1
»Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Das ist mein Motto.« Polizeiobermeister Schumacher ruckte kurz an dem frisch angenähten Uniformknopf und biss dann den Faden ab. »Hier, bitte schön, hab ich mir ganz allein beigebracht.«
Sein Kollege Schuster nahm die Jacke in die Hand und begutachtete das Ergebnis.
»Bisschen stoppelig«, meinte er schließlich. »Das kriegt Claudia besser hin.«
»Die näht dir deine Knöpfe an?« Schumacher runzelte die Stirn. »Tja, nicht jede Frau ist ein solches Schaf.«
»Was soll das denn heißen?«, brauste Schuster auf, stutzte dann aber. »Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«
Schumacher wich dem neugierigen Blick aus, stand auf und schlüpfte in die Uniformjacke, aber Schuster ließ nicht locker: »Sag bloß, du hast dir jetzt doch ein Landei angelacht!«
Flintrop, der heute Nacht Dienst auf der Wache hatte, half Schumacher aus der Klemme.
»Kommt endlich in die Pötte!«, rief er herüber. »Ihr wisst genau, dass die Chefin mehr Präsenz in der Innenstadt haben will.«
»Nun mach mal halblang«, brummelte Schuster, griff aber nach seiner Mütze.
»Bei diesem Wetter trauen sich nicht mal die Ganoven vor die Tür«, rief er zurück. »Scheißprovinz, Scheißregenloch!«
Schumacher und Schuster waren vor fast zwei Jahren nach Kleve versetzt worden, aber sie hatten sich immer noch nicht so recht damit abgefunden.
Flintrop steckte den Kopf zur Tür herein und grinste.
»Meinst du, bei euch in Düsseldorf hättet ihr besseres Wetter? Diesen Sommer säuft doch ganz Europa ab.«
Das Telefon vorn an der Wache unterbrach ihn.
Schuster seufzte tief und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Dann lass uns mal los. Ich bin schon gespannt auf deine heiße Liebesgeschichte.«
Flintrop hatte den Telefonhörer am Ohr und lauschte. Mit einer Handbewegung hielt er die beiden zurück. »Moment«, formte er lautlos mit den Lippen.
»Wo?«, fragte er dann in den Hörer. »Ja, verstanden. Ihren Namen hätte ich – aufgelegt! Teufel, noch mal, das scheint in Mode zu kommen.« Er drehte sich zu den anderen um.
»Ein anonymer Tipp. Angeblich sind ein paar Typen dabei, einen Zigarettenautomaten zu knacken. Königsallee, Ecke Merowingerstraße.«
Es goss in Strömen und die Wolkendecke war so dick, dass es schon jetzt um kurz vor zehn stockfinster war. Die Stadt wirkte wie leer gefegt, auch auf der Merowingerstraße war kein Mensch unterwegs. Die beiden Zigarettenautomaten an der Eckkneipe, die schon seit Monaten geschlossen war, hingen einsam und unversehrt an der Wand.
»Und jetzt?«, fragte Schumacher.
»Wir stellen den Wagen an der Welbershöhe ab und gehen von da aus zu Fuß zurück«, entschied Schuster. »Möglich, dass die abgetaucht sind, als sie unsere Mühle gesehen haben.«
»Hätte ich bloß auf meine Mutter gehört und was Anständiges gelernt, dann säße ich jetzt schön warm im Trockenen«, murrte Schumacher, als sie ein paar Minuten später langsam im Schatten der Friedhofsmauer zur Königsallee zurückgingen.
Auf der Straße war immer noch keiner zu sehen, nur auf dem Bolzplatz links spielten ein paar Kinder.
»Tss«, murmelte Schumacher, »um diese Zeit! Dass die Eltern denen das erlauben.«
»Den Eltern ist es wahrscheinlich schnurz, wo ihre Kids rumhängen. Ist ja nicht gerade die feinste Wohngegend hier.«
Schumacher zögerte plötzlich. »Warte mal.« Auch Schuster blieb stehen.
Die beiden Jungen, die gerade noch am Klettergerüst gehangelt hatten, kamen jetzt zur Straße hoch, schauten sich vorsichtig um und wandten sich Richtung Königsallee. Sie gingen ganz dicht an den Häusern entlang, aber für einen kurzen Augenblick konnte man ihre Gesichter im trüben Schein der Straßenlaterne sehen.
»Schau mal einer an«, flüsterte Schuster. »Kennen wir die nicht? Na, dann wollen wir doch mal gucken, was die beiden Früchtchen diesmal vorhaben.«
Kriminalkommissar van Appeldorn schloss die Bürotür ab, verstaute den dicken Schlüsselbund in der Hosentasche und ging zur Treppe. Zu dieser nächtlichen Stunde, im kalten Neonlicht, wirkten die Sichtbetonwände und der mausgraue Teppichboden besonders anheimelnd. Das neue Präsidium war eine Mogelpackung. Die Außenfassade mit ihren gelben Akzenten wirkte einladend und freundlich, einmal drinnen wurde man von funktionalem Grau verschluckt.
Müde war er und genervt, und als er jetzt auf die Uhr sah, musste er feststellen, dass er den bitteren Geschmack in seinem Mund nicht einmal mit einem Bier würde runterspülen können – um diese Zeit waren hier mitten in der Woche alle Kneipen dicht.
Flintrop saß in seinem Glaskasten und las.
»Morgen!« Van Appeldorn stieß die Tür auf. »Hast du mal einen Schnaps für mich?«
Hastig ließ Flintrop die Zeitschrift unter einem Stapel Papier verschwinden und verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Guter Witz, van Appeldorn, wirklich. Was machst du denn noch hier um diese Zeit?«
»Vernehmung.«
»Die Schießerei von der Bahnhofstraße?«
Van Appeldorn nickte und setzte sich rittlings auf einen Stuhl. »Die Sache war eigentlich klar, aber dieser Westentaschendjango war zugedröhnt bis in die Haarspitzen.« Er gähnte. »Und bei euch? Ruhiger Dienst heute?«
»Ziemlich. Zwei Jungs haben wir einkassiert, Automatenbruch, alte Bekannte. Ach, da kommen ja auch die beiden Taxifahrer!«
Schumacher und Schuster machten verdrossene Gesichter.
»In die häusliche Obhut entlassen«, schimpfte Schuster. »Mir steht das wirklich bis hier!«
»Die alten Bekannten?«, fragte van Appeldorn.
Flintrop lachte auf. »Von wegen alt! Giltjes und Kaufmann, 13 und 14 sind die, aber schon so ’ne Latte von Mist gebaut: Telefonzellen demoliert, Automaten aufgehebelt, Schlägereien, Suff.«
»Hört sich gut an«, meinte van Appeldorn. »Wenn das meine wären, denen würde ich dermaßen den Hintern versohlen, dass die drei Wochen nicht mehr sitzen könnten. Glaub mir, die würden keine Automaten mehr knacken.«
»Du sprichst mir aus der Seele«, sagte Flintrop. »Für diese Fälle sollte man die Prügelstrafe wieder einführen. Alles andere bringt sowieso nichts. So welchen muss man sofort zeigen, wo die Glocken hängen, sonst kommen bloß Exemplare wie Kaufmann und Giltjes dabei raus. Sitzen hier bei uns und feixen sich eins, weil sie genau wissen, dass man ihnen in dem Alter nichts kann.«
»In dem Alter«, stöhnte Schumacher. »Eins kann ich euch sagen, verflucht fix sind die in dem Alter. Als die uns gesehen haben, sind die sofort rüber zum Friedhof und wir durften hinter denen her, kreuz und quer über die Gräber. Ein Wunder, dass wir uns nicht die Knochen gebrochen haben.«
»Komisch war das«, unterbrach Schuster ihn. »Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und hab gebrüllt: Hände hoch – Polizei! Und da bleiben die beiden wie angewurzelt stehen und strahlen uns an, als wären wir der Weihnachtsmann persönlich. Die sind nicht ganz dicht, die zwei.«
»Ach Quatsch«, winkte Flintrop ab, »die haben einfach vor nichts und niemandem mehr Respekt. Kunststück! Von der Sorte kennen wir doch wohl genug.«
Van Appeldorn streckte sich und stand auf. »Heute Nacht werden wir die Welt sowieso nicht mehr ändern. Ich fahr dann mal nach Hause und leg mich noch ein paar Stunden aufs Ohr.«
Flintrop guckte neidisch. »Ja, die Herren von der Kripo. Ihr habt’s gut mit eurer Gleitzeit. Du kannst dich jetzt auspennen.«
»Von wegen! Die Alte will am Vormittag das Team zusammentrommeln und da interessiert es sie herzlich wenig, wie viel Schlaf ich gekriegt hab.«
Norbert van Appeldorn schlief ganze fünf Stunden, dann rasselte der Wecker auf Marions Nachtschrank – Zeit, die Kinder zu wecken, Frühstück zu machen, Schulbrote zu streichen. Murrend wollte er sich noch einmal umdrehen, aber seine Frau bohrte ihm den Ellbogen in die Seite und fauchte: »Du bist heute dran.«
»Dir auch einen wunderschönen, guten Morgen, Geliebte«, murmelte er und wälzte sich aus dem Bett.
Um acht hatte er dann endlich wieder seine Ruhe, die Kinder waren in der Schule und Marion hatte sich auf den Weg zu ihrem Laden gemacht.
Er stellte Käse und Aufschnitt in den Kühlschrank, das Geschirr ließ er stehen, weil er keine Lust hatte, vorher noch die Spülmaschine auszuräumen. Mit dem Unterarm schob er die Milchbecher zur Seite, legte die Beine auf den Tisch und zündete sich die erste Zigarette an.
Sollten die im Büro doch ruhig mal ein bisschen auf ihn warten. Ohne ihn konnte die Chefin sowieso keine Teamsitzung machen. Ohne ihn würde in den nächsten Wochen überhaupt nichts laufen, wenn er das richtig sah. Er war ja im Allgemeinen wirklich ein geduldiger Mensch, aber was im letzten Jahr abgegangen war ... So langsam hatte er die Nase voll.
Zuerst die neue Chefin, die alles durcheinander gewirbelt hatte. Jedem hatte sie einen Computer hingeknallt, alles Bewährte auf den Kopf gestellt und neu verpackt. Neu, wohlgemerkt, besser auf keinen Fall! Musterbehörde waren sie geworden. Im Klartext bedeutete das nichts anderes, als zahllose Fortbildungen, sinnlose Besprechungen und schwachsinnige Dokumentationen. Dann der Umzug ins neue Präsidium an der Kanalstraße – auch so ein Vorzeige-Objekt: Polizeiinspektion Nord. Sogar im Internet waren sie jetzt. Na toll!
Und wie sah der Alltag aus? Der war doch wohl beim besten Willen nicht vorzeigbar. Von simpler Organisation hatte die Chefin offensichtlich keinen Schimmer, sonst hätte sie so einen Murks nicht gemacht. Wie sollte er denn wohl vier Wochen lang den Laden allein am laufen halten?
Gut, Walter war auch noch da, aber dessen Anwesenheit war in letzter Zeit eine rein körperliche.
Innerlich hatte Walter Heinrichs das Handtuch geworfen. Die Umstrukturierung, die ganzen Veränderungen waren ihm in seinem Alter zu viel geworden, er hatte keine Lust gehabt, sich noch einmal umzustellen. Vielleicht schaffte er es auch gesundheitlich nicht mehr, obwohl er das niemals zugeben würde. Jedenfalls würde er im Oktober in Frührente gehen. Seitdem das klar war, riss er sich kein Bein mehr aus, tat allerhöchstens Dienst nach Vorschrift. Das war schon seltsam – Walter hatte seinen Beruf immer geliebt.
Im Moment war es vor allen Dingen ärgerlich.
Und jetzt hatte die Alte auch noch Helmut nach Amerika geschickt!
Van Appeldorn lachte laut auf.
Das war wirklich der größte Witz. Helmut Toppe, sein langjähriger Weggefährte und Chef des alten K 1, hatte sich anfangs am allermeisten gegen die Meinhardschen Neuerungen gesträubt und jetzt gondelte er durch die Weltgeschichte und hielt Vorträge über »Technologie und Erfahrung – eine unabdingbare Kombination« und – wie war das noch? – »Police Forces in Rural Areas – Concepts for an Installation of Efficient Structures«. Drei Wochen hatte er an dem Titel geknobelt! Ein paar Seminare würde er bei der Gelegenheit in Übersee auch noch besuchen.
Dass Helmut mit über fünfzig die Kurve noch so gründlich gekriegt hatte!
Na ja, dachte van Appeldorn ein wenig versöhnlicher, der hatte wohl keine andere Wahl gehabt. Jetzt, wo er noch einmal Vater geworden war, würde er noch viele Jahre malochen müssen, ohne aufzumucken.
Damit war van Appeldorn bei der dritten Person angelangt, die eigentlich zum »Team« gehörte und nicht anwesend war: die schöne, reizvolle und viel zu selbstbewusste Astrid, die sich plötzlich dazu berufen gefühlt hatte, Mutter zu werden.
Dass Helmut sich darauf eingelassen hatte!
Norbert van Appeldorn schauderte bei der Vorstellung, noch einmal mit einem Kind bei Null anfangen zu müssen.
Sicher, die kleine Katharina war süß, aber das waren sie alle in dem Alter. Waren seine Töchter auch gewesen. Und heute? Nora war mit ihren sieben Jahren eine despotische Nervensäge und Anna schien sich in einer Art Dauerpubertät zu befinden und brachte ihn mit ihrer aufsässigen Bockigkeit tagtäglich zur Weißglut.
Meine Güte, wenn Katharina volljährig wurde, war Toppe schon siebzig!
Nicht sein Problem, Gott sei Dank.
Van Appeldorn drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine neue an. Wie auch immer, Astrid Steendijk würde bis Januar im Erziehungsurlaub sein. Womit er wieder beim Anfang war: Ohne ihn würde in den nächsten Wochen überhaupt nichts laufen.
Zeit, der Chefin mal ein paar Takte dazu zu sagen.
2
Der Raum, den van Appeldorn sich mit Walter Heinrichs teilte, war, wie alle Büros im neuen Präsidium, viel zu klein. Wenn mehr als vier Leute im Zimmer waren, konnte man die Tür nicht mehr schließen. Schicke Möbel hatte man ihnen zugedacht, sogar vernünftige Schreibtischstühle, nur bei den Computern hatte man gespart. Es waren Auslaufmodelle – vermutlich ein besonders günstiger Sonderposten –, unendlich langsam und mit einem so kleinen Arbeitsspeicher ausgestattet, dass einem die Dinger ständig abstürzten und wichtige Daten verloren gingen. Das Verrückteste jedoch war, dass zu den beiden Arbeitsplätzen nur ein einziger Bildschirm gehörte. Wenn einer im Büro gerade am PC arbeitete, drehte der andere Däumchen oder durfte seine Sachen in eine der vorsintflutlichen Schreibmaschinen hacken, die man in letzter Minute noch schnell aus dem alten Präsidium geborgen hatte.
Heinrichs war, wie immer in letzter Zeit, glänzend gelaunt. Er hatte gerade aus der Teeküche eine Kanne Kaffee geholt und hielt van Appeldorn einen dampfenden Becher hin.
»Guten Morgen! Kaffee ist schon fertig.«
»Morgen«, muffelte van Appeldorn, nahm den Becher und stellte ihn möglichst weit von sich weg.
»Ist dir was über die Leber gelaufen?«, erkundigte sich Heinrichs freundlich.
»Deine gute Laune.«
»Ach ja?« Heinrichs schnappte sofort ein. »Und mir geht dein ewig langes Gesicht auf die Nerven!«
»Du hast gut lachen. Dir kann der ganze Laden hier ja auch am Arsch vorbeigehen.«
»Und das gönnst du mir nicht oder wie soll ich das verstehen? Findest du nicht, ich hab mir lange genug die Hacken abgerannt und meinen Kopf hingehalten, he? Und gesundheitlich ...«
»Komm, lass gut sein«, versuchte van Appeldorn ihn zu beschwichtigen.
»Ich denke gar nicht dran. Ich will dir sagen, wie es wirklich aussieht, damit du dir erst gar keine falschen Vorstellungen machst.« Heinrichs legte beide Hände auf den Schreibtisch und beugte sich nach vorn. »Meine Frau muss auf eine volle Stelle gehen, damit wir über die Runden kommen. Das heißt im Klartext, ich spiele den Hausmann, und ich sag dir, bei unseren Fünfen ist das wahrhaftig kein Pappenstiel. Ach ja, und eh ich’s vergesse, am Wochenende werde ich wohl bei einem Wachdienst jobben müssen, sonst wird es nämlich verdammt eng.«
»Ich weiß ja, Walter. Tut mir Leid, ich hab’s nicht so gemeint, ehrlich.« Van Appeldorn schaltete den PC ein und fuhr das Programm hoch. »Ist die Chefin schon da?«
Heinrichs antwortete nicht, brummelte nur gekränkt vor sich hin. So war er immer gewesen, schnell eingeschnappt, aber meist auch genauso schnell wieder versöhnt.
Van Appeldorn grinste schief und streckte die Hand aus. »Freundschaft?«
»Na gut.« Heinrichs musste nur noch einmal schlucken. »Ja, die Chefin war schon hier. Ich soll sie anrufen, wenn du da bist, wegen der Teamsitzung.«
»Ich höre immer Teamsitzung.« Van Appeldorn lachte freudlos. »Siehst du hier irgendwo ein Team?«
»Die wird sich schon was einfallen lassen«, meinte Heinrichs unbehaglich.
»Das fürchte ich auch.«
Charlotte Meinhard ließ nicht lange auf sich warten. Kühl elegant, wie immer von einem dezenten Duft umgeben, betrat sie das Büro. »Guten Morgen, meine Herren. Darf ich Platz nehmen?«
Heinrichs sprang sofort auf und rückte einen Stuhl zurecht.
Sie lächelte anmutig und setzte sich. »Gleich zu Anfang zwei gute Nachrichten«, begann sie. »Erstens, wir werden endlich einen neuen Mitarbeiter bekommen.«
»Wann?«, unterbrach van Appeldorn sie rüde, aber sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Sobald wie möglich, Herr van Appeldorn. Vermutlich in drei bis vier Wochen. Er wird zunächst als Vertretung für Frau Steendijk kommen und ab dem 1.10. dann die Stelle von Herrn Heinrichs übernehmen. Ich kenne den Herrn schon seit längerem und habe mich ausdrücklich um ihn bemüht. Er ist studierter Informatiker und gelernter Polizist, also genau das, was wir brauchen. Sein Name ist Peter Cox und ich bin sicher, dass er ausgezeichnet ins Team passen wird. Das lag mir natürlich besonders am Herzen.«
»Na wunderbar«, meinte Heinrichs.
