau al-Shara«, antwortete Christoph.

»Wenn sie nicht aufmacht, will sie nicht mit Ihnen reden. So einfach ist das.«

»Nun mal langsam, Ali Baba«, mischte sich Große Jäger ein. Und als der Mann einen drohenden Schritt in Richtung der Polizisten machte, trat ihm der Oberkommissar entschlossen entgegen. Sie standen sich jetzt dicht an dicht gegenüber.

»Wer beleidigt mich?«, sagte der Bärtige.

»Ich. Wilderich Große Jäger ben Salat. Und wenn ich einen Schnöf habe, bin ich auch ein Hatschi.«

Christoph schob den Oberkommissar zur Seite. »Mein Kollege hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Er entschuldigt sich dafür in aller Form. Wir möchten mit Frau al-Shara sprechen.«

»Geht es um Fouad? Warum soll seine Mutter helfen, ihren Sohn an die Polizei auszuliefern?«

»Es geht um Fouad. Wir möchten dem jungen Mann nichts anhaben. Es wäre aber wichtig, mit seiner Mutter zu sprechen.«

»Und Sie wollen Fouad wirklich nicht verhaften?«

»Sie glauben nicht, wie gern wir das machen würden«, sagte Große Jäger. »Ich bin mir sicher, dass auch seine Familie eine solche Lösung für besser halten würde.« Er streckte dem Mann versöhnlich die Hand hin. Der übersah sie jedoch.

»Kommen Sie«, sagte er zu Christoph und ignorierte die Anwesenheit des Oberkommissars. »Fouads Mutter ist in der Wohnung.«

Dann stapfte er voran. Vor dem Hauseingang sagte er etwas auf Arabisch zu den Kindern, die daraufhin folgsam vor der Tür zurückblieben.

Der Mann klopfte energisch gegen die Wohnungstür und rief etwas in seinem kehlig klingenden Arabisch. Kurz darauf öffnete sich die Tür millimeterweit, und das Gesicht von Fouads Mutter erschien im Spalt. Im diffusen Licht des dunklen Flures war es nur undeutlich zu erkennen. Dazu trug sicher auch das tief in die Stirn heruntergezogene Kopftuch bei.

Der Araber sprach leise auf die Frau ein. Es dauerte eine Weile, bis die Frau die Tür ein wenig weiter öffnete, ohne die Besucher jedoch in die Wohnung zu bitten.

»Was wollen Sie?«, fragte der Nachbar.

»Wir würden es Frau al-Shara gern selbst sagen«, erwiderte Christoph.

»Nein. Sie möchte nicht mit Ihnen reden. Außerdem versteht sie zu wenig Deutsch. Sagen Sie es mir, dann werde ich es übersetzen.«

»Das ist ein leidiges Problem«, klagte Große Jäger. »Da hoffen die Menschen auf ein Bleiberecht bei uns, können sich aber selbst in den einfachsten Dingen nicht mit ihrer Umwelt verständigen.«

»Was wissen Sie von uns?«, antwortete der Nachbar mit harter Stimme. »Diese Frau ist allein mit ihrem Sohn hierhergekommen, um Schutz zu suchen. Sie weiß nicht, wo ihr Mann und die anderen drei Söhne sind. Fouad ist das Einzige, was ihr geblieben ist. Und jetzt verfolgt ihn die Polizei.«

»Hören Sie, Herr …«.

Doch der Nachbar ging nicht auf Christophs Frage ein. Er verschwieg seinen Namen.

»Warum lässt man uns nicht in Frieden? Vor zwei Tagen war ein anderer Mann hier und wollte Fouads Mutter sprechen. Er sagte, er wolle ihr helfen.«

»Wer war der Mann?«

Der Araber hob die Schultern in die Höhe und drehte beide Handflächen nach oben. »Was weiß ich. Warum fragen Sie immer nach Namen?«

»Wie sah der Mann aus?«

»Er war schon älter. Vielleicht über fünfzig. Er hatte Haare, die über die Ohren gelegt waren.«

Die Beschreibung passte auf Maarten van Oy.

»Was wollte der Mann?«

»Wir haben ihn nicht angehört. Es klang so, als würde er Geld und andere Unterstützung bieten wollen.«

»Sie sprechen hervorragendes Deutsch. Darf ich fragen, wo Sie das gelernt haben?«

»An der Universität in Amman. Ich war Journalist. Aber das zählt nicht, wenn man auf der falschen Seite steht. Doch Sie wollten nicht mit mir reden, sondern mit Frau al-Shara.«

Fouads Mutter war dem ganzen Dialog stumm gefolgt. Ihre Augen huschten dabei zwischen den Männern vor ihrer Haustür hin und her.

Christoph räusperte sich, bevor er sich zur Frau umdrehte und sie direkt ansprach. »Frau al-Shara. Ich fürchte, wir müssen Ihnen eine schlimme Nachricht überbringen.«

Er war sich nicht sicher, ob die Frau den Inhalt seiner Worte verstanden hatte oder ob es das instinktive Gefühl einer Mutter war, als sie ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah und plötzlich laut zu schreien begann.

Die beiden Beamten standen hilflos vor der Tür, während Fouads Mutter die Oberarme hängen ließ und im Ellenbogengelenk die Unterarme und Hände rhythmisch fallen ließ und sich beim Hochheben mit den flachen Händen ins Gesicht schlug. Dabei stieß sie laute Wehklagen aus.

Instinktiv wollte Große Jäger einen Schritt auf die Frau zumachen. Es sah aus, als wollte er sie tröstend in den Arm nehmen. Doch er wurde durch den Nachbarn daran gehindert, der den Oberkommissar an den Schultern packte und forsch zurückriss.

»Du fasst die Frau nicht an«, zischte der Mann böse. »Niemand fasst eine Frau an. Hast du das gehört?«

Erschrocken wich Große Jäger zurück. Christoph sah ihm an, dass er arglos Beistand leisten wollte, ohne dabei die kulturellen Unterschiede zwischen sich und der klagenden Mutter bedacht zu haben.

»Hat Frau al-Shara verstanden, was ich gesagt habe?«, fragte Christoph den Nachbarn.

»Mütter benötigen keine Dolmetscher. Aber vielleicht sagen Sie mir, was geschehen ist.«

Christoph war erleichtert. Fouads Mutter war nicht ansprechbar.

»Der Junge ist bei einem Unfall ums Leben gekommen«, erklärte Christoph vorsichtig.

»Was für ein Unfall?«

»Er ist von der Eisenbahn überfahren worden.«

»Das ist unwahr. Fouad würde sich niemals auf die Schienen stellen.«

Christoph wich dem strengen Blick aus den dunklen Augen seines Gegenübers für einen Lidschlag aus, bevor er zögerlich einräumte: »Das war auch nicht freiwillig. Wir gehen davon aus, dass …«

»Sie wollen damit sagen, dass Fouad ermordet wurde?«

»Davon gehen wir aus.«

»Wir werden den Mörder finden«, erklärte der Mann.

»Davon sollten Sie bei allem Schmerz Abstand nehmen. Das ist Aufgabe der Polizei.«

Der Araber schüttelte den Kopf. »Ihre Art der Gerechtigkeit ist nicht die unsere.«

»Unsere Ermittlungen stehen kurz vor dem Abschluss. Wir sind uns ziemlich sicher, wer die Tat vollbracht hat.«

Fouads Mutter war dem Gespräch nicht weiter gefolgt. Sie stand immer noch da und schlug sich die Hände ins Gesicht. Dabei stieß sie weiterhin ihren fremdartigen Singsang aus.

