ZWEI
Es lag nicht am dichten Nebel, der wie eine Dunstglocke über der Stadt hing, dass Christoph mit dem Auto zur Dienststelle kam. Er parkte den Volvo-Kombi hinter dem Haus und traf am Hintereingang mit Frau Fehling zusammen.
»Guten Morgen, Herr Johannes. Schön, dass ich Sie treffe. Ich werde langsam nervös. In zwei Tagen geht der Chef in Pension. Ihr Kollege Große Jäger hatte schon vor einem halben Jahr zugesichert, einen Beitrag für die Feierstunde zu liefern. Den habe ich fest eingeplant, ohne bis heute zu wissen, was er vorhat.«
»Ich spreche ihn noch einmal darauf an«, versicherte Christoph. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Solche Dinge sind bei Herrn Große Jäger in den besten Händen.«
Ruth Fehling schenkte ihm ein Lächeln. »Es gibt wenige in diesem Hause, die so charmant schwindeln können wie Sie«, sagte sie und wünschte ihm einen schönen Tag.
Als Nächstes begrüßte ihn der Kaffeeduft, der zu dieser frühen Stunde aus allen Räumen zu dringen schien. Auf wundersame Weise verwandelte sich das Dienstgebäude in einen Tempel der Wohlgerüche. Nur Christophs Büro war davon ausgenommen. Mommsen, der nahezu immer der Erste war, hatte bereits den Tee zubereitet, den beide schätzten. Der Darjeeling aus der Frühjahrspflückung war von solch zartem Aroma, dass er den noch in der Luft hängenden Zigarettenrauch vom Vortag nicht zu überdecken vermochte. Auch die feuchte Nebelluft, die durch die weit geöffneten Fenster hereinströmte, konnte sich gegen die Hinterlassenschaft von Große Jägers Nikotinsucht nicht durchsetzen.
Christoph tauschte mit Mommsen ein paar Worte zur aktuellen politischen Situation aus, berichtete von einem Beitrag im Fernsehen, den er am Vorabend gesehen hatte, und fragte nach Neuigkeiten aus dem dienstlichen Bereich.
»Hast du schon Zeitung gelesen?«, fragte Mommsen.
»Ja. In den Husumer Nachrichten ist ein größerer Artikel über unseren Mord abgedruckt. Darin findet sich auch der Aufruf der Polizei, dass sich mögliche Zeugen bei uns melden sollen.« Christoph blickte auf den dritten Schreibtisch im Raum. »Wilderich kommt wie immer später. Hat er dir etwas von seinen Bemühungen erzählt, einen Beitrag für die Verabschiedung vom Chef zu liefern?«
Mommsen schüttelte stumm den Kopf.
Sie arbeiteten eine Weile schweigend an Vorgängen, die auf ihren Schreibtischen lagen, bis Christoph durch das Klingeln seines Telefons aufgeschreckt wurde.
»Hallo, Frau Dr. Braun«, begrüßte er die Leiterin der wissenschaftlichen Kriminaltechnik im Landeskriminalamt Kiel.
»Sie waren doch selbst einmal hier im LKA?«, fragte Dr. Braun. »Dann sollten Sie doch wissen, dass hier ständig Personal abgebaut wird. Und wenn wir dann auch noch als Boten missbraucht werden, kommen wir überhaupt nicht mehr zu unserer eigentlichen Arbeit. Warum muss ich Ihnen das Untersuchungsergebnis der Rechtsmedizin mitteilen? Sie hätten es sich doch direkt bei Dr. Diether abholen können.«
»Damit wäre mir aber das Vergnügen entgangen, mit einer der sympathischsten Kolleginnen der ganzen Polizei zu plaudern«, säuselte Christoph in die Sprechmuschel. Jeder wusste, dass die Wissenschaftlerin tödlich beleidigt war, wenn Informationen an ihr vorbeiliefen.
»Ich bin mir nie sicher, ob Sie es ernst meinen«, kam es zweifelnd über die Leitung. »Jedenfalls liegt uns das Ergebnis der Autopsie vor.« Sie wiederholte das, was Dr. Hinrichsen bereits am Vortag bei der ersten Inaugenscheinnahme vermutet hatte. »Ich kenne auch schon Ihre nächste Frage.« Sie legte eine Pause ein und fuhr erst fort, als Christoph fragte: »Und die wäre?«
»Sie wollen wissen, ob die Frau einem Sexualdelikt zum Opfer gefallen ist. Nein! Die Pathologen haben Spermaspuren gefunden, aber die sind mindestens zwei Tage alt.«
»Also vom Sonntag.«
»Ich kann mir vorstellen, was jetzt in Ihrem männlichen Gehirn vorgeht«, sagte Dr. Braun.
Christoph tat entrüstet. »Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe an nichts gedacht.«
»Das entspricht dem männlichen Wesen«, sagte die Kieler Wissenschaftlerin lachend und verabschiedete sich.
»Dann müssen wir nach einem anderen Motiv suchen«, sagte Mommsen, nachdem Christoph ihm von dem Telefonat berichtet hatte. »Da auch das Mordwerkzeug vorbereitet war, muss der Täter die Tat wohlüberlegt geplant und durchgeführt haben.«
»Und wir müssen versuchen, herauszufinden, mit wem Ina Wiechers am Wochenende zusammen war. Wenn wir den Kreis der Verdächtigen eingrenzen können, könnten wir die Übereinstimmung durch eine DNA-Analyse feststellen.«
»Das muss aber nicht der Mörder sein«, gab Mommsen zu bedenken.
»Das stimmt. Aber wir dürfen nicht unberücksichtigt lassen, dass eventuell eine Beziehungstat vorliegt. Und da gehören nun einmal Personen aus dem Umfeld des Opfers zum engsten Kreis der Verdächtigen.«
»Und wer gehört zu diesem erlauchten Kreis?«, fragte Große Jäger, der in diesem Moment ins Büro gepoltert kam und eine Art hochbeinigen Dackel hinter sich herzog.
Christoph musste lachen. »Du solltest deinem Hund Rollschuhe verpassen, dann musst du ihn nicht gegen seinen Willen hinterherschleifen.« Er hatte es aufgegeben, dem Oberkommissar das Mitbringen des Tiers ins Büro zu untersagen. Große Jäger bestand darauf, dass der Hund eines Polizisten ein Polizeihund sei. Und dieser gehöre nun einmal auf eine Polizeistation. Basta.
»Hallo, Blödmann«, sprach Christoph die Dachsbracke an. Beim Nennen seines Namens hob der Hund müde seinen Kopf und rollte sich dann unter Große Jägers Schreibtisch zusammen.