Die Meinhard lächelte wieder. »Und die zweite, wie ich hoffe, gute Nachricht ist für Sie, Herr Heinrichs: Ihre Kur ist bewilligt worden.«
Van Appeldorn fiel die Kinnlade runter und Heinrichs zog verlegen die Schultern hoch, aber die Chefin war noch nicht fertig. »Außerdem habe ich Ihre restlichen Urlaubstage ausgerechnet. Am kommenden Mittwoch ist Ihr letzter Arbeitstag. Na, was sagen Sie dazu?«
Van Appeldorn fuhr dazwischen: »Und wie, bitte schön, stellen Sie sich das vor, Frau Meinhard? Das K 1 als Ein-Mann-Betrieb?«
»KK 11«, korrigierte sie ihn kalt.
Van Appeldorn blieb die Luft weg.
»Nu’ mach doch nich’ so ’n Bohei, Norbert«, tönte es fröhlich von der Tür her, »schließlich bin ich au’ noch da.«
Van Appeldorn wandte nicht einmal den Kopf. »Träum weiter, Ackermann!«
»Wie? Wat? Aber die Chefin sacht doch ...«
»Nur über meine Leiche«, presste van Appeldorn zwischen den Zähnen hervor.
Es war nicht ungewöhnlich, dass Jupp Ackermann vom Betrugsdezernat bei ihnen aushalf, aber van Appeldorn hatte immer schon jede engere Zusammenarbeit vermieden, wenn es irgend möglich war. Niederrheinische Philosophen mit einem Hang zum Frohsinn gingen ihm auf die Nerven und Ackermann war ein wahres Prachtexemplar dieser Spezies.
»Die Sache ist längst entschieden.« Für Charlotte Meinhard war die Teamsitzung beendet.
»Bis Herr Toppe zurück ist, wird Herr Ackermann in Ihrer Abteilung arbeiten. Zur Not kann jederzeit zusätzlich ein weiterer Mitarbeiter aus dem KK 21 einspringen. Aber im Augenblick besteht da ja wohl keinerlei Bedarf. Ach übrigens, Herr Heinrichs, nehmen Sie sich für Mittwoch nichts Besonderes vor. Wir planen nämlich eine kleine Überraschung.«
»Ja, ja, danke«, haspelte Heinrichs und ließ van Appeldorn nicht aus den Augen. Der zuckte nur betont gelangweilt die Achseln und zog den Bildschirm zu sich herüber. »Ich habe zu arbeiten.«
Heinrichs kannte diese Reaktion nur zu gut. Van Appeldorn konnte streiten und pöbeln, aber wenn es ans Eingemachte ging, tauchte er weg, meist ausgesprochen lässig. Er verabscheute klärende Gespräche, Gefühlsäußerungen waren ihm zuwider. Lieber verzog er sich in die nächste Kneipe oder vergrub sich in der Arbeit.
Walter Heinrichs konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. So fremd ihm diese Art auch war, er wusste sehr gut, er würde Norbert vermissen. Er würde sie alle vermissen, sogar ihre Macken.
»Komm, Jupp«, sagte er ein bisschen sehr munter. »Lassen wir den Meister arbeiten. Ich muss sowieso im Labor noch ein paar Fotos abholen.«
»Is’ denn echt die letzten Tage so viel los bei euch?«, wisperte Ackermann, als sie draußen auf dem Gang waren.
»I wo«, antwortete Heinrichs. »Nur der übliche Kleinkram. Deshalb muss ich wegen meiner Kur auch gar kein schlechtes Gewissen haben.«
»Doch sowieso nich’, Walter.« Ackermann tätschelte ihm die Wange und blinzelte ihn aufmunternd an. »Der Mensch muss sich schonen ...«
»... so gut er kann«, ergänzte Heinrichs, der, genau wie jeder andere im Präsidium, Ackermanns Sprüche auswendig kannte.
»Meine Rede«, antwortete Ackermann zufrieden. »Wat soll’n wer uns ’n Bein ausreißen, wo wer hier doch sowieso im Paradies leben. Wo die Gangsters jetz’ au’ noch anfangen, sich selbs’ zu läutern.«
»Wie meinst du das denn?« Heinrichs war mit seinen Gedanken noch nicht wieder da.
»Ja, hasset denn nich’ gehört? Stand sogar schonn inne Zeitung. Dat mit den Handtaschenräubern. Da wird ’ner Omma die Tasche geklaut, un’ ein’ Tach später hängt dat Täschken wieder bei die anne Türklinke, un’ wat denkste? Nix fehlt! Is’ jetz’ schonn dreimal passiert. Und heut’ Morgen dat mit der Fiets. Gestern als geklaut gemeldet, heute steht se bei den Leuten wieder vor de Garage. Ich sach dir, Walter, et kommt noch so weit, dat die Ganoven unten bei uns anne Pforte schellen un’ ihre gerechte Strafe wollen. Hör ma’ ...«, Ackermann holte endlich Luft, »wat meins’ du, wann ich wieder bei Norbert vorstellich werden soll? Wann hat der sich denn wieder eingekricht?«
»Keine Ahnung«, meinte Heinrichs nur. »Ich bin auf alle Fälle gleich weg. Ich hab einen Zahnarzttermin. Versuch’s doch mal nach dem Mittagessen.«
Aber so lange sollte es nicht dauern. Van Appeldorn hatte seinen Bericht über die gestrige Schießerei eben fertig geschrieben, als Ackermann schon wieder da war.
»Hier is’ einer, der will ’ne Anzeige erstatten.«
»Ja und?«, meinte van Appeldorn und stutzte irritiert. »Was guckst du denn so komisch?«
»Lehrer«, zischelte Ackermann und verdrehte die Augen.
»Ganz richtig, ich bin Lehrer!« Ein hagerer Mittvierziger drängte sich an Ackermann vorbei. »Und ich gehe davon aus, dass sich unverzüglich jemand um uns kümmert«, fügte er barsch hinzu.
»Ach ja?« Van Appeldorn zog die Augenbrauen hoch und musterte den Mann. Kantiges Gesicht, kurzes, aschfarbenes Haar, fliehende Stirn, randlose Brille.
Herausfordernd erwiderte der Mann van Appeldorns Blick, nur die schmalen Lippen führten ein Eigenleben: Wenn er sie nicht fest zusammenpresste, zuckten sie beständig.
»Komm her, Gregor«, sagte er, schob Ackermann zur Seite und zog einen Jungen ins Zimmer.
Das Kind war vielleicht zwölf Jahre alt und sah schrecklich aus: Beide Augen waren zugeschwollen, die Oberlippe aufgeplatzt, an der Stirn und am Kinn hatte er große Pflasterpolster.
»Weller«, stellte der Mann sich jetzt vor. »Mein Sohn Gregor; er ist zusammengeschlagen worden.«
»Meine Fresse!« Ackermann trat endlich zur Seite und rückte zwei Stühle heran. »Wer macht denn so wat? Wer schlägt denn ’n Kind so zusammen?«
»Deswegen bin ich hier. Ich gehe davon aus, dass Sie das herausfinden.« Weller setzte sich hin und zeigte auf den anderen Stuhl. »Gregor!«
Der Junge hielt den Atem an und ließ sich langsam mit durchgedrücktem Rücken auf der Stuhlkante nieder. Er zuckte und schnappte nach Luft.
»Gott, Jung’«, Ackermann beugte sich über das Kind. »Tut dir wat weh? Du has’ Schmerzen, wa?«
»Er hat drei Rippen gebrochen«, bemerkte Weller.
»Aua, dat tut weh. Ich hatt bloß ma’ eine gebrochen, un’ dat war schon schlimm genuch. Aber ich hatte damals so Schmerztabletten, die waren gut. Warte ma’, wie hießen die noch?«
Wellers Lippen zuckten. »Wir nehmen grundsätzlich keine Schmerzmittel. Mein Sohn ist durchaus in der Lage, das auszuhalten. So, Gregor, jetzt erzähle bitte, was dir passiert ist; mit deinen eigenen Worten.«
Die beiden Polizisten wechselten einen Blick.
»Es waren Große«, flüsterte der Junge, ohne irgendjemanden anzusehen.
»Große was?«, drängte der Vater ungehalten.
Van Appeldorn zog die Tastatur zu sich heran. »Augenblick noch. Zunächst einmal brauchen wir ein paar Angaben zu Ihrer Person und zu Ihrem Jungen.«
Gregor sah immer noch auf den Boden. »Ich möchte bitte zur Toilette gehen«, sagte er so leise, dass man es kaum verstehen konnte.
Ackermann legte ihm die Hand auf den Kopf. »Komm, ich zeich dir, wo dat Klo is’. Aber sei vorsichtich, wenn du aufstehs’.«
»Nein«, hielt Weller ihn auf. »Mein Sohn ist zehn Jahre alt und durchaus fähig, sich auch in einem unbekannten Gebäude zu orientieren, wenn man ihm eine vernünftige Wegbeschreibung gibt.«
»Schluss jetzt!«, fuhr van Appeldorn ihn an. »Das dauert mir alles zu lange. Meinen Sie, wir haben sonst nichts zu tun? Ackermann, bring den Jungen zum Klo. Und in der Zwischenzeit, Herr Weller, erzählen Sie mir bitte, worum es eigentlich geht. Mit Ihren eigenen Worten.«
Bis Gregor zurückkam, hatte van Appeldorn zumindest einen ersten Überblick bekommen.
Der Junge besuchte die vierte Klasse der Liebfrauen Grundschule. Gestern war er auf dem Heimweg, gegen Viertel vor eins, von drei Jugendlichen an der Spyckstraße in ein Gebüsch gezerrt und brutal zusammengeschlagen und getreten worden. Die Täter waren alle schwarz gekleidet und maskiert gewesen.
»Wie denn maskiert?«, wollte van Appeldorn von Gregor wissen.
Der Junge sah kurz seinen Vater an. »Schwarze Motorradmützen«, antwortete er unsicher.
Weller holte ungeduldig Luft. »Nach Gregors Beschreibung kann es sich nur um wollene Motorradmützen gehandelt haben, die lediglich die Augenpartie freiließen.«
»Und du meinst, es waren Jugendliche«, fuhr van Appeldorn fort. »Woher weißt du das?«
»Die sahen so aus«, meinte der Junge unbestimmt.
»Haben die was zu dir gesagt?«
»Ich weiß nicht mehr ...«
»Warum haben deine Klassenkameraden dir nicht geholfen?«
»Die waren schon weg. Die sind immer alle mit dem Fahrrad.«
»Ich sagte Ihnen doch schon, dass es keine Zeugen gibt.« Weller wurde laut. »Ich habe gestern mit allen Mitschülern und deren Eltern gesprochen. Selbstverständlich auch mit der Schulleitung und dem Hausmeister.«
»Sach uns doch noch ma’ genau, wie die Typen ausgesehen haben? Ich hab dat eben nich’ mitgekricht. Waren dat alles Jungs?« Ackermann war dicht an das Kind herangerückt.
»Ich glaube wohl.«
»Un’ wo kamen die her? Hatten die ein Auto oder ’ne Mofa?«
»Ich weiß nicht. Die standen da ...«
Sie kamen nicht weiter.
»Nun gut«, meinte van Appeldorn eine Viertelstunde später. »Wir kümmern uns darum und melden uns dann bei Ihnen.«
»Wenn ich bis Montag nichts von Ihnen gehört habe, sehen Sie mich wieder!«, verabschiedete sich Weller.
»Davon gehe ich aus«, antwortete van Appeldorn, aber das hörte der Lehrer schon nicht mehr.
Ackermann rieb sich die langen Bartzotteln. »Wat is’ dat denn für ’n Arschloch? Wenn der dat Kind ma’ nich’ selbs’ vertrimmt hat.«
»Und dann kommt der bei uns angewackelt? Glaub ich nicht.«
»Dat weiß man nie. Bei so einem könnt’ ich mir sons’ wat vorstellen. Manchen müsstet verboten werden, Kinder zu kriegen, echt.«
»Ich weiß nicht«, grübelte van Appeldorn. »Der Junge spurt wenigstens, was ich von meinen Blagen nicht behaupten kann.«
Ackermann starrte ihn entgeistert an. »Meinste dat ernst, Norbert?«
»Rate mal.«
3
»Ej, Giltjes, tu mal ’ne Zigarette am Start«, rempelte sein Banknachbar ihn an.
»Schnauze!«
»Spinner! Du und Kaufmann, ihr wolltet doch gestern ...«
»Boah, Dickmanns, halt die Fresse!«
Was für eine Kacke! Sein Alter war total durchgetickt, als die Bullen ihn diese Nacht zu Hause abgeliefert hatten. Und heute Morgen hatte der ihn selbst zur Schule gebracht und wollte ihn auch nachher wieder abholen, direkt vor der Klasse. Jeden Tag würde der Alte das jetzt so machen, hatte er gesagt. Weil ab heute »andere Saiten aufgezogen« würden. Und deswegen durfte er jetzt hier rumhängen und sollte auch noch dem Idioten da vorn nach dem Maul reden. Scheiße!
Aber Gott sei Dank gab es Montag neue Knete. Dann würde Papa erst mal wieder den ganzen Tag in der Kneipe abhängen können oder sich zu Hause einen reintun, da hatte er die »anderen Saiten« sofort wieder vergessen.
Trotzdem, jetzt war Wochenende und er durfte mit dem Alten in der Bude hocken.
Wenn Mama noch da wäre, die hätte das alles für ihn hingebogen, aber die war ja zu dem neuen Macker gezogen, die alte Fotze! Nachkommen lassen würde sie ihn, hatte sie fest versprochen. Aber jetzt war da auf einmal keine Rede mehr von. Sie schickte bloß noch Sachen. Klar, der discman war geil und die PlayStation auch, aber ...
»Giltjes, du Penner!« Sein Nachbar trat ihm volle Kanne auf den Fuß.
»Wichser!« Björn Giltjes gab ihm einen Dutz.
»Aha, Björn, endlich aufgewacht? Manche brauchen eine Extraeinladung.« Der Lehrer stand direkt vor seinem Tisch. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Na los, wird’s bald!«
»Ich ... ich ...«, stammelte Björn. Ihm wurde glühend heiß und er wusste, dass er wieder knallrot geworden war. Ausgerechnet bei dieser Sau musste ihm das passieren.
»Ich muss pissen«, stieß er hervor.
»Oh, das tut mir aber Leid. Du kennst doch die Regeln. Nur in der Pause.« Der Pauker setzte sein gemeines Grinsen auf. »Aber ein großer Junge wie du, der kann doch schon mal ein Weilchen aufhalten, oder?«
Die ganze Klasse grölte. Björn biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Endlich ging das Schwein von seinem Tisch weg.
»Ej, hasse Tomaten gefrühstückt, Giltjes?«, brüllte Dickmanns.
Björn lachte am lautesten von allen.
In letzter Zeit hatte er nur Scheiße am Hals. Mann, was hatten sie gestern Schiss gehabt, als die beiden Typen hinter ihnen her gewesen waren. Kaufmann hatte sich fast in die Hosen gemacht. Hätte man sich auch nicht träumen lassen, dass man sich mal über Bullen freuen würde.
»Wat is’ jetz’? Fahren wer ma’ zur Schule un’ kucken, wat da abgegangen is’ mit dem Kind, ob dat alles wirklich so stimmt?«, fragte Ackermann.
»Du fährst«, meinte van Appeldorn. »Ich muss erst noch dafür sorgen, dass dieser Junkie in den Knast kommt.«
»Alles klar, du bis’ der Boss hier. Ich glaub, ich lauf zu Fuß. Is’ ja bloß ’n Stücksken.«
Dieser Bau hätte mir als Kind Angst gemacht, dachte Ackermann, als er sich der Liebfrauenschule näherte. Es war ein altes, sehr hohes, dunkles Backsteingebäude. Die bunten Bilder und Aufkleber an den Fenstern wirkten fehl am Platz, brachten die Trostlosigkeit der Fassade erst richtig zum Vorschein.
An der Bushaltestelle vor dem Schultor tobten ein paar Kinder herum. Zwei Mädchen rangelten um einen Turnbeutel. Ein Junge haute gerade mit voller Wucht einem viel kleineren seinen Schulranzen in die Kniekehlen.
»Hee!«, rief Ackermann. »Bist du bekloppt?«
Aber der Junge streckte ihm nur die Zunge raus und rannte weg. Der Kleine hatte sich aufgerappelt und setzte dem anderen nach.
Ackermann schüttelte den Kopf. Gab es denn hier keine Aufsicht? Den Kindern konnte doch wer weiß was passieren, wenn sie hier auf dem schmalen Bürgersteig rumtollten. Er drückte das schwere Tor auf und sah sich um. Kein Wunder, dass die Kinder sich kloppten. Wenn man nicht sowieso schon Wut im Bauch hatte, auf diesem Schulhof kriegte man sie unter Garantie. So eine Asphaltwüste hatte er lange nicht mehr gesehen. Alles grau in grau, kein einziger Grashalm, nur ganz hinten standen, eingerahmt von Kies, ein paar Bäume.
Große Pfützen hatten sich in der Mitte des Hofes gebildet. Ob die Kinder wenigstens da mal drin rumplantschen durften? Bestimmt nicht.
In der linken Ecke wucherte Unkraut. Da musste vor Jahren eine verirrte Seele mal einen Schulgarten angelegt und dann wieder vergessen haben.
Was konnten die Kinder hier tun außer rumrennen? Als seine Nadine noch klein gewesen war, hatte es mal eine Initiative gegeben »Schulhöfe zu Spielhöfen«. Bei ihnen in Kranenburg hatten die Eltern alle mit angepackt, alles umgebuddelt und dafür gesorgt, dass die Blagen Fußball und Federball spielen konnten, klettern, balgen, Burgen bauen, alles Mögliche eben. Die Idee war an denen hier spurlos vorübergegangen. Ach, doch nicht? Ackermann betrachtete verwundert die verblassten Hinkelkästchen, die jemand mal aufs Pflaster neben der Treppe gemalt hatte. Himmel und Hölle – so was spielte doch heutzutage kein Mensch mehr!
Auch innen im Gebäude war die Zeit stehen geblieben. Grünes Linoleum, dunkelbraune Türen, kaum Licht. Es roch wie in einer alten Turnhalle.
Am besten ging er erst mal zum Direktor. Schulleitung stand an der Tür rechts.
Ackermann nahm seine Schultern zurück, räusperte sich einmal kräftig und streckte die Hand zum Klopfen aus, aber da ging die Tür schon auf.