»Niemand wird uns daran hindern, Fouads Blut zu rächen. Das sind wir seiner Mutter schuldig.«

»Und Allah?«, fragte Große Jäger dazwischen, erntete aber nur einen bösen Blick des Mannes.

»Ich rate Ihnen davon ab. Bei uns liegen Recht und Gesetz nur in den Händen des Staates.«

Statt einer Antwort traf Christoph ein langer Blick des Mannes, der nichts Gutes verhieß.

»Wir werden sicher Weiteres von Ihnen hören«, sagte er nach einer Weile. »Wo ist Fouad jetzt, damit wir ihn morgen beerdigen können?«

»Er befindet sich noch in der Rechtsmedizin in Kiel. Es sei Ihnen versichert, dass die Behörden alles unternehmen werden, um die Würde des Jungen zu wahren.«

»Sie haben keine Vorstellungen davon, was Würde ist«, zischte der Mann. »Und nun gehen Sie.«

Schweigend verließen die beiden Beamten das Haus.

»Hätten wir nicht fragen sollen, ob die Mutter einen Arzt benötigt?«, fragte Große Jäger auf dem Weg zum Auto.

»Der hätte genauso wenig Zugang zu der Frau gefunden wie wir.«

Große Jäger kratzte sich nachdenklich den Stoppelbart am Kinn. »Die Orientalen wollen sich einfach nicht unserer Kultur öffnen.«

»Das ist eine einseitige Betrachtung. Hast du jemals versucht, dich in die Gedankenwelt dieser Menschen zu versetzen?«, fragte Christoph.

»Da gibt es Unterschiede«, brummte Große Jäger. »Ich würde dem Nachbarn, der sich beharrlich weigerte, seinen Namen zu nennen, gern einmal etwas von dem Land erzählen, dessen Schutz er gesucht hat.«

»Und dessen Schutz bei Fouad al-Shara versagt hat«, erwiderte Christoph.

Sie hatten das Auto erreicht und stiegen ein.

»Schön, dann fahren wir jetzt zu van Oy und schließen diesen Fall ab«, sagte der Oberkommissar. Christoph sah, dass die Begegnung mit der Mutter des Opfers nicht spurlos am Oberkommissar vorübergegangen war.

Christoph ließ den Dienstkombi vorsichtig durch die engen Straßen rollen. Große Jäger regte sich hier über die Fußgänger, die gemächlich durch die Stadt schlenderten, ebenso auf wie über die Autofahrer, die ihnen auf den wenigen Metern von der Asylbewerberunterkunft bis ins Zentrum begegnet waren.

»Nun musst du langsam Einhalt gebieten«, sagte Christoph. »Wir sind so vielen Schwerverbrechern am Steuer begegnet, die du verhaften wolltest, dass kein Platz mehr für unseren Täter bleibt.«

»Da mache ich mir keine Sorge. Den falte ich so, dass der in meiner Schublade übernachten kann.«

»Das ist auch nicht möglich«, entgegnete Christoph lachend. »Da parken schon deine Füße.«

»Mich packt der heilige Zorn. Was sind wir in diesem Fall wieder für Leuten begegnet? Allein die von der Hardt. Die ist so berechnend, dass sie diesen lustwandelnden Hormonklumpen kalt lächelnd mit einem Fingerschnippen wieder in die Gosse zurückschickt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Nico seiner liebreizenden Mutter als Erstes gesteckt hat, dass ihr Lover fremdgegangen ist. Nachdem die fürsorgliche und immer treue Mutter und Geliebte das erfahren hat, ist sie sauer geworden und hat Feichtshofer hinausgeworfen. Der hat sich bedankt, indem er die Petze Nico verprügelt hat. Wenn er sich dabei das Handgelenk gebrochen und die schöne Isabelle am Auge gestreift hätte, wäre ich der Überzeugung gewesen, dass der liebe Gott doch noch Gerechtigkeit walten lässt. Nun denn – wir haben noch ein Stück Arbeit vor uns. Irgendwie müssen wir aus van Oy, diesem notorischen Lügenbold, die Wahrheit herauskitzeln.« Große Jäger stutzte. »Nanu? Was willst du hier?«

Christoph hielt vor Hauffes Haus am Mittelburgwall. »Ich möchte noch ein paar Fragen loswerden.«

»Von mir aus«, brummte der Oberkommissar und hielt Christoph am Ärmel fest. »Mir fällt gerade ein, dass in jedem guten Krimi ein Polizeibeamter in den Verdacht gerät, der Täter zu sein, und deshalb suspendiert wird. Wieso hast du das eigentlich nicht mit mir gemacht?«

»Fantasiebeutel«, schmunzelte Christoph und stieg aus.

Nach mehrmaligem Klingeln öffnete ihnen Wulf Hauffe. Der Zustand des Lehrers hatte sich gegenüber ihrem letzten Besuch nicht gebessert. Hauffe sah übernächtigt aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die sonst kräftige Hautfarbe war einem bleichen Schimmer gewichen.

»Wir haben noch ein paar Fragen«, sagte Christoph.

»Das geht jetzt nicht. Meiner Frau und meiner Tochter geht es nicht gut. Und auch ich bin am Ende. Wir brauchen Zeit, uns von den Schrecken der letzten Tage zu erholen. Kommen Sie nächste Woche wieder.«

»Bei Ermittlungen in einem Mordfall können wir keine Wunschtermine vergeben. Auch für Zeugen nicht«, erklärte Große Jäger.

Widerwillig ließ Hauffe die beiden Beamten ins Haus und ging voraus in die erste Etage. In der Wohnung roch es abgestanden. Schaler Rauch und Alkoholdunst lagen in der Luft.

Der Lehrer führte sie ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch standen eine angebrochene Grappaflasche und ein benutztes Glas. Kurz darauf erschien Renate Hauffe. Die ungekämmten Haare standen ihr zu Berge, das befleckte T-Shirt hing halb aus den Leggings heraus, die ein mehr als unvorteilhaftes Kleidungsstück für die Frau waren.

»Hallo«, sagte sie mit belegter Stimme. Die Unsicherheit ihres Gangs und die Alkoholfahne verrieten ihren Zustand. Sie setzte sich unaufgefordert zu den drei Männern an den Esstisch.

Hauffe wollte gegen die Anwesenheit seiner Frau aufbegehren, als aber auch noch Maike erschien und von ihrer Mutter mit »Komm her, meine Kleine« zur Teilnahme an der Runde aufgefordert wurde, unterdrückte Hauffe seinen Protest.

»Wir wissen jetzt, wer der Tote von der Eisenbahnbrücke ist.«

Der Lehrer stierte teilnahmslos in Richtung Fenster, während es den Anschein hatte, als hätte Renate Hauffe die Worte gar nicht wahrgenommen. Maike schaute die beiden Beamten an, traute sich aber nicht, nachzufragen.

