Blutmaske
Docklands, London, Großbritannien
Du bist dir sicher, dass es klappt?« Randy Stuart sah vom Dach des One-Canada-Square Gebäudes nach unten. Mehr als zweihundertdreißig Meter trennten ihn und den Erdboden, ein Sturz bedeutete den sicheren Tod. Er blinzelte und wischte sich über die Augen. Der feine Nieselregen trübte die Sicht, Wind fuhr durch seine Kleidung und ließ ihn frösteln. »Normalerweise darf eine Gondel bei diesem Wetter bestimmt nicht …«
»Es ist total einfach«, wurde er von seinem Bekannten Thomas Allister angeschnauzt. »Ein Freund von mir ist Fensterputzer, und der meinte, diese Dinger halten sogar einen Sturm aus.« Er hantierte an der Bedienungstafel des Schwenkarms herum, die Gondel schwebte heran und fuhr bis an den Dachrand. »Schwing deinen Arsch rein. Wir holen uns die Kohle.«
»Kann sein, dass diese Gondel den Sturm aushält. Aber was ist mit uns?« Seit Randy auf diesem Dach stand, bekam er Zweifel an dem Plan, den er und Allister ausgeheckt hatten, als sie von Harm Byrnes Tod gehört hatten. Allister wusste irgendwoher, wo sich eine der vielen Wohnungen der stadtbekannten Unterweltgröße befand. Gerüchten zufolge sollte es darin jede Menge Wertgegenstände, sogar Bargeld, geben, die nur auf Einbrecher wie sie warteten. Oder andere. Deswegen wollten sie die Ersten sein.
Seinen Hals wollte Randy deswegen aber nicht riskieren. »Ich habe noch keinen Fensterputzer bei einem Sturm arbeiten sehen.« Er pochte prüfend gegen das Geländer der Gondel. »Wird schon seine Gründe haben.«
Allister, ein kleiner, dicker Mann, der sich behender bewegte, als seine Statur vermuten ließ, hüpfte in die Gondel. »Kommst du jetzt oder nicht?«
Randy biss sich auf die Unterlippe.
»Dann nicht.« Allisters behandschuhte Finger legten sich an die Steuereinheit. »Aber wenn ich geschnappt und eingelocht werde, weil ich die Alarmanlage allein nicht abgeschaltet bekomme, schicke ich dir Freunde von mir vorbei. Für jedes Jahr, das ich absitzen muss, lasse ich dir einen Knochen brechen.«
»Fuck.« Randy sprang zu seinem Kumpel in die Gondel. »Du bist ein Arschloch.«
»Ich weiß. Aber wegen mir bist du bald reich«, gab er zurück. »Du kannst später gerne sagen, dass ich dich zu deinem Glück gezwungen habe.« Grinsend drückte Allister auf den Abwärts-Knopf.
Surrend wurde das Doppelkabel, an dem das Gefährt hing, abgerollt. Der böige Wind versetzte die Gondel in Schwingung.
Randy fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Höhenangst hatte er keine, aber er war nicht seefest. Er schaffte es gerade noch, sich zur Seite zu beugen, dann erbrach er sich über das Geländer in die Tiefe.
»Fuck, Randy!« Allister lachte schallend und hielt die Gondel wieder an. »Hast du ein Glück, dass wir schon da sind. Byrne bewohnt das oberste Stockwerk.« Er packte ihn im Nacken und zwang ihn herum. »Los, mach schon.«
Randy riss sich los, wischte sich über den Mund und zog dann den Rucksack von den Schultern. Er wühlte darin nach seinen Utensilien, während sie vor dem großen Fenster pendelten. Gewissenhaft prüfte er, ob Drähte im Glas verliefen, ob der Rahmen unter Spannung stand oder ob es weitere Hinweise auf elektrische Sicherungen gab. »Sieht sauber aus«, meldete er und ließ sich die Bohrmaschine von Allister reichen. »Ich kümmere mich um das Schloss und messe dann noch mal.«
»Mach das. Ich genieße so lange die Aussicht«, kommentierte er vergnügt. Ihm war deutlich anzuhören, dass er bereits überlegte, wofür er den erwarteten Reichtum ausgeben wollte.