Mommsen wedelte mit einem Blatt Papier. »Hier ist eine Anzeige eingegangen. In der Nacht von Sonntag auf Montag gab es einen Einbruchsversuch in St. Peter. Zuerst wurde eine Seitentür der Garage aufgebrochen. Dann gab es einen Versuch, ins Haus einzudringen. Der ist aber gescheitert.«
»Und wo war das?«
»›Zum Südstrand‹ heißt die Straße. Der Hauseigentümer heißt Wilken F. Harms.«
»Was wurde gestohlen?«
»Harms gibt an, dass er das nicht sagen kann. Im Protokoll steht, er habe auf mehrmalige Nachfrage immer wieder versichert, es würde sich um ›Kleinkram‹ handeln. Einen Überblick habe er nicht. Dann ist noch etwas merkwürdig. Der Einbruch soll in der Nacht zum Montag stattgefunden haben. Er wurde aber erst gestern, am Dienstag, gemeldet. Hierzu merkt das Protokoll an, dass Harms vorher nichts bemerkt haben will.«
»Das verstehe ich nicht«, warf Große Jäger ein. »Woher will er dann wissen, dass die Tat schon am Sonntag stattgefunden hat? Am Montagabend oder in der Nacht zum Dienstag wurde Ina Wiechers ermordet. Wir haben nun ein Luxusproblem. Was ist, wenn der Draht, mit dem die Frau getötet wurde, mit einem bei Harms entwendeten Werkzeug abgeschnitten wurde?«
»Das Ganze ist merkwürdig«, gab Christoph zu bedenken. »In der Schule wird mit Sicherheit, bei Harms eventuell, Werkzeug entwendet. Außerdem sind Drahtabschnitte an der Schule und bei von der Hardt auffällig. Das sieht aus, als würde uns jemand komplett verwirren wollen.«
»Ein ganz Schlauer, der glaubt, dadurch seine Spuren verwischen zu können. Einer, der meint, das perfekte Verbrechen begehen zu können. Das empfinde ich als persönliche Beleidigung. Aber was hat Christoph schon festgestellt: Der Täter gehört zu den Intelligenten.« Große Jäger drehte sich zu Mommsen um. »Was ist mit dir los, Harm? Wieso hast du keinen Kaffee gekocht?«
»Weil ich nicht vor dem Mittag mit deinem Erscheinen gerechnet habe«, erwiderte der junge Kommissar und ging zur Kaffeemaschine auf der Fensterbank.
Bei Christoph meldete sich der Beamte vom Eingang und kündigte einen Besucher an. Kurz darauf klopfte es an der Tür und ein hochgewachsener Mann trat herein. Er mochte die sechzig erreicht haben, hatte aber eine aufrechte, fast athletische Figur. Volles dunkles Haar, durchsetzt mit grauen Strähnen, ein gepflegter Schnauzbart, die Brille aus hellem Horn und ein ausdruckstarkes Kinn prägten das Gesicht des Mannes. Sein dunkler, dezent gestreifter Anzug, das blütenweiße Hemd mit der dezenten silbernen Krawatte und die vorschriftsmäßig geknöpfte Weste verliehen ihm ein Respekt heischendes Aussehen.
Er sah sich im Raum um und steuerte zielsicher auf Christoph zu. »Sind Sie der leitende Beamte?«, fragte er.
»In welcher Angelegenheit?«, gab Christoph zurück. »Mein Name ist Johannes.«
»Es geht um meine Tochter. Mein Name ist Rantzau.«
»Nehmen Sie bitte Platz.« Christoph wies auf den Besucherstuhl. Der Mann zog aus einer Innentasche seines Sakkos eine Karte hervor. »Prof. Dr. jur. Benedikt Freiherr Ehrenberg zu Rantzau«, las Christoph. Der Mann war Seniorpartner in einer Anwaltskanzlei für Wirtschaftsrecht in Hamburg, die seinen Namen trug.
»Ich bin der Vater von Rebecca Freiin Ehrenberg zu Rantzau. Wie ich gehört habe, haben Sie meine Tochter bereits kennengelernt.«
Christoph nickte, während Große Jäger mit seinem Stuhl an den Schreibtisch heranrückte. Von Rantzau maß ihn mit einem abschätzenden Blick. Dem Gesicht des Anwalts war anzusehen, dass das Urteil nicht positiv ausfiel.
»Sie haben davon Kenntnis erhalten, dass meine Tochter diskriminierenden Anfeindungen ausgesetzt ist. Ich möchte wissen, was Sie dagegen zu tun gedenken.«
»Ist das nicht in erster Linie eine Aufgabe der Schule? Oder möchten Sie Anzeige erstatten, Herr Rantzau?«, mischte sich Große Jäger ein.
»Dr. Ehrenberg zu Rantzau bitte, Herr, äh …«
»Oberkommissar Große Jäger.«
Der Anwalt sah Christoph an. »Sie sind – was?«
»Hauptkommissar.«
»Gibt es hier einen Ansprechpartner aus dem höheren Dienst?«
»Ich bedaure«, sagte Christoph. »Wir sind leider nicht so besetzt, wie es der Stellenplan eigentlich vorsieht. Ich fürchte, Sie müssen mit mir vorliebnehmen. Sie möchten also Anzeige erstatten.«
Von Rantzau lehnte sich entspannt zurück. »Das habe ich nicht gesagt. Ich kann nur nicht dulden, dass meine Tochter von diesem Pöbel gemobbt wird.«
»Wen meinen Sie mit Pöbel?«
»Die Namen sind Ihnen bekannt, wie mir die Schule vergewissert hat.«
»Wir möchten sie aber von Ihnen hören.«
»Dazu sehe ich keine Veranlassung. Wie bedeutsam mir die Angelegenheit ist, erkennen Sie daran, dass ich die Zeit aufwende, persönlich hierher nach Husum zu kommen. Ich bin ein viel beschäftigter Mann und kann mir solche Exkursionen in die nordfriesische Provinz eigentlich nicht leisten.«
»Es geht aber um das Wohlergehen Ihrer Tochter. Das sollte Ihnen der Besuch in dieser Stadt wert sein.«
Durch ein Heben der Augenbrauen gab von Rantzau zu verstehen, dass er Christophs Replik auf die von ihm vorgebrachte »nordfriesische Provinz« verstanden hatte.
»Ich investiere viel in die standesgemäße Unterkunft und Erziehung des Mädchens. Das sehe ich als Verpflichtung gegenüber Rebecca. Und das Mädchen dankt es auf ihre eigene Weise«, fügte er in einem ruhigerem Ton an.
»Glauben Sie, dass Ihre Tochter am Eidergymnasium eine optimale Bildung erfährt? Bei Ihren Möglichkeiten sollte man vermuten, dass es da andere Schulen gibt.«
»Ich möchte Rebecca eine umfassende und qualifizierte Ausbildung zukommen lassen, ohne dass sie dabei den Bezug zum tatsächlichen Leben verliert. Deshalb besucht sie auch kein Internat. Meine Wahl dieser Region kommt nicht von ungefähr. Ich wollte das Mädchen aus dem Sumpf Hamburgs heraushalten.« Von Rantzau war aufgestanden. »Ich glaube, ich habe alles gesagt. Ich werde die Angelegenheit im Auge behalten. Auch Sie, meine Herren. Auf Wiedersehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer.
»Was war das für eine Veranstaltung?«, fragte Große Jäger. »Ich habe nicht verstanden, was der Mann von uns wollte.«
»Das war doch deutlich. Er glaubt, uns unter Druck setzen zu können, damit wir gegen Nicolaus von der Hardt vorgehen, ohne dass von Rantzau dabei in Erscheinung tritt. Wasch mich, aber mach mich nicht nass, heißt das Spiel.«
Große Jäger parkte seine Beine in der Schreibtischschublade, zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch in die Luft und sah Christoph an. »Und was willst du jetzt unternehmen?«
»Ich werde sogleich ein Bataillon in Bewegung setzen. Harm und Hilke können nach dem Besenstiel suchen, von dem die Holzstücke abgebrochen wurden, die für die Knebel an der Drahtschlinge verwendet wurden.«
»Das ist eine gute Idee«, pflichtete Große Jäger bei. »Hilke ist dafür die ideale Besetzung. Als Hausfrau und Hexe müsste sie sich am besten mit dem Besenstiel auskennen.«
»In der Zwischenzeit kannst du die Berichte fertigstellen, auf die ich schon seit geraumer Zeit warte.«
Der Oberkommissar bemühte sich, die Augen weit aufzureißen und einen entsetzten Gesichtsausdruck zu machen. »Das würde ich ja gern machen, aber ich glaube, Hilke braucht einen erfahrenen Kollegen als Begleitung für die Aufgabe. Ich werde in den sauren Apfel beißen und sie auf der Suche nach dem Besenstiel begleiten.«
Die rotblonde Kommissarin mit dem wuscheligen Haar, der Stupsnase und den Sommersprossen saß auf dem Beifahrersitz und hatte sich vom Oberkommissar informieren lassen.