»Unsere Ermittlungen stehen kurz vor dem Abschluss«, erklärte Christoph. »Uns fehlen nur noch die letzten kleinen Teile des Puzzles.«

»Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, gab Hauffe zurück. »Sie sehen ja, dass wir in dieser Familie genug Probleme haben.« Er zeigte auf seine Tochter. »Da lässt sich das Mädchen ein Kind andrehen.«

»Nun mäßige dich«, fuhr seine Frau dazwischen, aber Hauffe unterbrach sie. »Sei du leise. Du kommst doch aus dem Delirium nicht mehr heraus.«

»Anders kann man das Leben mit dir nicht ertragen«, antwortete Renate Hauffe mit schwerer Zunge und wollte erneut zur Flasche greifen, doch ihr Mann kam ihr zuvor.

»Hör endlich auf, dich um den letzten Funken Verstand zu trinken.« Er schrie seine Frau förmlich an.

»Nun hört endlich auf, euch ewig zu streiten«, rief Maike dazwischen und funkelte ihren Vater an. »Du bist immer der Superschlaue. Alles weißt du besser. Keiner kann dir etwas recht machen. Du mit deinem Intelligenzquotienten …«

»Das interessiert mich jetzt – einfach außerhalb der Reihe«, sagte Große Jäger. »Sind Sie hochbegabt?«

Hauffe winkte müde ab, aber seine Frau lallte dazwischen: »Sie müssen einmal mit meinem Mann Schach spielen. Der schlägt alle, weil er seinen Gegnern immer ein paar Züge voraus ist. Ja – ich habe wirklich einen klugen Kopf als Ehemann.« Sie gluckste vergnügt vor sich hin. »Leider ist das aber auch alles.«

»Mama hat recht«, mischte sich Maike ein. »Du hättest mit deiner Klugheit mehr aus dir machen können.«

»Haltet den Mund«, schrie Hauffe aufgebracht.

»Warum, mein Süßer?« Seine Frau griff erneut zur Schnapsflasche. Diesmal hielt sie niemand davon ab, das Glas zu füllen. Sie trank es in einem Zug aus. »Deine Tochter sagt doch die Wahrheit. Was hätte aus dir alles werden können. Und? Stattdessen versteckst du dich hier in dieser Kleinstadt. Du schämst dich vor dich – oder heißt das ›dir‹? Ist ja egal. Du schämst dich selbst, nur weil dein Vater eine dunkle Hautfarbe hat.« Sie wedelte mit dem leeren Glas in Christophs Richtung. »Haben Sie eine Ahnung, wann wir das letzte Mal in Husum waren?« Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: »Ich auch nicht.« Sie setzte das leere Glas an die Lippen und ließ die letzten Tropfen in den Rachen laufen. »Prost.«

»Frau Hauffe. Sie haben am Dienstagmorgen die Tote im Kanu entdeckt und zunächst geglaubt, da würde jemand schlafen. Erst nach über einer Stunde riefen Sie dann die Polizei.«

»Hab ich das?«, fragte die Frau. Dann schüttelte sie ihren Kopf und wies mit dem Grappaglas in Richtung ihres Mannes. »Stimmt nicht. Er hat die Frau zuerst gesehen.«

»Bei unserer ersten Vernehmung haben aber Sie und Ihr Mann übereinstimmend ausgesagt, dass Sie das Boot zuerst entdeckt hatten.«

»Kann nicht sein. Haben Sie eine Ahnung, was ich morgens zu tun habe, damit die beiden rechtzeitig loskommen?«

»Das ist doch nicht wahr«, rief Hauffe dazwischen. »Du hast zu mir gesagt: Sieh mal da. Da schläft jemand. Die ganze Zeit über.«

»Nee – nee, mein Süßer. Das warst du. Ich habe vielleicht ein’ Lütten im Timpen, aber so doof bin ich doch nicht.«

Hauffe wandte sich an Christoph. »Sie sehen doch selbst, in welchem Zustand sich meine Frau befindet. Die ist doch nicht mehr zurechnungsfähig. Und so etwas muss ich täglich durchmachen. Wundert es Sie, dass ich mich nicht mehr unter die Leute wage? Wir leben hier in einer Kleinstadt. Da bleibt nichts vor den Augen der Nachbarn verborgen.«

»Auch nicht Ihr Verhältnis mit Ina Wiechers?«

Hauffe musterte Christoph aus funkelnden Augen. »Das glauben Sie doch selbst nicht. Ich bin verheiratet. Vielleicht nicht sonderlich glücklich. Aber ich mache mich doch nicht an Kolleginnen heran.«

»Sie wären nicht der Einzige. Wir haben inzwischen ermittelt, dass es jede Menge Männer gab, die mehr oder weniger erfolgreich um die Gunst von Ina Wiechers gebuhlt haben.«

»Mein Vater macht ja viel Mist, aber er ist ein Spießer. Das kann sich keiner vorstellen, dass er Frau Wiechers angebaggert haben soll«, mischte sich Maike ein.

»Wer hat dich gefragt?«, wies Hauffe seine Tochter zurecht. »Sieh zu, dass du den Raum verlässt.«

»Nun aber sutsche«, sagte Große Jäger. »Wir möchten, dass Maike bleibt. Seien Sie doch froh, dass Ihre Tochter Sie in Schutz nimmt.«

Maike nickte eifrig. »Die Wiechers hatte doch ganze andere Kerle als so einen wie dich. Du bist ja nicht einmal ein richtiger Neger, von dem vielleicht manche Frauen träumen.«

Hauffe sprang auf und wollte sich auf seine Tochter stürzen, aber Große Jäger packte ihn am Arm und hielt ihn fest. »Ganz ruhig. Das hatten wir doch schon einmal. Sie wollen doch weder Tochter noch Enkelkind schädigen? Das geziemt sich nicht für einen werdenden Großvater.«

Hauffe bückte sich, um den durch sein überhastetes Aufspringen umgekippten Stuhl wiederaufzurichten. Schwer atmend nahm er Platz.

»Vielleicht hatten Sie kein Verhältnis mit Ina Wiechers. Aber auch das könnte ein Motiv für Sie gewesen sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mensch aus verletztem Stolz hat sterben müssen. Kann es sein, dass Ina Wiechers Ihren Werbeversuchen widerstanden hat und dabei beleidigend geworden ist?«

»Quatsch«, war Hauffes knapper Kommentar zu Christophs Frage.

»Es muss frustrierend sein, wenn man sieht, wie eine Frau scheinbar leichtsinnig Liebschaften mit anderen eingeht, denen man sich in jeder Hinsicht überlegen fühlt.«

Hauffe sah Große Jäger an. »Muss ich mich von Ihrem Kollegen beleidigen lassen? Das ist mehr als grobe Ehrverletzung, was Ihr Mitarbeiter von sich gibt.«

Der Oberkommissar lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist nicht mein Mitarbeiter, sondern mein Boss.« Große Jäger bohrte sich im Ohr und neigte den Kopf leicht zur Seite. Dann besah er sich die Fingerspitze. »Komisch. Da ist nichts im Gehörgang. Trotzdem habe ich nichts gehört, was Sie dem Ersten Hauptkommissar vorwerfen könnten.«

»Der hat doch recht, der Herr Erster Dingsbums«, lallte Renate Hauffe dazwischen.