Randy teilte den Optimismus noch nicht. Ständig musste er sich Wasser aus den Augen wischen, und der heftige Wind erleichterte ihm die Arbeit auch nicht gerade. Der Bohrer fraß sich nur langsam durch das einfache Schloss, da Randy immer wieder abrutschte und neu ansetzen musste. Als er endlich fertig war, nahm er die Brechstange, um das Schiebefenster aufzuhebeln. Leise knirschend entstand ein Muster aus vielen, kleinen Rissen, doch die Scheibe bewegte sich nicht.
Der Regen hatte zugenommen und schien bemüht, den Männern in der Gondel ihre Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Auch Allister fluchte inzwischen laut.
Schließlich gab das Schiebefenster nach. Sie sprangen in den dunklen Raum und nahmen Taschenlampen aus den Anoraks.
»Absuchen«, flüsterte Allister. »Alles einpacken, was teuer aussieht. Die Gondel hebt ein paar zusätzliche hundert Kilo.«
»Weißt du das oder hast du es nur von deinem Freund gehört?«
»Fuck, wir werden schon nicht draufgehen!« Allister sah sich kurz um. Der Raum war offensichtlich ein Arbeitszimmer. »Schreibtisch. Du.« Dann begann er selbst mit der Suche nach einem Tresor und klopfte behutsam die Wände ab.
Randy eilte auf den Tisch zu und durchsuchte ihn. Er schwor sich dabei, nie wieder mit Allister zusammenzuarbeiten. Er war unfair, grob und nervig. Das Einzige, was er richtig gut konnte, war Häuser zu finden, wo sich das Einsteigen lohnte. Nur aus diesem Grund ließ sich Randy auf die gemeinsamen Beutezüge ein. Wenn das Gerücht stimmte, dass Byrne in jeder seiner Wohnungen eine Million Pfund in bar griffbereit gehalten hatte, konnte Randy sich die nächsten paar Jahre zur Ruhe setzen. »Dann kann Allister zur Hölle fahren«, murmelte er und wühlte sich durch Papier, Stifte und Büromaterial.
Geld fand er nicht. Das ganze Unternehmen roch verdächtig nach Pleite.
»Hier!«, zischte Allister aus dem nächsten Raum. Als Randy nach nebenan kam, öffnete Allister gerade ein Fach im Kleiderschrank. Dahinter lag ein kleiner Tresor verborgen. »Komm her und mach das Ding auf!« Er schnupperte laut am Tastenfeld. »Ah, ich kann die Millionen schon riechen!«
Randy ging zu ihm und begutachtete den Safe. Ein gutes Modell, an sich kaum ohne schweres Gerät zu knacken, aber mit einem schweren Fehler in der Elektronik, die der Hersteller seinen Kunden wohlweislich verheimlichte. Eine Hintertür. »Oh, das wird schwierig.« Randy zog die Worte übertrieben sorgenvoll in die Länge. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das schaffe?« Er sah Allister mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Du kleiner Pisser verhandelst nach?«
Jetzt grinste Randy. »Erfasst. Ich will sechzig Prozent. Oder das Baby bleibt zu.«
Allister steckte eine Hand in die Jackentasche, vermutlich hatte er darin eine Waffe verborgen. »Von mir aus«, sagte er dumpf, doch ihm war anzusehen, dass er sich nur schwer beherrschte.
»Danke.« Randy demontierte geschickt die Anzeige, legte Drähte frei und schloss das Gerät an, das den Zahlencode ermittelte. In wenigen Minuten hatte er die mangelhafte Elektronik überlistet, inklusive des stummen Alarms.
Leise klickend zogen sich die Bolzen zurück.
Er sah kurz zu Allister, der an der Wand neben dem Kleiderschrank lehnte und anscheinend bereit war, Randy den ersten Blick in den Tresor werfen zu lassen. Langsam zog er die schwere Tür auf.
Dahinter funkelte ein Paradies für Diebe: ordentlich zusammengebundene Stapel Bargeld, in Pfund ebenso wie in Euro, Schmuckkästchen, Aktien und irgendwelche Papiere, die alt aussahen. Uralt.
Und eine weiße Maske, die in einem eigenen Fach lag. Sie war mit schwarzen Strichen verziert und endete am unteren Rand in einer Reihe von Zähnen. Die Eckzähne verliefen verlängert nach unten und gaben ihr ein unheimliches, dämonisches Aussehen …
»Und?«, fragte Allister ungeduldig.