»Hast du auch solche Probleme mit deinen Kindern, Tante Hilke?«, fragte Große Jäger und fluchte im Anschluss über einen anderen Autofahrer, der sich korrekt an das vorgeschriebene Tempolimit hielt: »Dieser Schusselmeier. Der hat seinen Führerschein wohl selbst geschnitzt. Merk dir das Kennzeichen. Der bekommt eine Anzeige wegen zu schnellen Parkens.«
»Nun behalt die Nerven, Onkel Remmidemmi.« Hilke spielte damit auf Große Jägers zweiten Vornamen Remigius an. »Meine beiden Töchter versuchen zwar auch manchmal, ihren eigenen Weg zu gehen. Das ist ganz natürlich. Aber wir finden letztlich immer einen Kompromiss. Auch das gehört dazu.«
»Deine Deern sind nur deshalb so brav, weil ihr in der Abgeschiedenheit von Treia haust. Da hast du ja keine Chance, aus der Art zu schlagen. Das ist bei den Kids, die in der Metropole Friedrichstadt die Schule besuchen oder gar im Sündenbabel St. Peter-Ording wohnen, schon anders.«
Hilke lachte herzerfrischend. »Deine Interpretationen sind einmalig. Wie gut, dass du nicht als Marketingmanager für die Touristenzentrale arbeitest.«
»Dann hätten wir diesen schönen Landstrich für uns allein.« Er knuffte seiner Kollegin vorsichtig in die Seite. »Nur wir beide. Das wäre doch was.«
»Ich bin glücklich verheiratet. Außerdem könnte ich mir dich nicht als Stiefvater meiner Töchter vorstellen.«
Sie schwiegen eine Weile, bis Große Jäger vor dem Schulgebäude hielt. Von Weitem sahen sie den Hausmeister, der im Eingang des Gebäudes stand.
»Das ist mein Freund Harry«, stellte der Oberkommissar Trochowitz vor. »Und dieses ist meine Lieblingskollegin. Wir brauchen noch einmal deine Hilfe.«
Der Hausmeister sah die beiden Polizisten ungläubig an. »Meine?«
»Ja. Hast du einen Besen?«
»Schöner Mist«, fluchte der Hausmeister. »Van Oy hat mich fürchterlich angemacht, weil der Zugangsbereich nicht gefegt ist.« Er zeigte auf den Platz vorm Eingang, auf dem Laub, Abfall und Schmutz durch den sanften Wind hin und her bewegt wurden. »Ich bin ja einiges gewohnt an dieser Penne, aber dass die mir auch noch den Besen klauen …«
»Seit wann vermisst du den?«
Trochowitz kratzte sich den Hinterkopf. »Wart mal. Montag hab ich noch gefegt. Nach der Schule. Da stand dieser komische Araber da vorne. Am Ende vom Schulhof.«
»Kommt der oft?«
»Den habe ich schon manches Mal verjagt. Zuerst hat der immer versucht, in die Umkleidekabine der Mädchen zu blinzeln, wenn Sportunterricht war. Dann haben sich einige Schülerinnen beschwert, dass er sie angemacht hat. Auf eine blöde Art. Der Direktor hat gesagt, ich soll da mal ‘nen Auge drauf werfen. Das gibt sonst Stress mit den Eltern. Was will dieses Ölauge eigentlich? Der soll die Pfoten von unseren Mädchen lassen.«
»Sie sollten keine abwertenden Bezeichnungen wie diese verwenden. Und was ist mit dem Besen?«, sagte Hilke Hauck.
»Gestern wart ihr da. Da war ein großes Durcheinander. Und nun ist er weg.«
»Wo hast du ihn aufbewahrt?«, setzte der Oberkommissar die Befragung fort.
»In meiner Werkstatt. Die habe ich dir doch gestern gezeigt.«
Sie gingen erneut zu dem kleinen Raum, in dem der Hausmeister seine Utensilien aufbewahrte.
»Hier.« Trochowitz zeigte auf die Bürste mit den groben Borsten. Vom Stiel war noch ein kleiner Rest vorhanden. Der überwiegende Teil fehlte. Er musste abgebrochen worden sein, wie der zersplitterte Ansatz zeigte.
Der Hausmeister wollte zum kümmerlichen Rest greifen, um ihn den beiden Beamten zu zeigen. Doch Große Jäger hielt ihn zurück.
»Nicht anfassen. Den nehmen wir mit. Das könnte für uns wichtig sein.«
»Wieso das denn?«
Der Oberkommissar zwinkerte mit dem Auge. »Das ist das Geheimnis der Polizei, Harry.« Er klopfte Trochowitz auf die Schulter. »Danke für die Hilfe.«
»Verstehe ich nicht. Ich dachte, ihr fragt was Wichtiges.«
»Was wäre das?«
»Na, wegen dem jungen von der Hardt. Der tyrannisiert doch die halbe Schule. Da traut sich doch keiner, was zu sagen. Besonders auf die kleine Chinesin hat er es abgesehen.«
»Rebecca? Das ist eine Deutsche.«
»Kann sein. Die mein ich. Die mit den Schlitzaugen. Sie soll wohl ganz prima Klavier spielen können. Ist ja nicht mein Ding, dieses Geklimper. Ich steh mehr auf deutsche Sachen. Aber ich hab nix gesagt …«
»Kennst du die drei Affen, Harry?«
Der Hausmeister überlegte einen Augenblick. »Meinst du die mit dem Nichtshören, Nichtssehen und Nichtssabbeln?«
Große Jäger nickte.
»Was soll das denn nun wieder heißen?«
»Ist schon in Ordnung, Harry.« Große Jäger kramte einen Einmalhandschuh hervor und nahm den Rest des Besenstiels mit.
Auf dem Weg zum Auto sagte er zu Hilke: »Wir sollten noch einmal mit dem Libanesen, den Trochowitz als Ölauge bezeichnet hat, sprechen.« Er rief Mommsen an und ließ sich von ihm die Anschrift durchgeben.
Das Haus am Rande der Stadt, in dem Fouad al-Shara wohnte, machte einen heruntergekommenen Eindruck. Aus der offenen Haustür drangen exotische Essendünste. Eine Heerschar von kleinen Kindern hielt im Spiel inne und musterte aus sicherer Entfernung neugierig die beiden Beamten.
Große Jäger winkte einem kleinen Mädchen zu, das ihn aus großen runden Augen anstarrte. »Hallo«, sagte er. Doch das scheue Kind versuchte, hinter einem Mauervorsprung in Deckung zu gehen. Im Haus war es dunkel. Anscheinend waren hier mehrere Familien untergebracht. Da Namensschilder oder andere Orientierungshinweise fehlten, klopften sie an eine Tür, hinter der eine lebhafte Unterhaltung im Gange war. Nachdem niemand öffnete, drückte der Oberkommissar die Klinke hinunter und steckte seinen Kopf durch den Spalt. Sofort erstarb das muntere Palaver, und drei Frauen mit Kopftuch sowie eine Handvoll Kinder blickten ihn an.
»Guten Tag. Ich suche die Familie al-Shara.«
Zunächst herrschte Schweigen, bis eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm sagte: »Frau. Garten. Macht Wäsche.«
Sie verließen das Haus und umrundeten es. Auf dem Hof standen mehrere Wäschepfähle, zwischen denen Leinen gespannt waren. Eine rundliche Frau unbestimmten Alters war damit beschäftigt, Wäschestücke aufzuhängen.
»Frau al-Shara?«
Sie blickte auf.
»Sind Sie Frau al-Shara? Fouads Mutter?«
Sie nickte zögerlich.
»Verstehen Sie mich? Sprechen Sie Deutsch?«
Sie deutete ein Kopfschütteln an und hielt sich eine Hand vor die Lippen als Zeichen dafür, dass sie nicht antworten konnte.