»Außerdem wissen wir, dass Ina Wiechers gewisse Praktiken am Eidergymnasium nicht guthieß und diese an die Schulaufsicht melden wollte.«

»Sie schenken diesem absurden Geschwätz doch keinen Glauben. Ob wir Lehrer in Friedrichstadt oder an einem anderen Ort vor einer Klasse stehen – das macht doch keinen Unterschied.«

»Ich denke, schon. Ihre Frau hat vorhin ausgemalt, welchen Stellenwert diese kleine Stadt für Sie hat. Das hier ist Ihr unverrückbarer Lebensmittelpunkt.«

Christoph legte eine längere Pause ein. Er wollte seine Worte wirken lassen. Die Zeit nutzte Renate Hauffe, um das Glas erneut zu füllen. Niemand aus der Runde machte Anstalten, sie daran zu hindern.

»Ich habe eine Zwischenfrage«, wechselte Christoph das Thema. »Waren Sie schon einmal in St. Peter-Ording?«

»Sicher.«

»Auch im Hause der Familie von der Hardt?«

»Kann sein«, erwiderte Hauffe ausweichend.

»Beantworten Sie die Frage bitte eindeutig.«

»Ja. Ich habe mit der Mutter gesprochen. Es gab öfter Probleme mit Nico.«

»Haben Sie Vorschläge für ein Arrangement unterbreitet? Ein oder gar zwei zugedrückte Augen bei der Versetzung gegen eine weitere großzügige Spende für den Schulverein?«

»Wo denken Sie hin«, brauste der Lehrer auf. »Ich bin doch nicht bestechlich. Solche Machenschaften hat einzig der Schulleiter verfolgt.«

»Aha«, schob Große Jäger dazwischen.

Wulf Hauffe merkte, dass er sich entgegen seiner Absicht verplappert hatte.

»Aber Sie wussten davon?«

»Ja«, gestand er zähneknirschend ein. »Das wussten alle im Kollegium. Wir haben es vor Ina Wiechers eine ganze Weile verborgen halten können, weil sie uns von Beginn an nicht geheuer erschien. Sie war auf der einen Seite zu ehrgeizig, andererseits aber passte ihre lockere Lebensauffassung im privaten Bereich nicht zu den hiesigen Moralvorstellungen. Hier, auf dem platten Land, sind wir auch Vorbilder in der Lebensführung.«

»Und da passte Ina Wiechers nicht ins Schema?«

»Irgendwie nicht.«

»Und van Oy auch nicht?«

Hauffe sah seine Frau und Maike an, die seinen Ausführungen mit großen Augen folgten.

»Nun ist es auch egal. Nein«, sagte er mit Bestimmtheit. »Der Direktor spielt in der Öffentlichkeit den Vorbildchristen. Und wann immer sich eine Möglichkeit bietet, sucht er Prostituierte auf. Man erzählt sich, dass er gelegentlich auf dem Husumer Straßenstrich gesehen wurde. Dabei wartet er bis nach Mitternacht, in der Hoffnung, dann niemandem mehr zu begegnen, der ihn erkennen könnte.«

»Von wem wissen Sie das?«

Hauffe sah erneut seine Familie an. »Das möchte ich nicht preisgeben.«

Christoph nahm sich vor, van Oy mit dieser Behauptung zu konfrontieren. Vielleicht hatte die Nachbarin recht, und der Schulleiter hatte in der fraglichen Nacht seine Wohnung verlassen, um nach Husum zu fahren. Verständlicherweise war er bemüht, das im Verborgenen zu halten.

»Sie kennen den Werkstattraum des Hausmeisters?«

»Den kennt jeder.«

»Wann waren Sie das letzte Mal dort?«

Hauffe überlegte einen kurzen Augenblick. »Das weiß ich nicht. Normalerweise habe ich dort nichts zu suchen.«

»Würden wir dort Ihre Fingerabdrücke finden?«

Jetzt lachte der Lehrer auf. »Wohl kaum.«

»Tragen Sie Jeans?«

»O ja. Das ist seine Standardbekleidung«, lallte Renate Hauffe dazwischen und versuchte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch abzustützen. Dabei rutschte die Tischdecke nach vorn, und sie landete mit dem Oberkörper auf der Tischplatte. Zuerst sah sie verdutzt aus, dann fing sie lauthals an zu lachen. »Ist das nicht komisch?«

»Das ist widerwärtig«, ereiferte sich Hauffe und zeigte auf seine Frau. »Sehen Sie sich dieses Wrack an.«

Renate Hauffe hob ihren rechten Zeigefinger und versuchte eine Art Drohgebärde in Richtung ihres Mannes anzudeuten. »Nur so kann man das Leben mit dir aushalten«, nuschelte sie.

»Warum führen Sie beide ein solches Leben weiter, wenn Sie sich gegenseitig so auf die Nerven gehen? Für uns als Außenstehende erweckt es den Anschein, als hätte Ihre Ehe keine Zukunft.«

Hauffe deutete mit den Händen eine Geste der Hilflosigkeit an. »Verstehen Sie etwas von Verantwortung? Wir haben schließlich eine Tochter.«

»So wie Professor Ehrenberg zu Rantzau.«

»Das ist doch nur Show. Der feine Pinkel zeigt Rebecca wie im Panoptikum herum. ›Seht, welch ein exotisches Spielzeug ich mir leiste. Meiner Großherzigkeit ist es zu verdanken, dass dieses Wunderkind hier leben darf.‹ So wedelt der Mann durch seine gesellschaftlichen Kreise.«

»Immerhin war das Mädchen hochbegabt. Sie soll glänzende Perspektiven als Pianistin gehabt haben.«

Der Lehrer warf einen fast zärtlichen Blick zu seiner Tochter. »Das ist Maike auch.«

»Aber ich spiele längst nicht so gut wie Rebecca«, rief Maike dazwischen.

Hauffes Blick hing lange, fast träumerisch an seiner Tochter. »Doch«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Jetzt schon. Auch diese Familie ist etwas wert. Trotz des farbigen Vaters. Und mit der alkoholsüchtigen Mutter.« Er beugte sich über den Tisch und streichelte seiner Frau zärtlich über den Kopf. »Wir schaffen das schon, Renate. Irgendwie.«

»Was ist los?«, antwortete seine Frau mit schwerer Zunge, hob müde den Kopf und blickte irritiert mit glasigen Augen in die Runde. Dann ließ sie ihren Kopf wieder in die Armbeugen sinken, die auf dem Tisch lagen.

»Ich muss jetzt etwas trinken«, sagte Hauffe und wollte aufstehen.

»Lass, Papa.« Maike legte sanft die Hand auf seine Schulter und stand auf. »Ich hole uns Wasser. Sie auch?« Dabei sah sie die beiden Beamten an. Dann verließ sie den Raum.

