Chişinău.
Sofia kam gegen dreiundzwanzig Uhr zu der Adresse, zu der Vadim sie bestellt hatte. Sie suchte eine Bar, stand jedoch vor einer ganz normalen Haustür mit einem unbeschrifteten Klingelschild. Sie klingelte. Ein Mann von der Statur eines ausgewachsenen Grizzly-Bären öffnete ihr. Sein breites Gesicht war vollkommen vernarbt, seine Pranken über und über tätowiert. »Ich will zu Vadim Zaharia«, sagte Sofia.
Ohne ihr eine Antwort zu geben, schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Unschlüssig blieb Sofia vor der Tür stehen, bis diese plötzlich wieder aufging, und eine hübsche Frau in Sofias Alter stand vor ihr: »Du willst zu Vadim?«
Sofia nickte.
»Bist du seine Cousine?«
Sofia nickte wieder.
Die Frau lächelte sie an und öffnete die Tür so weit, dass Sofia eintreten konnte. Vorbei am Grizzly folgte sie der Frau durch einen sehr schmalen, langen und dunklen Gang eine Treppe nach unten, bis sich nach zwei Ecken plötzlich ein großer Raum auftat. Sofia war überrascht. Der Raum war sauber, gut erleuchtet und eingerichtet wie eine schick gestylte westliche Bar. Attraktive junge Frauen bedienten hinter dem langen Tresen und an den Tischen, es lief Lounge-Musik. Auf den Tischen standen Schalen mit bunten Bonbons und ebenso bunten Kondomen. Die hauptsächlich männlichen Besucher waren überdurchschnittlich gut gekleidet. Die Frau brachte Sofia zu einem Tisch, an dem drei junge Männer saßen.
Sofia hätte ihren Cousin fast nicht wiedererkannt. Es war mindestens vier Jahre her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Damals trug Vadim Jogginghosen und Basecap und hatte auf sie wie ein schmieriger Möchtegern-Gangster mit Drogenproblemen gewirkt. Nun saß er vor ihr in einem gut geschnittenen Anzug, gepflegt bis in die Haarspitzen. Als er aufstand und sie mit einer distanzierten Umarmung begrüßte, fiel ihr sein Rasierwasser auf. Es roch nicht billig. Er bot ihr Platz an und schickte seine Freunde mit einer Handbewegung weg, ohne sie Sofia vorzustellen. Die Frau, die Sofia nach unten geleitet hatte, goss ihr ein Glas Champagner ein und zog sich dann ebenfalls zurück.
»Gut siehst du aus.« Sofia wusste nicht so recht, wie sie anfangen sollte.
»Du siehst scheiße aus, Cousinchen.« Vadim grinste. »Hat dich dein Professor blaugeprügelt, weil du ’ne falsche Note gegriffen hast?«
»Ein Fahrradunfall.«
»Schon klar. Du solltest zu Fuß gehen.« Vadim hatte beide Arme über der Sofalehne ausgebreitet und verströmte Selbstbewusstsein. Sicher war es ihm ein Fest, einem Teil der Familie, die ihn verstoßen hatte, seinen neu gewonnenen Status zu demonstrieren.
Sofia wusste zwar nicht, in welcher Branche genau sich Vadim diesen Status erarbeitet hatte, aber dass die hier anwesenden Männer ihre Anzüge und teuren Uhren nicht mit ehrlicher Arbeit erwirtschafteten, war ihr klar. Deswegen war sie hier.
»Was bereitet mir die unerwartete Ehre? Du willst doch sicher nicht einfach nur mal nach der Verwandtschaft sehen?«
Sofia entschloss sich, nicht um den heißen Brei zu reden und mit offenen Karten zu spielen. »Wir brauchen deine Hilfe.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Meine Mutter, mein Vater und ich.«
Vadim sah sie ruhig an. »Als Kind war ich oft bei euch. Deine Mutter hat immer Blaubeerkuchen gebacken. Scheiße, was hab ich den geliebt, den Blaubeerkuchen.« Vadim schwieg eine Weile. »Erinnerst du dich an das letzte Familienfest, auf dem wir uns begegnet sind?«
Sofia nickte. Es war die Beerdigung ihrer Oma gewesen. Vadims Vater, also Sofias Onkel, war der Kragen geplatzt, als Vadim wie ein Gangsta-Rapper in Jogginghosen und Kapuzenshirt auf der Trauerfeier auftauchte. Ein Wort hatte das andere ergeben, der erbitterte Streit führte schließlich zu Vadims Familienausschluss.
»Deine Mutter hat damals versucht, mir gegen meinen Vater zu helfen. Wie ’ne scheiß Tigerin hat sie sich vor mich geworfen. Du, Alina und sie, ihr wart die Einzigen, die mich nicht wie den letzten Dreck angesehen haben, das vergesse ich nicht. Also. Was kann ich für euch tun?«
Sofia war erleichtert, dass Vadim die Dinge nicht verkomplizierte und von ihr erwartete, im Namen der Familie zu Kreuze zu kriechen. Sie erzählte ihm von Alinas Verschwinden. Er hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. Sofia hatte den Eindruck, dass es ihm schwerfiel. Als sie alles erzählt hatte, was sie von Dana und Silvia wusste, fragte er sie: »Wieso bist du aus Bremen hierhergekommen? Was glaubst du, tun zu können? Eine Geigerin, die seit Jahren in Deutschland lebt und von der Situation in Moldawien nichts weiß, rein gar nichts!«
Sein verächtlicher Ton ärgerte sie. »Alina ist meine Schwester. Ich liebe sie! Und die Polizei tut nichts!«
»Natürlich tut sie nichts! Außer die Hand aufhalten. Weißt du, wieso? Weil sie von ihrem Gehalt die Familie nicht ernähren kann!«
Sofia war genervt. »Ich bin nicht hergekommen, um mit dir sozial- oder volkswirtschaftliche Studien anzustellen!«
»Warum dann?« Er sah sie spöttisch an.