»Ich dachte doch, ich hätte was gehört.« Vor ihm stand eine stämmige Frau mit einer grauen Pottfrisur und kleinen Augen und musterte ihn von oben bis unten.
Ackermann sah an sich herunter. Ja gut, sein T-Hemd war ein bisschen labberig und die Jesuslatschen hatten auch schon bessere Tage gesehen, aber die Jeans waren frisch und die Füße hatte er sich auch gewaschen.
Modell Drachen, dachte er, da packst du besser mal dein feinstes Hochdeutsch aus.
»Tach! Ackermann mein Name. Kripo Kleve. Ich wollte zum Rektor.«
»Das bin ich. Kripo? Worum geht es denn?«
»Haben Sie einen Schüler, der Gregor Weller heißt?«
Die Rektorin nickte schnell. »Ach, diese böse Geschichte. Kommen Sie herein.«
Sie ließ Ackermann an sich vorbeigehen und schloss dann sorgfältig die Tür. »Bitte sehr, nehmen Sie Platz. Ich habe den Vorfall ordnungsgemäß behandelt. Hier, der Unfallbericht.«
»Ach wat! Dat ... das bezweifele ich gar nicht, dass Sie alles richtig gemacht haben. Ich wollt über den Jungen reden und sehen, ob es nicht doch vielleicht Zeugen gibt und solche Sachen.«
»Nun, da sprechen Sie am besten mit Gregors Klassenlehrerin. Ich selbst unterrichte nämlich dieses Jahr nicht im vierten Schuljahr. Einen Moment, ich glaube, die Kollegin ist noch da.«
Sie ging zu einer gepolsterten Verbindungstür und rief in den Nebenraum: »Frau Rouenhoff, haben Sie einen Augenblick Zeit?«
Mensch, dachte Ackermann, sind denn hier alle Pauker so alte Schrullen? Aber dann freute er sich. Die zahlreichen Falten in Frau Rouenhoffs Gesicht waren ohne Zweifel Lachfalten. Die war bestimmt nicht so verschroben.
»Ich lasse Sie dann allein«, meinte die Rektorin, froh, dass sie endlich verschwinden konnte. »Frau Rouenhoff, Sie dürfen sich ruhig auf meinen Platz setzen.«
Ackermann erklärte noch einmal, warum er gekommen war. »Ich möchte von Ihnen wissen, ob et sein könnt’, dat der Vater den Jungen selbst so zugerichtet hat«, fragte er, ohne lange um den heißen Brei herumzureden.
Frau Rouenhoff war nicht überrascht. »Ich verstehe, dass Ihnen der Gedanke gekommen ist, wenn Sie Herrn Weller mit seinem Sohn kennen gelernt haben. Aber nein, er hat das Kind sicherlich nicht misshandelt, körperlich, meine ich.«
»Hör ich da wat zwischen de Zeilen?«
Sie war sehr ernst. »Gregor ist ein schwieriges Kind, unzugänglich, aggressiv. Er hat große Probleme, sich an Absprachen zu halten, und sein Sozialverhalten lässt sehr zu wünschen übrig. Es ist schwer zu sagen, wo die Ursachen dafür liegen. Sehen Sie, Gregor ist nicht Wellers leibliches Kind. Als das Ehepaar ihn adoptierte, war er schon zwei Jahre alt.«
»Dat kann doch nich’ wahr sein!«, ereiferte sich Ackermann. »So jemand darf Kinder adoptieren? Hat denn keiner mitgekriegt, wat dat für ’n Typ is’?«
»Die Eltern sind beide Lehrer, also quasi Fachleute für Erziehung. Und solche Leute werden bei Adoptionen sogar bevorzugt.« Man hörte deutlich das Bedauern in ihrer Stimme. »Besonders Herr Weller hat sehr klare Vorstellungen von der Erziehung seines Sohnes, und wenn Sie mich fragen, das tut dem Jungen gar nicht gut. Warten Sie mal, ich zeige Ihnen was.«
Sie lief ins Nebenzimmer und kam mit einer Liste zurück. »So eine bekomme ich von Wellers zu Beginn eines jeden Halbjahres.«
Ackermann nahm ihr den Zettel ab und staunte. Da stand:
- Gregor bezahlt sein Milchgeld pünktlich. Sollte er das Geld vergessen haben, wird ihm die Summe nicht vorgestreckt.
- Gregor erledigt seine Hausaufgaben pünktlich und vollständig. Sollte das einmal nicht der Fall sein, geht umgehend eine Benachrichtigung an die Eltern.
- Gregors Hefte sind sauber und ordentlich geführt, seine Blei- und Farbstifte stets angespitzt und vollzählig. Sollte das nicht der Fall sein, s. unter 2.
- Gregor ist in der Lage, seinen Turnbeutel von der Halle mit zurück in den Klassenraum zu nehmen. Der Beutel wird ihm nicht hinterhergetragen.
In dem Ton ging es weiter.
Ackermann wollte es gar nicht glauben. »Steht da manchmal auch irgendwat Nettes, irgendwat von Liebe vielleicht?«
Es dauerte eine ganze Zeit, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte, dann stellte er endlich seine Fragen zu dem Angriff auf den Jungen, aber die Lehrerin wusste nur, was Herr Weller ihr erzählt hatte. Heute Morgen hatte sie Gregors Klassenkameraden gefragt, ob irgendjemand den Vorfall beobachtet hatte. »Aber niemand will etwas gesehen haben. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen. Gregor ist in seiner Klasse nicht sehr beliebt, ach, eigentlich in der ganzen Schule nicht. In den anderen Klassen habe ich mich noch nicht umgehört. Sie sollten vielleicht am Montag früh mal selbst mit den Kindern sprechen.«
»Kann ich gerne machen, wenn Sie meinen, dat dat wat bringt.«
»Ja«, sagte sie bestimmt. »Ich habe das Gefühl, dass die Kinder mir etwas verschweigen, aber vielleicht täusche ich mich auch.«
Sie verabredeten sich für Montag um zehn, nach der großen Pause, und Ackermann machte sich grübelnd auf den Rückweg.
Gregor Weller war ja vielleicht ein Fiesling, obwohl man sich das gar nicht vorstellen konnte, wenn man den so sah. Egal! Wenn er ein Fiesling war und seine Klassenkameraden hätten ihn deshalb verkloppt, das könnte man ja noch verstehen. Aber angeblich waren es ja Jugendliche gewesen. Hatten die einfach Bock gehabt, jemanden zu vertrimmen? War Gregor nur zufällig das Opfer gewesen? Oder waren es vielleicht ältere Geschwister von seinen Klassenkameraden gewesen? Nur, wieso hätten die sich maskieren sollen? Eigentlich musste er noch mal mit dem Jungen sprechen, wenn der Vater nicht dabei war. Aber das würde dieser Arsch bestimmt nicht erlauben.
Als der Lebensmittelmarkt an der linken Seite auftauchte, blieb Ackermann stehen. »Famka ... Famka ...«, murmelte er vor sich hin. »Da war doch noch wat ... Die Grillwürstkes!«
Er hatte der Mutti versprochen, noch ein paar Ersatzwürste mitzubringen. Heute Abend würde die legendäre alljährliche Ackermann’sche Grillfete steigen. War ja echt Klasse bei dem Wetter! Gut, dass er noch die Plane in der Garage hatte. Wenn er die vom Nussbaum bis zur Hausecke spannte und von da rüber zu Hünnekes an das Garagendach ...
Es regnete ohne Pause, aber Ackermann machte das nichts aus. Er sah sich höchst zufrieden um: Die Plane hatte er fast schon profimäßig gespannt. Den ganzen Rasen hatte er überdacht und auch er stand hier schön im Trockenen an seinem großen Schwenkgrill, den ihm Theo letztes Jahr geschweißt hatte.
Richtig voll war es geworden. Gut, dass er die Reservewürste besorgt hatte. Sein holländischer Schwager hatte noch ein paar Leute aus Cuijk mitgebracht, die Nachbarn waren alle gekommen, womit bei dem Wetter kein Mensch gerechnet hatte, und seine drei Töchter hatten Freunde dazugeholt.
So, die Specklappen waren durch. Noch ein bisschen Bier drüberpinseln, dann waren sie perfekt. Ach verdammt, Bier! Das Fass war immer noch nicht angeschlagen. Die Begrüßungsschnäpskes hatten die Jungs längst weggeschluckt und von den schönen bunten Cocktails, die die Mutti für die Frauen gemixt hatte, war auch nichts mehr zu sehen.
»Schätzeken!«, rief er und sah sich um, aber er konnte seine Frau in dem Gewimmel nicht entdecken. Ein bisschen dunkel war es ja doch unter der Plane, aber er hatte es einfach nicht mehr geschafft, die Partylichterketten aufzuhängen. Vielleicht konnte er bei den Nachbarn noch ein paar Arbeitslampen organisieren. Zwei hatte er selbst im Keller.
»Mutti!«
»Huhu«, hörte er sie antworten und dann war sie bei ihm. Bombig sah sie wieder aus in der engen, goldenen Hose und dem schwarzen Hemdchen mit all den dicken Schleifkes drauf.
»Wird doch noch ein schöner Abend, nicht?« Sie strahlte und umarmte ihn.
Sie war einen halben Kopf größer als er, aber das störte Ackermann überhaupt nicht und von ihrer üppigen Figur kriegte er nie genug.
»Bleibs’ du ma’ ebkes beim Fleisch. Ich müsst’ dat Fässken anschlagen ...«
»Ach, das kann Henk doch machen.« Dass sie Holländerin war, konnte man nur hören, wenn sie richtig in Wut geriet, und das passierte ausgesprochen selten.
»Bloß nich’! Dat gibt ’ne Riesensauerei, vors’ Ma’ auch. Wat kennt so ’n Kaaskopp schon von Bierfässer? Frach lieber den Franz, der is’ da Fachmann drin.«
Sie lachte nur und verschwand in der Menge.
Nadine, seine Älteste, kam mit einem Teller voller Paprikastücke und Maiskolben.
»Rück mal das Fleisch zusammen, Papa.«
»Wer will denn so ’n Grünzeugs fressen?«
»Menschen, die auf ihre Gesundheit achten.« Sie grinste und blinzelte schelmisch durch ihren langen Pony. »Wie ich zum Beispiel.«
Ackermann wieherte. »Aber rauchen wie ’n Schlot. Du bis’ gut! Komm, gib deinem alten Vatter ’n Kuss.«
Nadine machte spitze Lippen und hauchte ihm vorsichtig, damit ihr schwarzer Lippenstift nicht verwischte, ein Küsschen auf die Nase.
»Bissken viel Kriegsbemalung, wa?«
»Genau richtig. Ich will doch gleich noch auf das Scheunenfest nach Mehr.«
»Dat isset doch, wat ich meine.« Ackermann legte den Kopf schief. »Dat Geschmier stört doch bloß beim Knutschen.«
»Tss«, kicherte sie, »ich gehe doch nicht zum Knutschen dahin. Ich will nur ein bisschen abtanzen und quatschen.«
»Ha ha! Dat kannste deiner Omma erzählen. Sach ma’, wie kommste überhaupt hin?«
»Weiß ich noch nicht. Meistens ergibt sich was und sonst fahre ich mit dem Fahrrad.«
Ackermann wendete summend die Fleischstücke. »Soll der Papa dich bringen?«
»Ach, Quatsch, brauchst du nicht. Vor elf will ich sowieso nicht hin. Da könntest du den ganzen Abend nichts trinken. Wär doch blöd.«
Ackermann nahm sie in den Arm. »Dat lass ma’ meine Sorge sein, Schätzken. Ich hab in mein’ Leben schon genuch Bier geschluckt. Ich fahr’ dich hin, und zurück nimmste dir ’n Taxi. Ich geb’ dir auch dat Geld dafür.«
Sie kraulte ihm den Bart. »Manchmal bist du echt süß.«
»Aber et is’ versprochen, dat du dir ’n Taxi nimms’, klar? Ich will nich’, dat du in ’n Auto von so ’nem Vollgesoffski steigs’.«
»Logo. Ich bin doch nicht doof.«
»Nee, wahrhaftig nich’! Hier, halt ma’ den Teller hin. Dat Paprika wird schon schwarz.«
Als sie sich auf den Weg nach Mehr machten, war es schon fast Mitternacht.
Ackermann war verschwitzt vom Tanzen und hungrig. Als Gastgeber kam man immer als Letzter dran. Wenigstens hatte er sich ein Kotelett und drei Würstchen bunkern können. Bloß schade, dass sein Lieblingsketchup alle war. Die Jungs hatten aber auch zugeschlagen, meine Fresse!
Als sie in die Mehrer Straße einbogen, wurde es stockfinster. Nur Felder rechts und links, ab und an in der Ferne ein paar matte Lichtpunkte, die erleuchteten Fenster eines Bauernhofes.
»Sach ma’, Kind, un’ normalerweise wärst du hier mit der Fiets gefahren?«
»Klar, was denn sonst?«
»Find ich nich’ gut, find ich echt nich’ gut. Hier kriegt doch kein Mensch mit, wenn dir einer ...«
»Komm, hör auf, Papa. Das hier ist Kranenburg und nicht New York. Ich bin hier schon rumgeradelt, so lange ich denken kann, und du auch.«
»Ich war ja auch ’n Junge!«
Ackermann klebte mit dem Gesicht dicht vor der Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer schossen hin und her, die Straße glänzte vor Nässe und in seinen dicken Brillengläsern gab es wirre Spiegelungen.
»Un’ sowieso! Von wegen New York. Denk ma’ an den Bekloppten da im Oldenburgischen.«
»Papa! Ich bin keine dreizehn mehr. Ich weiß, was Sache ist. Und diesen Kurs in Selbstverteidigung, den du mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hast, hab ich auch gemacht. Und ich war gut! Also: Keep cool.«
»Verflucht!« Ackermann stieg hart auf die Bremse. »Sind die bescheuert?«
Ein paar Jugendliche hüpften auf der Straße herum. »Die hätt ich fast umgemangelt.«
Von jetzt an konnte er nur noch im Schritttempo fahren. Ganze Pulks von Jugendlichen wanderten am Straßenrand entlang Richtung Mehr.
»Du has’ mir ja gar nich’ gesacht, dat et da wat umsonst gibt.«
»Gibt es ja auch nicht. Aber hier im Kreis ist doch sonst nichts los. Wir sind ja schon froh, dass im Sommer wenigstens zweimal die Woche irgendwo ein Scheunenfest steigt.«
»Wie, nix los? Un’ wat is’ mit Privatfeten un’ Jugendheim un’ so?«
»Vergiss es! Das war mal.«
»Apropos Scheunenfest ...« Ackermann drehte die Fensterscheibe herunter und zwinkerte ein paar Mal. »Ich seh’ da bloß ein großes Zelt.«
Nadine musste lachen. »Das heißt doch nur so. Die Feten sind auch schon mal in Scheunen oder in einer Reithalle, wie es gerade so auskommt, meistens aber im Zelt.«
»Aha. Un’ jetzt? Soll ich dich hier rauslassen?«
»Spinnst du? Meinst du, ich ruiniere mir meine Schuhe in dem Modder hier? Ich will doch nicht aussehen wie der letzte Asi.«
»Ich wollt bloß nett sein, Süße. Deine Schwester darf ich nich’ ma’ bis vor die Schule bringen, weil et ihr peinlich is’, wenn se mit Papa oder Mama gesehen wird.«
Nadine zuckte die Achseln, klappte die Sonnenblende runter und begutachtete ihr Make-up im Spiegel. »Ihr Problem!«
Ackermann hielt direkt vor dem Eingang. »Dann will ich aber auch mit rein un’ ebkes rumspinxen.«
»Wenn du nichts Besseres vorhast. Aber das Auto kannst du hier nicht stehen lassen. Die schleppen alles sofort ab.«
»Ach nee?« Ackermann zog den Schlüssel ab und ließ ihn hin- und herbaumeln. »Dat woll’n wer doch ma’ sehen. Hast du vergessen, dat dein Papa Bulle is’? Ich hab sogar meine Marke dabei.«
Mit dem Rausschmeißer an der Tür tauschte er einen kurzen Blick. Sie hatten – beruflich – schon ein paar Mal miteinander zu tun gehabt.
Das Zelt war gepackt voll, über allem hing eine feuchte Dunstwolke, vor den Lichtern wirbelten Staubpartikel. Die Tanzfläche konnte er nicht sehen, die musste weiter vorn sein.
»Wat is’ dat denn für ’ne Musik? Venus, ich werd’ nich’ mehr! Ich dachte, ihr hört diesen technischen Mist.«
»Quatsch!« Nadine sah sich suchend nach Bekannten um.
»Venus von den Shocking Blue, ich glaubet nich’. Weißt du, dat ich die selbs’ ma’ gesehen hab? In Emmerich war dat, muss so 70 oder 71 gewesen sein. Manno, die Sängerin, dat war ’n scharfes Teil! Hatte man nächtelang feuchte Träume von.«
Nadine hörte nicht mehr zu. Sie hatte jemanden in der Menge erkannt und winkte.
»Okay«, sagte Ackermann, »ich zisch dann mal ab. Langsam krieg ich doch Schmacht auf ’n Bier.«
Sein Blick blieb am Getränkestand hängen – Warsteiner gab es da. Aber Blödsinn – was sollte er hier Geld ausgeben, wo zu Hause noch ein gut gekühltes 20-l-Fass auf ihn wartete?
An der rechten Wand hatte man eine Pommesbude aufgebaut. War das hinter der Theke nicht der ...? Doch sicher!
»Ej, Hubert, alte Socke! Sach ma’, hasse Hela-Ketchup da? Den extra scharfen, mein ich.«
»’n Abend, Jupp. Sicher hab ich Hela da. Wie sollte ich wohl sonst ›spezial‹ machen?«
»Du könns’ mir nich’ vielleicht eine Flasche davon verkaufen? Ich mein, so aus alter Freundschaft.«
4
So frisch und fit hatte van Appeldorn sich seit Monaten nicht mehr gefühlt, schon gar nicht an einem Montagmorgen. Endlich einmal war ein Wochenende nach seinem Geschmack verlaufen. Anna war seit Freitag bei irgendeiner Freundin gewesen und die Kleine hatte fast die ganze Zeit mit ihrer neuen Barbiepuppe gespielt. Kein Zank, kein Streit. Auch Marion hatte nicht rumgemeckert, nicht mal, als er am Freitag mit den Jungs vom Fußball einen trinken gegangen war. Im Gegenteil, sie war nicht nur äußerst anschmiegsam gewesen, sie hatte auch endlich mal wieder ihre Phantasie ins Spiel gebracht – und davon hatte sie immer schon reichlich gehabt –, und zwar Samstag- und Sonntagnacht. Sein Muskelkater würde ihn noch ein paar Tage daran erinnern.