»Ich bin da irgendwie hineingeraten«, sagte Wulf Hauffe mit leiser Stimme. »Sie haben keine Vorstellungen davon, wie es ist, immer wegen der Hautfarbe verspottet zu werden. ›Neger‹, rufen die jüngeren Jahrgänge mir hinterher. Leute wie Nico prahlen vor der versammelten Klasse, der Unterricht würde ihrer Auffassung nach nicht in der Schule, sondern in einem Kral stattfinden.«

»Warum haben Sie Ina Wiechers getötet?«

»Sie hat mich wegen meiner Hautfarbe verschmäht. ›Ich kann jeden anderen Mann bekommen und bin ich nicht auf einen Mischling angewiesen. Und wenn du mich weiter bedrängst, dann erzähle ich es deiner Frau und mache dich im ganzen Ort lächerlich.‹ So hat sie mir gedroht. Dabei hatte ich Vertrauen zu ihr gefasst, nachdem wir sehr konstruktiv und kollegial zusammengearbeitet hatten. Allerdings wollte ich sie davon abbringen, das Gymnasium an den Pranger zu stellen.«

»Der Mord war aber keine spontane Handlung.«

»Nein. Als ich den Besen des Hausmeisters sah, dachte ich zuerst daran, Ina zu erschlagen. Ich wusste ja nicht, wie man an eine Waffe kommt. Und Gift erschien mir zu grausam. Sie sollte nicht leiden. Dann fiel mir ein, dass das Opfer beim Erdrosseln sehr schnell besinnungslos wird. Deshalb habe ich diese Methode gewählt.«

»Und einen Drosselknebel aus dem Besen des Hausmeisters gebastelt?«

»Ja«, gab Hauffe kleinlaut zu.

»Dabei haben Sie aber nicht bedacht, dass die moderne Kriminaltechnik Spuren Ihrer Jeans nachweisen kann, als Sie den Besenstiel über Ihrem Knie zerbrachen.«

»In solchen Dingen kenne ich mich nicht aus. Ich bin nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«

»Immerhin haben Sie den Mord akribisch vorbereitet. Ihre Frau hat vorhin erzählt, dass Sie ein brillanter Schachspieler sind. Deshalb haben Sie ein Stück Draht vor dem Haus der Familie von der Hardt abgeknipst, um uns in die Irre zu leiten. Vielleicht haben Sie nicht einmal gewusst, dass dieser zufällig identisch mit dem von der Wiese am Bootsanleger ist.«

»In diesem Punkt überschätzen sie mich. Es stimmt, dass ich den Draht in St. Peter-Ording abgeknipst habe. Die Zange hatte ich zuvor beim Hausmeister ausgeliehen.«

»Wo ist die übrigens?«

»Die habe ich irgendwo in der Treene versenkt. Es war Nacht. An den genauen Ort kann ich mich nicht mehr erinnern.«

Sie wurden unterbrochen, weil aus dem Hintergrund der Wohnung Maike zu hören war, wie sie sich übergab. Hauffe sprang auf.

»Ich muss mich um meine Tochter kümmern«, rief er und rannte aus dem Zimmer.

Große Jäger wollte hinterherlaufen. »Der haut uns sonst ab«, sagte er, aber Christoph hielt ihn zurück.

»Da müssen wir uns nicht sorgen. Hauffe wüsste nicht, wohin. Der hat keinen Platz auf dieser Welt, wo er in Frieden leben könnte.«

»Wie bist du eigentlich auf ihn gekommen?«

»Da gab es mehrere Punkte, die mich nachdenklich gestimmt haben. Zum einen die Unstimmigkeit, wer die Tote in der Gracht zuerst entdeckt hatte. Hauffe wollte es so aussehen lassen, als hätte seine Frau das Kanu gesehen. Es hätte uns sonst nachdenklich gemacht, warum er sich nicht früher darum gekümmert hat.«

»Das ist aber noch kein Beweis.«

»Es war ein kleiner Nadelstich. Allein für sich war das noch nicht entscheidend. Dann gab es eine weitere Begebenheit, die mich irritiert hat. Von van Oy wissen wir, dass er ein notorischer Lügner ist. Bei dem umfassen die Gebote Mose nur neun.«

»Acht«, warf Große Jäger ein. »›Du sollst nicht ehebrechen‹ hast du vergessen.«

Christoph schmunzelte. »Als Westfale hast du vielleicht einen besseren Draht zum lieben Gott als wir Nordlichter. Jedenfalls war es nicht Hauffes Art, uns ständig die Unwahrheit zu erzählen. Warum hat er uns aber weismachen wollen, er hätte vom Pult in seiner Klasse Fouad al-Shara ums Haus schleichen sehen? Erinnerst du dich? Das hat er damals ausgesagt, als wir nach dem Überfall auf Rebecca in der Schule waren.«

Große Jäger nickte zustimmend.

»Vorhin waren wir noch einmal in der Schule, und ich habe Harry Trochowitz gebeten, Hauffes Klassenraum zu öffnen. Der Blick geht nach hinten hinaus. Man sieht nur die Marsch, und der Hausmeister hat bestätigt, dass sich in dem sumpfigen Areal niemand aufhält. Also konnte Hauffe den Libanesen gar nicht bemerkt haben. Das war nur eine Schutzbehauptung, um unsere Ermittlungen in die falsche Richtung zu lenken.«

Sie wurden kurz durch Renate Hauffe unterbrochen, die ihren Kopf bewegte und dabei einen tiefen zufriedenen Seufzer von sich gab.

»Ich staune immer wieder, was dir Kieler Schreibtischpolizisten alles auffällt. Schade, dass auch du mit sechzig pensioniert wirst, sonst könnte aus dir im Laufe der Jahre noch ein anständiger Kriminalist werden.« Der Oberkommissar warf sich in die Brust. »Etwa so wie ich.«

Aus dem Flur war ein leichtes Klirren zur hören. Kurz darauf erschien Hauffe mit einer Wasserflasche und vier Gläsern. Stumm schenkte er ein und trank einen Schluck.

»Was geschah danach?«

»Danach?«, fragte Hauffe geistesabwesend zurück.

»Als Sie die Drahtschere des Hausmeisters aus dem Auto geworfen hatten.«

»Ach ja. Ich habe den Drahtknebel gebastelt. Da ich das Drahtstück aus St. Peter in der Hektik aber nicht wiedergefunden hatte, schnitt ich ein Stück von der Wegbegrenzung bei der Schule ab. Ich hatte mich mit Ina zu einer Aussprache an der Schule getroffen.«

»Um was ging es da?«

»Ich wollte sie bitten, keine voreiligen Schritte zu unternehmen. Ich habe ihr versprochen, sie nicht mehr zu belästigen – wie sie es nannte. Aber sie hat mich nur ausgelacht. Wir haben in meinem Wagen gesessen. Sie nahm ihr Notebook über die Schulter, und wir gingen langsam Richtung Treene zum Bootsanleger. Kurz bevor wir am Wasser waren, griff sie zu ihrem Handy und hat mir ins Gesicht gelacht, sie würde jetzt eine Verabredung für den schönen Teil des Abends treffen. Ich stand hinter ihr. Da habe ich den Drahtknebel aus der Tasche geholt – ich war bis zu diesem Zeitpunkt immer noch unsicher – und habe sie erwürgt.«

Hauffe schüttelte sich bei der Erinnerung an die Tat, bevor er mit stockender Stimme weitersprach. »Ich war zunächst so erschrocken, dass ich Ina liegen ließ, wie sie niedergesunken war. Haben Sie schon einmal einen Menschen getötet?« Erneut durchfuhr den Lehrer ein Schauder. Dann betrachtete er angewidert seine Hände. »Ich bin zuerst zum Auto zurück und nach Hause gefahren. In dem Zustand konnte ich aber niemandem unter die Augen treten. So bin ich zunächst in der Stadt herumgeirrt, bis ich wieder klar denken konnte. Dann bin ich zur Schule zurück, habe das Notebook und das Handy in das Ufergestrüpp geworfen und gehofft, dass die Dinge dort nicht entdeckt werden. Später habe ich mich selbst einen Narren gescholten. Ich hätte die Sachen ins Wasser werfen sollen.«

Er hielt inne, weil seine Frau sich bewegte, fuhr dann aber fort, während Renate Hauffe begleitet von tiefen gleichmäßigen Tönen weiterschlief.