»Weil ich sicher bin, dass Alina etwas passiert ist. Und weil ich weiß, dass du Kontakte in … gewisse Kreise hast«, fügte sie fast trotzig hinzu.
»Laber nicht blöd rum. Du meinst kriminelle Kreise. Unterwelt. Abschaum.«
Sofia nickte.
»Und du willst, dass ich rumfrage, ob jemand was weiß.«
Sofia nickte wieder.
»Und du bist sicher, dass sie sich nicht einfach abgesetzt hat? Raus aus dem Scheiß-Moldawien, ab ins gelobte Land, wo immer es auch liegen mag? Hauptsache, westwärts?«
»Garantiert nicht. Das hätte sie mir gesagt.«
Vadim lachte. »Hat sie dir auch gesagt, dass sie in den letzten zwei Jahren oft mit mir ausgegangen ist? Hierher und in andere Clubs?«
Sofia schüttelte überrascht den Kopf: »Ist das hier der richtige Ort für Alina?«
»Was willst du, hier gibt es sogar Klopapier auf den Toiletten! Das kann man von den meisten anderen Bars in Chişinău nicht behaupten.« Vadim grinste. »Alina ist locker drauf, nicht so verspießt wie der Rest unserer Familie. Und keine Panik, ich passe auf sie auf, wenn sie mit mir unterwegs ist.«
»Pech, dass du nicht mit ihr im ›Black Elephant‹ warst. Von da ist sie nämlich letzte Nacht verschwunden.«
Vadims Grinsen erlosch. »Ich mag Alina sehr. Mehr als das. Sie ist auch für mich wie eine kleine Schwester. Ich finde sie, versprochen. Und wenn hier irgendein kleiner Dreckskerl seine Griffel an sie gelegt hat … den finde ich auch innerhalb eines Tages. Und dann Gnade ihm Gott. Reicht dir das fürs Erste?«
Sofia zögerte. »Und wenn es kein Dreckskerl von hier war?«
Vadim setzte das Whiskyglas ab, aus dem er gerade trinken wollte, und fixierte Sofia. »Wie soll ich das verstehen?«
Sofia rutschte auf ihrem Cocktailsessel hin und her. »Das war nur so dahergeredet.«
»Hör zu, Sof, wenn ich dir helfen soll, musst du alles auf den Tisch packen. Wenn du dazu nicht bereit bist, verpiss dich.« Vadim machte Anstalten, sich zu erheben, doch Sofia hielt ihn mit der Hand am Unterarm fest.
»Entschuldige, du hast ja recht. Es ist nur … Ich weiß es eben nicht genau.«
Sie erzählte ihm von der Nacht mit Danylo. Vom gewaltsamen Tod seines Liebhabers. Von seinem Verschwinden. Von dem Mann mit dem russischen Akzent, der ihre Wohnung auf der Suche nach irgendeinem ominösen Band durchwühlt, sie zusammengeschlagen und ihre Familie bedroht hatte.
»Scheiße, Cousinchen, in was bist du da reingeraten?« Vadim sah plötzlich nicht mehr so selbstsicher aus.
»Das habe ich mich auch schon gefragt.«
Die Frau, die Sofia zu Vadim gebracht hatte, trat an den Tisch und tippte Vadim auf die Schulter. »Du sollst ins ›Banja‹ kommen. Der Chef ist an der heißen Braut interessiert, die hier bei dir sitzt.«
Sofort erhob sich Vadim. »Du gehst jetzt hinaus, ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln. Gib mir deine Handynummer, ich melde mich morgen bei dir«, sagte er zu Sofia.
»Ruf mich bei meinen Eltern an, ich habe in der Hektik mein Handy in Bremen liegengelassen«, bat Sofia.
Vadim nickte. Dann wandte er sich an die Frau. »Bring sie hinaus. Ohne Umwege.«
Vadim ging eilig auf eine mit grünem Leder bespannte Tür neben der Bar zu und verschwand dahinter. Sofia folgte unter den neugierigen Blicken einiger Gäste der Frau. »Hier gibt es ein ›Banja‹?«, fragte sie. ›Banja‹ war das russische Wort für Sauna.
»Hier gibt es noch viel mehr als ein ›Banja‹«, antwortete die Frau. Sie geleitete Sofia um die beiden Ecken, die Treppe hinauf durch den dunklen, langen Gang.
Als die Haustür hinter ihr zufiel, war Sofia allein auf der schlecht beleuchteten Straße. Kein Mensch war zu sehen. Es hatte zu nieseln begonnen. Sofia fröstelte, obwohl es hier viel wärmer als in Bremen war. Sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, ging zu ihrem Fahrrad, schloss es auf und fuhr los. Das schleifende Geräusch des Dynamos begleitete sie durch die Nacht.