18
»Lutz?«, flüsterte Björn. »Lutz, bist du das?«
Wieder nur ein Stöhnen.
Das konnte nur Lutz sein! Der hatte jetzt Schule aus. Tante Martha und Onkel Bernd machten Mittagsschlaf, das wusste er. Und wenn es nicht Lutz war? Wenn es ...
»Björn! Björn, hilf mir hoch! Ich bin’s.«
Großer Gott! Lutz hatte überall Blut im Gesicht und an den Händen.
Björn stürzte die Leiter hinunter. »Lutz!«
»Die Schweine haben mir die Rippen gebrochen!«, wimmerte Lutz. »Ich kriege kaum Luft. Scheiße, tut das weh! Bleib hinter mir, ich kann schon.«
Stöhnend nahm er Sprosse für Sprosse. Es dauerte, aber er schaffte es.
Björn fing an zu zittern. »Was ist passiert?«
Lutz hatte Schmerzen, aber er war auch wütend, unheimlich wütend. »Du verschwindest hier, sofort! Das waren deine Scheißrächer. Haben mich nach der Schule abgefangen und fertig gemacht. Zwei schwarze Schweine!« Er hielt sich die rechte Seite und ächzte.
»Wer sind die?«, flüsterte Björn.
»Woher soll ich das wissen, du Arsch? Die waren total vermummt. Auf alle Fälle verschwindest du hier und mir ist scheißegal, wohin. Ich lass mich doch wegen dir nicht umbringen!«
»Wo, wo sind die denn jetzt?«
»Was weiß ich denn! Draußen auf dem Hof irgendwo. Die haben gesagt, ich hätte nur eine Chance zu überleben: Ich hol dich raus oder ich bin dran. Einer von denen hat eine Pistole.«
Björn heulte auf, steckte den Kopf zwischen die Knie und fing an, sich vor und zurück zu schaukeln.
Lutz seufzte. »Hör zu, Kleiner, wenn mein Alter mich gleich so sieht, ruft der sowieso die Bullen. Du stellst dich einfach und die nehmen dich mit. Dann bist du in Sicherheit.«
»Nein«, jammerte Björn, »nicht die Bullen, Lutz. Das sehen die doch. Wenn ich freikomm, dann knallen die mich ab.« Er fing wieder an zu schaukeln.
»Lutz, hilf mir doch, Lutz!« Man konnte ihn kaum verstehen. »Nur einmal noch, bitte!«
»Wie denn, verflucht?« Aber dann fiel ihm etwas ein. Warum war er nicht viel früher darauf gekommen? Aber das ging nicht. Wie sollten sie denn rauskommen, ohne dass die ... Oder vielleicht ...? »Hast du noch Wasser?«
Björn hob den Kopf.
»Los, mach! Wir müssen das Blut abwaschen. Ich hab eine Idee.«
Björn krabbelte zur Milchkanne hinüber. »Hier!«
»Pass auf, Kleiner, da gibt es so einen Privatschnüffler in Elten. Der hat neulich einen Vortrag bei uns in der Schule gehalten. Der ist in Ordnung, echt. Ich weiß, wo der wohnt, ich bring dich hin. Der hilft dir bestimmt.«
»Nein, bitte Lutz.«
»Schnauze! Wir müssen nur hier rauskommen, ohne dass die Dreckskerle uns erwischen. Aber da ist das Maisfeld hinterm Schweinestall. Wir müssen bloß durch die Spülküche. Wie spät ist es? Scheiße, mein Alter steht gleich wieder auf.«
»Ich will nicht.«
»Fresse! Das ist deine einzige Chance. Ich hab die Nase voll. Du kannst froh sein, dass ich ... Ich kann auch meinen Vater rufen, wenn dir das lieber ist.«
Durch die Spülküche kamen sie leicht. Es war so still im Haus, dass das Ticken der Wanduhr wie Donnerschläge klang. Die Schweine quiekten, aber nur ganz kurz, Lutz wusste, wie man sich zu bewegen hatte. Er hielt sich die ganze Zeit seine rechte Seite.
Drei Meter von der Tür bis zum Maisfeld.
»Wo sind die denn?«, keuchte Björn.
»Keine Ahnung. Ist auch egal. Wir haben nur einen Versuch. Renn!«
Und sie rannten.
Vom Geräteschuppen her hörten sie einen unterdrückten Schrei und dann lief jemand los.
Sie waren im Feld. »Lauf, lauf weiter«, hechelte Lutz. Man merkte, dass er Schmerzen hatte. Dann: »Schmeiß dich hin – jetzt! Bleib liegen, beweg dich nicht.«
Björn roch nasse Erde, sie drang ihm in die Nase, aber er traute sich nicht, den Kopf zu drehen. Es raschelte hinter ihm, jetzt lauter, wieder leiser.
»Die müssen hier irgendwo sein!«
Dann wieder lauter, näher, ganz nah.
Lutz suchte den Klingelknopf, aber da war keiner. Schließlich zog er an dem dicken Eisenzapfen, der neben dem Portal hing. Drinnen erklangen tiefe Glockentöne und nur Sekunden später wurde die Tür geöffnet.
»Sie wünschen?«
Björn verschwand sofort hinter Lutz. Der Mann war unheimlich groß und er hatte komische Sachen an, eine gestreifte Hose und eine lange schwarze Jacke. Sein roter Schnurrbart war an den dicken Enden hochgebogen und er bewegte die buschigen Augenbrauen, dass man Angst kriegte.
Lutz haspelte los: »Wir brauchen Hilfe. Wir müssen Herrn Lowenberg sprechen. Er muss uns helfen. Mein Vetter hier war bei einem Einbruch dabei und da ist sein Freund umgebracht worden. Und jetzt wollen die ihn auch umbringen. Die sind hinter uns her! Sie müssen ihm helfen!«
Hinter dem Riesen bewegte sich etwas. Ein zweiter Mann kam. Der sah auch komisch aus mit seinem weißen Anzug. »Gibt es ein Problem, Daniel?«
»Herr Lowenberg«, rief Lutz.
Der Riese hatte sie nicht aus den Augen gelassen. »Lowenstijn«, meinte er streng und drehte sich dann um. »Ich würde sagen, es scheint ein größeres Problem zu sein hier.«
Jetzt tauchte eine dritte Person an der Tür auf. Björn wich noch weiter zurück. Es war eine schwarze Frau, sehr groß, sehr dünn, mit Riesenaugen.
Lutz stammelte noch einmal los, alles von vorn.
Lowenstijn schob sich an dem Riesen vorbei. »Daniel, ich glaube, du erschreckst die beiden. Kommt erst einmal herein.«
Lutz rannte fast, Björn stolperte hinter ihm her. Er konnte sehen, dass der Mann im weißen Anzug unwillkürlich die Nase rümpfte. Er wurde rot und biss die Zähne zusammen.
»So, und jetzt eins nach dem anderen«, sagte Lowenstijn. »Wir werden uns in Ruhe unterhalten. Daniel, so wie es aussieht ...«, er musterte Björn, »... brauchen wir etwas zu essen und zu trinken.«
»Sir, die Köchin hat heute ihren freien Tag.«
Lowenstijn wedelte ungeduldig mit der Hand. »Das weiß ich. Ich verlasse mich wie immer auf dich. Du wirst schon etwas herrichten. Wir gehen unterdessen in den Salon. Aber ich denke, der junge Mann hier sollte zunächst ein Problem beseitigen ... Jocelyne, würdest du dich darum kümmern?«
Björn ballte die Hände zu ganz engen Fäusten. »Ich muss pissen.«
»Ich würde sagen, das hast du schon getan«, murmelte der Riese.
Die schöne schwarze Frau beugte sich zu Björn hinunter und blickte ihm fest in die Augen. »Wie alt bist du?« Ihre Stimme war ganz tief und ein bisschen heiser.
Björn betrachtete den Fußboden. »Dreizehn.«
»Ah, dreizehn. Da kannst du anfangen, ein paar nette Worte zu lernen, denkst du nicht? Man sagt: Ich möchte auf die Toilette gehen. Komm mit. Du brauchst ein Bad.«
Björn bewegte sich nicht, sah sie auch nicht an.
»Wie heißt du, junger Mann?«
»Björn Giltjes.«
»Alors, Björne, ich will dich nicht waschen. Ich zeige dir nur den Baderaum und dann werden wir Kleider für dich finden. Gehen wir. Tellement petit! Wir werden etwas von meinen Kleidern nehmen müssen.« Damit legte sie ihren Arm um seine Schultern und drückte ihn kurz an sich. »Du bist ganz warm. Hast du vielleicht Fieber? Wir werden das messen. Komm mit mir, mignon.«
»Lass uns abhauen!«
»Du spinnst, Bobo. Irgendwann müssen die zurückkommen. Wir haben Zeit«, meinte Killer grimmig. »Wir warten.«
»Und wenn die Alten die Bullen rufen? Die fette Schnepfe kommt alle paar Minuten raus und guckt, wo ihr Baby bleibt. Die dreht voll am Rad.«
»Wenn schon! Die finden uns nicht. Ej, da tut sich was!«
Killer und Bobo verzogen sich hinter den Mähdrescher.
Ein dicker Jaguar kam auf den Hof gerollt. Der Fahrer stieg aus, ein großer, sehr kräftiger Mann mit einem enormen, roten Schnurrbart. Er half Lutz aus dem Wagen. Sofort kam die Mutter aus dem Haus gelaufen. »Um Himmels willen, Junge, wo hast du gesteckt? Wir haben schon überall angerufen. Wer ist der Mann? Hast du was angestellt? Hat er was angestellt? Wir wollten schon zur Polizei gehen. Wie siehst du denn aus?« Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Lutz trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Da legte ihm der Mann die Hand auf die Schulter. »Guten Tag, mein Name ist Baldwin. Ihr Sohn hatte einen Unfall. Er ist gestürzt.«
»Mit dem Mofa? Oh Gott!«
»Ist nicht so schlimm, Mutter«, sagte Lutz. »Ich habe mir nur ein bisschen die Haut abgeschrabbt und meine Rippen tun weh, aber es ist nichts gebrochen.«
»Und was haben Sie damit zu tun?«, fragte die Mutter misstrauisch.
»Ich sah es passieren, als ich vorbeifuhr an der Schule.«
»Er hat mir geholfen«, erklärte Lutz schnell. »Vielen Dank noch einmal.«
»Oh Gott!«, rief die Mutter wieder. »Und ich dachte schon ... Du meine Güte! Bitte kommen Sie doch herein, Herr ...«
»Baldwin. Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich fürchte, ich habe keine Zeit.«
»Aber ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Was kann ich ...?«
»Kein Dank!«, winkte der Mann ab. »Das ist schon in Ordnung. Ich muss nun gehen. Auf Wiedersehen, Lutz.« Er hörte sich an wie ein Ausländer.
»Aber«, stammelte die Mutter aufgeregt, »bitte bleiben Sie noch.«
»Sie schulden mir nichts, gnädige Frau. Ich habe nur meine Verpflichtung erfüllt. Also, auf Wiedersehen.« Er stieg ins Auto, hob noch einmal grüßend die Hand und fuhr dann ab.
Bobo schaute Killer verstört an. »Was war das denn für eine Show?«
Killer lächelte böse vor sich hin. »Das werden wir schon rauskriegen. Hast du den Namen verstanden?«
»Nein ...«
»Und was ist mit dem Auto? Hast du das Nummernschild gesehen?«
»Nicht richtig, der stand so blöd. Aber ich glaube, das war ein Klever Kennzeichen.«
»Scheiße, verdammte. Aber macht nichts. Von dem Schlitten fahren bestimmt nicht viele rum. Der Typ hat Knete, so viel steht fest.«
Norbert van Appeldorn lag auf dem Rücken im Gras und spürte jeden einzelnen Lebenstag. Das Training war heute prima gelaufen, aber er hatte schon vorher gute Laune gehabt, warum, wusste er nicht so genau. Jedenfalls hatte er sich von seinen Jungs breitschlagen lassen, mal wieder selbst mitzuspielen. Verdammt gut waren die inzwischen und er hatte sich völlig verausgaben müssen, um mithalten zu können.