Er hatte ihr sogar ohne Mucksen sein Auto überlassen, als ihres eben wieder nicht angesprungen war. Würde er eben zu Fuß zum Präsidium gehen, wo es gerade mal nicht regnete.
Er schnupperte, als er vor die Haustür trat. Heute roch es tatsächlich ein bisschen nach Sommer. Nicht einmal der Gedanke an Ackermann konnte seiner guten Laune was anhaben. Irgendwie würde er die vier Wochen schon umkriegen. Und eins musste man Ackermann lassen: Faul war er nicht.
Van Appeldorn ging am Fuß der Schwanenburg entlang und nahm die Treppe, die zur Großen Straße hinabführte. Um diese Uhrzeit war in der Stadt nicht viel los. Die meisten Geschäfte hatten noch geschlossen.
Schade eigentlich, dachte er, als er am Dessousladen vorbeikam. Da lag ein sagenhafter roter Stringtanga im Fenster mit der passenden Winzigkeit von Büstenhalter. Vielleicht hatte er ja im Laufe des Tages ein paar Minuten Zeit, kurz in die Stadt zu fahren. Ackermann würde ihm bestimmt seinen Wagen leihen, oder Walter, falls der da war.
Van Appeldorn überquerte den Minoritenplatz. Ein viel zu schöner Name für diesen hässlichen Parkplatz. Baulücke nannten es die Politiker und planten Kaufhäuser, Wohnungen, Restaurants. Ein gigantischer Klotz würde hier wohl bald entstehen, noch mehr Einzelhandelsgeschäfte würden den Bach runtergehen. Die Ladenbesitzer liefen Amok. Zu Recht, aber wen interessierte das? Moderne Zeiten, man wollte ja den Anschluss nicht verpassen, man wollte ja nicht auf der Strecke bleiben.
Warum war eigentlich bisher keiner auf die Idee gekommen, hier einen Park anzulegen? Mit einem Teich vielleicht, wo die Rentner sitzen und die Enten füttern konnten. So eine kleine Grüne Lunge mit Musikpavillon, bisschen altmodisch gemütlich.
Beton und monumentale Steinklötze gab es doch gerade an dieser Ecke genug. Und das eingesparte Geld konnten die Städteplaner dann in die Sanierung vom unteren Stück der Kavarinerstraße stecken. Das war vielleicht ein Aushängeschild! Das Erste, was Besucher von außerhalb von der Stadt zu sehen bekamen: leer stehende Läden mit blinden Fenstern, bröckelnde Fassaden, eingedrückte Dächer, Sex-Shop – wirklich sehr malerisch.
Er umrundete eine enorme Pfütze, die sich nach dem Dauerregen der letzten Wochen in einer Kuhle gebildet hatte. Mittendrin parkte ein orangefarbener Kleinlaster von der Stadt. Die Reifen standen bis zur Hälfte im Wasser. Im Auto machten zwei städtische Angestellte offensichtlich gerade Frühstückspause. Um neun Uhr!
Van Appeldorn setzte zu einem Sprung an, um das letzte Stück Pfütze zu überwinden, aber der Boden auf der anderen Seite war aufgeweicht, er rutschte mit dem Absatz weg und landete hart auf Hüfte und Ellbogen. Aus dem Stadtauto erklang Applaus.
So viel zum Thema gute Laune. Jetzt kam es auch nicht mehr darauf an. Er wischte sich den Morast von den Händen an der Hose ab und holte sein Funktelefon aus der Jackentasche. In dem Zustand würde er nicht die Stadt hochlaufen. Er machte sich doch nicht lächerlich! Ackermann sollte ihn gefälligst hier abholen und zum Umziehen nach Hause bringen.
Sie verspäteten sich gründlich und das lag daran, dass Jupp Ackermann van Appeldorn einfach nicht gut genug kannte.
Zunächst einmal hatte Ackermann beim Anblick des schlammbespritzten van Appeldorn laut gelacht. Die Folge war, dass van Appeldorn sich zu Hause erst einmal in aller Ruhe unter die Dusche gestellt hatte. Und dann war Ackermann der zweite Fehler passiert: Nachdem er zwanzig Minuten lang gewartet hatte, hatte er an die Badezimmertür geklopft und gerufen: »Et wird langsam Zeit, Norbert!«
Van Appeldorn war eigentlich durchaus kein langsamer Mensch, man durfte ihn eben nur niemals zur Eile drängen, denn dann schaltete er umgehend auf Zeitlupe um und machte jeden wahnsinnig mit Bemerkungen wie: »Was regt ihr euch denn so auf? Uns läuft doch nichts weg.«
Heute hatte er eine halbe Stunde gebraucht, um sein immer etwas zu langes, schwarzes Haar zu föhnen und in Form zu legen, und dann noch einmal genauso lange, um sich anzuziehen.
Als sie endlich in der Liebfrauenschule ankamen, platzten sie mitten in Frau Rouenhoffs Matheunterricht. Die Kinder freuten sich zunächst über die Unterbrechung, aber als die beiden Polizisten sich auf das Pult setzten und anfingen, Fragen zu stellen, schlug die Stimmung merklich um. Hatte einer gesehen, wie Gregor verprügelt worden war? Kopfschütteln und Schweigen. Hatte jemand drei herumlungernde Jugendliche beobachtet? Nur noch Schweigen.
»Also, so geht das nicht!« Van Appeldorn wurde zornig.
Ein Rothaariger in der letzten Reihe muckte auf: »Aber wenn wir doch nichts wissen!«
Ackermann hatte die ganze Zeit ein rundliches Mädchen im Blick, das ganz vorn saß. Als sie sich vorhin vorgestellt hatten, hatte sie heiße Wangen gekriegt und seitdem hielt sie den Kopf gesenkt und versteckte ihr Gesicht hinter den braunen Haarzotteln.
Während van Appeldorn es weiter versuchte – »Mit wem von euch ist Gregor befreundet?« –, ging Ackermann zur Lehrerin hinüber, die am Kartenständer lehnte. Sie kam seiner Frage zuvor. »Das ist die Sabine und auf dem Korridor dürften Sie um diese Zeit ungestört sein.«
Ackermann ging neben dem Mädchen in die Hocke. »Hallo Sabine.« Er sprach sehr leise. »Hast du ma’ ebkes Zeit? Ich würd’ gern in Ruhe mit dir reden. Auf’m Flur vielleicht ...«
Sie stand sofort auf und ging schnell mit ihm hinaus, aber kaum hatte Ackermann die Klassentür geschlossen, da brach sie in Tränen aus.
»Ach je, Kind, nu’ wein’ doch nich’. Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben.« Am liebsten hätte Ackermann sie in die Arme genommen. »Guck mich doch ma’ an. Seh ich etwa gefährlich aus? Hör ma’, ich hab selbs’ drei Mädkes zu Hause, un’ die können mich gut leiden, die tanzen mir auf der Nase rum, ehrlich.«
Sabine schniefte.
»Et is’ doch bloß ... du scheins’ mir die Einzige in eurer Klasse zu sein, die den Durchblick hat. Du bist bestimmt Klassensprecherin, oder?«
Sie nickte und wischte sich mit der Faust die Nase ab.
»Hab ich mir gedacht. So wat seh ich sofort.«
Plötzlich schaute sie ihn an. »Vor Ihnen habe ich gar keine Angst.«
»Na, vor wem denn dann?«
»Vor Gregor.«
»Vor Gregor Weller?« Ackermann machte große Augen. »Aber warum denn? Hat er dir was getan?«
Sie schüttelte den Kopf und er spürte, dass sie nach Worten suchte.
»Der zieht die Kleinen ab«, sagte sie schließlich tonlos.
»Abziehen? Wie meinst du das? Beklaut der die?«
»Nein, der macht ihnen Angst und dann geben sie ihm alles. Der ist stark und er hat ein Messer und er hat auch große Freunde, sagt er, die haben Waffen.« Jetzt sprudelte sie über. »Meine Schwester ist im zweiten Schuljahr. Sie hat immer Bauchschmerzen. Manchmal geht sie gar nicht in die Schule, sondern versteckt sich den ganzen Morgen. Gregor nimmt all ihr Taschengeld, und ihren Walkman und ihre Jeansjacke hat er auch.«
»Und was sagen eure Eltern dazu? Die müssen das doch merken.«
»Carina sagt immer, dass sie alles verliert.«
Van Appeldorn und Ackermann blieben über zwei Stunden in der Schule. Nachdem das erste Kind geredet hatte, war es, als wäre ein Knoten geplatzt. Sieben Mädchen und Jungen schilderten ihren Peiniger und ihre Not. Es waren alles vorsichtige, leise Kinder – Gregor hatte einen guten Blick. Die meisten von ihnen wirkten wie erlöst, als sie erzählten, und es war unfassbar, dass alle so lange geschwiegen hatten.
Van Appeldorn konnte es nicht glauben, dass kein einziger Lehrer auch nur die geringste Ahnung gehabt haben wollte, und er tat seine Meinung auch lautstark kund.
Draußen auf dem Schulhof blieb Ackermann stehen und holte ein paar Mal tief Luft.
»Weißte, Norbert«, meinte er, »ich find et viel schlimmer, dat die Eltern nix gemerkt haben. Wenn du überlegs’, wat die Kinder für ’ne Angst gehabt haben! Wat sind dat denn für Eltern?«
Van Appeldorn zuckte die Achseln. Bei ihnen zu Hause hatte eigentlich Marion den direkten Draht zu den Mädchen.
»Die übliche Geschichte, nehme ich an: Eltern beide berufstätig, den ganzen Tag genug um die Ohren«, meinte er lahm.
»Dat is’ doch ’n Witz! Ich bin auch berufstätig, aber ich krieg’ doch mit, wenn meinen Kindern wat an die Nieren geht. Is’ doch wohl bei dir auch nich’ anders.«
Van Appeldorn schwieg.
Fanny hatte ihr Fahrrad schon abgeschlossen und wollte zum Postamt hinüber.
»Mensch, Zarah, nun mach endlich. Ich will vor Englisch wieder in der Schule sein.«
»Ich komme ja!« Zarah fuhr sich noch einmal mit den Händen durchs Haar und schraubte dann die Geltube zu.
Fanny verdrehte die Augen. »Dir ist echt nicht zu helfen. Geht doch deine Alten nichts an, was du mit deinen Haaren machst.« Damit stakste sie auf ihren Plateausohlen los. Zarah hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie hatte die Schuhe erst gestern nach wochenlangem Betteln bekommen. Die Sohlen waren nicht ganz so dick wie bei Fannys Schuhen, aber sie musste sich trotzdem erst daran gewöhnen.
»Das sagst du«, maulte sie. »Mein Vater spackt voll ab, wenn der mich so sieht. Und dann hab ich wieder Hausarrest für mindestens eine Woche.«
»Ja und? Toll! Du wartest einfach, bis alle pennen, und dann machst du ’n Sittich.«
Zarah blieb stehen. »Ach komm, tu mal normal.«
»Boah Alte, ehrlich«, schimpfte Fanny. »Du kannst einem echt auf den Keks gehen mit deinem ewigen Schiss.« Damit drückte sie die Tür zum Postamt auf. »Hast du den Schlüssel?«
Zarah bückte sich und holte den kleinen Postfachschlüssel aus ihrem Schuh.
»Gib schon her!« Fanny wollte danach grapschen, aber Zarah hielt ihn hoch über ihren Kopf und ging zu den Schließfächern. »Nö, ich mache das. Ich bin diese Woche dran.«
Sie fand drei Briefumschläge, darin zwei gefaltete karierte Zettel, eine herausgerissene Zeitungsnotiz, an deren Rand jemand mit Kuli einen Namen geschrieben hatte.
»Zeig mal her«, meinte Fanny aufgeregt. »Lass mich doch mal lesen.«
Zarah zögerte und sah sie unbehaglich an. »Ich weiß nicht. Nachher ist Sigi sauer ...«
Fanny verdrehte wieder die Augen, aber sie drängelte nicht weiter, sondern ging hinaus.
Dicht nebeneinander stiefelten sie die Lohengrinstraße hinunter.
»Hoffentlich ist Sigi noch da. Der wollte doch heute die Karten besorgen für das Ärztekonzert.«
»Sonst geben wir das einfach Manuela.«
»Du, hör mal«, überlegte Fanny, »ich glaube, ich sag dem Sigi einfach, dass die Jungs endlich selber was machen wollen. Die motzen die ganze Zeit hinter seinem Rücken, aber dann halten sie doch immer die Schnauze. Fu und Killer sind bestimmt fit genug.«
Zarah nickte. »Und Bobo auch!«
Ihre Freundin stöhnte. »Du gehst mir voll auf den Zeiger mit dem Typ, echt.«
Sie waren vor dem Gebäude angekommen. »Du, Fanny«, flüsterte Zarah. »Willst du denn selber auch mitmachen?«
»Mann, Alte, was denkst du denn? Das ist doch der Sinn der Übung, Mensch. Und jetzt komm endlich.«
Flintrop saß im Glaskasten und stierte vor sich hin.
»Du schon wieder?«, rief Ackermann. »Ich denk’, du has’ die Woche Nachtschicht. Wat machste denn hier?«
»Ich bin für Look eingesprungen, dem ging es nicht so gut.«
»Kein Wunder, dat du so bleich bis’, wenn du keinen Schlaf kriegs’. Oder haste wat?«
»Ach«, meinte Flintrop, »ich weiß auch nicht. Da war gerade wieder so ein anonymer Anruf, eine Frau diesmal. Wir hatten vorige Woche einen Bruch in einer Kneipe in Kellen, Spielautomaten geknackt. Und die Frau hat mir gerade den Namen vom angeblichen Täter genannt. Wir kennen den Typ, ist in der Drogenszene. So langsam ist mir das alles nicht mehr geheuer. Ach, Moment, vorhin war so ein Bekloppter hier und hat einen Zettel für euch dagelassen.«
Van Appeldorn und Ackermann beugten sich über das Papier. Habe Sie, trotz angekündigten Besuches, nicht angetroffen. Wenn Sie sich bis 17 Uhr nicht bei mir gemeldet haben, ergeht umgehend Dienstaufsichtsbeschwerde. Weller.
»Dat is’ doch wohl dat Allerletzte!«, polterte Ackermann los. »Dem steig’ ich aufs Dach – umgehend.«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, meinte van Appeldorn und grinste dann hämisch. »Dem schicke ich eine ganz offizielle Vorladung. Für Donnerstagmittag um zwei. Das tut dem am meisten weh. Da hält der Lehrer an sich nämlich seinen Mittagsschlaf.« Sie gingen die Treppe hinauf. »Aber du kannst es dir gleich aus dem Kopf schlagen, dass bei der Geschichte irgendwas rauskommt. Schließlich liegt gegen den Jungen nicht einmal eine Anzeige vor. Und selbst wenn, er ist erst zehn. Wir können eine Benachrichtigung ans Jugendamt schicken und hoffen, dass die etwas unternehmen, und pro forma schicken wir das auch an die Staatsanwaltschaft. Wenn dieser Gregor noch mehr Scheiß baut, ist er wenigstens schon mal in den Akten. Aber das ist auch schon alles.«
»Man könnte den Eltern von den abgezogenen Kindern nahe legen ...«
»Ackermann!«
»Is’ ja schon gut. Die Rouenhoff, ich glaub, die hat dat wirklich getroffen. Vielleicht macht die ja wat. Ir’ndwie is et komisch, man weiß gar nich’, wat man denken soll. Früher hätt ich immer gesacht, der Gregor is’ ’n armes Schwein bei dem Druck, den sein Alter macht. Aber die letzten Jahre ... ich weiß et nich’ ... ir’ndwie läuft alles aus ’em Ruder.«
5
»Pluralis Majestatis«, murmelte Ackermann.
»He?« Van Appeldorn hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Ach ja, du bis’ ja Neusprachler, vergess’ ich immer. Hatte die Chefin nich’ gesagt: Wir haben da etwas vorbereitet?«
Heinrichs’ Verabschiedung war in vollem Gang. Bis auf eine Notbesetzung an der Pforte hatte die Meinhard alle in den Schulungsraum abberufen, Walter Heinrichs auf einen einsamen Ehrenstuhl platziert und jetzt hielt sie eine Rede, die allen die Tränen in die Augen trieb – Tränen der Langeweile. Am Anfang ihres Vortrages hatte sie Heinrichs’ Namen kurz erwähnt und war dann nahtlos übergegangen zur Entwicklung der deutschen und europäischen Polizei in den letzten Jahrzehnten im Allgemeinen und Speziellen.
Seit dreißig Minuten saß Walter Heinrichs auf seinem Stuhl und konnte sich für keinen Gesichtsausdruck entscheiden.
Als die Chefin zum ›Ausblick auf die Zukunft‹ ausholte, hielt es Ackermann nicht länger auf seinem Platz. »Jetzt ist es aber genuch!« Er packte van Appeldorns Hand und zerrte ihn mit sich nach vorn.
Der Meinhard stand vor Überraschung der Mund offen.
»Ich un’ mein Freund Norbert hätten da auch noch wat zu sagen«, legte Ackermann einfach los. »Lieber Walter! Ich weiß, et is’ beschissen, dat grad jetz’ Helmut un’ Astrid nich’ hier sind, aber nu’ is’ et auch nich’ zu ändern. Da musste wohl mit Freund Norbert un’ euerm Libero vorlieb nehmen, wie man so schön sacht. Du bis’ ja quasi unser Mann der ersten Stunde gewesen, wenn ich dat ma’ so ausdrücken darf. Du wars’ ja schon lang vor den meisten anderen hier un’ has’ die ganze Chose überhaupt ers’ an’t Laufen gebracht. Du un’ Günther Breitenegger, wat immer dein bester Freund war. Un’ ich glaub, du has’ wohl danach am allermeisten gelitten, wie dem Günther dat passiert is’. Aber has’ du etwa schlappgemacht? Nee! Weil du nämlich durch un’ durch Profi bis’, aber Profi mit Herz.«
An dieser Stelle fing Walter Heinrichs an zu weinen und ein paar Minuten später hatten auch diverse andere Leute ihre Taschentücher herausgeholt.
»Aber zu dem, wat in euerm kleinen Team die ganzen Jahre so wunderbar gelaufen is’ un’ warum dat so war, da sacht dir jetz’ der Norbert wat zu«, schloss Ackermann mit brüchiger Stimme, zog ein zerknautschtes Tempo aus der Hose und schnäuzte sich die Nase.