Randy starrte die Larve an. Sie lähmte seine Zunge, flößte ihm von Herzschlag zu Herzschlag mehr Angst ein. Das Licht schien von den dunklen Linien vollkommen verschlungen zu werden, während das Weiß schimmerte, als handelte es sich um polierte Knochen. Die finsteren Augenhöhlen wirkten wie unermessliche Abgründe.
»Leer«, krächzte Randy endlich und schlug die Tür zu. Er hätte die Maske nicht eine Sekunde länger ertragen können. Sollte das widerliche Ding doch in dem Tresor verrotten. Da verzichtete er lieber ganz auf die Beute.
Doch Allister stand plötzlich neben ihm und öffnete den Tresor wieder. »Leer?«, schrie er ihn an und stieß ihn zurück.
Randy landete auf dem Hintern.
»Du dummes Arschloch! Das ist …« Allister langte hinein und griff sich mehrere Geldbündel. »Fuck, das ist mindestens eine Million!« Er öffnete ein Kästchen, und Goldmünzen fielen auf den dicken Teppich. Historische Münzen, wie Randy aufgrund des Zustands schätzte. »Wolltest wohl alles, was?« Allister stopfte Geld, Schmuckschatullen und Papiere in den Rucksack. »Dafür sollte ich dir die Lichter ausblasen.« Dann entdeckte er die Maske. »Ist die was wert?«
»Lass sie«, brachte Randy heiser hervor und erhob sich unsicher. »Wir sollten abhauen. Lass das Zeug hier.«
»Bist du verrückt geworden?« Allister holte die Larve heraus und hielt sie sich vors Gesicht. »Ich verwette den Arsch meiner Schwester, dass das Ding auch was wert ist.« Er lachte in seiner schrillen Art. »Buh!«, schrie er übermütig und kam näher. »Hast du Angst vor mir?«
Randy zitterte. Er war sich sicher, dass sich Allisters Stimme veränderte! Sein Lachen nahm einen dunklen Ton an, wurde bedrohlicher, während seine Augen hinter der Maske glühten wie die eines Dämons. Zumindest hatte Randy sich so immer einen Dämon vorgestellt.
Er wich vor dem Mann zurück. »Hör auf mit dem Scheiß«, sagte er. »Nimm das Ding wieder ab.«
Aber Allister schien zu gefallen, was er tat. Er krümmte die Finger zu Klauen, gab unheimliche Laute von sich und rückte dichter an seinen Kumpan. »Ich bin die Todesmaske«, säuselte er zuckersüß. »Wer mich erblickt, der muss sterben! Meine Zähne bohren sich durch deine Haut und schlitzen deine Gedärme auf!« Er kicherte, und das Geräusch hatte nichts mehr mit seiner alten Stimme gemein.
Randy wurde kalt, und seine Furcht steigerte sich. »Wenn du nicht sofort aufhörst, kriegst du was aufs Maul«, drohte er unsicher und vermied es, die Maske direkt anzuschauen.
»Meinst du, du könntest mir etwas anhaben?«, fragte Allister lachend. »Gleich beiße ich dich und saufe dein Bl…«
Das war zu viel für Randy. Mit dem Griff der schweren Taschenlampe drosch er zu und traf sowohl die Maske als auch Allisters Finger, mit denen er sie vors Gesicht hielt.
Ein gedämpftes tock erklang. Der Kopf des Getroffenen ruckte zur Seite, er stieß ein Keuchen aus, heulte auf und ließ den Rand los – aber die Larve haftete von selbst! Blut rann darunter hervor, sickerte über das Kinn den Hals hinab. Allister schrie und versuchte, sie mit Gewalt von sich zu reißen.
Randy bemerkte, dass die Maske nicht einmal eine Schramme davongetragen hatte, obwohl Allisters Lippe aufgeplatzt war und mindestens einer seiner Finger so aussah, als wäre er gebrochen. Er machte noch einen Schritt zurück und hob drohend die Lampe. »Bleib weg von mir!« Dann drehte er sich um und lief zum geöffneten Fenster und zur Gondel. Die Flucht durch die Wohnungstür schien ihm wegen möglicher Alarmanlagen zu gefährlich.
Allister torkelte ihm hinterher, keuchte und schnaufte, rang mit der Maske, stieß gegen den Schreibtisch, einen Stuhl, eine Lampe, ächzte und wimmerte – bis er wie angewurzelt stehen blieb. Die Arme fielen schlaff herab, dann richtete er sich abrupt wie ein ferngesteuerter Roboter auf. Langsam wandte er sich um, die schwarzen Augenhöhlen suchten Randy. »Wohin willst du?«, wisperte er.