»Du bist ein wenig aus der Form, glaube ich.« Maxim hatte netterweise für ihn Bälle und Hütchen eingesammelt.
»Ein wenig ist gut. Ich hab seit zwei Jahren nichts mehr getan und die Qualmerei rächt sich auch.« Van Appeldorn setzte sich auf. »Wie machen sich deine Schützlinge? Ich hab gehört, das sind ganz nette Kerle.«
»Das sind sie, wenn sie etwas zu tun haben. Bis jetzt geht es gut. Ich habe angeboten, Extra-Training zu geben. Mal schauen, ob sie heute kommen.«
»Gehen die eigentlich noch zur Schule?«
»Sie machen Sprachkurs und danach Ausbildung, entschuldige, eine Ausbildung bei dem SOS-Kinderdorf. Das wird im Oktober beginnen. Es ist gut, dass sie deutsche Freunde finden. Wenn man immer nur miteinander ist, hat man dumme Gedanken. Ah, da kommen sie ja, gut.« Er winkte die jungen Männer heran. Van Appeldorn versuchte, möglichst sportlich auf die Füße zu kommen.
»Andrej, Dimitri, Sergej, das ist mein Freund Norbert. Er ist Trainer von der C-Jugend.«
Die drei lächelten scheu.
Schuster und Schumacher waren wieder vereint. Sie waren in dieser Woche nicht nur gemeinsam zur Frühschicht eingeteilt, Schumacher hatte sich auch dazu durchgerungen, seinem Freund endlich Ilona vorzustellen. Und wider Erwarten war das Treffen harmonisch verlaufen. Schuster war offensichtlich positiv überrascht gewesen und hatte sich jede abfällige Bemerkung über die Provinz verkniffen und auch Ilona hatte ihre Zunge, die hin und wieder ganz schön spitz war, im Zaum gehalten; anscheinend mochte sie Schuster. Sie hatten sich den Hof angesehen, gemeinsam Kaffee getrunken und waren erst gegangen, als es Zeit zum Melken wurde und Ilona ihr weißes Minikleid gegen einen Overall getauscht hatte. Schumacher wäre gern noch geblieben und hätte geholfen, aber er wollte das Schicksal nicht zu sehr herausfordern: Schuster im Kuhstall, das wäre zu weit gegangen.
»Schnuckelig, deine Ilona, gefällt mir. Die hat nicht zufällig noch eine Schwester?«
»Du bist doch in festen Händen.«
»Noch«, meinte Schuster in einem Ton, der keine Fragen zuließ. »Überhaupt habe ich mir einen Bauernhof anders vorgestellt. Das ist ja ein ganz moderner Betrieb. Und die Ilona hat das studiert?«
»Ja, sie hatte schon als Kind Spaß an der Landwirtschaft. Ihr Onkel hat ihr den Hof vermacht. Der hatte keine eigenen Kinder.«
»Ach, der Betrieb gehört ihr? Dann hat die ja richtig was an den Füßen.«
»Hm.«
»Guter Fang, alle Achtung.«
»Hör auf!«
»Nein, ehrlich, ich meine das gar nicht böse.«
»Wir werden bald heiraten.«
»Bist du verrückt? Wieso denn heiraten?« Schuster war entsetzt.
»Dämliche Frage! Weil ich mit ihr zusammenleben will.«
»Ja, dann mach doch.«
»Auf dem Dorf geht das nicht so einfach. Die sind alle katholisch, Ilona auch.«
»Du heiliger Strohsack! Gibt’s so was heute noch? Lässt sie dich denn überhaupt ... ich meine, durftest du denn schon mal ...«
»Jetzt ist es aber gut! Natürlich haben wir ...«
»Ich dachte schon! Schumi, der größte Casanova von der Polizeischule und dann eine Jungfrau!«
»Der größte Casanova warst ja wohl du.«
»Stopp«, rief Schuster plötzlich. »Fahr mal da vorne auf den Parkplatz.«
»Was hast du denn jetzt schon wieder?«
»Mach schon, halt an.«
Schumacher bremste und bog auf den Parkplatz an der Kneipe ein.
»Hab ich doch richtig geguckt«, stieß Schuster ihn an. »Unsere drei russischen Freunde. Was wollen die denn auf dem Materborner Fußballplatz?«
Die drei Jungen verschwanden gerade hinter dem Tor mit dem goldenen Drachen und der Inschrift Siegfried Kampfbahn.
»Los, wir gehen denen mal nach. Nicht, dass die wieder was anstellen.«
»Ich hab frei«, wehrte sich Schumacher. »Wieso musst du dich immer in alles einmischen?«
»Meine Güte, ich will doch nur mal gucken.«
»Na gut.« Sie stiegen aus.
»Da, das ist doch van Appeldorn, oder nicht? Was wollen die denn von dem?« Schuster ging schneller. »Gibt es Ärger, Kollege?«
»Ärger?« Van Appeldorn sah ihnen verdattert entgegen. »Was macht ihr denn hier und wieso soll es Ärger geben?«
Schuster lachte und zeigte auf die drei Jugendlichen. »Das sind doch unsere nackt...« Er brach ab. Mit van Appeldorn war nicht gut Kirschen essen, wenn man eine Sache in den Sand setzte, das hatte Schuster schon ein paar Mal am eigenen Leib erfahren.
Die Jungen sahen aus, als wären sie am liebsten abgehauen. Maxim Weiß war verwirrt. Und dann dämmerte es van Appeldorn. »Du meinst, das sind die drei aus Reichswalde?«
Schuster nickte. »Und aus Hasselt.«
»Du bist Polizei, Trainer«, sagte Sergej und der ängstliche Unterton passte überhaupt nicht zu seinem eindrucksvoll kahlen Schädel.
»Das ist richtig«, antwortete van Appeldorn, »aber ich bin nicht gefährlich.«
Dimitri und Andrej lachten unsicher.
»Wie ihr seht, gibt es hier keinen Ärger, Kollegen. Trotzdem vielen Dank.«
Dass es Zeit wurde zu gehen, hörten die Kollegen, auch ohne dass van Appeldorn es ausdrücklich sagte.
»Ich glaube, Freunde, ihr könnt mir helfen«, wandte er sich an die Jugendlichen. »Ich lade euch auf ein Bier ein, wenn du einverstanden bist, Maxim. Vielleicht könnt ihr mir ein paar Fragen beantworten. Keine Angst, euch passiert nichts.«
Van Appeldorn führte das Gespräch sehr behutsam, schon weil er Maxim nicht beleidigen wollte, und er brauchte das Vertrauen der Jungen.
Sie stammten alle aus Kasachstan, aber sie hatten sich erst hier im Wohnheim kennen gelernt. Sie kamen aus kleinen Dörfern, in denen, wie Maxim erklärte, die Zeit vor mehr als hundert Jahren stehen geblieben war. In ihren Pässen stand ›als Deutscher geboren‹, aber das hatte ihnen nichts bedeutet. Sie waren keine Außenseiter gewesen. Sie waren Russen, Bürger mit allen Rechten und Pflichten. Nicht einmal ihre Eltern hatten noch Deutsch gesprochen. Aber dann plötzlich hatten sie angefangen, vom Goldenen Westen zu reden, vom Schlaraffenland, vom Paradies. Nun waren sie hier, zuerst im Lager, jetzt in einem Wohnheim. Besonders Sergej hatte große Probleme mit seinem Vater; in der Heimat ein geachteter Mann, ein Ingenieur, arbeitete er hier in einem Kaufhaus bei einem Schlüsseldienst. Dass Maxim ein ähnliches Schicksal hatte, interessierte Sergej nicht; Maxim war nicht sein Vater.
Ja, sie prügelten sich oft, schlugen sich mit den Leuten, die sie ›Russenschweine‹ nannten oder ›dreckige Russkis‹, Leuten, die so alt waren wie sie, mit Kevins Bande und mit anderen. Und was passierte? Kevin ging mit acht, neun Leuten auf sie los, sie waren nur zu dritt, trotzdem verteufelte man sie, die Ausländer. War das gerecht?
Van Appeldorn dachte an das, was die Kollegen erzählten: ›Keiner ist so brutal wie die Russen. Die treten noch zu, wenn einer längst am Boden liegt, und immer auf den Kopf.‹
Und die Schilderung der Familien, auch Maxims Schicksal, wie ging das zusammen mit der Tatsache, dass die harte Drogenszene hier längst fest in der Hand einer russischen Mafia war, auch der Knochenpark in Emmerich, die Küppersstraße? Wie passte das zu den Männern, mit denen Ackermann sich im KK 21 zunehmend beschäftigte: Russen, die, kaum drei Monate im Land, mit einem nagelneuen, dicken Mercedes herumfuhren?
»Es gibt Verbrecher, die hierher kommen, natürlich«, sagte Maxim. »Vielleicht sind es auch nicht wenige, ich weiß es nicht, aber man kann doch nicht alle über einen Kamm scheren. Und wenn ihr sagt, die Kinder sind brutal und böse, sie stehlen, sie prügeln, was soll das bedeuten? Wir Russen haben das in unseren Genen?«
»Du weißt, dass ich das nicht denke, Maxim.«
»Nicht du, Norbert, das weiß ich wohl.«
Und dann redeten die Jungen. Ja, da gab es eine Gruppe seit ein paar Monaten, die aus dem Nichts auftauchte, wenn es irgendwo Streit gab, die für Ordnung sorgte. Die Leute waren nicht bewaffnet, aber sie waren schnell, sie waren gut, sie waren perfekt aufeinander eingespielt. Keiner wusste, wer sie waren, sie kamen immer vermummt und man nannte sie die Schwarze Polizei.
19
Fanny und Zarah schoben ihre Fahrräder durch die Fußgängerzone.
»Du gibst mir deine Erdkundemappe und dann zisch ich sofort wieder ab. Ich brauche Tage für das dämliche Referat, Mensch. Warum muss der ausgerechnet mir das reindrücken, kannst du mir das sagen? Huch!«
Zwei Gestalten sprangen ihnen in den Weg: Killer und Bobo.
»Lasst die Fietsen stehen und kommt mit. Ist wichtig!«
Die Mädchen gehorchten sofort.
»Wir gehen runter zum Moritzpark. Da ist um diese Zeit kein Mensch.« Killer wartete nicht, er stapfte einfach los.
Fanny blieb stehen und starrte ihm nach. »Wie siehst du denn aus?« Killer trug einen Ring im rechten Ohr, an dem ein großes Hakenkreuz baumelte.
»Du spinnst total! So was ist verboten. In Kleve kannst du das nicht gekauft haben.«
»Ich war in Holland.«
»Ach du Scheiße!«
»Was geht das dich an?«
Zarah hakte sich bei Bobo ein und schmiegte sich an ihn. »Hallo, Schatz!«
Bobo schüttelte sie ab. »Komm, jetzt nicht.«
»Kommt endlich«, schnauzte Killer und lief die Treppen zum Park hinunter. »Wir nehmen den unteren Weg. Da sieht uns keiner.«
Schweigend trabten sie hintereinander auf dem schmalen, glitschigen Pfad bis zu einer Bank, die direkt am Wasser stand.