Van Appeldorn hatte schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, jemand habe ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, und jetzt hatte er plötzlich Schweißperlen auf der Oberlippe. Er drehte sich zur Meinhard um, die hinter ihm an der Wand stand und einen schmalen Mund machte. Dann sah er Walters Gesicht und wusste, er hatte keine Wahl.
»Lieber Walter!« Mit Mühe unterdrückte er ein Räuspern. »Du weißt, Helmut kann so etwas viel besser als ich, deshalb machen wir es auch ganz kurz: Ich weiß überhaupt nicht, wie es ohne dich werden soll. Wir alle werden dich sehr vermissen. Ich werde dich vermissen ...« War ihm in den letzten zwanzig Jahren jemals so heiß geworden?
Aber da stupste Ackermann ihn schon an, schob ihn rüber zu Heinrichs und startete das große Händeschütteln und Schulterklopfen. »Jetz’ bis’ du aber dran, Walter«, drängte er.
»Ich kann nicht. Ich fange sofort an zu heulen.«
Die Chefin brachte ihn erst gar nicht in die Verlegenheit, sie hatte endlich das Ruder wieder in der Hand. »Ist es nicht wundervoll, wenn man solche Kollegen hat? Und von all diesen Kollegen, Herr Heinrichs, möchte ich Ihnen jetzt ein Geschenk überreichen. Wir haben uns gedacht, wir schenken Ihnen etwas, das einerseits der Erholung von uns dient und andererseits eine Einstimmung auf Ihre neue Lebenssituation ist: Für Sie, Herr Heinrichs, und Ihre ganze Familie eine Woche Centerparc in Heijderbos!«
Heinrichs verschluckte sich und konnte nicht mehr aufhören zu husten, Ackermann lachte laut und herzhaft. Die Chefin schaute irritiert von einem zum anderen.
»Ich glaub et einfach nich’!«, prustete Ackermann.
»Waren Sie schon ma’ mit fünf Kindern im Schwimmbad? Un’ sei et auch bloß für zwei Stunden?«
Charlotte Meinhard lächelte tapfer, aber sie konnte ihre Verwirrung nicht verbergen. Inzwischen lachte der ganze Saal.
Schließlich besann sie sich. »Dies ist selbstverständlich nur ein Gutschein. Und natürlich können Sie ihn jederzeit gegen ein Geschenk Ihrer Wahl eintauschen.«
Heinrichs guckte ein wenig reumütig. »Och, so ein Wochenende im Luxushotel, nur meine Frau und ich, das wäre schön. Und dann natürlich für die Zeit ein kostenloser Babysitter für unsere ganze Blase ...«
»Oder wie wäre es mit einer Kutterfahrt auf dem Ijsselmeer?«, erklang eine tiefe Stimme vom Eingang her.
»Wim! Dass du daran gedacht hast!« Heinrichs kamen schon wieder die Tränen. Mit ausgebreiteten Armen ging er auf den auffallend gut gekleideten Mann zu, der gerade verschiedene Päckchen und Pakete auf dem Tisch neben der Tür ablegte. Wim Lowenstijn, Spross einer deutsch-holländischen Familie, war früher einmal Kollege bei der recherche in Nijmegen gewesen und hatte öfter mit dem K 1 zusammengearbeitet. Aber dann war sein Vater verstorben und hatte ihm ein millionenschweres Tabakimperium hinterlassen. Inzwischen lebte Lowenstijn zusammen mit einem englischen Butler, einer Köchin und einer Hauswirtschafterin in einer Villa in Hochelten und hatte sich, zum Zeitvertreib, auf Privatermittlungen verlegt.
Er umarmte Heinrichs herzlich und klopfte ihm auf den Rücken. »Ach, alter Freund, wie könnte ich wohl deinen Abschied vergessen? Der liegt mir schon seit Wochen im Magen. Hoffentlich weiß deine Truppe hier, wen sie da ziehen lässt!« Dann strich er die rostbraunen Locken aus der Stirn und lachte. »Außerdem muss sich ja einer darum kümmern, dass du dich in Zukunft nicht langweilst.« Er zeigte auf seine Pakete.
Ackermann wieherte schon wieder. »Dat sieht ja aus wie ’ne Angelausrüstung. Un’ so wat bei ’nem Wibbelstert wie unsern Walter!«
Heinrichs schluckte ein paar Mal und wickelte dann mit glänzenden Augen die Geschenke aus.
»Und noch etwas«, meinte Lowenstijn. »Falls dich doch irgendwann das heulende Elend überkommt, du kannst jederzeit bei mir einsteigen. Ich habe mehr Aufträge, als ich bewältigen kann, und du wärest genau der Richtige. Ich kenne deine Qualitäten.«
»Ach was«, Heinrichs winkte verlegen ab. »Du hast doch Baldwin.«
»Von wegen! Daniel weigert sich inzwischen strikt, mitzuarbeiten. Ihr wisst, wie stolz er darauf ist, Butler zu sein, und etwas anderes interessiert ihn nicht. Seit einigen Wochen droht er mir jedes Mal mit Kündigung, wenn er mir mal zur Hand gehen soll.«
Van Appeldorn hatte sich vorbereitet. Ohne die Spur eines Gefühls schilderte er in Einzelheiten, welche Delikte Gregor begangen hatte, aber Weller blieb absolut unbeeindruckt. Nichts anderes hatten sie erwartet.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich diesen völlig aus der Luft gegriffenen Gerüchten Glauben schenke?«
»Nun, das ist Ihr Problem, Herr Weller. Damit werden sich jetzt andere Stellen beschäftigen, nicht wir.«
»Wollen Sie mir drohen?«
»Nichts liegt mir ferner. Aber zurück zu Ihrer Anzeige. Wir haben zwar inzwischen einiges über die kriminelle Energie Ihres Sohnes erfahren ...«
Weller schnappte nach Luft. »Das ist eine unzulässige Unterstellung, gegen die ich mich aufs Schärfste verwehre und gegen die ich vorgehen werde. Sie sind mein Zeuge!«
»Wie? Wat? Haben Se wat zu mir gesacht?« Ackermann guckte harmlos. »Ich habbet schon länger mit de Ohren. Schlimm, wirklich.«
»... Ihres Sohnes erfahren«, setzte van Appeldorn wieder ein. »Zum tätlichen Angriff auf Gregor haben wir bisher allerdings keine neuen Erkenntnisse. Es ist absolut unerlässlich, dass wir noch einmal allein mit ihm sprechen.«
Weller schnaubte abfällig und stand auf. »Sie glauben doch wohl nicht, dass ich meinen Sohn ungeschützt Ihrer Inkompetenz aussetze! Danke, meine ... Herren.«
»Augenblick noch.« Van Appeldorn lächelte verbindlich. »Bedeutet das, dass Sie Ihre Anzeige zurückziehen?«
»Als ob dat ’n Unterschied macht«, knurrte Ackermann missmutig.
Es war ein warmer Tag gewesen, aber dann war ein Gewitter losgebrochen und hatte den Regen zurückgebracht. Gott sei Dank, sonst säßen die Nachbarn bestimmt alle auf der Terrasse oder im Garten. Schließlich war Freitag.
Seit fast zwei Stunden drückten sie sich schon in der Gegend herum und warteten darauf, dass es dunkel wurde.
Im Nachbarhaus gingen die Lampen an und jemand ließ die Rollläden runter.
Björn Giltjes fing langsam an zu frieren. Kaufmann hatte ihn zur Sau gemacht, weil sein Nato-Shirt zu hell wäre und man ihn im Dunklen zu gut sehen könnte, aber jetzt war das Scheißteil klatschnass und dunkel und bestimmt nicht mehr zu sehen.
Kaufmann schmiss die Zigarette weg und stieß ihn an. »Los!«
Geduckt jagten sie die Einfahrt hoch und quetschten sich durch eine Lücke zwischen der Garage und der Hecke. Giltjes schrabbte mit den Ellbogen an der verputzten Wand lang. Tränen schossen ihm in die Augen, aber er gab keinen Mucks von sich.
Sie waren jetzt im Garten hinter dem Haus und pressten sich japsend gegen die Hecke. Alles blieb still und dunkel. »Weiter!«, befahl Kaufmann. »Auf den Baum und rüber aufs Dach.«
Giltjes hatte keine Angst vorm Klettern, aber die Lücke zwischen dem Baum und dem Flachdach war verdammt groß.
»Willst du da rüberspringen, oder was? Du spinnst doch!«
»Hast du drauf, Alter«, zischte Kaufmann und war schon auf dem Baum.
Es ging leichter, als sie gedacht hatten, aber der Kies spritzte auf und pladderte auf das Dach zurück, als sie landeten. Giltjes schmiss sich flach auf den Bauch und rührte sich nicht. Auch Kaufmann wartete einen Moment, dann zog er Kombizange und Schraubenzieher aus dem Hosenbund und robbte rüber zur Glaskuppel, die sich mitten auf dem Dach befand.
»Giltjes, hau rein, tu die Lampe rüber!«
Er gehorchte. Kaufmann fing an, das Fensterschloss zu bearbeiten. »Auch nicht schwerer als bei ’nem Fahrrad. Jacqui sagt, die haben alles: Video, Kamera, sogar ’n CD-Brenner.«
»Ja, klar! Und wie sollen wir das alles wegkriegen?«
»Piss dich mal nicht an. Das mach’ ich schon. Außerdem haben die Schmuck, und wo die Kohle liegt, weiß ich auch. So, jetzt hab ich’s.«
Andy Kaufmann richtete sich ein wenig auf und sah sich um. Alles ruhig. Leise öffnete er das Oberlicht. »Leuchte mal runter ... Boah, cool! Guck mal!« Direkt unter dem Lichtschacht stand ein Sofa. Sie mussten sich nur fallen lassen.
Es roch komisch.
»Boah, was für ’n Mief! Das stinkt wie bei uns im Hausflur«, meinte auch Kaufmann. »Vielleicht weil die so viele Hunde haben.«
Den Fernsehapparat entdeckten sie sofort, Großbildschirm, darunter stand der Videorecorder. Giltjes stöpselte ihn aus. »Wo sollen wir den denn verticken?«
»Ich kenne einen, der kennt da einen in Nimwegen. Los, lass uns erst mal den Schotter suchen.«
Aber da hatten sie kein Glück. In der Schublade, von der Andys Schwester erzählt hatte, lagen nur alte Briefe. In der Küche fanden sie in einer Tasse ein bisschen Kleingeld.
»Der Schmuck soll unten im Keller sein. In einem Einmachkessel versteckt, sagt Jacqui.«
»Was ist denn ein Einmachkessel?«
»Kein Plan, weiß ich doch nicht!«, fuhr Kaufmann ihn an.
Ein komisches Haus war das. Die Kellertreppe ging mitten im Wohnzimmer runter und das daneben war wohl ein Kamin, bloß war der voll mit getrockneten Blumen. Auf der zweiten Treppenstufe lag ein dicker Hundehaufen.
Giltjes schob sich daran vorbei und stieß dabei gegen den Lichtschalter. Im Keller wurde es strahlend hell.
»Du Idiot!«, rief Kaufmann.
Giltjes fuhr zu ihm herum und da sah er sie: drei schwarze, vermummte Gestalten, noch eine ließ sich vom Dach herabfallen, noch eine.
»Ihr mieses Verbrecherpack«, sagte die erste Gestalt mit stahlharter Stimme und setzte sich in Bewegung. Da erst merkte Giltjes, dass er selbst es war, der die ganze Zeit schrie.
Er stürzte die letzten Stufen hinunter, sah die Tür nach draußen. Der Schlüssel steckte. Er ließ sich drehen. Die Tür sprang auf.
Giltjes schaute sich noch einmal um. »Andy!«, schrie er. »Andy!«
Kaufmann war auf der Treppe, aber eine schwarze Gestalt griff nach ihm. Eine zweite trat mitten in den Hundehaufen und rutschte weg. Auch Kaufmann fiel.
Die erste Gestalt kam die Treppe runtergerannt. Björn Giltjes stolperte in den Garten hinaus. Da war ein Holzstapel, da war der Zaun zum Nachbargrundstück.
Als er die Stimme hinter sich hörte – »Wir kriegen dich, Giltjes, verlass dich drauf!« – schaffte er das Hindernis mit einem einzigen Sprung und lief den Berg hinunter. Seine Lungen brannten wie Feuer, aber er lief, lief, bis er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Dann blieb er stehen und sah sich um. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Lieber Gott, lieber, lieber Gott, es gab sie also tatsächlich! Und sie kannten ihn!
Das Telefon auf der Wache klingelte zu Flintrops absoluter Lieblingszeit, halb drei, da hatte er immer seinen toten Punkt. Es war gut, dass heute die letzte Nacht war. Seit einiger Zeit fielen ihm die Nachtdienste schwerer, er war müde und manchmal war er tagsüber total aufgedreht. Doch angeblich war das normal. Seine Frau hatte im Fernsehen gehört, dass Schichtdienst einen auf die Dauer fertig machte. Obwohl, morgens konnte er immer noch schlafen wie ein Sack – bis in die Puppen. Und wenn Mia heute wieder mit dem Rasen anfing, der gemäht werden musste, dann würde aber was los sein!
»Ja!«, bellte er ins Telefon.
Es war Vinck, der Wirt von der Kneipe in der Ackerstraße. Sie waren im selben Schützenverein.
»Schick mir mal ein paar von euren Jungs rüber. Ich hab hier einen, den ich nicht loswerde.«
»Randaliert der?«
»So könnte man es nennen. Ich brauche auf jeden Fall eure Hilfe.«
»Alles klar, ich schick dir die Jungs. Dann mach’s gut, Ernst. Bis demnächst.«
Auch Schuster und Schumacher waren nicht gerade begeistert, als Flintrops Ruf kam. Sie wollten gerade ihre Nachtdienstwoche mit der neuen Septemberausgabe vom Playboy ausklingen lassen und hatten sich auf den Parkplatz am Schweizerhaus zurückgezogen.
Schumacher maulte herum, aber dann startete er doch den Wagen. »Ackerstraße? Welche ist das noch mal? Ich verwechsele die immer.«
»Meine Güte, nach anderthalb Jahren müsstest du so langsam den Stadtplan im Kopf haben, wirklich!«
»Hör doch auf«, schmollte Schumacher. »In Düsseldorf kannst du mir die Augen verbinden und ich finde trotzdem jede Straße. Egal, ob das in Eller ist oder in Oberbilk.«
»An der Ampel links und dann die zweite rechts. Lott jonn!«
Die Außenbeleuchtung an der Kneipe war schon abgeschaltet, aber die Tür war noch nicht verschlossen.
Ernst Vinck stand missmutig hinter dem Tresen und spülte Biergläser. Auf einem Barhocker saß ein Mann und heulte Rotz und Wasser. »Ich bin ein Schwein ... ein verlogenes altes Schwein ... der letzte Dreck ...«
»’n Abend!« Schuster machte auf forsch. »Was gibt’s?«
Vinck schlug sich das Küchenhandtuch über die Schulter. »Dieser Gast will nicht gehen. Und wenn ich ihn anfasse, klappt er zusammen und fängt an zu treten.«
»Quatsch«, meinte Schumacher, »das kriegt der doch gar nicht mehr gebacken.«
»Ist auch egal. Packt ihn ein. Ich will endlich ins Bett. Ich hab die Nase voll für heute.«
»Ich Dreckschwein«, greinte der Zecher wieder. »Ich hab ihn aus dem Haus getrieben, alle hab ich aus dem Haus getrieben. Ich war das, jawohl ich, alles hab ich kaputtgemacht, alles hab ich falsch gemacht in meinem Leben ... alles!« Er konnte sich nur noch mit Mühe auf dem Hocker halten.
»Den kenne ich doch«, sagte Schumacher. »Und du kennst den auch. Das ist doch der Vater von dem Früchtchen, das wir letzte Woche nach Hause gebracht haben. Wie hieß der noch? Giltjes?«
»Stimmt, jetzt, wo du’s sagst.« Schuster grinste. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
Vinck ließ das Wasser aus dem Spülbecken ab und klatschte das nasse Handtuch auf die Theke. »Jetzt kassiert ihn schon endlich ein!«
Schuster nickte und machte einen Schritt nach vorn, aber Schumacher hielt ihn am Arm fest. »Bloß nicht! Überleg mal, wir haben doch gar keine Handhabe. Wir handeln jetzt genau nach Vorschrift oder denkst du, ich will noch mal so einen Einlauf kriegen wie voriges Jahr? Nein, der Mann hat nichts gemacht, also können wir ihn auch nicht einkassieren.«
»Ja, spinn ich denn?« Vinck kam hinter seinem Tresen hervor. »Was seid ihr denn für welche? Wofür haben wir euch wohl?«
»Vorsicht!«, blaffte Schuster ihn an.
»Nachher heißt es wieder, wir hätten den Notarzt nicht gerufen«, murmelte Schumacher.
Vinck trat an Giltjes heran, nahm dessen Kopf in beide Hände, sodass er ihm in die Augen schauen musste. »Giltjes, siehst du diese beiden Komiker hier?«
»Was?« Mit glasigen Augen versuchte Giltjes, ein scharfes Bild zu kriegen.
»Genau, die beiden Pausenclowns. Weißt du, was die gerade gesagt haben? Du wärst an allem schuld. Willst du dir das etwa bieten lassen?«
Giltjes schüttelte heftig den Kopf. »Ich doch nicht! Ich bin doch nicht der Popanz für alle. Ich doch nicht!«
»Eben, ich weiß doch, dass du ein ganzer Kerl bist. Also, wenn ich du wäre, denen würde ich es zeigen. Weißt du, was ich tun würde?«
Diesmal schüttelte Giltjes seinen Kopf so stark, dass er vom Hocker kippte, aber Vinck fing ihn auf, packte ihn am Hemdkragen und schob ihn zur Tür.
»Siehst du die Karre da draußen? Wenn ich du wäre, dann würde ich denen mal zeigen, was ein richtiger Kerl ist. Denen würde ich mal in ihre schicke grün-weiße Kiste treten, aber mit Schmackes. Dann wissen die endlich mal, dass man mit dir noch lange nicht alles machen kann. Doch nicht mit Giltjes!«
»Genau!«
Giltjes stürmte pielgeradeaus, trat mit dem rechten Fuß gegen das Auto und fiel auf den Hintern. »So!« Und dann heulte er wieder.
Schuster und Schumacher konnten es nicht fassen. In der Beifahrertür des Streifenwagens prangte eine tiefe Beule. Schumacher unterdrückte ein Prusten und Schuster fiel in seinen Amtston: »Herr Giltjes, ich muss Sie mitnehmen zur Feststellung der Identität ...« Jetzt kicherte Schumacher los. »... und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.«
Flintrop nahm sie in Empfang und ließ Giltjes in die geflieste Zelle bringen.
Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen, als die beiden Schupos ihm die Geschichte erzählten. »Wartet mal, den kriegen wir«, lachte er, suchte die Telefonnummer heraus und wählte.
Es dauerte ziemlich lange, bis Vinck sich meldete.
»Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist? Du kannst doch nicht ganz gescheit sein!«
»Es tut mir wirklich Leid, Ernst«, meinte Flintrop gewichtig, »aber es liegt eine Anzeige gegen dich vor.«
»Was? So ein Blödsinn. Das kann gar nicht sein.«
»Doch, doch. Ich hab’s hier schwarz auf weiß: Anstiftung zu einer Straftat.«
»Hast du ein Ei am wandern, oder was?« Vinck war endlich aufgewacht. Er hörte mehrstimmiges Gegröle am anderen Ende der Leitung.
»Wir wollen mal nicht so sein, Ernst«, sagte Flintrop gemessen. »In diesem Fall könnte ich wohl ausnahmsweise Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber das kostet dich mindestens eine Runde.« Dann legte er auf und hielt sich vor Lachen den Bauch.
Sie amüsierten sich immer noch, als das Telefon schon wieder schellte.
Es war ein Zeitungsbote, der aus Reichswalde anrief. Er wollte drei nackte Männer gesehen haben, die in der Nähe des Wildgeheges an Bäume gefesselt waren.
»Eigentlich sagte der, drei nackte Ausländer«, berichtete Flintrop.
Schuster verschluckte sich vor Lachen und hickste. »Was für eine Nacht!«
Schumacher hatte urplötzlich seinen Humor verloren. »Da verarscht uns doch jemand.« Grimmig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Los, komm schon, bringen wir es schnell hinter uns. Ich bin nach dem Dienst zum Frühstück eingeladen.«
»Hört, hört«, gluckste Schuster. »Jemand lädt dich morgens um sechs zum Frühstück ein. Das kann sich eigentlich nur um Liebe handeln. Was gibt’s denn Feines? Gekochte Landeier?«
Die ganze Fahrt über versuchte er, Schumacher aus der Reserve zu locken, aber der schwieg beharrlich.
»Ein feiner Freund bist du«, beschwerte Schuster sich schließlich vorwurfsvoll.
»Ach ja? Und du?« Schumacher platzte die Hutschnur. »Du willst dich doch bloß über mich lustig machen. Das würde ich nicht gerade einen Freund nennen. Hör endlich damit auf und sag mir lieber, wo ich abbiegen muss.«
Es wurde langsam hell und sie konnten schon von weitem den Zeitungsboten mit seinem Mofa am Sportplatz stehen sehen. Es war ein alter Mann, sicher über siebzig, der wohl mit dem Zeitungsaustragen seine Rente aufbesserte. Er nickte einen knappen Gruß und wies mit dem Finger zum Wald auf der anderen Straßenseite.
Die drei Männer waren leicht auszumachen; ihre weißen Körper hoben sich deutlich von den nassen, schwarzen Baumstämmen ab, an denen sie standen.
Die beiden Polizisten überquerten die Straße und gingen langsam hinüber zu den großen Buchen, die ein paar Meter vom Waldrand entfernt standen.
Als sie näher kamen, sahen sie, dass es sich nicht um Männer handelte, sondern um Jugendliche, höchstens achtzehn Jahre alt. Ihre Beine waren mit Stricken an die Baumstämme gebunden, die Handgelenke über dem Kopf gefesselt und ebenfalls am Baum fixiert. Neben ihren Füßen lagen Kleiderbündel. Ihre Körper glänzten vor Nässe, zweien klebten die Haare am Schädel, der Dritte war kahlrasiert. Dass ihnen kalt war, konnte man nicht übersehen.
»Прикатили! Менты поганые!!!«, schmetterte ihnen der am rechten Baum entgegen.
»Ja, mir auch drei«, knurrte Schuster.
»Du, ich glaube, das war Russisch!« Schumacher flüsterte.
»Was du nicht sagst! Hast du ein Messer bei dir?«
Schumacher zog sein Schweizer Offiziersmesser aus der Hosentasche.
»Guten Morgen, die Herren. Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Лучше заткнись. Мы все равно не понимаем по немецки«, bellte der mittlere.
»Ты думаешь я тупой«, schnauzte der rechte zurück.
Der Kahlköpfige am linken Baum guckte auf seine Füße und mahlte mit den Zähnen.
Schumacher schnitt einen Jungen nach dem anderen ab und sammelte die Stricke ein. Möglicherweise brauchte man die als Beweismaterial.
Die drei begannen hastig, sich anzuziehen, was bei den nassen Körpern und den durchweichten Kleidern gar nicht so einfach war. Ihre Springerstiefel ließen sie stehen. Man konnte riechen, warum. Jemand hatte hineingepinkelt.
Schuster wartete, bis sie ihre Hosen zugeknöpft hatten. »So, und jetzt erzählen Sie mal«, meinte er dann.
»Wir nix sprechen Deutsch!« Der rechte schien der Boss zu sein.
»Das ist nicht so schlimm.« Schumacher lächelte aufmunternd. »Wir nehmen Sie mit zur Wache und dort bekommen Sie einen Dolmetscher. Das ist kein Problem.«
»Теперь ты можешь говорить! Мы не хотим и не будем никаких заявлений писать. Мы хотим уехать«, zischte der mittlere dem Kahlkopf zu.
Der sah die Polizisten endlich an. »Wir nix machen Anzeige. War Scherz von Freunde.«
»Ist das Ihr Ernst? Schöne Freunde müssen das sein! Wie lange haben Sie hier schon gestanden?«
»Nix verstehen.«
»Ach, auf einmal? Interessant!«
»Nix verstehen.«
»Freundchen!« Schuster trat dicht an den Jungen heran. »Hör auf, uns zu verarschen, verstanden!«
»Nix verstehen.«
»Jetzt reicht’s mir aber!«, rief Schuster. »Los, haut schon ab. Macht, dass ihr Land gewinnt, aber dalli! Und nehmt eure bepissten Schuhe mit.«
Diese Sprache verstanden sie. In null Komma nichts hatten sie ihre Jacken und ihre Stiefel zusammengerafft und waren losgerannt. Die beiden Polizisten standen da und schauten ihnen nach.
»Hier ist was los!«, meinte Schuster kopfschüttelnd. »Von wegen beschauliche Provinz. Drei nackte Russen am Marterpfahl! Gibt es denn nur Bekloppte hier? Ich will nicht mehr, ehrlich, ich habe die Schnauze voll. Ich lasse mich wieder in eine Großstadt versetzen. Da sind die Leute wenigstens normal.« Und es hörte sich fast so an, als meinte er es ernst.
Der Zeitungsmann hatte auf sie gewartet und grinste ihnen entgegen. »Was waren das denn für welche?«
»Drei Russen, die mit ihren Freunden Cowboy und Indianer gespielt haben«, Schumacher grinste zurück. »Jedenfalls wollten sie uns das weismachen.« Er entdeckte das Festzelt auf dem großen Platz. »Habt ihr gerade Schützenfest hier?«
»Nein, gestern war mal wieder so ein Scheunenfest für die Jugend. Furchtbar, sage ich Ihnen! Die halbe Nacht kriegt kein Mensch hier im Dorf ein Auge zu.«
»Ach so«, meinte Schuster. »Dann war’s vielleicht wirklich ein Scherz, den so ein paar Kids diese Nacht in ihrem dullen Kopp ausgeheckt haben. Wie auch immer, vielen Dank für Ihren Anruf. Adieu!«
Als sie ins Auto einsteigen wollten, reckte Schumacher plötzlich die Nase in die Luft und schnupperte. »Mm, hier riecht es richtig nach Sommer.«
Schuster starrte ihn an. »Bist du krank?«
»Wieso? Riechst du das denn nicht? Ist doch herrlich. So was hab ich in Düsseldorf nie erlebt.«
»Wie heißt sie?«
»Ilona«, antwortete Schumacher und zögerte. »Also gut! Ilona Gembler heißt sie und sie ist Diplomlandwirtin. Sie hat ihren eigenen Hof in Keppeln.«
»Ein Bauerntrampel, ich werd verrückt!«
»Ich schmier dir gleich eine, du Lackaffe!«
6
Um Punkt acht Uhr ließ Hauptmeister Look Vater Giltjes aus der Zelle holen und setzte sich mit ihm hin. »Na, Giltjes, wie gefällt Ihnen unser neuer PG? Ist doch ein Fortschritt gegenüber dem alten Gemäuer. Da war es Ihnen doch immer zu kalt.«
»Ach, ist doch egal«, meinte Giltjes nur.
Er sah schlecht aus mit den dunklen Bartstoppeln im fahlen Gesicht, seine Hände zitterten und er roch auch nicht besonders gut.
»Wie dem auch sei, es liegt eine Anzeige gegen Sie vor wegen Sachbeschädigung. Könnte teuer werden.«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Gute Antwort. Man sieht, Sie haben Erfahrung.«
»Ich kann mich wirklich an nichts erinnern.«
Look grinste. »Ich lese es Ihnen gerne vor. Macht mir nichts aus.«
»Ach«, meinte Giltjes nur wieder, als Look geendet hatte. So kleinmütig kannte man ihn gar nicht.
»Ist das alles, was Sie dazu sagen?«
Giltjes sah ihn aus trüben Augen an. »Mein Kleiner ist weg.«
»Was denn für ein Kleiner?«
»Na, mein Junge, der Björn.«
Look konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Kleiner ist gut! Der ist doch jetzt schon eine größere Nummer, als Sie es je sein werden.«
»Er ist aber weg und ich will eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
Look rang um Geduld. »Nun mal langsam. Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«
»Ich glaube, Freitag.«
»Was heißt das, Sie glauben?«
»Ich war letzte Woche nicht so gut drauf ...«
»Ist schon klar, Montag hat’s ja auch Stütze gegeben.«
»Es war Freitag! Freitag, als er aus der Schule gekommen ist. Nehmen Sie jetzt die Anzeige auf?«
»Giltjes, wann waren Sie das letzte Mal zu Hause?«
»Was haben wir denn heute? Montag?«
»Richtig geraten!«
»Dann war ich gestern Morgen zu Hause und da war Björn nicht mehr da. Der ist weg, glauben Sie mir. Dem ist was passiert.«
»Dem? Nie!«
»Verflucht noch mal!« Giltjes sprang auf. »Ihr sollt ihn suchen, hab ich gesagt. Also, nimm endlich die Scheißanzeige auf.«
»Ist ja in Ordnung, regen Sie sich ab.« Look schob seinen Stuhl zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter, damit er sich wieder setzte. »Ich möchte ja nur, dass Sie vorher noch einmal zu Hause nachgucken. Und hören Sie sich in der Schule um. Dort könnte er schließlich auch sein. Und an Ihrer Stelle würde ich Kaufmann fragen. Die beiden glucken doch immer zusammen. Und zum Schluss rufen Sie noch Ihre Exfrau an. Vielleicht hatte der Kleine ja Sehnsucht nach seiner Mama. Wenn Sie das alles erledigt haben, rufen Sie mich an. Dann leite ich die Anzeige weiter. Und ein kleiner Tipp am Rande: Gehen Sie erst mal duschen, bevor Sie jemandem unter die Nase kommen.«
Van Appeldorn hatte ein scheußliches Wochenende hinter sich, nicht zu vergleichen mit dem letzten. Dabei war der Anfang gar nicht so schlecht gewesen. Er hatte es am Freitag doch endlich noch geschafft, im Dessousladen einzukaufen, und Marion hatte viel versprechend reagiert. Aber dann wollte sie ihn vorher unbedingt zu einem Pflichtbesuch bei seiner Schwiegermutter überreden und danach war ihm nun wirklich nicht zumute gewesen. Von da an hatte Marion mal wieder unter »schrecklichen Kopfschmerzen« gelitten. Anna war die übliche Pest gewesen. Sie hatte sich wie immer nicht an die Abmachungen gehalten, die sie erst vor vierzehn Tagen zum hundertfünfundzwanzigsten Mal durchgekaut hatten. Sie hatte weder ihr Zimmer aufgeräumt noch den Müll rausgebracht. Aber mit dem dann ausgesprochenen Hausarrest hatte sich van Appeldorn eigentlich nur ins eigene Fleisch geschnitten. Am Sonntagabend war er durch das unablässige Techno-Gerumse aus ihrem Zimmer und von Marions Genörgel, er sei sowieso immer viel zu streng mit den Mädchen, so mürbe gekocht, dass er Anna schließlich doch noch zu diesem Scheunenfest hatte gehen lassen und dann noch nicht einmal kontrolliert hatte, ob sie pünktlich nach Hause gekommen war.
Er kam gleichzeitig mit Ackermann am Präsidium an und dessen fröhliches Geschnatter ging ihm dermaßen gegen den Strich, dass er ihm erst einmal deftig übers Maul fuhr. Ackermann blieb stehen und sah ihn an, ging dann aber schweigend weiter. Erst als sie im Flur waren, meinte er plötzlich ungewohnt ernst: »Vielleicht is’ et besser, wenn wir uns eine Weile aus ’em Weg gehen un’ ich in meine Abteilung abtauch’. Is’ doch sowieso nix zu tun. Bloß die dämliche Anzeige, die Weller leider nich’ zurückgezogen hat, oder seh ich dat falsch?«
Look hatte sie kommen sehen und wedelte mit einem Stück Papier. »Beklagt sich hier jemand über zu wenig Arbeit? Da kann ich Abhilfe schaffen. Hier, eine Vermisstenanzeige. Ist was für euch.«
Er erzählte von Giltjes und alles, was er über Björn und Andreas Kaufmann wusste, und das war nicht wenig.
Ackermann schüttelte bekümmert den Kopf. »Hört sich an wie ’n schlechter Krimi aus ’em Fernsehen. Aber okay, ich kann dat wohl machen.«
»Lass stecken, Ackermann.« Van Appeldorn nahm ihm die Anzeige aus der Hand. »Du kümmerst dich um Weller und die Kinder. Kannst du sowieso viel besser als ich.«
»Danke, Norbert. Hoffentlich hab ich meinen Rotstift dabei.«
Van Appeldorn stutzte.
»Na«, erklärte Ackermann. »Komplimente für mich aus deinem Mund, dat muss ich doch wohl im Kalender anstreichen, oder?«
Damit ließ er van Appeldorn stehen, ging hinauf ins Büro und machte sich eine Liste der Leute, mit denen er heute noch reden wollte. Als Erstes konnte er sich ja noch mal das Gebüsch angucken, in dem sie Gregor aufgemischt hatten, aber da war letztens schon nichts zu entdecken gewesen. Auf jeden Fall musste er bei den umliegenden Häusern klingeln und fragen, ob die Leute was beobachtet hatten. Und dann würde er mit den Eltern von diesen armen Würmern sprechen, die Gregor unter Druck gesetzt hatte, und mit deren älteren Geschwistern. Also, erst mal zu Frau Rouenhoff, Namen und Adressen besorgen.
Van Appeldorn war zuerst zu Giltjes gefahren, der auf dem Mittelweg wohnte. Das Mietshaus war wesentlich besser in Schuss, als er erwartet hatte, aber die Wohnung war ein Saustall. Man konnte nur ahnen, dass sie irgendwann einmal aufgeräumt und ordentlich und wahrscheinlich sogar gemütlich gewesen war.
Der alte Giltjes erzählte nichts Neues. Er war völlig von der Rolle, aber wenigstens war er nüchtern. Die Sache musste ihn wirklich mitnehmen. »Ich weiß nichts von Björns Freunden. Björn bringt nie welche mit.«
Van Appeldorn trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum. »Wissen Sie wenigstens, wie Björns Klassenlehrer heißt?« In der Schule würde er sicher mehr über den Jungen herausfinden als hier.
»Ja sicher! Mensch, wie hieß der doch noch mal?« Es dauerte Ewigkeiten, aber dann fiel es Giltjes doch noch ein. »Jansen!«
Der Lehrer wusste ungewöhnlich gut über seine Schüler Bescheid. »Björn ist immer ein eher schüchternes Kind gewesen, fast schon ängstlich. Er war nie auffällig, immer ein leiser, aber sehr wacher Schüler, an allem interessiert. Den Knacks hat er gekriegt, als seine Mutter die Familie verlassen hat. Das muss vor einem Jahr gewesen sein. Zu dem Zeitpunkt hat er sich Andy Kaufmann angeschlossen, was ihm sicher nicht gut getan hat. Andy ist Björns einziger Freund und er hat auch keine andere Wahl, denn Andy bewacht ihn eifersüchtig wie einen Besitz. Beide Jungen waren heute nicht in der Schule. Das kommt allerdings ziemlich häufig vor.«
»Dann werde ich wohl am besten zu Kaufmanns fahren. Vielleicht sind sie ja bei denen.«
Jansens Mienenspiel war schwer zu deuten. »Kaufmanns sind die einzige Familie, bei der ich bisher nur einen Hausbesuch gemacht habe. Küppersstraße ...«
Er nannte ihm die Hausnummer.
Als van Appeldorn gerade in die Seitenstraße abbiegen wollte, entdeckte er zwei Jungen in Fußballtrikots von Siegfried Materborn, die sich am Kiosk herumdrückten – die Eilers-Zwillinge. Er bremste und hielt am Straßenrand.
Die beiden wurden sofort aufmerksam, guckten zuerst misstrauisch, aber dann erkannten sie ihn und kamen angerannt. »Norbert! Was machst du denn hier?«
»Das wollte ich euch gerade fragen. Warum seid ihr nicht in der Schule?«
»Heute ist keine – Lehrerausflug.«
»Wer’s glaubt, wird selig. Dass ihr mir morgen pünktlich am Platz seid!«
»Sind wir doch immer, Trainer. Fährst du zu uns?«
»Nein, ich will zu euren Nachbarn.«
Im Rückspiegel sah er, dass sie ihm nachliefen und musste grinsen – neugierige Bande!
Aber sein Lächeln schwand, als er in die Küppersstraße einbog. Kahle, graubeige Mietskasernen mit zertrampelten Rasenflächen und bröckeligen Betonplatten davor. Hier und da der rührende Versuch, ein Zuhause zu schaffen, geputzte Fenster mit Wolkengardinen und Fensterbildern, Blumenkästen. Da wohnten Leute, die es nur übergangsweise hierher verschlagen hatte. Leute wie Familie Eilers. Er hatte die Zwillinge ein paar Mal nach dem Training nach Hause gebracht, wenn es regnete. Die beiden hatten kein Fahrrad.