Randy schwang sich eben hinaus, zurück in die schwankende Gondel, und hatte alle Mühe, dabei nicht abzustürzen. Wind und Regen warfen sich gegen ihn, ließen in wanken, bevor er das Gleichgewicht wieder fand. »Mach doch, was du willst, und behalt alles. Ich fahre nach oben.«
»Aber ich will dein Blut!« Allister kam auf ihn zu, bewegte sich raubtiergleich und den Kopf leicht schief gelegt. Die Maske schien ihn größer gemacht zu haben, seinen Gang geschmeidiger.
»Fick dich!« Randy drückte auf den Aufwärtsknopf.
»Gib mir dein Blut!«, brüllte er und sprang los.
Randy riss ungläubig die Augen auf, als der Mann durch das geöffnete Fenster auf ihn zuhechtete. Dass sie sich über zweihundert Meter in der Luft befanden, spielte offensichtlich keine Rolle für den Verrückten.
Die beiden prallten zusammen und stürzten auf den Blechboden, das Gefährt schwang heftig vor und zurück. Die Konstruktion knirschte beunruhigend, ein leises Surren wie von einem reißenden Kabel erklang.
Randy konnte sich den verrückt gewordenen Allister kaum vom Leib halten, der ihn mit den falschen Zähnen zu beißen versuchte. Tritte und Hiebe fruchteten nicht, sie schienen ihm überhaupt nichts auszumachen.
Mit einem lauten Schrei riss Randy sich los und warf sich mit einem beherzten Satz zurück ins Arbeitszimmer, um durch Byrnes Wohnung zu flüchten.
Er kam keine zwei Meter weit, bevor er von Allister umgerissen wurde. Dessen Wut und Kraft waren unbändig, und dann fühlte Randy einen heißen Stich im Unterarm: Der Mistkerl hatte ihn wirklich gebissen!
Randy schlug mit aller Gewalt auf den Angreifer ein, traf den Kopf, die Maske, den Körper und trieb Allister endlich zurück. Brabbelnd und kichernd blieb der auf dem Boden knien, während Randy sich am Tisch in die Höhe zog. Aus der Wunde an seinem Arm rann Blut und tränkte den Anorakstoff. Er stolperte auf den Ausgang zu.
»Hilf mir«, hörte er Allister verzweifelt keuchen. »Es … raubt mir meinen Verstand! Ich bekomme es nicht runter! Es klebt an meiner Haut. Bitte! BITTE!«
Randy blieb stehen und drehte sich um.
Allister saß wie ein Kind mit ausgestreckten Beinen am Boden und versuchte verzweifelt mit beiden Händen, sich die Maske vom Gesicht zu reißen. »Bitte«, ächzte er. »Es … brennt! Und … tut weh. Als würde es sich in meine Haut fressen!«
Randy schnappte sich einen Kerzenständer von einer Kommode. »Ich schwöre dir, dass ich dich tot prügle, wenn du noch einmal versuchst, mich zu beißen.« Misstrauisch ging er näher, seine improvisierte Waffe zum Schlag bereithaltend. Dann packte er zu und versuchte, die Maske zu bewegen. Aber obwohl sie nirgends festgemacht war, saß sie bombenfest.
Das Zittern, das unvermittelt durch Allister lief, warnte Randy, doch bevor er sich auch nur aufrichten konnte, sprang der andere auf, die Hände ausgestreckt und nach seiner Kehle greifend. Die leeren Augenhöhlen leuchteten rot wie Kohlen. »Dein Blut! Ich kann es rauschen hören!«, heulte er begehrend. »Ich will es! ICH WILL ES!«
Randy drehte sich erschrocken zur Seite, doch er bekam einen Schlag gegen das Kinn. Der Kerzenständer glitt ihm aus den Fingern, und er stürzte neben dem Fenster nieder.
Allister war sofort auf ihm, geifernd und fauchend. Nichts an ihm war mehr menschlich.
»Du bist von dem Ding besessen!« Randy stieß die Kreatur, zu der sein Kumpan geworden war, zurück. Sein Blick fiel auf einen Brieföffner, der bei ihrem Kampf von Schreibtisch gefallen sein musste. Randy griff danach, als sich Allister mit einem Kreischen auf ihn stürzte.