Killer setzte sich breitbeinig hin. »Giltjes ist verschwunden.«
»Was?«, rief Fanny. »Ich denk, der sitzt bei seinem Onkel in Emmerich.«
»Nicht mehr. Sein Vetter, der blöde Wichser, hat ihn weggebracht.«
»Und an das Arschloch kommen wir im Moment nicht ran«, sagte Bobo. »Der lässt sich nur noch von seinem Alten fahren.«
»Wir müssen Giltjes finden«, blaffte Killer dazwischen, »und zwar schleunigst. Der bringt das und verpfeift uns. Und dann haben wir einen Mord am Arsch.«
»Dann mach doch!« Fannys Stimme klang trocken.
»Und wie wir machen! Und zwar mit euch zusammen«, sagte Killer. »Ihr hängt nämlich genauso mit drin wie wir.«
Fanny richtete sich auf. »Ich habe nicht zugetreten.«
»Ach, so ist das!« Killer kam ganz dicht heran, so nah, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. »Die kleine Schlampe will den Arsch einkneifen. Guck mal an. Interessant! An deiner Stelle wäre ich jetzt ganz vorsichtig, Fanny. Überleg dir ganz genau, was du sagst.«
Fanny wich nicht einen Millimeter zurück, aber sie hatte Mühe mit dem Atmen.
»Sigi!«, rief Zarah und ihre Stimme überschlug sich dabei. »Wir gehen zu Sigi. Der hilft uns.«
Killer ließ von Fanny ab. »Ich wusste immer schon, dass du dämlich bist. Sigi hat uns den Unfall abgekauft, der weiß bis heute nicht, was Sache ist. Der würde uns ans Messer liefern, ohne mit der Wimper zu zucken. Hast du das immer noch nicht geschnallt?«
»Killer hat Recht«, mischte sich Bobo ein. »Ihr hängt mit drin. Also macht jetzt keinen Fehler.«
»Sonst?«, flüsterte Zarah.
»Sonst?« Killer lachte schmierig, seine Augen glänzten. »Sonst, du alte Nutte, übe ich an euch schon mal ein bisschen für das, was ich mit Giltjes vorhabe.«
Bobo rieb sich unbehaglich die Arme. »Ihr müsst euch wieder reinhängen.«
»Bei Jacqui ist nichts zu holen«, sagte Fanny, »echt nicht.«
»Dann lasst euch was anderes einfallen, Schlampe.« Killer grinste und sprang auf die Füße. »Ihr hört von uns. Ihr habt ja gesehen, wir finden euch überall.«
Wim Lowenstijn machte es sich mit einem Whisky auf der Couch vor dem Kamin bequem und dachte nach. Eines stand fest: Björn hatte schlotternde Angst und keinen Menschen, dem er traute. Dass die Polizei ihn beschützen konnte, glaubte er nicht und vielleicht hatte er sogar Recht damit.
»Der Kleine schläft schon wieder.« Jocelyne war leise in den Salon gekommen. »Er isst und schläft und schläft und isst. Er ist so schwach, aber er hat kein Fieber mehr.«
Lowenstijn klopfte neben sich auf die Couch. »Der Kleine, mignon ... Jocelyne, du und Muttergefühle! Ich muss gestehen, das beunruhigt mich.«
Sie setzte sich neben ihn, legte die Beine hoch und schmiegte sich in seine Arme.
»Mach dir keine Sorgen, Cheri, du weißt, wie sehr ich meinen Beruf liebe.«
»Mehr als mich?«
»Mehr als alles.«
Er seufzte. »Kein Wunder. Den ganzen Tag mit Diamanten zu tun, die schönsten Steine der Welt, in einer der schönsten Städte ...«
»... mit der schönsten Mafia im Nacken«, ergänzte sie trocken. »Aber was ist dabei? Ich liebe die Gefahr.«
»Und mich.«
»Und dich.« Mit einem Lächeln nahm sie den Whisky entgegen, den er ihr eingeschenkt hatte. »Alors, was machen wir mit dem Kleinen?«
»Der Kleine, Jocelyne, ist ein ausgemachtes Früchtchen.«
»Das denke ich nicht. Er ist nur sehr, sehr einsam. Pauvre petit! Glaubst du seine Geschichte?«
Lowenstijn betrachtete die Lichtreflexe im geschliffenen Whiskyglas. »Ja, die Geschichte klingt absurd, aber ich glaube ihm.«
»Und was machen wir nun?«
»Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Fest steht nur, dass ich meine Lizenz riskiere, wenn ich den Jungen weiter bei mir verstecke.«
Jocelyne machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es gibt so viele schöne Dinge für dich zu tun.«
»Selbstverständlich, aber ich brauche hin und wieder Arbeit, sonst werde ich unzufrieden. Das muss das deutsche Blut in meinen Adern sein. Ich werde Daniel rufen.« Er drückte auf den Klingelknopf am Kaminsims. »Wir müssen die Sache in Ruhe durchsprechen.«
Einen Wimpernschlag später stand der Brite in der Tür. »Sie haben geläutet, Sir?«
Lowenstijn verdrehte die Augen. »Jetzt zieh endlich den Cut aus und nimm den Binder ab. Ich gebe dir für heute frei. Du bist jetzt außer Dienst.«
»Ein Butler ist immer im Dienst, Sir.«
»Daniel, ich warne dich!«
Baldwin setzte sich, ohne eine Miene zu verziehen. Jocelyne stand auf und goss auch ihm einen Whisky ein. Er nahm das Glas sehr vorsichtig. Seit neun Jahren war er weg aus Birmingham, seit neun Jahren schon arbeitete er nicht mehr als Schweißer, aber seinen Händen sah man es immer noch an.
»Also, was ist, Daniel?«, fragte Lowenstijn. »Glaubst du dem Jungen?«
»Natürlich, ich frage mich nur, wie groß seine Phantasie ist.«
»Was meinst du?«
»Nun, wie gefährlich sind diese Terroristen wirklich? Sind sie immer noch hinter ihm her? Würden sie ihn tatsächlich töten? Aber es kommt nicht darauf an, im Grunde. Wir müssen diese Leute finden in jedem Fall.«
»Wir müssen den Jungen der Polizei übergeben, Daniel, und das weißt du auch.«
»Nein, Wim«, rief Jocelyne, »das kannst du nicht tun! Er hat solche Angst.«
Daniel Baldwin brummelte etwas von »deutscher Polizei« und »deutschen Gesetzen«. »Wir können nicht sein Leben riskieren.«
»Wenn Toppe da wäre«, sinnierte Lowenstijn.
»Das ist, was ich dachte«, bestätigte Baldwin. »Was, wenn du mit van Appeldorn sprichst?«
»Ich weiß nicht.«
»Wir finden einen Weg«, sagte Baldwin entschieden.
Eine gute halbe Stunde planten sie, verwarfen wieder. Jocelyne hörte ihnen schweigend zu und mischte sich erst am Schluss wieder ein. »Ihr werdet es nicht heute tun und nicht morgen! Björne ist noch viel zu schwach. Das lasse ich nicht zu! Er muss Kraft haben, wenn er geht.«
»Na bitte«, Lowenstijn lachte. »Ich sag’s ja: Löwenmutter.«
Van Appeldorn und Ackermann saßen im Büro und hingen schon seit einer ganzen Weile, jeder für sich, ihren Gedanken nach, aber das Schweigen zwischen ihnen war nicht unangenehm. Ackermann hatte Recht behalten: Das kleine Gewitter hatte die Luft gereinigt, van Appeldorn war wesentlich duldsamer. Sogar gestern Abend, als sie gemeinsam mit ihrer Liste unterwegs gewesen waren und Ackermann selbstverständlich in jeder Kneipe Bekannte getroffen und, wie nicht anders zu erwarten, seine plumpen Scherze gemacht hatte, war van Appeldorn ruhig geblieben.
Sie kamen nicht weiter, es war verrückt, aber bis auf die jungen Russen wollte niemand etwas von der Schwarzen Polizei gehört, geschweige denn sie gesehen haben. Ackermann hielt das für unmöglich. In Kleve verbreitete sich jede Neuigkeit in rasantem Tempo, sogar unter Leuten, die mit den jeweiligen »Sensationen« gar nichts zu tun hatten.
Van Appeldorn erinnerte sich, dass die russischen Jungen nicht nur mit Furcht und Wut von der schwarzen Truppe gesprochen hatten, es hatte auch Respekt durchgeklungen, fast schon Bewunderung. Konnte es sein, dass den Jugendlichen das Einsatzkommando gelegen kam, dass sie die Leute mit Absicht deckten? Oder hielten sie aus lauter Angst vor Rache den Mund?
»Norbert«, meinte Ackermann schließlich, »et hilft nix, wir müssen denen ’ne Falle stellen.«
»Das ging mir auch gerade durch den Kopf.«
»Pass auf, wir machen dat so wie ich damals in Grieth. Heute is’ dat Scheunenfest bei uns in Kranenburg. Wir heuern einfach ’n paar von den Jugendlichen an. Ich kenn se ja inzwischen alle. Die sollen ’ne Klopperei anzetteln, un’ wir gucken, wat passiert.«
Van Appeldorn zeigte ihm den Vogel. »Damit uns die Chefin einen reinwürgt wegen Anstiftung zu einer Straftat. Du spinnst!«
»Ach«, antwortete Ackermann, »dat kriegen wir schon gedeichselt. Lass mich ma’ machen.«
»Vergiss es, Jupp. Da spiele ich nicht mit.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Nein.«
So schnell gab Ackermann nicht auf. »Die brauchen sich doch ga’ nich’ echt zu vertrimmen, Mensch. Et muss bloß so aussehen, als wollten die. Am besten wären ja wohl deine russischen Freunde. Die brauchen sich bloß zu zeigen, un’ schon geht et rund.«
»Das wird ja immer schlimmer«, sagte van Appeldorn gepresst. »Dann stempelt man uns auch noch zu Ausländerfeinden.«
»Bitte!« Ackermann schmollte. »Dann mach ich et eben alleine.«
»Das wirst du schön bleiben lassen. Außerdem ist es Quatsch, wenn du auf die Fete gehst. Die Truppe ist noch nie aufgetaucht, wenn du da warst. Du bist doch bekannt wie ein bunter Hund. So lange du da rumtanzt, rühren die keinen Finger.«
»Aber dich kennt kein Schwein ... Obwohl, dir kauft dat auch keiner ab, dat du da zum Abtanzen hingehs’ ... Warte ma’, genau, dat isset! Ich hab da ’n alten Kumpel, der hat ’ne Pommesbude, die baut der immer auffe Scheunenfete auf. Der lässt dich sicher hinter de Theke, wenn ich den frag. Von da aus hasse alles im Blick.«
Van Appeldorn entspannte sich. »Das wäre eine Möglichkeit. Und wenn es stimmt, was du erzählt hast, dass es eigentlich immer irgendwann Stunk gibt, dann müssen wir doch nur abwarten.«
»Ja, ja, un’ wenn ich ein, zwei Leute ’n bisken heiß mach, dann sach ich et dir nich’. Dann bis’ du aussem Schneider.«
»Ackermann ...«
»Lass stecken! Also am besten, wir nehmen dein Auto, dat kennt keiner. Du stehs’ inne Pommesbude un’ ich verkriech mich draußen ir’ndwo. Ich kenn mich da ja aus. Wir können bloß keinen Funk mitnehmen, dat geht nich’. Grübel, grübel. Wat wir brauchen, sind Spitzel, die zwischen uns hin- und herpendeln. Die Nadine is’ dabei, davon geh ich aus. Wie is’ dat mit deine Anna?«
»Das kannst du getrost vergessen. Außerdem kann ich ihr doch nicht einerseits verbieten, auf diese Feten zu gehen, und dann nehme ich sie selbst mit.«
»Warum denn nich’? Jeder lernt dazu. Sogar so ’n alter Sturkopp wie du.«
Der großartige Plan ging gründlich in die Hose. Ackermanns Kumpel hatte nichts dagegen gehabt, in einem Polizeidrama mitzuwirken. Er hatte sich gefreut über die kostenlose Hilfe und hatte darum gebeten, van Appeldorn möge sich schon um neun Uhr einfinden, da sei der Andrang immer besonders groß. Van Appeldorn verabscheute den Geruch von altem Fett und dieses hier konnte seit dem letzten Krieg nicht mehr gewechselt worden sein. Schon um zehn Uhr war ihm schlecht, aber er musste durchhalten, denn Jupp hatte ihm erklärt, vor Mitternacht liefe normalerweise nichts ab. Ackermann hatte ein sicheres Versteck draußen gefunden, das leider einen Nachteil aufwies: Es hatte kein Dach. Um halb zehn fing es an zu regnen und hörte nicht wieder auf. Nadine spielte gern die Mittlerin zwischen den beiden Polizisten, aber als ihr Vater sie gebeten hatte, doch mal ein paar mittelschwere Jungs zu ihm rauszuschicken, damit er sie ein wenig anheizen konnte, hatte sie sich strikt geweigert. Sie hielt das für eine »total abgedrehte Idee«. Also blieb ihnen nichts weiter zu tun als zu warten.