Das Haus, in dem Kaufmanns in der Erdgeschosswohnung lebten, gehörte zu der trostlosen Sorte. Die Drahtglasscheibe in der Haustür war gesprungen und völlig verdreckt, am Schloss war mehr als einmal herumgehebelt worden.
Er stieß die Tür mit dem Ellbogen auf. Die Wände im Hausflur waren bekritzelt und beschmiert, der graue Linoleumboden so schmutzig, dass man kleben blieb. Es stank nach Rauch, Fäkalien, angebrannten Kartoffeln und süßem Parfüm.
Die Klingel funktionierte nicht. Also bollerte er gegen die verschrammte Wohnungstür. Es dauerte, aber er hörte, dass sich drinnen etwas bewegte. Dann öffnete ihm eine Frau in einem angeschmuddelten blauen Morgenmantel, der über den nackten Brüsten weit auseinander klaffte.
»Frau Kaufmann?«, fragte er. Konnte sie das sein? Björns Lehrer hatte gesagt, die Mutter sei noch jung, gerade mal dreißig.
»Ja«, antwortete sie lauernd. Mit den fettigen, langen Haaren, den verquollenen Augen und der teigigen Haut sah sie gut fünfzehn Jahre älter aus. Der knallrot angemalte Mund machte den verkommenen Eindruck perfekt.
»Van Appeldorn, Kripo Kleve. Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Sie zuckte nur kurz die Achseln und raffte den Morgenrock über dem Busen zusammen.
Auf der Tapete im winzigen Flur prangten auf olivgrünem Grund goldene Ranken und dicke Blumenbuketts. Ein aufgeklebtes Puzzle hing an der Wand, eine Alpenlandschaft mit einer weißen Zwiebelturmkirche. Daneben auf braunem Holz ein Sinnspruch: Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.
Frau Kaufmann trat zur Seite und schloss schnell die Tür zum Schlafzimmer, aber van Appeldorn hatte schon einen Blick hineingeworfen. Zwei zusammengeschobene Jugendbetten vom Sperrmüll, zwischen geblümten Frotteelaken lag ein nackter Mann und schnarchte mit offenem Mund.
Die Frau schien zu zögern, aber dann stieß sie doch die zweite Tür auf. »Kommen Sie rein, Herr Kommissar.«
Van Appeldorn blieb angewidert stehen. Das Wohnzimmer hatte dieselbe Tapete, nur in Braun. Die wackelige, abgeschabte Couchgarnitur war von Flecken übersät, sodass man ihre ursprüngliche Farbe nur ahnen konnte, Stapel von Papier und anderem Müll bedeckten den Kunststoffboden, auf dem schmierigen Tisch stand eine Batterie von leeren und halb vollen Schnapsflaschen, dazwischen Untertassen, die von Kippen und Asche überquollen. Eine Bierflasche war umgekippt, in der stinkenden Lache schwammen zerknüllte Zigarettenpäckchen.
Auf dem Sofa schlief ein weiterer Mann. Er trug einen dicken, alten Wintermantel und zwischen den braunfleckigen Fingern seiner rechten Hand steckte eine erloschene selbst gedrehte Zigarette. Der Mann zwinkerte und sprang hoch, als hätte ihn was gestochen. »Ich hab nichts geklaut, Herr Kommissar«, schrie er, packte sich die Aldi-Tüte, die ihm als Kopfkissen gedient hatte, schubste van Appeldorn zur Seite und rannte hinaus.
»War das Ihr Mann?«, wollte van Appeldorn wissen.
»Nee.« Frau Kaufmann lächelte und enthüllte pelzige Zähne. »Ich hab keinen Mann. Brauch ich nicht. Wollen Sie ’n Kaffee?« Dabei nahm sie die Hand vom Morgenrock und ließ den Ausschnitt wieder klaffen.
Van Appeldorn lachte hart. »Ganz bestimmt nicht! Machen Sie lieber das Fenster auf. Hier stinkt es schlimmer als im Puff.«
Sie gehorchte, aber sie ließ sich Zeit.
Im Nebenzimmer röhrte ein Fernseher. »Noch ein Lover?« Van Appeldorn wies mit dem Kinn zur Tür.
Sie kicherte neckisch. »Nee, bloß meine Kinder.«
»Ist Andreas zu Hause?«
»Andy? Weiß nicht. Glaub nicht.«
»Darf ich mal nachschauen?«
»Von mir aus.«
Einen Augenblick war er unvorsichtig und fasste die verkleisterte Türklinke mit der bloßen Hand an.
Das Zimmer war klein, die beiden Gitterbettchen und die zwei alten Klappsofas passten gerade so hinein. Der Fußboden war mit einer gleichmäßigen Schicht Plastikspielzeug und Kirmes-Plüschtieren bedeckt, dazwischen festgetretene Schokokussreste und andere Dinge, die van Appeldorn gar nicht identifizieren wollte.
Der Fernsehapparat stand in einer Ecke auf dem Boden. Davor saßen zwei Kleinkinder, stopften mit beiden Händen Süßigkeiten in sich hinein und starrten auf die Mattscheibe. Sie trugen alte rote Strumpfhosen und eingelaufene Hemdchen von undefinierbarer Farbe. Gewaschen worden waren sie schon länger nicht mehr, in den flusigen Haaren klebte angetrockneter Rotz. Es stank nach vollen Windeln.
»Andy ist nicht da«, stellte die Mutter fest. »Also, was ist denn jetzt? Was wollen Sie?«
»Wie viele Kinder haben Sie eigentlich?«
»Vier, warum? Sieht man mir nicht an, was?«
»Und wo steckt das vierte?«
»Jacqueline? Woher soll ich das wissen? Könnte sein, bei ihrem Vater. Der markiert ja neuerdings den feinen Herrn, setzt dem Balg Flausen in den Kopf. Von wegen, sie wäre was Besseres, Abitur und solchen Mist. Aber zum Fressen und Schlafen schickt er sie dann wieder zu mir, das Arschloch.«
Van Appeldorn schloss die Kinderzimmertür, fand ein Papiertaschentuch in seiner Hosentasche und wischte sich die Hände ab. »Setzen Sie sich!« Dann hob er eine Zeitung vom Boden auf, breitete sie auf dem Sessel aus und ließ sich vorsichtig auf der Kante nieder.
Frau Kaufmann konnte oder wollte ihm weder sagen, wo ihr Sohn steckte, noch wann sie ihn zuletzt gesehen hatte. Das konnte gestern oder vorgestern gewesen sein oder auch letzte Woche Mittwoch.
»Andy kann tun und lassen, was er will. Schließlich ist er alt genug«, hatte sie desinteressiert gemeint. Von Björn Giltjes hatte sie angeblich noch nie was gehört. »Der Andy bringt keine Freunde mit nach Hause. Das hab ich auch nicht so gerne.« Van Appeldorn glaubte ihr aufs Wort. »Aber sonst«, fügte sie wichtig hinzu, »wir sind Freunde, der Andy und ich. Nicht so wie Mutter und Sohn, wenn Sie verstehen, was ich meine. Von Strafen und so halte ich nicht viel. Ich sage immer, mit Liebe kommt man viel weiter.«
Van Appeldorn war nicht besonders zart besaitet, aber an dieser Stelle hätte er kotzen können.
Ackermanns Tag war auch nicht gerade erfolgreich verlaufen. Frau Rouenhoff hatte tatsächlich, wie er es sich schon gedacht hatte, mit den Eltern aller betroffenen Kinder gesprochen, nur leider gar nicht in seinem Sinn. Sie hatte die Leute gebeten, von einer Anzeige gegen Gregor Weller abzusehen, weil sie wollte, dass der Junge noch eine Chance bekam. »Außerdem bin ich sicher, dass die Strafe, die ihm sein Vater angedeihen lässt, schon schlimm genug ausfällt«, hatte die Lehrerin gemeint.
Die meisten Eltern begegneten Ackermann mit Ablehnung. Er gab sich redlich Mühe, nicht zu zeigen, was er von ihnen hielt, aber vermutlich spürten sie es trotzdem. Einige der Kinder hatten ältere Geschwister, aber auch die verhielten sich abweisend.
Am Tatort hatte er natürlich nichts Neues gefunden und die Anwohner waren zur Tatzeit entweder nicht zu Hause gewesen oder hatten sich um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert. »Wenn Sie neben einer Schule wohnten«, hatte ihm eine Frau erklärt, »dann würden Sie auch nicht wegen jedem Blagengeschrei zum Fenster rennen.«
Gegen halb fünf hatte Ackermann die Nase gestrichen voll und wollte nur noch nach Hause. Er hatte nicht einmal mehr Lust, zum Präsidium zu fahren. Kurzerhand verschob er den Bericht auf morgen, fuhr zum Blumenladen an der Minoritenstraße und kaufte einen Strauß Freilandrosen. Da würde sich die Mutti drüber freuen. Die hatte ihm für heute Abend nicht nur holländischen Kartoffelsalat versprochen, sondern auch Pfannkuchen mit Ingwer gefüllt. Und das war ein Grund zum Feiern.
Später ging es ihm dann auch wieder gut. Er hatte lecker gegessen und die Mutti hatte sich richtig über die Rosen gefreut. Wer wollte da noch moppern?
Er trocknete das Besteck ab und legte es in die Schublade. Es war ein bisschen ungünstig ausgekommen mit der Essenszeit, weil er früher dran gewesen war als sonst und Mutti mit den beiden Kleinen doch Marienhof gucken musste. Machte ja auch nichts, hatte er eben gespült.
Nadine fand Marienhof »ätzend« und »für Minderbemittelte«. Sie saß bei ihm in der Wohnküche am Tisch und paukte Matheformeln.
Er trocknete sich die Hände ab, hängte das Küchenhandtuch auf und setzte sich zu ihr.
»Soll ich dich abhören?«
»Bloß nicht! Nach fünf Minuten fängst du nur wieder damit an, dass euer Matheunterricht damals viel besser war. Dreh mir mal lieber eine.«
»Wie? Ich denk, du rauchs’ nur Aktive.«
Sie strich sich den Pony aus der Stirn und guckte süß. »Zigaretten sind im Moment nicht drin. Ich bin total pleite.«
»Pleite, so so. Wir haben doch erst den Siebten.«
»Na ja, ich habe mir zwei CDs kaufen müssen ...«
Ackermann lachte. »Dat is’ nu’ Pech. Un’ hör auf, mit den Wimpern zu klimpern. Da fall’ ich überhaupt nich’ drauf rein. Ich hab schließlich vier Frauen. Dat stählt, sach ich dir.«
»Weiß ich doch. Trotzdem, nur zwanzig Mark, ja? Du kriegst es auch zurück.«
»Ha, ha, wenn ich dat all zurückgekricht hätt, wat ihr mir schon versprochen habt, wär ich Millionär. Aber ma’ kucken. Wat anderes: Wieso soll ich dir eine drehen? Dat kannste doch selber. Hier!« Er schob ihr sein Tabakpäckchen mit den Blättchen rüber.
»Klar kann ich das, aber du kannst es besser.«
»Komm, dann zeig ich et dir noch ma’, pass auf ...«
»Papa, du nervst! Deinen einhändigen Dreh kriege ich sowieso nicht hin. Also gib’s endlich auf.«
Er seufzte, nahm ein Blättchen, fusselte sich eine Portion Tabak zusammen und rollte. »Eins hab ich mir in mein’ Leben immer gewünscht«, meinte er theatralisch.
»Ja, ich weiß, einen Sohn, der deine Traditionen fortsetzt.«
Dann lachten sie beide.
»Weißte, wat heute Thema eins inne Firma war?«
Er erzählte ihr die Geschichte von den drei nackten Russen.
»Du wars’ doch auch da gestern. Has’ du wat davon mitgekricht?«
Nadine konnte sich gar nicht beruhigen. »Ich lach mich kaputt. Wie ich denen das gönne! Ich muss gleich die anderen anrufen und das erzählen. Davon haben wir nichts mitgekriegt. Gestern war es echt cool, endlich mal friedlich. Normalerweise hast du immer irgendwelche Prügeleien auf den Feten. Oft genug hecken diese Typen das schon Tage vorher aus, wann und mit wem die Zoff anfangen wollen. Nur wir wissen das nie.«
»Wer is’ denn wir?«
»Meine Freunde und ich. Die von der Penne eben. Der Stunk läuft meist zwischen denen von der Hauptschule ab.«
»Is’ dat echt so getrennt?«
»Klar! Die wollen mit uns nichts zu tun haben. Für die sind wir die Gymies. Und ich bin auch nicht gerade scharf auf diese Asis. In letzter Zeit hat’s echt keinen Spaß mehr gemacht. Mit den Kurden war es schon brutal genug, weil die immer Messer bei sich haben. Aber seit die Russen hier sind! Die sind total gefährlich. Die kennen überhaupt nichts. Die treten auch noch zu, wenn jemand längst am Boden liegt. Und zwar richtig, ins Gesicht und in den Bauch. Das sind keine Menschen, das sind Tiere!«
»Nadine!« Ackermann wusste gar nicht, was er sagen sollte.
»Ja, ja, ja«, meinte seine Tochter. »Das ist alles schön und gut, von wegen, wir diskriminieren keine Ausländer. Du hast die ja auch noch nie erlebt. Sogar die Kurden kriegen Schiss, wenn Russen auftauchen. Du hast doch keinen Schimmer, was heute abgeht. Das ist nicht mehr so wie bei dir damals: geile Partys mit Knutschen und Kiffen und wir sind alle eine große Familie, nur weil wir alle Jugendliche sind. Die große Familie gibt’s nicht mehr. Jeder fuckt jeden ab und über Haschisch können die meisten nur lachen. Ist denen viel zu soft. Wenn du mit einem von der Hauptschule sprichst, dann versteht er dich entweder nicht oder aber er wird unheimlich aggressiv, weil du anders redest als er und er sich dadurch verarscht fühlt.«
Sie schilderte ein paar Szenen, die sich am Rande der letzten Scheunenfeten abgespielt hatten und die Ackermann sich bisher eigentlich eher in der New Yorker Bronx vorgestellt hatte. »Aber wie gesagt, das meiste kenne ich nur vom Hörensagen. Wenn irgendwo was abgeht, verziehe ich mich immer.«
»Wenn de ma’ gescheit bis’, Kind.« Ackermann daute immer noch an den Geschichten herum. »Aber gestern war et wenigstens friedlich, has’ du gesacht?«
»Na ja, klar tauchten wieder ein paar Russen auf und fingen an, Randale zu machen, rempelten jeden an ...«
»Hatte einer von denen ’ne Glatze?«
»Kann sein, weiß ich nicht. Jedenfalls hatten die bestimmte Leute im Visier. Da gibt es so einen Trupp von der Hauptschule, der Obermacker heißt Kevin. Ein ganz widerlicher Typ. Aber als es gerade so richtig losging, waren auf einmal Security-Leute da und haben sofort für Ruhe gesorgt.«
»Was für Leute? Meinst du Saalordner?«
»Oder so. Es ist jedenfalls gut, dass sich endlich mal jemand drum kümmert. Hoffentlich bleibt das so. Dann kann man vielleicht mal wieder in Ruhe auf Feten gehen und seinen Spaß haben.«
»Sach ma’, wer is’ ei’ntlich der Veranstalter von diesen Partys?«
»Keine Ahnung.«
7
Björn Giltjes wimmerte leise vor sich hin. Er zupfte und zerrte, aber der Strumpf ließ sich nicht ausziehen; er war fest verklebt mit den aufgebrochenen Blasen an der Ferse und an den Zehen. Schließlich kniff der Junge die Augen zusammen, holte tief Luft und zog mit einem festen Ruck. Dabei entfuhr ihm ein kurzer Aufschrei. Erschrocken schlug er die Hand vor den Mund und blinzelte durch die Ritzen zwischen den Dielenbrettern. Nein, sein Onkel hatte ihn nicht gehört, die Melkmaschine machte Lärm genug.
Mit zusammengebissenen Zähnen tastete Björn an den Blasen herum. Die Krusten hatte er abgerissen, Blut tropfte auf den Strohballen, auf dem er saß. Kein Wunder, dass seine Füße aussahen wie Hackfleisch – er war den ganzen Weg von Kleve nach Emmerich gelaufen. Wie weit das wohl war? Fünfzig Kilometer bestimmt. Stundenlang hatte er über die Felder stapfen müssen, weit genug weg von der Straße, damit sie ihn nicht entdeckten. Mindestens hundertmal war er in den Dreck gefallen, weil er nicht sehen konnte, wo er hintrat. Seine Klamotten sahen übel aus, aber Lutz hatte gesagt, er könnte ihm nichts anderes zum Anziehen bringen, seine Mutter würde sofort merken, wenn etwas fehlte. Wenigstens eine Decke hatte er ihm besorgt. Hier auf dem Heuboden über der Tenne und dem Kuhstall war es einigermaßen warm, schon durch das Vieh, aber er hatte trotzdem den ganzen ersten Tag gefroren wie verrückt. Das war wohl normal, wenn man die halbe Nacht draußen durch den Regen gerannt war. Und dann hatte er noch Ewigkeiten in den nassen Kleidern hinter der Hecke gelegen, bis sein Vetter sich endlich mal draußen hatte blicken lassen.
Hoffentlich war Onkel Bernd bald fertig mit dem Melken, lange konnte er nicht mehr aufhalten. Lutz hatte versprochen, vor der Schule hochzukommen und ihm einen Pinkeleimer zu bringen; die alte Raviolibüchse lief schon über. Für das andere musste er sich nachts in den Stall runterschleichen und sich in die Rinne hocken und hinterher alles mit Kuhscheiße verquirlen, damit keiner was sah, hatte Lutz gesagt.
Sein Magen knurrte. Ob sein Vetter wohl heute was anderes rausschmuggeln konnte als trockenes Brot und eine Scheibe Käse?
Björn nahm einen Schluck Wasser aus der alten Milchkanne und zog die Decke um die Schultern. Hier war er sicher. Kein Mensch wusste, dass er einen Onkel in Emmerich hatte. Oder hatte er irgendwem davon erzählt? Höchstens Andy ... Andy! Der hatte es doch tatsächlich auch noch geschafft abzuhauen. Lutz hatte ihm die Zeitung gezeigt, wo die Fotos von ihm und Andy drin waren und wo stand, dass sie vermisst würden. Aber klar, Andy war schnell und verdammt stark. Wo der sich wohl versteckte?
Nein, hier würden sie ihn nicht finden, bestimmt nicht.
Heute fand das Scheunenfest in der Bedburg-Hauer Reithalle statt. Nadine hatte überhaupt nichts dagegen, ihren Vater mitzunehmen, schließlich kam sie so an eine kostenlose Fahrgelegenheit.