»Wir suchen Fouad. Wir sind von der Polizei.«
Die Mutter verstand zumindest so viel, dass sie das Wort »Polizei« zuordnen konnte. Ein Erschrecken trat in ihren Blick.
»Fouad guter Junge. Nix böse«, radebrechte sie. »Immer gut zu Eltern.«
»Wir möchten nur mit ihm reden. Wo finden wir ihn?«, versuchte Hilke die Frau zu beruhigen.
»Nur reden?«
»Ja. Nicht mehr.«
»Vielleicht ist Marktplatz. Fouad oft Marktplatz.«
»Na schön«, stöhnte der Oberkommissar. »Auf ins Zentrum.« Auf dem Weg zum Auto klopfte er sich gegen die Taschen seiner Jeans, dann durchsuchte er seine Lederweste.
»Ist dir deine gute Laune abhandengekommen?«, lästerte Hilke Hauck.
»Schlimmer. Ich habe keine Zigaretten mehr.«
Sie fuhren zurück in die Stadtmitte und fanden einen Parkplatz auf dem kopfsteingepflasterten Markt. Große Jäger zeigte auf eine Gruppe junger Leute, die auf den Stufen des historischen Marktbrunnens hockte. »Das ist er. Der Linke.«
Sie stiegen aus.
Während Hilke Hauck langsam auf die Gruppe zuging, rief ihr der Oberkommissar hinterher: »Warte. Ich hole mir schnell Zigaretten.« Er verschwand in Richtung Prinzenstraße.
Hilke Hauck hatte sich den jungen Männern genähert. »Hallo«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme zwanglos klingen zu lassen. »Bist du Fouad?«
»Mensch, jetzt machen dich schon alte fette Weiber an«, lästerte einer der Jugendlichen.
Al-Shara warf sich in die Brust. »Ich bin der Größte. Von mir wollen alle gevögelt werden. Hast du das nicht gewusst, Macker?«
»Können wir normal miteinander reden?«, fragte Hilke und blieb vor dem Jungen stehen. »Es klingt besser, wenn wir wie Erwachsene miteinander umgehen.«
»Mach mich nicht an. Ich hab dich nicht zum Quatschen eingeladen.«
Die Kommissarin ließ sich durch das Machogehabe des Jungen nicht beeindrucken. Eines ihrer Schwerpunktthemen in der Husumer Kripostelle war die Bearbeitung der Jungendkriminalität. Sie wusste, dass sich Fouad vor seinen Kameraden produzieren wollte.
»Ich bin von der Polizei. Ich möchte mit Ihnen reden. Können wir ein paar Schritte gehen?«
Einer der beiden anderen fing lauthals an zu lachen. »Sieh mal. Fouad läuft einem Rock hinterher. Wie ein Schoßhund.«
Der Stich saß. »Verpiss dich, Alte. Sonst kack ich dich an«, warf sich der Libanese in Pose und stieß Hilke gegen die Brust.
Das konnte die Kommissarin nicht mehr akzeptieren. »Jetzt reicht’s«, sagte sie energisch und machte einen Schritt auf Fouad zu. Ehe sie reagieren konnte, holte der Jugendliche aus und schlug ihr mit der Faust mitten ins Gesicht. Es knackte laut und vernehmlich, dann schossen Hilke die Tränen in die Augen. Benommen taumelte sie zurück. Eine Welle des Schmerzes erfasste ihre Nase und breitete sich über den ganzen Kopf aus. Ihre Knie wurden weich, und sie sackte zuerst in die Hocke, dann auf den Boden. Blut schoss aus Nase und Mund.
Durch einen Tränenschleier sah sie, wie der Jugendliche ausholte und sie treten wollte, als er plötzlich zurückgerissen wurde.
»Ich mach dich kalt, du Kanake«, sagte eine fremde Stimme. »Jetzt bist du dran.«
Fouads Stiefel verschwanden aus Hilkes Gesichtsfeld. Sie hatte Mühe, den Worten um sich herum zu folgen, so sehr schmerzte es.
»Mach kein’ Scheiß. Pack das Messer weg«, hörte sie wie durch Watte die Stimme des Libanesen. »Was soll das, eh?«
»Ich bring dich um, du blödes Schwein, wenn ich dich noch einmal in Friedrichstadt sehe. Verpiss dich. Auf immer.«
Von ferne hörte Hilke die vertraute Stimme Große Jägers. »Halt. Polizei. Sofort aufhören«, drang die markige Stimme des Oberkommissars über den Marktplatz. Schwere Schritte näherten sich. Dann sah sie verschwommen das unrasierte Gesicht ihres Kollegen.
»Hilke, Mädchen, was ist mir dir? Bist du okay?«, fragte der Oberkommissar und presste vorsichtig ihr Gesicht an seine Brust. Mit dem Ärmel seines Holzfällerhemds versuchte er behutsam, Blut abzutupfen, ohne dabei an die aufgeplatzten Lippen zu kommen. »Ich habe kein anderes Tuch«, entschuldigte er sich.
»Verdammt noch mal! Kann mal jemand den Rettungswagen rufen!«, fluchte Große Jäger in die Runde der Gaffer, die einen Kreis um die beiden Beamten zu bilden begannen. »Und die Polizei!«
Hilke schien es, als würde eine Ewigkeit verstreichen, bis sie in der Ferne das Martinshorn des Rettungswagens hörte. Während der ganzen Zeit hielt der Oberkommissar ihren Kopf, streichelte sanft über ihr Haar und murmelte unentwegt: »Es wird alles wieder gut, mein Mädchen. Alles.«
Christophs Beine baumelten in der Luft. Er saß auf der Ecke von Große Jägers Schreibtisch. Mommsen, der den Arbeitsplatz gegenüber vom Oberkommissar hatte, sah ebenfalls hinüber.
»Nun mach dir keine Gedanken. Gegen solche überraschenden Attacken sind wir machtlos. Das ist ein Teil unseres Berufsrisikos.«
»Hör doch auf«, schimpfte Große Jäger. »Hätte ich Hilke nicht allein gelassen, wäre ihr nichts passiert. Der Bursche hat sich doch nur an sie herangewagt, weil sie allein auf ihn zugegangen ist.«
»Es ging nur um eine harmlose Befragung. Dass Fouad al-Shara so reagieren würde, ist für alle vollkommen unverständlich.«
Der Oberkommissar wollte zum Telefon greifen, doch Christoph drückte den Hörer wieder auf die Gabel zurück. »Es macht keinen Sinn, wenn du alle zehn Minuten im Krankenhaus anrufst. Damit machst du nur die Ärzte nervös. Die Leute tun alles, was in ihrer Macht steht. Soweit wir bisher gehört haben, hat Hilke ein gebrochenes Nasenbein und zwei ausgeschlagene Zähne. Vielleicht kommt noch eine Gehirnerschütterung dazu.«
»O Mann«, fluchte Große Jäger und hieb mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Wenn ich den Kerl erwische …«
»… dann machst du gar nichts«, unterbrach ihn Christoph. »Die Kollegen aus Friedrichstadt sind informiert und sehen sich nach al-Shara um. Sie steuern auch sporadisch die Wohnung der Eltern an. Es ist eine Frage der Zeit, bis wir ihn haben.«
Große Jäger stand auf. »Ich fahre noch einmal rüber und helfe bei der Suche.«
Christoph drückte seinen Kollegen wieder in den Stuhl zurück. »Gar nichts machst du. Du bleibst hier sitzen und bezähmst deine Ungeduld.«
»Ich kann hier nicht rumsitzen.«
»Doch. Wenn du nicht augenblicklich Ruhe gibst, ketten wir dich mit Handschellen an deinen Schreibtisch. Ich lasse dich nicht eher los, bis du alle rückständigen Berichte aufgearbeitet hast.«
Der Oberkommissar zeigte seine nikotingelben Zahnreihen. »Okay. Ich kapituliere, wenn du mit solchen massiven Drohungen kommst.«
»Gut. Noch einmal zum Tathergang. Du hast gesehen, wie Nicolaus von der Hardt und Jan Harms dazugekommen sind und den libanesischen Jungen mit einem Messer bedroht haben.«
»Nicht nur ihn, sondern auch die beiden anderen Kumpels von al-Shara, obwohl die sich nicht am Angriff auf Hilke beteiligt haben.«
»Dann hat Nico verhindert, dass Hilke noch mehr zugestoßen ist.«
»Fouad wollte zutreten. Das hätte er sicher auch gemacht. Ich habe zwar gerufen, aber ich war zu weit vom Brunnen entfernt, am Rande des Marktplatzes, wo die Prinzenstraße einmündet.«
»Das hätten wir gestern auch nicht geglaubt, dass sich der junge von der Hardt als Retter einer Polizistin entpuppt.«
»Dieser Ziegenbart ist mit Sicherheit nicht mein Freund. Trotzdem hat er beherzt eingegriffen. Ich denke, wenn ich den Bericht schreibe, sollte ich vielleicht einen Blackout haben und vergessen, dass er den Libanesen mit einem Messer bedroht hat.«
Mit einem skeptischen Blick auf Große Jäger und ein paar mahnenden Worten an Mommsen verließ Christoph das Büro und ging zu Polizeidirektor Grothe, der um seinen Besuch gebeten hatte.