Um Mitternacht entdeckte van Appeldorn am Eingang seine Tochter Anna. Natürlich hatte sie ihn auch sofort gesehen und sich aus dem Staub gemacht. Er wollte hinter ihr her, bremste sich aber; schließlich hatte er nicht drei Stunden lang den Gestank und das Gebrutzel ausgehalten, nur um jetzt noch alles zu vermasseln. Was fiel dem Gör ein? Eben hatte sie ihn noch bei der Tagesschau gestört und ihm eine langatmige Geschichte erzählt von Carmens Problemen in Mathe und dass sie ihr unbedingt helfen müsse, dabei würde es spät werden, und deshalb würde sie bei Carmen übernachten. Kontrollierte Marion solche Sachen eigentlich nie nach?
Um kurz nach eins gab es eine kleine Rangelei zwischen ein paar Betrunkenen, die sich aber schnell in Wohlgefallen auflöste.
Ackermann hatte keinen trockenen Faden mehr am Leib. Die kleine Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, putzte er sich gerade zum hundertsten Mal die Brille, als Nadine wieder zu ihm hinauskam. »Norbert hat die Nase voll, er will gehen.«
»Seit wann norbertst du den denn?«, schnatterte Ackermann.
»Seit eben. Der war so sauer, weil er Anna vorhin entdeckt hat, da wollte ich ihn ein bisschen aufmuntern und deshalb hab ich ihn zum Tanzen geholt.«
»Norbert hat getanzt?«
»Klar, und hinterher haben wir Brüderschaft getrunken.«
»Mit Küssen?«
»Klar mit Küssen.«
»Der alte Lustmolch! Wenn ich den zwischen de Finger krich!«
»Doch nicht so, Papa! Jedenfalls sollst du in fünf Minuten am Auto sein.«
Ackermann schüttelte sich den Regen aus dem schütteren Haar. »Ich hab nix gegen ’ne heiße Dusche, bloß ... Schätzeken, würdeste deinem alten, klapperigen Vater einen letzten Gefallen tun?«
»Legst du dich zum Sterben nieder oder was soll das?« Sie lachte.
»Hoffentlich nich’. Pass ma’ auf, ich geb dir mein Handy. Wenn der Norbert seins auch mit hat, könnt dat klappen. Lass uns ma’ gucken gehen.«
Van Appeldorn wartete schon im Wagen.
»Boah, Norbert, du stinks’ wie ’ne Fritteuse.«
Van Appeldorn schaute zähneknirschend geradeaus.
»Hast du dein Handy dabei?«
»Wen willst du denn um diese Zeit anrufen?«
Ackermann blieb ruhig. Er speicherte van Appeldorns Telefonnummer in seinen Apparat ein und zeigte Nadine, welche Tasten sie drücken musste. »Ich nehm Norbert mit zu uns, da kann er sich ers’ ma’ den Gestank ausse Haare waschen. Wenn die Schwapo doch noch auftaucht, rufs’ du an, un’ wir sind in drei, vier Minuten hier.«
Sie rollten gerade in Ackermanns Einfahrt, als Nadine sich schon meldete. Van Appeldorn wartete den Ausgang des Gespräches nicht ab, sondern wendete sofort mit quietschenden Reifen.
»Sie sind da!«
Es war nur gut, dass zu dieser späten Stunde in Kranenburg nichts los war, denn Norbert van Appeldorn hielt sich mit den gängigen Verkehrsregeln nicht weiter auf.
»Zwei Minuten vierzig«, meinte Ackermann bewundernd, als sie am Bürgerhaus bremsten.
Ein lang gezogener, schriller Pfiff ertönte, und als sie ausstiegen, stürmten die vermummten Gestalten schon aus der Tür und liefen Richtung Bahngleise. Ackermann setzte ihnen nach, aber ihre Silhouetten verschmolzen mit der Dunkelheit. Dann waren sie weg. Ackermann leuchtete ihnen mit seiner Taschenlampe nach, aber der Strahl war zu schwach, man sah nur einen glitzernden Regenschleier. Hinter ihm kam van Appeldorn angehechelt. »Fünf Leute!«
Ackermann richtete den Lichtstrahl auf den Boden. »Pass auf, sons’ brichst du dir die Knochen. Hier liegen überall Schienen. Ach, guck ma’!« Er ging in die Hocke und betrachtete den tiefen, deutlichen Abdruck einer Schuhsohle mit wulstigem Profil. »Ich fress ’n Besen, wenn ich den nich’ scho’ ma’ gesehen hab, un’ zwar auf van Gemmerns Fotos vom Bruch bei Rogmanns.«
»Bist du sicher?«
»Nee, aber et is’ ’n Versuch wert. Ruf ma’ den Klaus an.«
»Der wird sich freuen. Mitten in der Nacht noch mal raus!«
»Fragt uns einer? Wir können doch wohl schlecht die ganze Nacht hier hocken bleiben un’ dat Ding bewachen. Ich klapper mir ja jetz’ schon einen ab. Is’ dir übrigens aufgefallen, dat die schon getürmt sind, da waren wir noch ga’ nich’ ausgestiegen. Die müssen dein Auto kennen.«
20
Am nächsten Morgen erschienen sie beide früh zum Dienst, saßen dann jedoch nur da und stierten vor sich hin. Sie mussten sich etwas Besseres ausdenken als die Falle gestern Nacht, aber im Augenblick waren sie so müde, dass sie keine zwei vernünftigen Gedanken zusammenbekamen. Auch van Gemmerns Bestätigung, dass die beiden Abdrücke tatsächlich vom selben Schuh stammten, konnte sie nicht so recht wecken. Die Information würde erst etwas wert sein, wenn sie den zum Schuh gehörigen Menschen fanden.
Als das Telefon klingelte, wechselten sie lange Blicke, keiner wollte rangehen, aber schließlich gab sich van Appeldorn geschlagen.
Es war Wim Lowenstijn.
»Ich nehme an, der Name Björn Giltjes sagt dir etwas.«
»Was denkst du wohl, wer den Fall bearbeitet!«
»Wenn ich dir sagen könnte, wo der Junge steckt, was würdest du tun?«
Van Appeldorn wurde schlagartig wach. »Ich würde ihm eine ganze Menge Fragen stellen.«
»Könntest du für seine Sicherheit garantieren?«
»Wie meinst du das? Jetzt red doch mal Klartext, Mensch!«
»Der Junge ist in Lebensgefahr. Ist das klar genug?«
»Und woher weißt du das?«
»Das erkläre ich dir gleich. Ich will nur erst eins von dir hören: Bist du bereit, persönlich für seine Sicherheit zu sorgen?«
»Jetzt reicht’s mir aber, Wim. Wo steckt Giltjes? Und was hast du mit ihm zu tun?«
Man konnte förmlich sehen, wie Ackermanns Ohren immer größer wurden.
»Ich sage dir, was ich weiß«, antwortete Lowenstijn. »Björn Giltjes war an dem Einbruch in der Bresserbergstraße beteiligt. Es war eine Sache, die er und Andreas Kaufmann ganz allein geplant hatten, aber offensichtlich hat jemand Wind davon bekommen. Die beiden Jungen sind nämlich gestört worden, und zwar von einer Gruppe, die man die Schwarze Polizei nennt. Sagt dir das was?«
»Ja, schon, aber wir wissen noch nichts Genaues.«
Jetzt hielt Ackermann es nicht mehr aus. Er rollte mit seinem Stuhl dicht an van Appeldorn heran und versuchte mitzuhören.
»Björn ist jedenfalls vor diesen Leuten getürmt«, fuhr Lowenstijn fort, »und hat sich bei seinem Onkel auf einem Bauernhof in Emmerich versteckt. Nur sein Vetter wusste davon; er hat den Jungen versorgt, mehr schlecht als recht. Vor ein paar Tagen ist plötzlich die Schwarze Polizei auf dem Hof aufgetaucht und hat Björn gesucht. Frag mich nicht, woher die sein Versteck kannten. Auf alle Fälle hat der Onkel sie verscheucht; er hielt sie für gewöhnliche Einbrecher. Am Tag darauf haben sie Björns Vetter nach der Schule abgefangen, ihn zusammengeschlagen und gedroht, ihn zu töten, wenn er Björn nicht rausrückt. Diese Leute sind übrigens bewaffnet, mindestens einer von ihnen hat eine Pistole. Sie haben den Hof überwacht, aber den beiden Jungen ist es doch gelungen zu fliehen. Verstehst du, Norbert? Die Sache ist bluternst. Das ist kein Kinderspiel. Björn Giltjes ist tatsächlich in größter Gefahr und er hat Angst. Es nutzt nichts, wenn du ihn bei euch im Präsidium vernimmst und ihn nachher zu seinen Eltern bringst. Und komm mir nicht mit Polizeischutz und Zeugenschutzprogramm. Wir wissen beide, wie so was läuft. Diese Terroristen wollen den Jungen unter allen Umständen und ich bin sicher, die finden einen Weg, wenn wir uns nicht etwas Vernünftiges einfallen lassen.«
»Und was stellst du dir vor?« Van Appeldorn spürte eine hilflose Wut in sich aufsteigen. Ackermann fing an, wild zu gestikulieren und zu flüstern, aber van Appeldorn drehte sich weg. »Soll ich ihn etwa bei mir zu Hause verstecken und Händchen halten?«
»Genau daran hatte ich gedacht!« Lowenstijn lachte. »Ich wusste doch, dass wir uns verstehen.«
»Das kann ich nicht machen, Wim. Ich komme in Teufels Küche.«
»Norbert, da muss noch jemand anderes in der Leitung sein. Ich habe gerade einen deutschen Beamten sprechen hören.«
Ackermann grinste breit, van Appeldorn knirschte mit den Zähnen. »Kaaskopp! Also gut, ich mach’s, okay?«
»Prima! Dann müssen wir nur noch die Übergabe regeln. Ich weiß nicht, ob die Schwarze Polizei Björns Spur bis hierher verfolgen konnte. Daniel hat das Gelände im Auge und bis jetzt ist alles ruhig, niemand zu entdecken. Trotzdem sollten wir auf Nummer Sicher gehen.«
Van Appeldorn unterbrach ihn: »Kannst du mir sagen, wie du an Giltjes gekommen bist?«
»Später. Siehst du eine Möglichkeit, ihn unauffällig hier abzuholen?«
»Nicht, wenn die Schwarze Polizei tatsächlich bei euch rumlungert. Die kennen Ackermann und mich. Wer weiß, wen von uns hier sonst noch.«
»Damit hatten wir schon gerechnet. Gut, dann bringe ich Björn zu dir nach Hause. Mein Jaguar ist zu auffällig, aber Jocelyne ist für ein paar Tage bei mir. Ich werde ihren kleinen Peugeot nehmen und den Jungen auf den Rücksitz legen. Wann passt es dir?«
Van Appeldorn sah auf die Uhr und dachte kurz nach. »Ich muss meine Frau erst informieren. Sagen wir, in anderthalb Stunden.«
»Perfekt! Ich fahre dicht an deine Haustür ran. Sieh zu, dass die Übergabe dann flott geht.«
Van Appeldorn legte auf und blickte einen Moment ins Leere. »Ich kann nicht glauben, dass ich mich darauf eingelassen habe!«
Ackermann schlug ihm freundschaftlich fest auf die Schulter. »Ich find dat affenscharf! Soll ich dir Schützenhilfe geben bei de Mutti? Die findet dat bestimmt nich’ so toll.«
»Da sei Gott vor!«
»Un’ wat mach ich in der Zeit? Ich wär ja wohl gern bei de Vernehmung dabei.« Er rieb sich den Bart. »Obwohl, vielleich’ doch nich’ so gut. Kann sein, die haben dein Haus im Visier. Am besten gehste alleine.«
»Wieso sollen die mein Haus im Visier haben?«
»Die Schwapo scheint doch alles zu wissen. Terroristen, dat hat Lowenstijn auch gesagt.«
Marion war allein in ihrem Laden. Das kleine Geschäft für Kinder- und Damenmoden aus zweiter Hand war einmal eine Goldgrube gewesen, aber dann war Marion dem Trend gefolgt und hatte sich auf teure Designermarken spezialisiert. Was in den Großstädten boomte, hatte sich in Kleve als Flop herausgestellt. Die wenigsten Leute hier waren bereit, für eine gebrauchte Jeans achtzig Mark auf den Tisch zu legen, wenn man für dasselbe Geld im Kaufhof eine neue kriegte. Die Ladenmiete in der Innenstadt war hoch, seit Monaten butterte Marion zu und so langsam wurde es ernst. Sie wusste, dass sie wieder zum alten Konzept zurückkehren musste, aber sie hatte einfach keine Lust mehr, sich den ganzen Tag mit aggressiven, unerzogenen Kindern herumzuschlagen, deren Mütter sich keinen Deut um ihre Brut scherten, wenn sie erst einmal in der Umkleidekabine waren.