Abwehrend hielt Randy den Brieföffner vor sich – und die Spitze fuhr dem Wesen in den Hals, direkt unter dem Kinn. Gurgelnd griff er sich an die Kehle.
»Weg! Runter von mir!« Randy drückte den Sterbenden mit aller Kraft von sich weg. Allister taumelte gegen das geöffnete Fenster und kippte nach draußen. Es krachte, als er in der Gondel landete.
Dann herrschte Stille.
Doch nur für einen Moment. Vom anderen Ende der Wohnung erklang ein Geräusch, ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Jemand kam!
Randy atmete tief ein und erhob sich zitternd. Er musste verschwinden, um nicht wegen Mordes oder Totschlags angeklagt zu werden. Notwehr würde man ihm niemals abnehmen.
Auf dem Boden entdeckte er die schreckliche Maske. Anscheinend hatte sie sich noch vor dem Tod des Mannes von dessen Gesicht abgelöst. Mit einem Tritt kickte er sie angewidert davon, bevor er zum Fenster hinaus in die Gondel stieg.
Schnell drückte er auf den Knopf der Steuereinheit, dann noch einmal und noch einmal. Doch die Gondel schwang nur sanft im Wind und bewegte sich keinen Zentimeter nach oben.
Er kletterte zähneknirschend auf das Geländer. Er konnte kaum glauben, dass ihn immer noch niemand entdeckt hatte, als er sich am Kabel die wenigen Meter bis zum Dach nach oben zog. Allister ließ er in der Gondel zurück. Sollte die Polizei nachforschen, rätseln, was auch immer. Er wollte nur weg …
Jeoffray Charles Wilson betrat das Arbeitszimmer seines verstorbenen Chefs Harm Byrne, in der Hand die Post des Toten, die er hinter der Eingangstür vom Boden aufgelesen und bereits sortiert hatte.
Ihm fiel sofort auf, dass ein Fenster geöffnet war. Diebe?, fragte er sich ungläubig. Im fünfzigsten Stock des One Canada Square, auf knapp zweihundertdreißig Metern Höhe? Der heftige Wind spielte mit den Vorhängen, Regentropfen glitzerten auf dem Stoff wie Tau in einem Spinnennetz.
»Bloody …!« Ein schneller Rundgang bestätigte, dass der Tresor im Schlafzimmer aufgebrochen worden war. Auf den ersten Blick schien allerdings nichts zu fehlen. Ein paar Geldscheine und alte Münzen lagen auf dem Boden verstreut, der restliche Inhalt des Tresors fand sich in einem Rucksack wieder. Seltsam. Die Einbrecher mussten von irgendetwas in die Flucht geschlagen worden sein und hatten offensichtlich ihre Beute vergessen.
Wilson ging wieder ins Arbeitszimmer und sah zum ausgehebelten Fenster mit der gesprungenen Scheibe. Draußen sah er die Kabine des Fensterputzers. Leer.
Auf dem Boden vor dem Fenster bemerkte er eine weiße Maske. Er hob die Larve auf und betrachtete sie. Seine Augen wurden größer, als er eine weitere seltsame Entdeckung machte: Frisches Blut haftete sowohl an den Rändern als auch auf der Innenseite. Und an den geschnitzten Zähnen …
Unwillkürlich durchlief ihn ein Schauer. Schnell legte Wilson die Maske zur Seite und ließ die elektrischen Rollläden mit einem Knopfdruck herabfahren, damit es nicht weiter ins Zimmer regnete. Er schaltete das Licht an und legte sämtliche Wertsachen zurück in den Tresor. Als Letztes deponierte er die Maske wieder in ihrem Fach, obwohl er sie nur widerwillig noch einmal anfasste. Gegen das Schauern vermochte er sich auch diesmal nicht zu wehren.
Er konnte das Ding nicht ausstehen und würde sie bald in eine kleine Kiste auf irgendeinen Dachboden verbannen. Ideeller Wert hin oder her. Harm Byrne war tot, und diese Maske wollte Wilson auf keinen Fall in seiner unmittelbaren Nähe wissen.
Auf einen Anruf bei der Polizei verzichtete er. Er bedurfte keines weiteren Aufsehens. Harm Byrne und alles, was mit ihm im Zusammenhang stand, sollten ruhen.
Einschließlich der Maske.