»Ich weiß, Frau Fehling«, sagte er, als er das Vorzimmer betrat. »Der Kollege hat alles fest im Griff. Er will nichts verraten. Es soll eine Überraschung werden.«
Die Sekretärin des Chefs zog die Stirn kraus. »Hoffentlich wird die Überraschung nicht zu groß. Schließlich kenne ich Herrn Große Jäger auch schon einige Jahre.« Dann zeigte sie mit ihrer gepflegten Hand zur Verbindungstür. »Der Chef erwartet Sie.«
Es wird eines der letzten Male sein, überlegte Christoph, dass ich dieses Büro betrete und der massige rotgesichtige Polizeidirektor hinter dem altertümlichen Schreibtisch thront. In Zukunft wird ein anderer Wind wehen. Allein der durchdringende Geruch von Grothes Zigarren wird ab der kommenden Woche fehlen.
Der Chef wies mit der Zigarre auf den Besucherstuhl. »Erzählen Sie.«
Christoph berichtete von dem tätlichen Angriff auf Hilke Hauck. Es war typisch für Grothe, dass er dazu keinen Kommentar abgab. Er musste nicht erwähnen, dass jeder Kollege nach dem Täter suchen würde. Das war eine Selbstverständlichkeit. Nachfragen waren auch nicht erforderlich, da Christoph sich angewöhnt hatte, kurz und präzise zu berichten. Der Polizeidirektor hatte nie seine Dithmarscher Wurzeln verhehlt. Jedes überflüssige Wort war ihm zuwider.
»Ich hatte heute Morgen Besuch«, wechselte Grothe übergangslos das Thema. »Der hat sich über Sie beschwert, mein Junge, weil Sie seiner Auffassung nach nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit den Fall seiner Tochter verfolgen.«
Also war von Rantzau nach seinem Auftritt bei der Kripo noch beim Leiter der Polizeidirektion vorstellig geworden. Grothe zog genussvoll an seiner Zigarre, spitzte die Lippen und blies den Rauch in Ringen zur Zimmerdecke. »Ich habe dem Mann die Adresse des Innenministers gegeben. Dort kann er mehr Personal anfordern. Und wenn ihm das nicht passt, soll er nächste Woche wieder zu mir kommen.«
»Aber dann sind Sie doch nicht mehr da«, sagte Christoph.
»Eben.« Der Polizeidirektor beugte sich über seinen Schreibtisch, griff zu einem Montblanc-Füller und begann, an den Rand eines Protokolls Notizen zu machen. Das war das bekannte Signal dafür, dass die Unterredung abgeschlossen war. Auf Christophs »Tschüss« reagierte Grothe wie gewohnt nicht.
Als er ins Büro zurückkehrte, saß Große Jäger am Schreibtisch, hatte den Kopf zwischen den Händen und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Arbeitsfläche ab. Der Zigarette, die zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand eingeklemmt war und deren Asche herabfiel, schenkte er keine Aufmerksamkeit.
»Klaus Jürgensen hat sich gemeldet«, berichtete Mommsen. »Es ist gelungen, das Handy der Toten zu lokalisieren. Damit wird oft telefoniert. Wir haben darauf verzichtet, die Nummer anzuwählen.«
»Wo ist der Standort?«
»Die Gespräche kommen aus Heide.«
»Lässt sich das näher eingrenzen?«
»Heute Vormittag lag der Bereich rund um die Klaus-Groth-Schule.«
»Da ist die Ehefrau von van Oy tätig. Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Kann man den Standort jederzeit bestimmen?«
Mommsen nickte. »Immer, wenn telefoniert wird.«
»Gut, dann werden wir beide jetzt nach Heide fahren.«
»Und ich?«, brummte Große Jäger unwirsch.
»Du kümmerst dich um deine Berichte. Und um deinen Hund. Schließlich hat Harm auf Blödmann aufgepasst, während du in Friedrichstadt warst.«
Der Oberkommissar lachte. »Kinder hüten doch gern Hunde.«
Christoph und Mommsen stimmten in das Lachen ein, bevor sie das Büro verließen.
Die Fahrt verlief ereignislos. Mommsen war im Unterschied zu Große Jäger ein schweigsamer Beifahrer. Er hielt Kontakt zur Kriminaltechnik in Flensburg, die ihn mit aktuellen Informationen zum Handy von Ina Wiechers versorgte.
»Wer auch immer das Mobiltelefon hat, nutzt es ungeniert und fast ununterbrochen.«
»Das ist zu unserem Vorteil«, meinte Christoph.
Mommsen dirigierte ihn zum Marktplatz der heutigen Metropole Dithmarschens, der flächenmäßig der größte Deutschlands ist und zum Parken genutzt werden kann.
Sie fanden problemlos einen Platz vor dem dunklen Gebäude mit dem markanten Spitzgiebel, von dem immer noch der Schriftzug »Westholsteinische Bank« prangte. Die war schon lange Geschichte und über eine Kette von Fusionen und Übernahmen heute in italienischen Händen.
»Wie wollen wir den Nutzer des Handys nun finden?«, fragte Mommsen.
»Wenn heute früh aus dem Umfeld einer Schule telefoniert wurde, dann können wir vermuten, dass es sich um einen Schüler handelt. Wir sollten Ausschau nach einem Jugendlichen mit einem Handy am Ohr halten.«
Sie begannen ihren Bummel beim Traditionskaufhaus Böttcher und schlenderten gemächlich über den Fußweg zwischen der Front lebhafter Geschäfte in Richtung der Marktkirche. Auf Höhe der Volksbank hatte sich eine Horde Schüler auf den Bänken eines Imbisses niedergelassen und war in ein lebhaftes und lautstarkes Palaver verfallen. Die Kinder mochten vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein.
»Lass mich mal«, übertönte ein dürres Mädchen die anderen und versuchte nach etwas zu greifen, das ein blonder Junge, dem eine Art dünner Zopf vom Hinterhaupt herabhing, geschickt vor ihr in Sicherheit brachte.
Die beiden Beamten steuerten auf die Schülergruppe zu.
»Hallo«, sagte Christoph freundlich. »Um was geht es?«
»Ach, nichts«, sagte der Junge und verbarg einen Gegenstand in seiner ausgebeulten Hosentasche.