Van Appeldorn nahm sich Zeit und erklärte ausführlich, was geplant war und warum er keine andere Möglichkeit sah. Sie reagierte anders, als er erwartet hatte. Kein ›Du willst mir einen Verbrecher ins Haus setzen? Kommt nicht in Frage!‹ Stattdessen sah sie ihn nur verwundert an. »Was ist denn mit dir los? Du zeigst Herz?«
»Damit hat das nichts zu tun«, wehrte er sich. »Es geht einfach nicht anders.«
»Das hab ich schon verstanden.« Sie streichelte seine Wange. »Er könnte Noras Zimmer haben. Die kann bei Anna schlafen. Ist der Junge sehr schwierig?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Er ist dreizehn.«
»Und du willst ihn den ganzen Tag bewachen?«
»Na ja, das geht natürlich nicht. Ab und zu muss ich mich im Präsidium blicken lassen, aber vor allem müssen wir die Schwarze Polizei ...«
Er hörte förmlich, wie die Klappe fiel. »Ach, so ist das? Ich soll den Aufseher spielen? Und wie stellst du dir das vor? Ich habe ja auch sonst nichts zu tun! Und heute Nachmittag geht es schon mal gar nicht. Ich muss mit Nora in die Stadt. Sie braucht dringend neue Unterwäsche und einen Winteranorak. Das ist seit Tagen geplant, falls du dich bitte erinnerst. Aber vermutlich hast du mal wieder nicht zugehört. Und dafür, dass Ludmilla mich heute die paar Stunden vertritt, darf ich gutes Geld zahlen, wie du vielleicht weißt.«
»Was regst du dich denn so auf? Wir werden das schon hinkriegen. Jetzt ist doch sowieso erst einmal Wochenende. Gibt es heute Mittagessen?«
»Bei uns gibt es immer Mittagessen!« Aber dann lenkte sie plötzlich wieder ein. »Du weißt ja wohl, dass Kinder in dem Alter am liebsten Spaghetti essen, aber ich glaube, heute habe ich mal ein Herz für die großen Kinder. Schnitzel mit Pommes und Erbsen, oder? Hast du noch Zeit zum Einkaufen? Anna kommt um kurz nach eins aus der Schule. Wenn du die Sachen besorgst, kriege ich die Kocherei noch hin und wir können alle zusammen essen.«
Van Appeldorn verstaute seine Einkäufe im Kühlschrank, zündete sich dann eine Zigarette an und stellte sich ans Küchenfenster. Von hier aus hatte er den oberen Teil der Straße im Blick.
Wieso hatte er sich nur dazu überreden lassen? Wenn das herauskam, würde die Meinhard ihn vierteilen. Ackermann würde den Mund halten, das war sicher, aber was war mit Anna und Nora? Es konnte Tage dauern, bis sie die richtige Spur zu dieser ominösen Schwarzen Polizei gefunden hatten. Die Mädchen mussten am Montag wieder zur Schule. Würden sie es schaffen dichtzuhalten? Konnte er ihnen klarmachen, dass möglicherweise Giltjes’ Leben davon abhing?
Und eigentlich musste er Giltjes’ Eltern Bescheid sagen, dass ihr Sohn wieder aufgetaucht war, einstweilen noch gesund und munter. Aber konnte er das riskieren? Wenn der alte Giltjes den Kanal mal wieder voll hatte, würde der seine Klappe bestimmt nicht halten. Nein, er konnte nicht anrufen und er tröstete sich damit, dass die Eltern sich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal gemeldet hatten, um sich nach den Ermittlungen zu erkundigen. Die Liebe zu ihrem Kind schien nicht allzu groß zu sein.
Der Peugeot! Auf die Minute.
Van Appeldorn hatte die Haustür schon geöffnet, bevor das Auto ausgerollt war. Lowenstijn stieg aus, öffnete die hintere Tür, der Junge sprang heraus und schoss an van Appeldorn vorbei in den Flur.
Lowenstijn legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Jetzt schau nicht so sorgenvoll drein. Denk an unsere gemeinsame Aktion vorletztes Jahr. Das war auch beileibe nicht alles rechtens, aber hinterher, als wir das Kind geschaukelt hatten, hat kein Hahn mehr danach gekräht. Alsdann! Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.«
»Du kannst ruhig noch mit reinkommen.«
»Lieber nicht. Ich habe noch etwas vor.«
Björn Giltjes stand hinter der Tür an der Wand und zitterte.
»Tag, Björn, ich bin van Appeldorn, der Vater von Anna. Komm erst mal mit in die Küche. Du willst bestimmt was zu trinken.« Er kam sich linkisch vor.
»Ich möchte bitte zur Toilette«, wisperte Björn.
Anna knallte die Tür zu, pfefferte ihre Schultasche in die Ecke, die Jacke daneben und schnupperte dann. »Schnitzel? Hat einer Geburtstag?«
In der Küchentür blieb sie wie angewurzelt stehen. »Ihr habt Giltjes geschnappt!«
Ihr Vater machte ein komisches Gesicht. »Ganz so ist es nicht«, druckste er. »Aber setz dich erst mal.«
Nora plapperte los: »Der Björn wohnt jetzt bei uns. Er schläft in meinem Zimmer und ich bei dir. Mama hat mir schon ein Bett auf deinem Sofa gemacht. Papa und wir passen jetzt auf Björn auf. Wir müssen den beschützen vor den Mördern.«
Anna stand noch immer da wie betäubt. »Mörder?«, brachte sie schließlich heraus. »Was denn für Mörder?«
Van Appeldorn erzählte es ihr.
Anna schüttelte die ganze Zeit den Kopf, Hitze stieg ihr ins Gesicht.
»Scheiße, das mit Andy ...« Sie fing an zu weinen. Björn konnte nur nicken, die Tränen schnürten ihm die Kehle zu.
»Kinder, hört doch auf!« Marion stellte die Pfanne mit den brutzelnden Schnitzeln auf den Tisch. »Jetzt hab ich mir solche Mühe gegeben. Wenn ihr weiter so weint, kriegt ihr keinen Bissen runter. Nun kommt schon. Es wird ja alles wieder gut.«
Anna starrte sie an. Dann drehte sie sich um und ging. Die Badezimmertür klappte.
»Wie isset gelaufen?« Ackermann konnte es vor lauter Neugier nicht mehr aushalten. »Is’ der Jung jetz’ da? Wer passt denn jetz’ auf den auf? Wat hat deine Familie gesagt?«
Van Appeldorn ließ sich auf den Stuhl fallen, streckte die Beine aus und atmete zum ersten Mal an diesem Tag richtig durch. »Ja, der Junge ist da und meine Familie spielt mit, sogar Anna. Obwohl die immer noch glaubt, dass Giltjes sich die Schwarze Polizei nur aus den Fingern saugt.«
Ackermann nickte eifrig. »Et hört sich ja auf den ersten Blick auch an wie ’ne Räuberpistole. Un’? Red doch weiter!«
Van Appeldorn hatte über zwei Stunden mit Björn Giltjes gesprochen. Wieder und wieder waren sie in allen Einzelheiten den Einbruch durchgegangen, hatten versucht, jeden Schritt zu rekonstruieren. Kaufmann und Giltjes waren durch die Luke im Dach eingestiegen, hatten ein paar Dinge, die ihnen wertvoll erschienen, auf dem Tisch im Wohnzimmer abgestellt und wollten dann hinunter in den Keller, wo angeblich der Familienschmuck versteckt war. Diese Information hatte Kaufmann tatsächlich von Jacqueline, nur war ihr wohl nicht bewusst gewesen, was ihr Bruder damit anfangen würde. Als sie gerade die Kellertreppe hinunter wollten, waren auf einmal schwarz vermummte Leute durch die Luke gekommen und Björn war sofort die Treppe hinuntergelaufen, um durch die Kellertür nach draußen zu fliehen. Kaufmann hatte das nicht mehr geschafft.
»Giltjes hat sich noch einmal umgedreht«, berichtete van Appeldorn. »Er hat gesehen, wie einer von den Vermummten in dem Hundehaufen ausgerutscht ist und dabei Kaufmann zu Fall gebracht hat. Dann ist Giltjes über den Zaun und hat Fersengeld gegeben. Nichts von Zusammentreten. Das muss alles erst passiert sein, als er schon über alle Berge war. Einer von den Schwarzen ist ihm noch nach und hat gerufen: Wir kriegen dich, Giltjes!«
»Die kannten den also!«
Van Appeldorn nickte. »Die Stimme will Giltjes wieder erkannt haben, als zwei von der Schwarzen Polizei ihn auf dem Hof seines Onkels gesucht haben.«
»Dat is’ doch wen’stens wat. Un’ sons’ konnt der sich an nix erinnern? Wie sieht et mit Beschreibung aus?«
»Schlapp, leider. Der Junge war in Panik, und zwar aus gutem Grund. Er kannte die Schwarze Polizei.«
Ackermann sperrte Mund und Nase auf.