»Ich war unheimlich erschrocken, als die beiden Gegenstände plötzlich im Büro der Sekretärin auftauchten. Noch weniger konnte ich mir erklären, dass sie plötzlich wieder verschwunden waren. Das hat mich mehr als verunsichert, da ich nicht wusste, ob Inas Geräte in die Hände der Polizei gefallen waren.«

Er nahm einen Schluck Mineralwasser. »Nun aber zurück zum Montag. Ich habe Ina vom Knebel befreit und diesen ebenso wie das Vorhängeschloss des Kanus am Bootsanleger versenkt.«

»Zuvor hatten Sie sich den Schlüssel für die Bootskette besorgt?«

»Nein. Das war der von meinem Schlüsselbund. Am nächsten Tag habe ich mir den Schlüssel aus dem Sekretariat genommen und an meinen Schlüsselring gesteckt. So musste jeder denken, der Schlüssel für das Kanu wäre in der Schule entwendet worden.«

»Und dann sind Sie seelenruhig mit der Toten an Bord bis zu Ihrer Haustür gepaddelt.«

Hauffe schüttelte heftig den Kopf. »Von wegen, seelenruhig. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich wollte Richtung Eiderschleuse paddeln und dort das Kanu freigeben. Man hätte es dann irgendwann gefunden. Mit etwas Glück hätte es sich auch an einer verschwiegenen Stelle im Uferschilf verfangen und wäre für eine unbestimmte Zeit unentdeckt geblieben. Ich bin also über die Treene in den Westersielzug. Doch auf Höhe der Feuerwehr, kurz vor der Unterquerung der Bundesstraße, bemerkte ich mehrere Leute am Ufer. Da habe ich es mit der Angst bekommen, bin ein Stück zurückgepaddelt und dann in den Burggraben eingebogen. Da ich fürchtete, andere nächtliche Spaziergänger könnten mich zufällig entdecken, habe ich das Kanu an der Kleinen Brücke festgemacht.«

»Das ist praktischerweise direkt vor Ihrer Haustür.«

Hauffe nickte versonnen. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte nur schnell fort von der Toten. Mich hatte mittlerweile das kalte Grausen gepackt.«

»Dagegen spricht aber, dass Sie am folgenden Morgen ganz cool reagiert haben und sogar in der Lage waren, eine falsche Spur zu legen.«

Der Lehrer sah Christoph an, schwieg aber zu diesem Vorwurf.

»Wo haben Sie das Paddel gelassen?«, wollte Große Jäger wissen.

»Das habe ich ins Wasser gelegt und angestoßen. Ich kann nicht sagen, wo es abgeblieben ist.«

Christoph lehnte sich zurück. »Es ist gut, dass Sie Ihr Gewissen befreien. Warum haben Sie Rebecca Ehrenberg zu Rantzau so übel zugerichtet?«

Wulf Hauffe fuhr sich mit der Hand über das aschgraue Gesicht.

»Unsere Tochter litt darunter. Ständig begegnete ihr Rebecca als leuchtendes Beispiel. Die Rantzau-Tochter konnte dieses, konnte jenes. Überall wurde sie als Wunderkind hoch gelobt. Dazu kam sicher auch ihr exotisches Aussehen. Und mit ihrem Adoptivvater im Hintergrund standen ihr alle Türen offen. Unsere Maike ist ein ganz normales Mädchen, das mit ein paar – zugegeben – schwierigen Bedingungen in der Familie zurechtkommen muss.« Hauffe beschrieb mit seinen Händen einen großen Kreis in der Luft. »Erinnern Sie sich an die Apartheid in Südafrika? Dort gab es drei Gesellschaftsschichten. Die Weißen, die Schwarzen und die ›Coloured‹, wie die Einwohner mit asiatischen Wurzeln genannt wurden. Die hatten mehr Rechte als die einheimische Urbevölkerung. Rund um den Globus gelten die Schwarzen als die Underdogs. Und selbst Maike hat darunter gelitten. Nehmen Sie Nico von der Hardt. Ein wahres Chamäleon. Einerseits verehrt ihn Maike wegen seiner vorgeblichen Unabhängigkeit. Er verkörpert aus der Sichtweise der anderen Schüler so etwas wie die Freiheit. Andererseits ist er ein schlimmer Finger gegenüber allen Menschen, die anders aussehen. Ich selbst habe diese Auseinandersetzung oft mit ihm ausfechten müssen. Auch wenn man es mir nicht anmerken konnte und ich ohne Gesichtsverlust vor den Schülern davongekommen bin, hat es mich tief getroffen. Übrigens war Ina Wiechers einmal Zeugin einer solchen Szene. Statt meine Partei zu ergreifen und sich in die Auseinandersetzung einzuschalten, hat sie mit einem fast spöttischen Grinsen der Angelegenheit beigewohnt.«

Große Jäger schüttelte heftig den Kopf. »Das ist starker Tobak. Da zerstören Sie einem jungen Menschen aus Neid die Zukunft. Mensch, ich könnte …« Er ließ seinen Gedanken unausgesprochen.

»Rebecca! Rebecca! Oh, wie ich das gehasst habe. Dieses Mädchen wurde von allen hochgejubelt. Es schien, als würde sie auf einem Denkmal stehen. Und in dessen Schatten verschwanden die anderen. Sie ist doch kein Wunderkind, nur weil sie mit dem Geld und den Verbindungen eines Professor Ehrenberg Träume verwirklichen konnte, die Maike nicht offenstanden.« Hauffe trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Sein Blick war ins Leere gerichtet. »Die Vorwürfe meiner Tochter haben mich bis in den Schlaf verfolgt. ›Warum die?‹, klagte mich Maike an. Rebecca war erfolgreicher, erzählte von den Kontakten ihres Vaters, von der Förderung ihres Talents. Die Jungs waren hinter dem Mädchen her. Und auch im Kollegium war sie das Maß, an das andere Schüler nicht heranreichten.« Hauffe hielt ein. Er fuhr sich bedächtig mit der Hand übers Gesicht. Dann schüttelte er sich, als würde er wie aus einer Trance erwachen. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Plötzlich war der Zwang da, Rebecca von ihrem Sockel zu stoßen.« Er sah Christoph an, als würde er ihn um Verständnis bitten. »Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Es musste sein.«

Christoph hatte Zweifel, ob Hauffe immer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gehandelt hatte. Doch darüber hatten Ärzte zu befinden. Große Jäger schien den gleichen Gedanken zu verfolgen. Unbemerkt von Hauffe schwenkte der Oberkommissar die Hand vor seiner Stirn, um Christoph zu signalisieren: Der ist doch plemplem.

»Was war das Tatwerkzeug?«, fragte Christoph.