Mommsen hatte sein Handy hervorgeholt und tippte eine Nummer ein. Erschrocken fuhr der Junge zusammen, als aus seiner Hose schrill die Anfänge der Marseillaise erklangen.
»Woher hast du das Telefon?«, fragte Christoph.
»Ich habe keins«, sagte der Junge und griff instinktiv von außen an die Stelle, von der sich das Handy unablässig meldete.
»Pass mal auf. Wir sind von der Polizei. Wir wollen dir nichts Böses. Uns interessiert nur, woher du das Gerät hast.«
»Das ist meins«, antwortete der Schüler trotzig.
»Schön. Du sagst uns jetzt eure Telefonnummer. Dann rufen wir deine Eltern an und bitten sie, hierherzukommen. Wir klären das dann gemeinsam mit ihnen. Einverstanden?«
»Sie sind nicht von der Polizei«, schimpfte der Junge lautstark. Inzwischen waren einige Passanten stehen geblieben und verfolgten aufmerksam die Auseinandersetzung.
»Ich zeige dir meinen Ausweis. Und dann gehen wir gemeinsam dort zur Dienststelle der Polizei.« Christoph wies mit dem ausgestreckten Arm auf die andere Seite des großen Platzes. Dort war das Dienstgebäude der Heider Kollegen zu sehen.
»Ich will nicht.« Der Schüler stand auf und wollte fortgehen, aber Mommsen packte ihn am Arm und hielt ihn fest. Der Junge versuchte, den Kommissar zu treten und sich loszureißen, aber Mommsen hatte ihn so gepackt, dass die Tritte ins Leere liefen.
»Lassen Sie das Kind los«, empörte sich eine mit zwei Einkaufstaschen beladene Frau mittleren Alters.
»Unverschämtheit«, stimmte ein Mann zu.
Es hatte sich ein dichter Ring von Neugierigen gebildet, die die Geschehnisse beobachteten und eine zunehmend kritische Haltung gegenüber den beiden Beamten einnahmen.
»Wir sind von der Polizei«, versuchte Christoph die Gemüter zu beruhigen.
»Eine ganz neue Masche«, kommentierte jemand aus den Reihen der Passanten. Als der Junge jetzt auch noch rief: »Die wollen mir mein Handy klauen«, schlug die Stimmung unter den Passanten vollends um.
Der Ring von Zuschauern wich auseinander, als ein blau-silberner Streifenwagen den Fußweg entlangkam und hielt. Ihm entstiegen eine junge Frau und ein älterer Polizist, bei dem ein dichter Wulst silbergrauer Haare unter der Mütze hervorlugte. Er tippte an seinen Mützenschirm und fragte in die Runde: »Was ist hier los?«
»Ich habe Sie gerufen.« Ein älterer Mann trat aus dem Kreis der Leute hervor. »Ich bin mir nicht sicher, was die beiden da von dem Kind wollen.«
»Hallo.« Christoph ging auf den Beamten zu und wies sich aus. »Wir sind Kollegen und kommen von der Husumer Kripo. Ich glaube, den Rest sollten wir auf der Dienststelle klären. Nehmen Sie den Jungen mit?«
Der Polizist nickte. »Geht in Ordnung.« Dann machte er gegenüber den Zuschauern eine Handbewegung, als würde er kleine Kinder fortscheuchen. »So, Leute. Jetzt können Sie weitergehen. Hier ist alles uninteressant.«
Bereitwillig löste sich die Versammlung auf.
Es ist erstaunlich, dachte Christoph, welche Autorität eine Uniform in Deutschland hat. Sie überquerten den großen Marktplatz und gingen zur gegenüberliegenden Dienststelle der Polizeizentralstation Heide.
Der Schüler hockte wie ein armer Sünder auf der Stuhlkante vor dem Schreibtisch eines uniformierten Beamten.
»Er heißt Alexander Böhme und kommt aus Heide«, erklärte der Polizist.
Christoph nahm neben Alexander Platz, während Mommsen sich an den Türrahmen lehnte.
»Wir wissen, dass dir das Handy nicht gehört.«
Der Junge sah Christoph mit großen Augen an. Er fühlte sich ertappt.
»Ich gehe davon aus, dass du es auch nicht gestohlen hast.«
»Ich hab’s gekauft. Ehrlich«, antwortete Alexander schnell.
»Von wem?«
»So ‘n Typen. War schon größer. Den hab’n wir auf’n Markt getroffen. Der hat uns angequatscht, ob wir billig ‘nen Handy schießen woll’n. Is auch noch ‘ne Karte drin. Kann man kostenlos mit rumtelefonieren.«
»Wie sah der Mann aus, der dir das Handy verkauft hat?«
»War kein richtiger Mann. Dunkle Haare, so ‘n schmalen Bart. War mit dem Kumpel da. Ein dicker. Rothaarig wie Pumuckl. Und einem Clearasilacker.«
»Einem was?«
»Na. So ‘ne Pickelfresse.«
»Wann war das?«
»Gestern. Nach der Schule. Wir sind durch Hölle und Himmel direkt zum Markt.«
Jetzt lächelte der uniformierte Polizist und erklärte: »Um von der Klaus-Groth-Schule zum Markt zu gelangen, geht man durch zwei kleine Straßen. Eine heißt Hölle, die andere ist die Himmelreichstraße.«
»Was hast du für das Handy bezahlt, Alexander?«
»’nen Hunni.«
»Hundert Euro. Donnerwetter. Das ist eine Menge Geld für einen Zwölfjährigen. Hast du immer so viel Geld bei dir?«
Der Junge knetete seine Hände und sah schuldbewusst nieder.
»Nein«, antwortete er eine Weile später.
»Und? Woher hast du das Geld?«
»Ich war schnell zu Hause und habe es bei meiner Mutter genommen. Die hat immer ‘nen bisschen Geld im Schrank versteckt.«
»Findest du das richtig?«
Alexander machte einen Schmollmund. »Nee. Aber das war billig. Und wir konnten damit umsonst telefonieren. Meine ganze Klasse hat das gemacht.« Die großen braunen Augen sahen Christoph ängstlich an.
»Komme ich jetzt vor Gericht?«
»Nein. Das nicht. Wir werden jetzt deine Eltern benachrichtigen, damit sie dich abholen. Aber Strafe muss sein. Schließlich hast du unerlaubt Geld entwendet. Habt ihr einen Garten?«
Der Junge nickte.
»Gut. Dann wird der Kollege«, er zeigte auf den uniformierten Beamten, »jetzt ein Protokoll ausfüllen. Handschriftlich. Darin wird stehen, dass du zwanzig Mal bei euch zu Hause den Rasen mähen wirst, als Strafe dafür, dass du deiner Mutter Geld gestohlen hast. Bist du damit einverstanden?«
Hastig nickte Alexander. »Klaro«, kam es erleichtert über seine Lippen.
Christoph griff zum Handy, das auf dem Tisch lag. »Krieg ich das wieder?«, fragte der Junge.
Christoph klärte den Schüler auf, dass dies nicht der Fall sei. Er musste ihn auch enttäuschen, als Alexander stattdessen die einhundert Euro zurückhaben wollte. Offenkundig hatte der Junge Zweifel an der Gerechtigkeit, als sie ihn in der Obhut des Heider Polizisten zurückließen.