»Ja, Giltjes sagt, in der Szene ging schon länger das Gerücht, dass es eine Truppe geben sollte, die es sich zur Aufgabe gemacht hätte, die Jugendkriminalität auszurotten. Giltjes hat das natürlich wesentlich blumiger ausgedrückt, aber darum scheint es zu gehen. Er hat auch gehört, dass man dieser Gruppe anonym Informationen zukommen lassen kann.«
»Un’ wie?«
»Das ist das Problem. Es gäbe eine Adresse, aber angeblich kennt er die nicht.«
»Dat kriegen wer schon. Er wird ja wohl noch wissen, wer ihm dat erzählt hat. Da klemmen wer uns hinter. Interessant is’ auch, wer gewusst hat, dat die den Bruch planen.«
»Auf die Frage habe ich auch noch keine vernünftige Antwort bekommen. Anscheinend hat Kaufmann vorher ziemlich rumgeschwätzt. Aber ich will mir Giltjes heute Abend noch einmal in Ruhe vorknöpfen. Der war nach zwei Stunden einfach platt. Zum Schluss konnte der sich kaum noch an seinen eigenen Namen erinnern.«
»Dann bin ich aber dabei!«, sagte Ackermann entschieden.
»Von mir aus.«
»Hast du einen Schimmer, wie die Schwapo Giltjes in Emmerich aufgespürt hat?«
»Der war blöd genug, durch die Stadt zu spazieren. Dabei sollen ihn irgendwelche Bekannte gesehen haben. Wie die heißen, weiß er nicht. Der Junge scheint ein ausgesprochen schlechtes Namengedächtnis zu haben, aber ich werde ihm schon noch auf die Sprünge helfen. Und was hast du getrieben?«
»Ich hab ’ne neue Falle gebaut, die wird dich echt vom Hocker hauen.«
Es klopfte leise.
»Ja?«, rief van Appeldorn.
Herein kam ein sehr großer, sehr breiter Mann. Der weite, fast bodenlange schwarze Mantel konnte die enormen Muskelpakete nicht vollständig verbergen. Auf seinem mächtigen Schädel trug er einen breitkrempigen dunklen Hut und in seinem Gesicht kämpften eine scharfe Hakennase und eng stehende, runde Kinderaugen um die Vorherrschaft. Er musste in den Dreißigern sein.
»Bin ich hier richtig?«, fragte er in tiefem Bass.
»Glaub ich nich’«, meinte Ackermann. »Die Muckibude is’ im Kellergeschoss.«
Der Hüne schmunzelte fröhlich. »Gestatten, mein Name ist Cox, Peter Cox.«
»Cox ... Cox? Sacht mir nix.«
»Ich soll am Montag hier bei Ihnen anfangen und da dachte ich, es wäre nett, wenn ich mich heute schon einmal kurz vorstelle.«
Ackermann fiel die Kinnlade runter. »Der Computerfachmann!«
»Und Polizist«, ergänzte van Appeldorn. »Nur hereinspaziert. Wir beißen nicht.«
»Oder wen’stens nich’ immer. Und nehmen Se sich ’n Stuhl. Der Mensch muss sich schonen, so gut er kann, sach ich immer. Jupp Ackermann, mein Name. Aus Kranenburg, genauer gesagt aus Scheffenthum. Wat ja wahrhaftig ’n Unterschied is’ ...«
21
Marion wurde langsam ungeduldig – schon gleich fünf.
Anna hatte sich, nachdem Norbert gegangen war, in ihrem Zimmer verkrochen und tat keinen Mucks, nicht einmal ihre über alles geliebte Musik lief. Björn saß seit einer Weile stocksteif vor dem Fernseher. Neben ihm hockte Nora und himmelte ihn an, das kleine Luder.
»Ich will jetzt endlich los, Nora. Ich muss heute Abend noch vier Kartons Ware auszeichnen.«
»Aber Papa ist doch noch nicht hier.« Sie machte ein wichtiges Gesicht. »Und dann müssen wir auf Björn aufpassen, hat er gesagt.« Noch so ein himmelblauer Blick.
Björn wusste nicht, wohin er schauen sollte. Er zog die Schulterblätter noch mehr zusammen.
»Ja, ja«, murmelte Marion und trommelte mit den Fingernägeln am Türrahmen. »Kann der nicht einmal in seinem Leben pünktlich sein?« Wieder sah sie auf die Uhr, dann gab sie sich einen Ruck, ging zu Annas Zimmer und klopfte.
»Was ist?«, fauchte es von drinnen. »Ich will alleine sein!«
Marion öffnete entschieden die Tür. »Entschuldige mal!«
Anna lag auf dem Rücken auf ihrem Bett und schaute an die Decke.
»Was ist los mit dir?«, fragte Marion beunruhigt.
Fast widerwillig wandte das Mädchen ihr das Gesicht zu. »Ich bin sauer! Nora, der Bastard, hat schon wieder in meinen Schubladen rumgeschummelt.«
»Ach so, ich dachte, es wäre was Ernstes.«
Anna drehte sich wieder weg. Jetzt betrachtete sie die Wand.
»Kannst du mir eventuell einen Gefallen tun, Lieblingstochter? Springt auch eine CD bei raus.«
»Was?«, kam es patzig zurück.
»Ich muss jetzt wirklich mit Nora in die Stadt. Dauert ungefähr eine Stunde. Könntest du wohl solange hier bleiben und dich um diesen Jungen kümmern? Ich meine, vielleicht spinnt dein Vater ja auch, aber das passt eigentlich nicht zu ihm.«
»Warum macht der das?« Anna klang verzweifelt. »So was hat der noch nie gemacht. Für keinen.«
Das Telefon schellte. Marion fluchte und lief in den Flur.
»Van Appeldorn!«, meldete sie sich ungehalten.
»Hallo! Ist Fanny da?«
»Fanny? Hier gibt es keine Fanny!«
Jemand kicherte. »Ach, bin ich blöd! Hier ist Carmen. Kann ich Anna sprechen?«
Marion legte die Hand über die Muschel und brüllte: »Anna! Deine Busenfreundin!«
Es dauerte ungewöhnlich lange, aber dann bequemte ihre Tochter sich doch noch.
»Was schlurfst du denn so? Soll ich dir einen Rollstuhl bringen?« Marion presste die Hand fester auf die Muschel. »Aber du bleibst jetzt zu Hause, oder?«, flüsterte sie. »Ich kann doch jetzt gehen?«
»Ja doch! Zischt schon ab«, flüsterte Anna zurück und nahm dann den Hörer. »Hallo, Alte! Was los?«
»Killer will uns sehen«, haspelte Carmen. »Ist dringend, ganz dringend, hat er gesagt. In zehn Minuten an der Bank im Park, wo wir voriges Mal waren.«
»Ich kann nicht.«
»Du musst!«
»Ich sag doch, ich kann nicht.«
»Du solltest aber besser. Killer ist nicht besonders gut drauf.«
»Ist er bei dir?«
»Er steht draußen vor der Telefonzelle.«
»Ich kann trotzdem nicht, echt. Tschö!«
Die Haustür fiel hinter Marion und Nora ins Schloss.
Anna ballte die Hände zu Fäusten. Ihr war schwindelig. Langsam ging sie ins Wohnzimmer. Björn zuckte zusammen, als er sie bemerkte. »Ach, du bist das!«
»Bloß ich. Du hast echt die Hosen voll, wa? Was guckst du denn da für ’n Scheiß?«
»Weiß nicht.«
»Dann mach doch aus.« Anna drückte auf die Fernbedienung, es flimmerte auf dem Bildschirm, dann wurde er schwarz.
Sie setzte sich ein Stück von Björn entfernt aufs Sofa. »Und du glaubst den Quatsch mit der Schwarzen Polizei echt?«
»Mann, wenn ich’s doch sage! Hältst du mich für dämlich, oder was?«
»Jetzt blas dich nicht so auf, ej. Und wie kommst du drauf, dass die dich killen wollen?«
»Boah, ej, die waren doch mit der Knarre hinter mir her! Wenn wir uns nicht im Maisfeld in den Dreck geschmissen hätten ... Wir hatten bloß Schwein.« Auf einmal kippte seine Stimme. »Die haben ja auch Andy alle gemacht.«
»Das stimmt doch nicht!«, schrie Anna.
Es klingelte Sturm.
»Scheiße!« Anna wischte sich über die Augen.
»Mach nicht auf, bitte!« Björn war verwirrt und voller Panik.
»Schwätz nicht! Das ist bloß wieder meine dämliche Schwester, die irgendwas vergessen hat. Die klingelt immer wie eine Geisteskranke.« Sie stand auf und ging zur Tür.
Björn hetzte hinter ihr her. »Lass mich nicht alleine, Anna. Bleib hier! Mach nicht auf!«
Es war Carmen. »Fanny, wo bleibst du denn? Boah, Alte, ej, Killer ist stinksauer! Kommst du jetzt endlich?« Dann wich ihr plötzlich alles Blut aus dem Gesicht. Direkt hinter Anna war Björn Giltjes aufgetaucht.
»Das ist doch nicht wahr!« Zarah hatte ihre Sprache wieder gefunden. »Du? Ihr? Ihr versteckt den die ganze Zeit!«
Björn schnappte erschrocken nach Luft und stöhnte auf. Zarahs Augen! Die schwarzen Balken drum herum. »Nein!«, schrie er und sein Blick flog zwischen den beiden Mädchen hin und her. »Nein!« Er fuhr herum, riss dabei den Telefonapparat von der Konsole neben der Garderobe, stürzte ins Badezimmer, knallte die Tür und schloss sich ein.
»Du Verräterin!«, kreischte Zarah. »Du Scheißverräterin!« Und sie spuckte Anna mitten ins Gesicht. »Dafür wirst du büßen!« Sie heulte. »Du!«
Anna wischte sich die Spucke ab, rannte zum Bad, hämmerte gegen die Tür, rannte zurück. »Carmen, hör doch. Bitte! Giltjes weiß überhaupt nichts. Er hat nichts gesehen, echt nicht. Vor dem müsst ihr keine Angst haben. Hee, Alte«, schluchzte sie, »tu mal normal, ej. Komm rein.«
»Schnauze, du Drecksau! Ich glaube dir nichts mehr! Nie mehr glaub ich dir was! Und Killer erst recht nicht.« Sie spuckte noch einmal und dann lief sie los, die Straße hinauf.
Anna schlug die Tür zu, biss die zitternden Kiefer fest aufeinander und fing an, gegen die Badezimmertür zu bollern. »Giltjes! Björn! Komm raus, Björn!«
Kein Laut.
»Bitte, Björn, komm da raus, schnell!«
»Hau ab. Du bist eine von denen. Du hast Andy umgebracht.«
»Nein, ich war das nicht. Ich hab ihn nicht angerührt, ehrlich. Björn, bitte komm da raus. Ich tu dir nichts, ich schwör’s. Ich hab nichts mehr mit denen zu tun. Bitte, Björn, wir müssen abhauen, sofort. Die sind gleich hier! Killer ist total ... bitte, Björn, du musst mir helfen! Und du musst auch hier weg!«
Ganz kurz war es still, dann sprang die Tür auf. Anna fiel Björn um den Hals und presste ihm fast die Luft ab. »Wir müssen weg hier. Wir müssen uns verstecken, wo die uns nicht finden. Verdammt, wo denn bloß? Scheiße, wo denn bloß?« Sie ließ von ihm ab, lehnte sich gegen die Wand, den Kopf in den Nacken gelegt und versuchte zu denken.