Der Lehrer antwortete ganz leise, kaum wahrnehmbar: »Das Radkreuz aus meinem Auto.«

»Wie sind Sie darauf gekommen? Das klingt sehr exotisch.«

»Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»So etwas wie Sie sollte Bundeskanzler werden«, knurrte Große Jäger. »Da gab es auch Vertreter mit Erinnerungslücken.«

Sie blickten auf, als Maike wieder in den Raum zurückkehrte. Sie hielt die Hände vor den Bauch.

»Wie geht’s dir, meine Kleine?«, fragte Hauffe mit besorgter Stimme.

»Schlecht«, kam es kläglich über Maikes Lippen. Sie hatte sich ein Glas Cola mitgebracht und nippte daran. Dann setzte sie sich auf den freien Stuhl neben ihrem Vater.

Christoph überlegte, ob sie das Verhör in Gegenwart des Mädchens fortsetzen sollten. Maike ließ sich bestimmt nicht fortschicken. Und ob Hauffe seinen Redefluss nach einer Unterbrechung und gar in Husum auf der Polizeidirektion fortsetzen würde, war ungewiss.

»Damit haben wir schon viele wichtige Punkte geklärt«, sagte Christoph diplomatisch.

Maike blickte ihn mit großen Augen an. Ihr war anzumerken, dass sie die Zusammenhänge der Katastrophe, die sich über dieser Familie zusammenbraute, noch gar nicht verstanden hatte.

»Wissen Sie eigentlich, wer auf der Eiderbrücke ermordet wurde?«, fuhr Große Jäger dazwischen, der die Fragen bisher Christoph überlassen hatte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Hauffe müde. »Ich will es auch gar nicht wissen.«

»In Friedrichstadt bleibt nichts verborgen. Morgen steht es ohnehin in der Zeitung. Wir haben vorhin die Mutter des Opfers aufgesucht. Soll ich Ihnen berichten, wie es der Frau ergangen ist?«

»Mir reicht, was über meine Familie hereingebrochen ist. Ich kann nicht auch noch das Päckchen anderer tragen«, zischte Hauffe den Oberkommissar wütend an.

»Dann fühlen Sie keine Verantwortung für das Mordopfer von der Eisenbahnbrücke?«

»Nein! Ganz eindeutig nein!« Hauffe schrie fast.

Benommen hob seine Frau den Kopf, blinzelte einmal verständnislos in die Runde und ließ ihr Haupt wieder in die Armbeuge sinken.

»Sie kennen den jungen Mann.« Der Oberkommissar war unerbittlich.

»Nein!«, schrie Hauffe und hielt sich die Ohren zu.

»Es ist der junge Libanese, der immer um Ihre Schule herumgestreift ist. Fouad al-Shara.«

Plötzlich verdrehte Maike die Augen und sackte in Zeitlupe vom Stuhl. Ihr Vater konnte sie gerade noch auffangen, bevor das Mädchen auf den Boden kippte.

»Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, brüllte der Lehrer den Oberkommissar an. »Ist Ihnen jede menschliche Regung fremd?«

»Ich glaube es nicht«, empörte sich Große Jäger. »Da haben wir es mit einem Mörder zu tun, und der Mann regt sich auf, weil wir ihn verhören?«

»Genug«, schrie Hauffe und kniete neben seiner Tochter. Christoph hatte sich ebenfalls hinabgebeugt und fühlte den schwachen Puls.

»Es ist eine Ohnmacht«, sagte er und atmete tief durch, als Maikes Gesicht zuckte und ein leises Stöhnen über die Lippen kam. Dann öffneten sich die Lippen einen Spalt, die Lider zuckten unmerklich, und Maike blinzelte ins Licht. Im Zeitlupentempo öffnete sie die Augen und suchte irritiert die Umgebung ab, bis ihr Blick bei ihrem Vater hängen blieb.

Hauffe tätschelte ihr die Wangen. »Es ist alles gut, mein Kleines. Du musst dir keine Sorgen machen.«

Mit Christophs Hilfe trug er Maike in ihr Zimmer. Der Lehrer deckte seine Tochter wie ein Kleinkind zu, während Christoph aus dem Wohnzimmer ein Glas Wasser besorgte. Gemeinsam flößten die beiden Männer Maike einen Schluck Wasser ein. Zuerst ging ein Zucken durch den Mädchenkörper, dann wurde er von einem Weinkrampf geschüttelt.

Christoph hatte sich bis zur Tür zurückgezogen und beobachtete, wie der Vater Maike zu beruhigen suchte. Er ließ Hauffe Zeit und hörte mit einem Ohr, dass Große Jägers Handy klingelte. Der Oberkommissar saß immer noch im Wohnzimmer und wechselte mit einem unbekannten Gesprächspartner ein paar Worte. Nach dem Telefonat kam er aus dem Raum, stellte sich neben Christoph und wisperte ihm zu: »Es geschehen merkwürdige Dinge auf dieser Welt. Das war das Kind.«

»Ist Mommsen schon wieder im Büro?«, fragte Christoph.

»Ja. Und dort ist Jan Harms aufgetaucht. Er war völlig zerknirscht und wollte sich entschuldigen. Das galt auch für seinen Spezi Nico. Der hat das ausdrücklich aufgetragen. Jan versicherte, dass Nico noch einmal persönlich zu uns kommen will. Die beiden haben eingestanden, dass sie ziemlich viel Scheiß gebaut haben. Aber das Schärfste kommt noch. Jan Harms war nicht allein.«

Der Oberkommissar legte eine künstliche Pause ein, um die Spannung zu steigern. »Du glaubst es nicht. Er hatte einen Kasten Weizenbier dabei. Das ist ein Gruß seines Vaters.« Große Jäger knuffte Christoph kameradschaftlich in die Seite. Dann zeigte er auf Vater und Tochter Hauffe. »Was ist mit denen?«

»Gib ihnen noch ein wenig Zeit«, sagte Christoph leise, während Hauffe am Bettrand saß und Maikes Kopf in Händen hielt.

Nach zwanzig Minuten atmete das Mädchen ruhig und gleichmäßig. Vorsichtig löste sich der Lehrer und kehrte, gefolgt von den Beamten, ins Wohnzimmer zurück.

»Ich glaube, ich verstehe jetzt ein paar weitere Zusammenhänge«, sagte Christoph. »Kann es sein, dass Fouad der Vater von Maikes Baby ist?«

Ganz langsam nickte Hauffe. »Ich habe es an dem Tag erfahren, als sie die Schwangerschaft eingestanden hat.« Ein paar Tränen traten aus seinen Augen. »Dann habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Sie haben selbst erlebt, wie hart Maike mich wegen meiner Hautfarbe angegangen hat. Ich habe fürchterlich darunter gelitten. Und dann lässt sie sich selbst mit einem ›Bunten‹ ein. Natürlich können Sechzehnjährige noch nicht ermessen, was im Leben auf sie zukommt. Schon gar nicht, was es bedeutet, Verantwortung für ein eigenes Kind zu tragen. Da wird romantisiert. Sie erzählte mir den Abend, dass sie gemeinsam mit dem Libanesen Zukunftspläne schmiedete. Stellen Sie sich vor, wie sie mir und meiner Frau ins Gesicht gesagt hat, sie wolle dem jungen Mann in dessen Heimat folgen. Bei all der politischen Unruhe, die dort herrscht, und dem anderen Verständnis, das man Frauen entgegenbringt, konnte ich das doch nicht zulassen! So habe ich ihm noch am selben Abend gesucht. In Friedrichstadt ist es nicht schwer, jemanden zu finden.« Hauffe wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.