»Für so dumm hätte ich Nicolaus von der Hardt nicht gehalten«, sagte Christoph, als sie wieder im Auto saßen und zurückfuhren. »Für lumpige einhundert Euro verkauft er das Handy der Toten in Heide. Hält der uns für so naiv?«
»Man fragt sich, was in den Köpfen solcher Leute vor sich geht«, antwortete Mommsen. »Das macht ihn natürlich verdächtig. Er muss sich eine gute Erklärung dafür einfallen lassen, wie er an das Mobiltelefon des Mordopfers kommt.«
»Da fahren wir doch gleich nach St. Peter-Ording und befragen ihn.«
Christoph wählte die Bundesstraße Richtung Büsum, bog auf der Höhe von Wöhrden ab und passierte die urgemütliche Hebbelstadt Wesselburen. Über den kilometerlangen Eiderdamm, der durch das Sperrwerk Schleswig-Holsteins größten Fluss vor Sturmfluten schützt, aber die normale Flut durchlässt, erreichten sie Eiderstedt. Von hier waren es nur noch wenige Fahrminuten bis St. Peter.
Das Haus der von der Hardts lag ruhig und verlassen da. Niemand öffnete auf ihr Klingeln. Es stand kein Auto vor der Tür. Christoph umrundete das Gebäude. Aber auch der Garten war verwaist.
Sie waren gerade wieder in ihren Dienstkombi eingestiegen, als sich die Leitstelle der Polizeidirektion meldete und nach ihrem Standort fragte.
»Es gibt ein Problem in Friedrichstadt«, erklärte der Beamte. »Dort hat es eine schwere Körperverletzung am Eidergymnasium gegeben. Die Adresse ist …«
»Danke, die kennen wir«, unterbrach ihn Christoph. »Liegen weitere Informationen vor?«
»Leider nicht. Die Kollegen aus Friedrichstadt sind vor Ort. Der Notarzt ist schon unterwegs.«
»Wir übernehmen«, sagte Christoph, während Mommsen das mobile Blaulicht auf dem Wagendach platzierte.
Für die vierzig Kilometer benötigten sie fast zwanzig Minuten, da auf der engen und gewundenen Grünen Küstenstraße trotz Blaulicht und Martinshorn nur ein schweres Vorankommen war.
Als sie das Schulgebäude erreichten, standen neben dem Rettungswagen und dem Notarztwagen auch zwei Streifenwagen. Ein Beamter der Zentralstation erklärte ihnen: »Wir sind vom Hausmeister alarmiert worden. Der hat ein schwer verletztes Mädchen gefunden. Er sagt, ihr Name sei Rebecca zu Rantzau. Sie ist Schülerin am Eidergymnasium. Im Augenblick wird sie durch den Notarzt versorgt. Mehr wissen wir noch nicht.« Er wies ihnen den Weg zum Musikraum der Schule.
Dort waren der Notarzt und zwei Rettungsassistenten damit beschäftigt, Rebecca zu versorgen.
Einer der Männer in den orangefarbenen Westen erklärte Christoph, dass der Arzt dem Mädchen ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht habe.
»Jetzt warten wir auf die Schraube.«
»Was hat Rebecca? Warum wurde der Rettungshubschrauber angefordert?«
»Jemand hat ihr die rechte Hand zertrümmert. Das sind vermutlich multiple Frakturen. Ob noch andere Verletzungen vorliegen, ist nicht erkennbar. Äußerlich zumindest nicht. Die Patientin hat einen schweren Schock erlitten.«
»Warum warten wir auf den Hubschrauber?«
Der Rettungsassistent sah Christoph an, als würde der nach dem kleinen Einmaleins fragen. »Die Schraube muss die Patientin in die Kieler Uni fliegen. Dort gibt es eine spezielle Handchirurgie. Es gibt wenig Gegenden im menschlichen Körper, wo der Knochenbau so komplex ist wie in der Hand«, erklärte der Mann und wurde dann wieder vom Arzt abgerufen.
Christoph sah auf das Mädchen hinab, das mit kreidebleichem Gesicht am Boden lag. Die Rettungsleute hatten einen Zugang gelegt und versorgten über diesen das Opfer mit Medikamenten. Rebecca atmete flach. Ihre Augen waren geschlossen. Die rechte Hand, um die sich der Notarzt bemühte, war eine einzige blutverschmierte Masse.
»Wir wissen, dass sie eine hervorragende Pianistin war. Möglicherweise am Anfang einer großen Kariere. Das muss auch der Täter gewusst haben. Aus einem uns unbekannten Motiv hat er die Zukunft des Mädchens zerstören wollen. Ich bin kein Mediziner, aber es scheint ihm gelungen zu sein. Das ist nicht weniger grausam als Mord.«
Die Frage, ob man mit Rebecca sprechen könnte, erübrigte sich. Deshalb verließen die beiden Beamten den Raum. Mommsen griff zum Telefon und verständigte die Spurensicherung. Es gab wieder Arbeit für Klaus Jürgensen und sein Team. Aufgrund der Blutspritzer, die überall im Musikraum verteilt waren, lag die Vermutung nahe, dass der Fundort auch der Tatort war.
Auf dem Flur standen der Hausmeister, Frau Wieslmayr, der Christoph im Büro des Schulleiters begegnet war, als sie sich über das Mobbing gegenüber Rebecca beklagte, und Wulf Hauffe. Alle drei machten einen betroffenen Eindruck. Der Lehrer war blass. Die Augen lagen tief in den Höhlen und waren von dunklen Schatten umringt. Vermutlich hatte Hauffe so gut wie nicht geschlafen, nachdem er gestern gegen seine Tochter handgreiflich geworden war und dabei erfahren hatte, dass sie schwanger war.
»Ist noch jemand im Hause?«, fragte Christoph.
»Ja – äh – nein«, antwortete Harry Trochowitz. Als Christoph ihn fragend ansah, erklärte der Mann: »Herr van Oy war vorhin hier. Nachdem das hier passiert war, wollte ich ihm Bescheid sagen. Aber da war er schon wieder weg. Ich habe nicht mitgekriegt, wann er gegangen ist.«
»Sonst ist niemand hier gewesen?«
Der Hausmeister fuhr sich mit der Hand zum Kinn. »Ich weiß nicht so recht. Das war nur ‘nen Zufall, dass ich die Deern gefunden habe. Ich hab gesehn, dass dieser Araber vorhin ums Haus geschlichen ist.«
»Sie meinen den, auf den Sie uns gestern aufmerksam gemacht haben?«
»Genau der. Ich bin durch die Räume und wollte nachsehen, ob das Ölauge reingekommen ist. Der ist doch spitz wie sonst was und lungert immer in der Nähe herum. Der hat es auf unsere Mädchen abgesehen.«
Für das »Ölauge« erntete Harry Trochowitz einen bösen Blick von Christoph, der sich dann an die beiden Lehrer wandte. »Haben Sie den libanesischen Jugendlichen auch bemerkt?«
Während Frau Wieslmayr den Kopf schüttelte, nickte Hauffe heftig. »Ja, von meinem Fenster aus.«
»Sie haben beide nichts von dem Überfall gehört?«
»Nein«, kam Hauffe seiner Kollegin zuvor. »Wir haben uns unterhalten.«
Frau Wieslmayr sah den Lehrer mit erstauntem Blick an. »Aber das war doch früher. Dann sind Sie hinaus, weil Sie noch Vorbereitungen in Ihrer Klasse treffen wollten.«
»Ach ja. Entschuldigung. Aber ich bin etwas durcheinander.«
»Kommt es öfter vor, dass Sie nachmittags in der Schule sind?«
»Eigentlich nicht, es sei denn, wir haben Arbeitsgruppen. Selten auch einmal eine Konferenz«, sagte die Lehrerin. »Herr Hauffe und ich waren hier mit Rebecca verabredet.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Finger zuerst auf ihren Kollegen, dann auf sich. »Wir beide bereiten eine Veranstaltung vor, die im Advent stattfinden soll. Wir wollen unsere Schule präsentieren und gleichzeitig ein kleines Dankeschön an die Eltern richten, die uns in großzügiger Weise über den Förderverein unterstützen.«
»Und was hat Rebecca zu Rantzau damit zu tun?«
»Das Mädchen ist eine begnadete Pianistin. Wir haben uns vorgestellt, dass sie als Höhepunkt der Veranstaltung ein wenig von ihrem Können zum Besten gibt.«
Das war ein völlig neuer Aspekt. Gab es jemanden, der verhindern wollte, dass sich das Eidergymnasium von seiner guten Seite präsentierte?, schoss es Christoph durch den Kopf.