»Wim und Daniel«, sagte Björn leise, »und Jocelyne.«
»Was?«
»Da, wo ich war. Die helfen uns, die passen auf.«
Anna stieß sich von der Wand ab. »Lowenstijn? Der wohnt in Elten, Mann! Wie sollen wir da hinkommen?«
Sie bückte sich, hob das Telefon auf und fing an, im Schuhschrank nach ihren Turnschuhen zu wühlen – auf den Plateaus konnte sie nicht rennen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße! Mach, zieh dich an! Wir müssen erst mal raus hier.«
»Habt ihr ein Auto?«
Anna hörte auf zu wühlen und sah zu Björn hoch. »Was nützt das? Ich kann nicht fahren.«
»Aber ich.«
»Du?«
»Klar, haben Andy und ich dauernd gemacht. Der konnte die astrein knacken, hatte aber immer Schiss zu fahren. Ich bin schon mit tausend Karren rumgegurkt.«
Am Brettchen hingen Marions Autoschlüssel. »Wo wohnt Lowenstijn genau?«
»Keine Ahnung.«
»Scheiße! Das Telefonbuch, mach! E... E... Emmerich. Mist! L... Lowenstijn! Da!«
Sie rannten blindlings nach draußen, Anna riss das Garagentor auf, sie sprangen in den Wagen.
Der Blaue Himmel, die Sackgasse, in der van Appeldorns wohnten, lag direkt unterhalb der Schwanenburg und schmiegte sich eng an den Berg. Schon ein geübter Autofahrer brauchte sein ganzes Fingerspitzengefühl, um den engen Bogen aus der Garage hinaus auf die Fahrbahn zu schaffen. Björn schaffte ihn nicht, er krachte mit dem linken vorderen Kotflügel gegen die Stützmauer zum Burgberg.
Anna sprang aus dem Auto, warf einen kurzen Blick auf den Schaden, dann knallte sie das Garagentor zu und fiel wieder auf den Sitz. »Setz zurück, Mann, und dann rum! Los! Fahr! Fahr endlich!«
Sie rollten durch das schmale Tor am Ende der Gasse und schossen dann quer über die Straße den Berg hinauf zur Kirche.
Im letzten Augenblick entdeckte sie ihn: Killers Wagen am Ende vom Parkplatz!
Zarah auf der Rückbank, Bobo; für eine Sekunde sah sie Killers Augen. Sie konnte sich nicht rühren.
»Ich renn schon mal vor, Mama!« Nora nahm die letzten Stufen zum Blauen Himmel hinauf mit zwei langen Sätzen. Marion tat sich mit der sperrigen Plastiktasche und mehreren kleineren Beuteln in den Händen etwas schwerer. Sie war kurzatmig, als sie oben ankam, und nahm sich zum hundertsten Mal vor, endlich regelmäßig Sport zu treiben, und wenn es nur Schwimmen war.
Nora übte sich im Dauerklingeln und trippelte dabei von einem Fuß auf den anderen. »Ich muss aufs Klo, Mensch. Warum macht die blöde Kuh nicht auf?«
Marion stellte ihre Tüten ab, strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn und holte den Hausschlüssel aus der Tasche. »Die haben bestimmt die Musik voll aufgedreht.« Aber in der Wohnung war es still.
»Was ist denn hier los?« Der Schrank unter der Garderobe stand offen, davor, wild durcheinander, alle möglichen Schuhe. »Anna? Björn?«
Keine Antwort. Marion spürte auf einmal ihren Magen.
»Mama?« Nora schaute sie ängstlich an.
»Geh aufs Klo. Ich guck schon nach.«
Sie lief in jedes Zimmer, sogar hinaus auf die Dachterrasse, obwohl die Glastür geschlossen war. Mit weichen Knien ging sie zum Telefon, wählte. »Norbert? Anna und Björn sind weg!« ... »Ich war mit Nora in der Stadt, nur kurz. Anna hatte versprochen, bei ihm zu bleiben« ... »Ja, ich weiß« ... »Norbert, ich habe Angst« ... »Nein, ich warte hier« ... »Bitte, mach schnell.«
»Mama?«
»Papa kommt sofort.«
22
»Wo sind die jetzt?« Björn wischte sich zuerst die eine, dann die andere schweißnasse Handfläche an seinen Jeans ab und umfasste das Lenkrad noch fester. Seine Beine zitterten so sehr, dass er Mühe hatte beim Kuppeln und Gasgeben.
Anna drehte sich nach hinten. »Es sind immer noch vier Autos dazwischen.«
Björn fluchte. »Ich könnte sie abhängen, wenn wir von dieser Scheißstraße runterkämen.«
»Nein, nicht! Wir verfahren uns bloß. Und die dürfen uns nicht alleine erwischen. Wir müssen über die verdammte Rheinbrücke.«
Sie steckten mitten im Feierabendverkehr auf der Emmericher Straße und wegen der langen Baustelle auf der rechten Seite krochen sie mit fünfzig dahin und hatten keine Chance zu überholen. Aber wahrscheinlich hätte Björn das sowieso nicht gewagt.
Killer hatte keine Skrupel. Der Wagen, der ihnen jetzt entgegenkam, betätigte wild die Lichthupe und hinter ihnen quietschten Bremsen. Anna drehte sich wieder um. »Nur noch zwei Autos!«
»Endlich, Norbert! Das hat ja ewig gedauert.« Marion stand vor dem Haus auf der Straße.
»Das waren nicht mal zehn Minuten.« Van Appeldorn nahm ihr die hastig gerauchte Zigarette mit der zentimeterlangen Glut aus den Fingern und warf sie in den Rinnstein. »Komm, mach kein Theater«, sagte er leise.
»Theater?« Er hatte Ackermann mitgebracht und noch einen Mann, den Marion nicht kannte, aber das war ihr egal. »Hast du sie nicht mehr alle? Du erzählst mir die ganze Zeit was von irgendwelchen durchgeknallten Leuten und Lebensgefahr, du schleppst mir dieses Balg ins Haus und jetzt ist mein Kind verschwunden.«
Van Appeldorn biss sich auf die Lippen und schob sie sehr bestimmt in die Wohnung. »Jetzt erzähl doch erst einmal, was überhaupt passiert ist.«
»Da gibt’s nichts zu erzählen. Sie sind weg, alle beide. Dabei hatte Anna mir versprochen ...« Sie stockte. Hinter Ackermann war jetzt auch der Fremde hereingekommen.
»Das ist Peter Cox«, sagte van Appeldorn ruhig, »ein neuer Kollege. Er weiß Bescheid.«
Der Mann nickte ihr zu und lächelte.
»Hat die Anna dir vielleicht ’n Zettel hingelegt?«, fragte Ackermann.
»Nein.« Marion guckte sie der Reihe nach unsicher an. »Ich glaube nicht.«
Aus Annas Zimmer dröhnte urplötzlich laute Musik.
»Nora! Mach das sofort aus, zum Teufel!«
Es wurde wieder still.
»Möglicherweise ist ja alles ganz harmlos«, begann van Appeldorn. »Vielleicht hatten die zwei einfach keine Lust mehr, hier rumzusitzen, und sind in die Stadt. Du kennst doch Anna.«
Marion schüttelte den Kopf. »Der Junge hatte wahnsinnige Angst. Der hat die ganze Zeit wie festgenagelt auf dem Sofa gesessen, der wäre nicht einmal am Fenster vorbeigegangen.«
»Warum fliegen eigentlich die ganzen Schuhe hier rum?«
»Ich weiß es nicht. Wenn deine Mörder mein Kind haben! Mein Gott, tu doch endlich was!«
»Jetz’ mach dich doch nich’ verrückt, Marion.« Ackermann nahm sie fest in den Arm. »Lass uns ma’ in aller Ruhe überlegen.«
Marion sah ihm ins Gesicht. »Carmen hat angerufen. Gerade als wir gingen.«
»Mama, guck mal!«
Nora stolzierte in den Flur: schwarzer, übergroßer Overall, schwarze Turnschuhe, schwarze, wollene Motorradmütze. »Geil, oder?«
»Wo hast du das schon wieder her?«, schimpfte Marion müde.
»War in Annas Rucksack unter ihrem Bett.« Nora wackelte albern mit dem Po.
»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht an Annas Sachen gehen?« Dann verstummte Marion.
Ackermann schloss für einen langen Moment die Augen, dann sah er unglücklich in van Appeldorns gequältes Gesicht.
Peter Cox nahm den Hut ab.
»Wir schaffen es nicht, Björn. Er ist direkt hinter uns.« Anna liefen die Tränen übers Gesicht, sie klammerte sich mit beiden Händen am Sitz fest.
Hüthum, ein Straßendorf. Björn schoss mit achtzig durch die Hauptstraße.
»Pass auf!«
Die Bahnschranke vor ihnen kam bimmelnd herunter.
Millimeter – Björn fegte unter ihr hindurch.
Anna fasste es nicht. »Du hast es geschafft! Du hast ihn abgehängt! Er steht hinter der Schranke. Fahr! Fahr doch! Wir schaffen es!«
»Bastard!« Killer schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Verfickter Bastard!«
»Du kriegst ihn noch«, sagte Bobo. »Die beiden Loser haben doch keine Chance gegen dich, Killer.«
Zarah rutschte auf der Rückbank hin und her. »Es gibt eine Umleitung. Da ist eine Unterführung.«
Killer drehte sich um. Sein Gesicht war starr. »Was laberst du, Schlampe? Spuck’s aus!«
»Ein Stück zurück, dann rechts ab. Da ist so ein Tunnel drunter durch.«
Killer legte den Rückwärtsgang ein. »Wehe, du laberst Scheiße.«
Zarah merkte, dass sie ganz furchtbar aufs Klo musste. Sie fasste nach Bobos Arm, der schob ihre Hand weg, wandte sich dann aber doch um.
»Alles klar?«
Killer setzte ein Stück zurück und wendete. Er verfehlte den Fußgänger nur knapp.
Van Appeldorns Gesicht war grau. Er schaute Ackermann an. »Sie gehört dazu, sie ist bei der Schwarzen Polizei. Und ich Idiot, ich habe denen Giltjes quasi auf dem Tablett geliefert.«
»Norbert ...«, Ackermann konnte es kaum aushalten.
»Doch, doch. Ist doch alles glasklar jetzt. Warum nie was passiert ist, wenn du auf den Scheunenfesten warst. Meine Tochter war ja auch immer da, nicht wahr? Natürlich kannte sie dich, natürlich kannte sie mein Auto. Sie konnte ihre Truppe immer rechtzeitig warnen. Das darf doch alles nicht wahr sein!«
Marion verknotete ihre Finger. »Die haben sie dazu gezwungen. So muss es sein. Weil ihr Vater Polizist ist. Die haben sie erpresst, Norbert.«
»Ach ja?« Jetzt schrie er. »Und warum ist sie dann nicht zu mir gekommen?«
»Zu dir?«, schrie sie zurück. »Ausgerechnet! Ach, hör doch auf. Du spinnst doch. Das kann alles gar nicht sein. Anna würde doch nie ...«
»Doch, sie würde«, sagte van Appeldorn langsam. »Ich glaube, sie würde.«
Peter Cox knetete seine Hutkrempe. Auch Ackermann war still.
»Sie hat Giltjes an die Schwarze Polizei ausgeliefert«, murmelte van Appeldorn mit steifen Lippen. »Sie musste nur auf den passenden Moment warten.«
»Un’ wenn de mich totschlägst, Norbert, dat glaub ich nie im Leben«, rief Ackermann.