»Natürlich kannte er mich. Deshalb wich er auch einem Gespräch nicht aus. Doch auf meine inständige Bitte, die Finger von meiner Tochter zu lassen, lachte er mich nur aus. Maike wäre ein tolles Objekt – er nannte sie wirklich ›Objekt‹ – zum Üben. Aber irgendwann würde er in seine Heimat zurückkehren, um in die Fußstapfen seines Vaters und seiner Brüder zu treten. Ich fragte ihn, wie er sich Maikes Zukunft und die des Babys vorstellen würde.«

Hauffe unterbrach seine Ausführungen und starrte minutenlang auf die Wand, bevor er stockend fortfuhr: »Wissen Sie, was Fouad geantwortet hat? ›Das ist doch nicht mein Problem.‹ Der sagte mir ins Gesicht, das Kind würde sicher gut durch die Großeltern versorgt werden. Ich fragte nach seiner Verantwortung als Vater. Da hat er mich ausgelacht. ›Ich habe genug Pflichten für meine Familie‹, hat er gesagt. Wenn Maike nicht aufgepasst habe beim Sex, dann müsse sie auch die Konsequenzen tragen.« Hauffe unterbrach seine Ausführungen und trank einen Schluck. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, bevor er sein Geständnis fortsetzte. »Wir waren in der Zwischenzeit mit meinem Auto gefahren. Irgendwohin. Ziellos. Ich konnte nicht sagen, warum wir plötzlich am Bahndamm in St. Annen standen. Ich wollte umdrehen. Mein Herz schlug rasend, und ich bebte vor Zorn. Fouad hatte Maike nur als Lustobjekt betrachtet. Er wollte nichts davon hören, dass Maike von Liebe sprach. ›Du spinnst doch‹, hat er mir ins Gesicht gesagt. ›Liebe! Das ist doch dummes Gefasel.‹ Ich wollte nichts mehr von ihm wissen. ›Raus!‹, habe ich ihn angebrüllt. Aber er hat nur gelacht. ›Sag mal, Alter, glaubst du, ich lauf zu Fuß zurück?‹ Ich bin aus dem Wagen gestiegen und habe versucht, ihn aus dem Auto zu zerren. Er hat sich heftig gewehrt. Dann kam es zu einem Handgemenge.« Hauffe fasste sich mit den Fingerspitzen beider Hände an die Schläfen und massierte sie vorsichtig. »Ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, aber plötzlich lag er benommen vor mir. Weil ich Angst hatte, er würde mich erneut angreifen, habe ich ihm die Hände mit Draht gefesselt, den ich im Kofferraum hatte. ›Du bist genauso ein Schwein wie deine Tochter‹, höhnte er. Als er mich anspuckte und ›Scheißnigger‹ sagte, ist bei mir eine Sicherung geplatzt.« Erneut begann Hauffe mit seinen Fingern auf der Tischplatte zu trommeln.

»Dann haben Sie Fouad gepackt und kaltblütig an die Schienen gefesselt«, sagte Große Jäger.

Verzweifelt schüttelte Hauffe den Kopf. »Nein! Das war ich nicht. Ich bin wieder fort von der Stelle. Ich habe keine Erinnerung, dass ich das war.« Er sah Christoph aus glasigen Augen an. »Ich müsste das doch wissen. So etwas mach ich doch nicht. Verstehen Sie das?« Er hatte seine Hand auf Christophs Unterarm gelegt und rüttelte daran. »Ich habe es nicht getan. Ich nicht!«

Wieder war der abwesende Ausdruck in Hauffes Gesicht getreten. Er starrte ins Nirgendwo, als würden dort nur für ihn erkennbare Bilder ablaufen.

Für Christoph war es erwiesen, dass eine tief gestörte Persönlichkeit vor ihm saß. »Ich glaube, Sie brauchen dringend einen Arzt«, sagte er, aber der Lehrer hörte ihn nicht.

Nach einer ganzen Weile fuhr Hauffe zusammen, als hätte ihn jemand geweckt. »Ich wollte nur verhindern, dass meiner Tochter ein ähnliches Schicksal widerfährt wie ihr da.« Hauffe zeigte auf seine schlafende Frau. »Sie sehen selbst, wohin das führen kann.«

»Glauben Sie nicht, dass vieles von dem, was Sie uns als persönliches Schicksal vortragen, aus Selbstmitleid geboren ist?«, fragte Große Jäger.

Hauffe sah den Oberkommissar an, ohne den Sinn der Frage zu verstehen.

»Packen Sie bitte die Sachen zusammen, die Sie in der nächsten Zeit benötigen. Kleidung, Zahnbürste, Rasierzeug. Außerdem werden wir die Jeans mitnehmen, und zwar alle Jeans aus Ihrem Schrank.«

»Ja, aber …«, setzte der Lehrer an, brach dann aber resigniert ab. Er machte immer noch einen verwirrten Eindruck, obwohl es schien, als würde er dem Gespräch wieder folgen können.

»Auch ohne Ihr Geständnis, das das Gericht sicher zu würdigen weiß, wäre es uns nicht schwergefallen, Ihnen die Taten durch Indizien nachzuweisen. Nicht nur die Übereinstimmung der Mikrofasern von der Hose, sondern beispielsweise auch Partikel von Fouad al-Shara, die wir in Ihrem Auto finden werden, überführen Sie«, erklärte Christoph.

»Weshalb hat Ihre Frau Ihnen ein falsches Alibi gegeben, als sie bestätigte, dass Sie in der Mordnacht zu Hause gewesen wären?«, ergänzte Große Jäger.

»Die hat das im guten Glauben getan, ohne wirklich etwas mitzubekommen. Sie sehen es ja selbst, wie es ist, wenn sie getrunken hat.«

»Und Maike?«

»Die stand noch unter dem Einfluss der Beruhigungsmittel, die ihr im Husumer Krankenhaus verabreicht wurden.«

Hauffe stützte sich an der Tischplatte ab und stand auf. »Ich werde meine Sachen packen«, sagte er.

»Sie sind ein Mann voller Widersprüche«, stellte Große Jäger fest. »Sie sind mit Ihrem eigenen Leben nicht klargekommen und haben alle anderen dafür verantwortlich gemacht. Ich denke, Ihr Fall wird nicht nur die Juristen, sondern auch die Ärzte beschäftigen.« Für Hauffe unhörbar fügte er an: »Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander.«

Renate Hauffe hatte angefangen zu schnarchen. Wie getaktet kamen die Töne aus ihrem geöffneten Mund, aus dessen Winkel auch ein dünner Speichelfluss austrat. Wulf Hauffe bewegte sich auf leisen Sohlen in der Wohnung und packte seine Utensilien in eine kleine Reisetasche. Vorsichtig beugte er sich im Mädchenzimmer über seine Tochter und streichelte ihr sanft übers Haar. Dann ging er mit schweren Schritten zur Wohnungstür. Gefolgt von den beiden Beamten. Sie hatten die Tür noch nicht ganz geschlossen, als Maike schlaftrunken aus ihrem Zimmer kam, ihren Vater mit der Tasche sah, auf ihn zuwankte und ihn umklammerte.

»Papa. Du darfst mich nicht alleinlassen. Bitte, bleib doch«, jammerte das Mädchen.