»Wer wusste von diesen Plänen?«
»Nun – ja. Die Schulleitung und das Lehrerkollegium. Und Herr Harms, der Vorsitzende unseres Schulelternrates.«
»Gab es Stimmen, die sich dagegen ausgesprochen haben?«
Die beiden Lehrer sahen sich nachdenklich an. »Eigentlich nicht«, antwortete Wulf Hauffe. »Nur Ina Wiechers hatte eine andere Meinung. Sie stand unserer Schule ohnehin skeptisch gegenüber. Diese Show würde ein falsches Bild abgeben und den maroden Zustand, wie sie es nannte, nur verschleiern.«
Von fern war das flappende Geräusch des Rettungshubschraubers zu hören, der aus Itzehoe angefordert worden war. Es schwoll rasch an, bis es in den Ohren dröhnte und die Maschine auf dem Schulhof landete.
Das örtliche Rettungspersonal vollzog eine Einweisung und übergab die immer noch betäubte Rebecca der Besatzung des Hubschraubers.
»Sie wird weiter unter dem Einfluss der Beruhigungsmittel gehalten«, erklärte der Rettungsassistent. »Damit wird den Patienten der Stress des Fluges erspart.«
Inzwischen waren die Polizisten und Mommsen von einer Durchsuchung der Schule zurückgekehrt.
»Wir haben nichts Auffälliges gefunden«, sagte der Kommissar. »Auch vom Libanesen war keine Spur zu sehen.«
»Wir sollten die Fahndung nach Fouad al-Shara einleiten. Der tätliche Angriff auf Hilke ist Grund genug für diese Maßnahme. Ob er auch für diese Tat verantwortlich ist, können wir derzeit nicht sagen. Die Aussage des Hausmeisters und Hauffes stellen noch keinen Beweis dar.«
»Ich kümmere mich darum.«
Während Mommsen telefonierte, kehrte Christoph zum Hausmeister zurück, der immer noch ins Gespräch mit den beiden Lehrern vertieft war.
»Können wir uns noch einmal Ihre Werkstatt ansehen?«
Trochowitz sah Christoph mit erstauntem Blick an. »Schon wieder? Ist das ein neues Hobby von Ihnen?«
»Mir macht es genauso wenig Spaß wie Ihnen. Aber wir müssen nun einmal allen Spuren nachgehen.«
»Wenn’s denn sein muss«, brummte der Hausmeister und trottete voran.
Als sie in dem kleinen Raum standen, fragte Christoph: »Vermissen Sie Werkzeug?«
Trochowitz sah sich um. »Nichts«, gab er kurz angebunden zurück.
Auch Christoph konnte keine Auffälligkeiten entdecken. Es schien kein weiterer Gegenstand zu fehlen. »Mich würde interessieren, ob Ihnen ein Hammer oder Ähnliches abhandengekommen ist.«
Der Hausmeister kontrollierte noch einmal seinen Bestand. »Alles da«, stellte er lakonisch fest. »Bis auf die Drahtschere. Wo die is, is mir ‘nen Rätsel.«
Da im Musikraum ohnehin schon viele Personen herumgelaufen waren, untersuchten sie vorsichtig, ob es Spuren gab, die mit bloßen Augen zu erkennen gewesen wären. Sie fanden aber nichts. Es dauerte noch fast eine Dreiviertelstunde, bis die Spurensicherung aus Flensburg eintraf.
»Bevor du gehst«, sagte Klaus Jürgensen, »musst du mir eine Erklärung unterschreiben, dass dies das letzte Mal ist, dass ihr uns hierherlotst. Ich duze mich inzwischen mit jedem Asphaltflicken auf der Straße an die Westküste. Husum ist schon schlimm genug. Aber hier sind wir wirklich im äußersten Zipfel unseres Zuständigkeitsbereichs.«
»Du unterschätzt unsere Kreativität, Klaus. Bis St. Peter-Ording sind es noch gut vierzig Kilometer. Und wenn du weiter herummoserst, schicken wir dich bei Herbststurm auf die Inseln oder Halligen. Die gehören auch zu unserem Revier. Es gibt wohl kaum einen Zuständigkeitsbereich für die Polizei, der so abwechslungsreich ist wie unserer.«
Jürgensen drehte den Kopf zur Seite und nieste.
»Danke für deine Zustimmung.« Christoph klopfte dem kleinen Hauptkommissar auf die Schulter. Der beließ es als Antwort bei einem Augenzwinkern.
Bevor sie die Heimfahrt nach Husum antraten, suchten sie noch einmal die Wohnung der al-Sharas auf. Doch niemand wollte ihnen eine Auskunft geben. Und die Mutter gab vor, kein Wort zu verstehen. Sie hatten die Zusicherung der örtlichen Zentralstation, dass die Kollegen vom Wach- und Wechseldienst in der nächsten Zeit verstärkt nach dem Jugendlichen Ausschau halten würden.
Das Büro auf der Dienststelle war verwaist. Es gehörte zu den Angewohnheiten Große Jägers, seinen Schreibtisch in dem Zustand zu verlassen, in dem er sich zum Zeitpunkt des Aufbruchs befand. Daraus konnte folglich nicht geschlossen werden, ob der Oberkommissar den Raum nur kurzfristig verlassen hatte. Doch die handschriftliche Notiz auf Christophs Schreibtisch gab Auskunft: »Habe Feierabend gemacht.«
Christoph rief im Husumer Krankenhaus an. Relativ unwirsch antwortete ihm jemand von der Station, dass man mit anderen Dingen beschäftigt sei, als ständig Auskünfte zum Zustand eines Patienten zu erteilen. Da habe ein Mann die ganze Zeit über mit ständigen Fragen den Routinebetrieb gestört.
Das konnte nur Große Jäger gewesen sein, dachte Christoph.
»Gehen wir zusammen essen?«, fragte er Mommsen.
Der nickte zustimmend und versuchte, den Oberkommissar übers Handy zu erreichen. Doch es meldete sich nur die Mobilbox.
»Hallo, Wilderich. Hier ist Harm. Wir wollen ins Dragseth.«
Christoph rief in der Praxis von Dr. Hinrichsen an.
»Sei mir nicht böse, aber ich kann im Moment nicht telefonieren. Wir haben die Praxis voll«, entschuldigte sich Anna. Schließlich stimmte sie aber zu, das Abendessen gemeinsam einzunehmen. »In einer Stunde.«
Es wurden zwei, bevor sich die kleine Gesellschaft in Husums ältester Gastwirtschaft einfand.
»Wo habt ihr euren Wilden gelassen?«, fragte Judith, die Wirtin.
»Der wandelt auf Freiersfüßen«, sagte Christoph lachend.
Judith tat enttäuscht. »Ich dachte immer, er würde nur mich verehren.«
»Da hat er wohl akzeptiert, dass du glücklich liiert bist.«
Wenig später stieß ein kahlköpfiger Mann in auffallend schriller Kleidung zur kleinen Gesellschaft.
»Hallo, Karlchen«, begrüßte Christoph Mommsens Lebenspartner. Er hatte sich schon lange an dieses ungleiche Paar gewöhnt, das trotz aller äußeren Gegensätze harmonisch miteinander lebte.
»Und? Was gibt es für spannende Neuigkeiten an der kriminellen Front in Nordfriesland?«, fragte Anna.
Christoph spitzte die Lippen. »Alles Routine. Ein Tag wie jeder andere.« Dann prostete er den anderen zu.