»Was denn sonst?«, fuhr van Appeldorn ihn an. »Was glaubst du denn?«
»Ich weiß et nich’, is’ auch piepegal. Wat ich weiß, is’, dat wir die zwei finden müssen, un’ zwar dalli.«
Peter Cox räusperte sich. »Vielleicht sollten wir uns hier ein wenig genauer umsehen. Die ganzen Schuhe, das muss doch etwas zu bedeuten haben. Das Telefonbuch da vorn. Und du, Nora«, tippte er das völlig verstörte Mädchen vor ihm an. »Du heißt doch Nora? Du gehst jetzt am besten und ziehst diese hässlichen Kleider wieder aus.«
Ackermann lief zur Konsole und schaute in das aufgeschlagene Telefonbuch. »Hat einer von euch dat hier liegen lassen?«
»Nein.« Marion war hinter ihn getreten. »Als ich ging, lag das in der Schublade, wie immer.«
»Emmerich«, sagte Ackermann. »Unter L und M, Emmerich, Elten.« Er drehte sich zu van Appeldorn um. »Lowenstijn!«
Van Appeldorn rieb sich die Schläfen. Er war immer noch aschfahl. »Das macht keinen Sinn, Jupp.«
»Und wenn doch? Und wenn doch? Nehm doch ma’ an, Björn hat rausgekricht, dat die Anna bei diese Scheißschwapo is’. Un’ da is’ er abgehauen. Dahin, wo er sicher war.«
»Und Anna ist ihm nach, oder wie?«
»Entschuldigung«, meinte Cox vorsichtig, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Junge sich in einer solchen Situation noch die Zeit genommen hätte, im Telefonbuch nachzuschlagen.«
»Wieso überhaupt Telefonbuch? Ruf Lowenstijn an, Norbert«, drängte Marion. »Björn muss mit ihm telefoniert haben. Oder Anna. Mein Autoschlüssel!« Sie starrte auf das Schlüsselbrett über der Konsole. »Norbert, mein Autoschlüssel ist nicht mehr da.« Gleichzeitig hastete sie schon zur Haustür und lief hinaus. Man hörte das Garagentor scheppern, dann war sie wieder in der Tür. »Mein Auto ist weg!«
Die drei Männer sahen sich an. Ackermann griff langsam zum Telefon und wählte Lowenstijns Nummer.
»Anna kann nicht Auto fahren«, weinte Marion und packte van Appeldorns Arm.
Der verzog bitter den Mund. »Aber Giltjes kann. Der hat schon zig Autos geknackt.« Er lauschte; Ackermann haspelte irgendetwas ins Telefon. »Kacke! Bleib dran, Wim.« Die Brille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht. »Nix, Norbert. Bei Wim hat keiner angerufen. Wat machen wer jetz’?«
Van Appeldorn straffte sich. »Wir fahren nach Elten. Das ist die einzige Spur, die wir haben. Oder sieht das einer anders?« Keiner antwortete ihm. »Sag Wim, er soll zu Hause bleiben und die Augen offen halten. Und du«, er strich Marion kurz über den Kopf, »wartest hier. Wir bleiben in Verbindung.«
Er schaltete das Funktelefon ein und ging hinaus. »Möglichkeit A«, begann er. »Anna hat, sobald die Luft rein war, ihre Komplizen angerufen, und die sind gekommen und haben Giltjes abgeholt.« Seine Stimme war jetzt wieder so kühl wie immer. »Frage 1: Warum ist Anna dann auch weg? Frage 2: Warum ist dann das Telefonbuch bei Lowenstijns Nummer aufgeschlagen? Möglichkeit B: Die Schwarze Polizei hat mein Haus beobachtet und zugeschlagen, als alle, bis auf Anna und Giltjes, weg waren. Frage 1: Wieso haben die Marions Auto genommen? Frage 2: Warum ist das Telefonbuch bei Lowenstijns Nummer aufgeschlagen?«
»Möglichkeit C«, Ackermann klang wütend. »Anna is’ zur Vernunft gekommen un’ hat selbs’ Schiss. Un’ deshalb is’ dat Telefonbuch bei Lowenstijns Nummer aufgeschlagen. Un’ dann is’ Anna genauso in Gefahr wie Giltjes.«
»Das ist doch bescheuert«, knurrte van Appeldorn, setzte sich ins Auto und drehte den Zündschlüssel. »In dem Fall hätte sie doch nur zu Hause bleiben und mich anrufen müssen. Das wäre am sichersten gewesen.«
Darauf antwortete Ackermann nicht. Er wandte sich stattdessen an Peter Cox: »Bist du dabei, Pit.«
Der nickte und stieg ein.
Björn trat das Gaspedal durch.
»Kannst du ihn sehen? Ist er hinter uns?«
»Ich weiß nicht.« Anna kniete jetzt auf dem Sitz und blickte durch die Heckscheibe. »Da sind ein paar Autos weiter hinten, aber ich kann nichts erkennen.« Sie setzte sich richtig hin und legte den Gurt wieder an. »Unter der Bahnlinie durch und dann kann man gleich rechts den Berg hoch, glaub ich. Großer Gott, brems ab!«
Björn hörte auf zu atmen. Die Linkskurve zog sich immer enger zu. Er bremste, schlingerte, lenkte, bremste und dann hielt er den Wagen nicht mehr. Sie schleuderten, drehten sich zweimal und krachten mit dem Heck in die Mauer der Bahnunterführung. Für einen Augenblick war es totenstill.
Dann hörte man Autogeräusche, Bremsen kreischten.
»Raus hier! Den Berg hoch in den Wald«, schrie Anna.
Björn hatte die Augen geschlossen. Er bewegte sich nicht.
»Björn? Was ist denn? Bist du okay?«
»Ich glaub wohl«, kam es tonlos zurück.
Anna sprang aus dem Wagen, Björn kriegte seine Tür nicht auf. Ohne lange zu überlegen, krabbelte er über den Beifahrersitz nach draußen. Autos hatten hinter ihnen am Straßenrand gehalten, Leute kamen gelaufen.
Ganz hinten rollte Killers Wagen heran.
Blindlings stürmten sie los, kämpften sich durch ein Dickicht und waren im Wald. Es ging steil bergan.
23
Van Appeldorn, Cox und Ackermann erreichten die Unfallstelle nur wenige Minuten später.
Ackermann stöhnte laut auf, als er Marions Wagen erkannte, van Appeldorn fuhr mit versteinertem Gesicht an der Autoschlange vorbei bis vorn zu den Leuten, die da standen und in den Wald hochstarrten.
Ackermann war herausgesprungen, bevor sie zum Stehen kamen. Er schob die Leute beiseite und schaute in das zerbeulte Auto. »Die sind nich’ da!«, brüllte er über die Schulter zurück. Dann packte er den nächststehenden Mann beim Ärmel. »Wat geht hier ab?«
Der Mann schaute ihn erschrocken an.
»Polizei«, schnauzte Ackermann. »Wat is’ passiert, verdammt?«
»Ich habe alles gesehen.« Eine jüngere Frau kam heran und dann redeten auf einmal alle wild durcheinander:
»In die Brücke gekracht.«
»Zwei Jugendliche.«
»Das eine war ein Kind.«
»Abgehauen in den Wald, da hoch.«
»Die haben das Auto bestimmt geklaut.«
»Und dann sind drei andere ...«
»... aus dem Wagen da vorne ...«
»... hinter denen her.«
»Auch in den Wald hoch.«
»Der Große hatte ein Schießeisen.«
»Eine Pistole.«
»Und einer von denen ist ein Mädchen.«
»Rote Jacke ...«
»Da! Jetzt kann man sie wieder sehen.«
Tatsächlich sah man, ungefähr auf der Hälfte des Hanges kurz etwas Rotes aufblitzen. Van Appeldorn tastete nach dem Schulterhalfter unter seiner Jacke und wollte los.
»Stopp!« Ackermann hielt ihn fest. »Geb mir dat Telefon. Ich sag Lowenstijn Bescheid. Vielleicht können die von oben kommen. Renn! Ich hol dich schon ein.«
Peter Cox drückte irgendwem seinen Hut und den hinderlichen langen Mantel in die Hand und heftete sich an van Appeldorns Fersen.
»Wir müssen uns verstecken«, japste Björn.
»Halt die Klappe! Lauf einfach. Wir müssen aus dem Wald raus, wo Leute sind.« Anna stolperte weiter. Der Waldboden war tief durch den vielen Regen in den letzten Wochen. Dicke Lehmklumpen klebten an ihren Schuhen und machten die Flucht immer beschwerlicher.
»Ich kann nicht mehr!« Björn ließ sich einfach auf die Erde fallen und hechelte.
Anna kniete sich neben ihn. »Steh auf«, flehte sie. »Bitte!«
Und dann hörten sie Killer einen wüsten Schrei ausstoßen – triumphierend – viel näher, als sie gedacht hatten.
Björn kam auf die Füße. Sie rannten wieder. »Da rüber, da sind mehr Sträucher.« Zweige schlugen ihnen ins Gesicht.
Van Appeldorn lief schnell, aber Peter Cox war nach kurzer Zeit gute dreißig Meter vor ihm. Jetzt sah er sie: das Mädchen mit der roten Jacke, zwei junge Männer.
»Stehen bleiben! Polizei!«, rief Cox, aber keiner von denen reagierte. Er hetzte weiter. Van Appeldorn hatte wieder aufgeschlossen, da kam auch Ackermann.
Anna stolperte über eine Wurzel, fing sich ab und dann wurde sie gepackt und heftig zur Seite gezogen. Eine Hand legte sich über ihren Mund und dämpfte ihren Aufschrei. Sie wehrte sich, trat, schlug.
»Ganz ruhig, Mädchen«, raunte der Mann und zog sie herum.
Lowenstijn! Er presste sie gegen den dicken Baum und sah ihr beschwörend in die Augen. Sie nickte, schnappte leise nach Luft. Ein paar Meter rechts sah sie Daniel Baldwin, der Giltjes mit sich ins hohe Farnkraut zog.
»Stehen bleiben!«, rief Peter Cox wieder.
Der Mittlere hielt im Laufen inne. Er drehte sich um und schoss, einmal, zweimal, dreimal. Holz splitterte. Cox und Ackermann warfen sich zur Seite, suchten Deckung.
Wieder ein Schuss, ein Aufbrüllen. Ackermann lugte hinter seinem Busch hervor.
Der Junge mit der Pistole war zu Boden gegangen, wälzte sich hin und her.
Van Appeldorn stand zwischen zwei Bäumen und hatte seine Waffe noch immer im Anschlag.
Ackermann war schwindelig vor Erleichterung. Er sprang auf, wurde aber sofort wieder zu Boden gerissen. Seine Brille flog in hohem Bogen durch die Luft. Das Mädchen mit der roten Jacke biss ihm in die Hand, kratzte mit ihren scharfen Fingernägeln durch sein Gesicht. Er bekam sie zu packen, rüttelte sie und verpasste ihr Ohrfeigen, drei, vier. Sie fiel auf den Hintern und blieb wie erstarrt sitzen.
Bobo hatte sich an Cox festgeklammert und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Der schüttelte sich nur und streckte den Jungen mit einem einzigen Faustschlag zu Boden.
Ackermann fand seine Brille wieder. Er war giftig. »Wat meins’ du, wat dat Teil kostet, du dämliches Gör!«
Nur wenige Meter weiter oben trat Lowenstijn hinter einer dicken Eiche hervor. Er grinste und nickte Cox wohlwollend zu. »Saubere Arbeit, mein Bester. Haben Sie mal geboxt?«
»Nein, nur als Rausschmeißer gearbeitet.«
Baldwin war bei Killer stehen geblieben. »Saubere Arbeit auch. Schuss in das Bein.«
Anna und Björn kamen nicht näher.
»Wo ist eigentlich Norbert?«, fragte Ackermann.
»Dort«, antwortete Peter Cox leise.
Van Appeldorn stand gegen einen Baum gelehnt und weinte.