»So lange ich nicht deinen Babysitter spielen muss ...«
Auf der Schmelenheide staute sich der Verkehr. Obwohl es schon nach Mitternacht war, kamen immer noch ganze Horden von Jugendlichen an. Manche hatten sich zu sechst oder siebt in einen Kleinwagen gequetscht, viele waren mit Fahrrädern oder Mofas da, aber die meisten wurden offensichtlich von Mutti oder Vati gebracht.
Komisch, dachte Ackermann, zu meiner Zeit mussten wir um zwölf schon wieder zu Hause sein – spätestens.
»Wat meins’ du, Kind? Ich stell den Wagen besser hier anner Straße ab, wa? Der Parkplatz oben is’ bestimmt rappelvoll.«
Es goss mal wieder in Strömen und der Waldweg, der zur Reithalle hinaufführte, war aufgeweicht und rutschig. Die Mädchen mit den Brikettschuhen hatten ihre liebe Mühe, nicht auf die Nase zu fallen.
Ackermann kicherte. »Warum tun die sich so wat an? Dat sieht doch aus, als hätten die alle Klumpfüße.«
Nadine zuckte nur die Achseln und hakte sich bei ihm ein.
»Du könns mir übrigens ’n Gefallen tun, Süße. Sperr ma’ deine Lauscher auf, ob de wat rauskriegs’ über die nackten Russen.«
»Wie hoch ist denn die Belohnung?«
Am Eingang stand derselbe Rausschmeißer, den er auch schon in Mehr getroffen hatte, ein zweiter lungerte bei den Toiletten herum. Saalordner konnte Ackermann nirgendwo entdecken.
»Schwirr ab!« Er gab Nadine einen Klaps auf den Po. »Da vorne stehen Frauke un’ Susanne.« Aber seine Tochter hatte ihre Freundinnen längst selbst gesehen. Sie warf ihm einen Luftkuss zu und drängelte sich durch die Menge, die hier vorn am Eingang bei den Getränkeständen besonders dicht war.
Rauchschwaden hingen in der feuchten Luft, der tiefe Sandboden war aufgewühlt. Nur an der Stirnseite hatte man Paletten ausgelegt – die Tanzfläche. Das Licht war nicht gerade gemütlich zu nennen. Früher war das anders gewesen. Zumindest hatte man rote Glühbirnen in die Lampen geschraubt und die Wände ein bisschen dekoriert. Aber damals hatte es solche Massenfeten auch noch nicht gegeben, die irgendeiner veranstaltete, der bloß seinen Reibach machen wollte. Hier waren mindestens fünfhundert Leute. Da konnte doch keine Stimmung aufkommen. Jedenfalls keine gemeinsame.
Der Diskjockey legte eine Scheibe von so einem Schlagerfuzzi auf und im Nu füllte sich der Tanzboden. Ackermann musste grinsen. Genau wie zu seiner Zeit tanzten die jüngeren Mädchen mit ihren Freundinnen, weil die Jungs sich nicht trauten.
Er fand einen Platz an der Wand, rollte sich eine Zigarette und sah sich um. Vieles hatte sich nicht geändert: Die Mädchen gluckten mit den Mädchen zusammen, kicherten, flüsterten, umarmten sich; die Jungen standen ein Stück weiter, Bierglas in der Hand, klopften Sprüche und sich gegenseitig auf die Schultern. Natürlich gab es auch knutschende Pärchen. Bei Nadine und ihren Freundinnen standen ein paar Jungs herum, die alle diese komischen Buffhosen trugen, die so tief hingen, dass man die Unterhosen sehen konnte und manchmal auch ein Stück vom Popo. Auch eine Aussage! Ackermann hatte mal in einem Lexikon ein Foto von einem Südseeinsulaner gesehen, der Elefantiasis am Hodensack gehabt hatte – der Mann hätte sich über so eine Buxe bestimmt gefreut.
Er lachte meckernd, laut genug, dass sich die Jungen, die ein paar Meter entfernt standen, zu ihm umdrehten und Witze rissen. Einer zeigte auf den Piepser, den Ackermann am Hosenbund trug und flüsterte seinem Nebenmann etwas ins Ohr. Die Jungs hatten alle die gleiche Frisur, wie mindestens hundert andere in der Halle auch, musste schwer in Mode sein: ein paar glatte Haare mit Poposcheitel oben auf dem Schädel, festgekleistert mit Pomade, der ganze Rest war abrasiert. Sah irgendwie nazimäßig aus. Was die Farben der Kleidung anging, schien man heutzutage nicht viel Auswahl zu haben, alles schwarz, grau, dunkelblau, manchmal ein bisschen was Weißes. Und er hatte sich schick machen wollen und extra sein rotes Hawaii-Hemd angezogen, das die Mutti in Nijmegen gekauft hatte. Jetzt kam er sich vor wie ein Feuermelder.
Ach, guck mal an, da hinten war ja auch Norberts Kleine. Er winkte: »Hu hu, Anna!« Aber sie hatte ihn wohl nicht erkannt. Na bitte, der Norbert war also doch nicht so streng, wie er immer tat; ließ das Kind auch mal nachts ausgehen. Meine Fresse, die hatte die dicksten Bremsklötze unter den Schuhen, die er je gesehen hatte! Und das bei einem so zierlichen Persönchen. Wieder musste Ackermann lachen. Zu seiner Zeit hatte man schließlich auch nicht gemerkt, wie bescheuert man ausgesehen hatte in diesen Schlaghosen, die einem auf der Hüfte klebten und so spack saßen, dass sie einem alles abdrückten. Und selbst die fetteste Wampe hatte sich in so einem engen Rippenpulli präsentiert. Wenn man heute die Fotos sah ...
Damals wäre das hier ein olivgrünes Meer gewesen. Schließlich hatte jeder einen Bundeswehrparka gehabt und einen Strickschal, der mindestens 2,5 m lang sein musste. Man hatte sich gar nicht getraut, was anderes anzuziehen.
Hee, das war ja wohl eine affenscharfe Scheibe! Credence Clearwater, seine geliebten CCR, Mensch! Jetzt hielt ihn nichts mehr.
»Oh Gott«, rief Nadine. »Mein Vater tanzt!«
»Ja und?«, meinte Frauke. »Lass ihn doch.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Tanzfläche besser sehen zu können, und dann wusste sie, warum ihre Freundin sich so gequält anhörte.
Ackermann stand mitten auf dem Parkett, das rechte Bein gestreckt, das linke leicht gebeugt, beide Arme angewinkelt und bewegte nur die linke Hand im Rhythmus der Musik ungefähr drei Zentimeter auf und ab. Die Augen hatte er geschlossen, und wenn es mit ihm durchging, schnippte er einmal mit den Fingern und stöhnte: »Oh yeah!«
Ein professioneller Breakdancer hätte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen können. Um ihn herum hatten sich die Tänzer zurückgezogen und staunten ihn an, aber davon merkte Ackermann nichts, denn auch das nächste Stück riss ihn mit: Born to be wild.
Erste Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. »Oh yeah, yeah, yeah!«
Plötzlich schlug er die Augen auf – irgendwo war Unruhe entstanden. Er spürte es mehr, als dass er es hörte.
Gar nicht weit von ihm, gleich bei den Boxen gab es eine Rangelei. Mit einem Satz war Ackermann von der Tanzfläche gesprungen und hatte sich ins Getümmel gestürzt, aber als er sich endlich durchgedrängelt hatte, war offenbar schon alles vorbei. Einer der Jungen mit dem HJ-Haarschnitt lag im Sand und krümmte sich. Er blutete aus der Nase und fluchte laut. Ein zweiter versuchte, ihn an den Armen hochzuziehen. Die Leute, die drum herum standen, guckten nur.
»Boah ej, wo ist der Wichser?« Der Verletzte war hochgekommen, schwankte noch, blieb aber auf den Beinen. »Ich mach den alle! Ich mach den kaputt!« Dann spuckte er einen Schwall Blut aus und befingerte seine Zähne.
»Alles in Ordnung?« Ackermann legte ihm den Arm um die Schulter.
Der Junge wich zurück. »Ej, Hammer! Wer ist der denn? Was saugt der mich denn an?«
Die Umstehenden raunten Zustimmung.
»Nu’ mach dir ma’ nich’ ins Hemd. Ich wollt bloß helfen.« Ackermann lächelte beruhigend, zückte sein Portemonnaie und drückte dem anderen Jungen einen Zwanzigmarkschein in die Hand. »Da, geh ma’ ’ne Runde Bier holen, dat dein Freund hier wieder auf de Beine kommt. Über sechzehn seid er doch wohl?«
Der Jugendliche stutzte. »’türlich«, nickte er dann, griff sich den Geldschein und verschwand schnell. Die Zuschauer verloren das Interesse.
»Hier!« Ackermann hielt dem Verletzten sein Taschentuch hin. Der zögerte erst, nahm es dann aber doch und wischte sich das Blut von Nase und Mund.
»Am Kinn is’ auch no’ wat.« Ackermann nahm ihm das Tuch weg. »Spuck ma’ drauf.« Dann wischte er behutsam die Blutspuren ab.
»Jetz’ erzähl ma’. Wat is’ eigentlich passiert?«
Der Junge geriet sofort wieder in Rage. »Dieser dumme Hurensohn! Weißte, was weiß ich. Saugte mich auf einmal an, meinte, ich hätte mit dem seiner Perle rumgeleckt. Dämlicher Spasti! Auf einmal gibt der mir eine. Kein Plan, warum.«
»Der Hammer überhaupt!« Sein Freund war mit drei großen Bechern Bier zurückgekommen. »Die dumme Fotze macht doch mit jedem rum, wenn die dicht ist.«
Ackermann nahm ihm einen Becher ab und trank ihn in einem Zug aus. Die beiden guckten ihn an. »Ihre Kohle«, meinte der Freund, »hier.«
»Lass stecken. Kannste gleich noch ’ne Runde für holen. Hab ich dat richtich? Ihr kennt dat Arsch, dat dich vertrimmt hat?«
»’türlich. Das ist voll der Spasti. Wenn ich den irgendwann mal krieg’, den mach ich kaputt.«
»Komm, trink ers’ ma’. Dann kommste wieder runter. Also, ich an deiner Stelle würd’ den Typ sofort anzeigen, wegen Körperverletzung. Ich mein, wenn de den schonn kennst. Und Zeugen haste auch.«
Der Junge riss zuerst ungläubig die Augen auf, dann verzog er abfällig den Mund und tippte sich an die Stirn.
»Boah, ich schwör, ej!«, rief sein Freund. »Tu mal normal. Wie bist du denn drauf? Ich bin doch nicht bescheuert! Anzeigen! Hammer, ej! Dann kommt der mit vierzig Mann und fickt mich voll im Arsch.«
»Blödsinn! Die Bullen sorgen schon dafür, dat euch nix passiert. Die kassieren den Kerl ers’ ma’ ein, un’ dann kriegt der gehörig einen auf den Sack.«
»Er mal abgehen, schnallste voll nicht ab! Einkassieren! Nach einer Stunde rennt der sowieso wieder rum. Bastard!«
»Versteh ich dat richtich? Ihr haltet lieber die Schnauze un’ verpisst euch, als dat ihr den Typen anscheißt? Dat is aber verdammt feige, Jungs.«
»Hängen geblieben, oder was? Und wenn der einen auf den Sack kriegt, ist dem doch scheißegal. Paar Sozialstunden. Die Bullen! Klar, die stehen auf uns. Die tun alles für uns.«
Ackermann schüttelte den Kopf. »Der Kerl läuft also weiter rum un’ macht, wat er will. Der un’ seine Freunde. Un’ ihr guckt zu un’ macht nix?«
Die beiden grinsten schief. »Klar.«
»So ’ne gequirlte Kacke hab ich schonn lang’ nich’ mehr gehört«, regte Ackermann sich auf.
»Lass gut sein, Papa.« Nadine fasste ihn von hinten am Ellbogen. »Komm, wir hauen ab.«
Aber Ackermann war auf einmal schrecklich wütend. »Abhauen? Dat scheint ja bei euch in Mode zu sein!« Er drehte sich wieder zu den Jungen um, aber die hatten sich auf den Weg zum Bierstand gemacht. »Kennst du die?«
»Ja, die sind selbst nicht ganz ohne. Von denen hält man sich besser fern.«
»Wat is’ denn so falsch an denen? Dat sind normale Jungs, die noch nich’ trocken hinter de Ohren sind, un’ denen anscheinend keiner beigebracht hat, wat Sache is’.« Gereizt schüttelte er ihre Hand ab. »Fern halten? Ah, jetz’ versteh ich. Dat sind wohl Hauptschüler oder Asis, wie du dat nenns’.«
Mann, wann war die Welt denn nur so umgekippt? Er war damals zur Penne gegangen, aber ein paar seiner besten Freunde waren auf der Volksschule geblieben. Keiner hatte daran auch nur einen Gedanken verschwendet. Sie hatten immer zusammen gespielt und das Dorf unsicher gemacht.
»Ach ja«, schnaubte er, »un’ der Kerl, der dem Jung’ eine getafelt hat, dat war ja bestimmt ’n Russe oder ’n Kurde, wa?«
Nadine senkte den Blick. »Nein, das war ein Deutscher ...«
Ackermann atmete zischend aus und wurde wieder leiser. »Hab ich mir gedacht. Weißte, ich kann dat nich’ haben. Ich musst mich da schon letztens kriminal drüber ärgern, wie du dat gesacht has’. Für euch heißt dat vielleich’ nix mehr, aber mir wird ganz schlecht davon. Bestimmt gibbet ’n paar schräge Vögel unter den Ausländern, genau wie bei den Deutschen. Un’ bestimmt gibbet Drecksäcke bei denen vonne Hauptschule, aber auch bei denen vonne Penne. Dat glaub mir.«
»Ach, Papa ...«
»Nix, ach Papa!«
»Doch! Du hast doch nicht die geringste Ahnung, wie es heute wirklich aussieht.«
»So? Hab ich nich’? Na, dann klär mich doch ma’ auf, werte Dame.«
Aber in diesem Augenblick meldete sich sein Piepser.
8
Als Ackermann am Einsatzort in der Bresserbergstraße ankam, war es zwei Uhr in der Frühe und nur in einem einzigen Haus brannte Licht. Van Appeldorns Auto und ein Streifenwagen parkten auf dem Gehsteig.
Die Eheleute Rogmanns seien heute Nacht aus dem Urlaub zurückgekommen und hätten in ihrem Haus einen toten Einbrecher gefunden, hatte der Diensthabende gesagt. Komische Geschichte. Ob den Mann bei der Ausübung seiner Tätigkeit vor lauter Aufregung der Schlag getroffen hatte, dachte Ackermann. Aber im Grunde war ihm nicht nach Scherzen zumute. Er hatte mit Toten nur sehr selten zu tun gehabt, und darüber war er auch ganz froh.
Noble Gegend, hier wohnten nur die bestens Betuchten. Auch Rogmanns schienen keine Not zu leiden. Das Wohnmobil, das vor der Garage stand, kostete gut und gern neunzigtausend Mark. Das Haus war noch ziemlich neu, ein Flachdachbungalow aus grauem Beton mit purpurfarbenen Fensterrahmen und einer ebenso lackierten Haustür. Ackermanns Geschmack war es nicht, viel zu modern und zu kalt.
Er wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als die Tür geöffnet wurde und Norbert van Appeldorn mit zwei Streifenbeamten herauskam. »Wat is’ los?«, flüsterte Ackermann. »Wat guckt ihr denn alle so komisch?«
»Die Kollegen kennen den Toten«, antwortete van Appeldorn. »Es ist Andreas Kaufmann.«
»Der Junge?« Ackermann starrte ihn entsetzt an. »Wat is’ denn passiert?«
»Sieh es dir selbst an.« Van Appeldorn nickte den Kollegen zu. »Ruft van Gemmern. Er soll sich beeilen, wir warten. Und sagt auch Bonhoeffer Bescheid.« Dann drückte er die Haustür auf und ließ Ackermann vorbei. Der kam nur drei Schritte weit, dann wurde er von einem Dalmatiner angesprungen, der ihm freudig durchs Gesicht leckte.
»Verdammt noch mal«, rief van Appeldorn. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen die Hunde wegsperren. Die haben schon genug Spuren verwischt.«
Ein etwa sechzigjähriger Mann kam um die Ecke und zog den Hund am Halsband zurück. »Die Kleinen haben wir ja schon ins Bad gesperrt.«
»Alle! Auch die beiden großen«, befahl van Appeldorn. »Wir werden uns auch beeilen«, meinte er dann einlenkend.
Im Esszimmer rechts saß Frau Rogmanns am Tisch und stierte vor sich hin.
»Guten Abend«, grüßte Ackermann unbeholfen, aber sie antwortete nicht, sah ihn nur verstört an.
Van Appeldorn schob ihn weiter ins Wohnzimmer. Hier sah es wüst aus, herausgezogene Schubladen, durchwühlte Schränke, Papiere und Bücher überall auf dem Boden verteilt, auf dem Tisch waren ein Videorecorder, eine Stereoanlage und eine Kamera aufeinander gestapelt. Am schlimmsten sah es rund um die Sitzgruppe aus. Das Dachfenster darüber stand sperrangelweit offen und es musste tagelang hereingeregnet haben. Das weiße Sofa war völlig durchweicht und mit schlammigen Schuhspuren übersät, auf dem hellrosa Teppichboden hatten sich Pfützen gebildet, der Belag schlug Wellen.
An der rechten Seite führte eine offene Treppe in den Keller hinunter.
»Er ist da unten«, sagte van Appeldorn, aber Ackermann hatte den Jungen schon entdeckt. Er lag ungefähr einen halben Meter von der untersten Stufe entfernt auf dem Rücken. Der Kopf war zur Seite gekippt. Die Kellertür hinter ihm stand weit offen.
»Müssen wir da runter?«, fragte Ackermann kleinlaut.
»Wir gehen außen rum, sonst machen wir noch mehr kaputt. Rogmanns sind schon hier runtergelaufen und die Hunde haben überall rumgetrampelt.«
»Dat seh ich«, meinte Ackermann und zeigte angeekelt auf den verschmierten Hundehaufen auf der zweiten Treppenstufe.
»Rogmanns sind da nicht reingetreten«, meinte van Appeldorn. »Das hab ich schon überprüft. Der Dreck ist angetrocknet, muss also schon länger hier liegen.«
»Vielleicht is’ der Jung’ ja da drauf ausgerutscht un’ die Treppe runtergefallen«, überlegte Ackermann. »Un’ dabei hat er sich dat Genick gebrochen.«
»Möglich. Komm jetzt!«
Ackermann ging nicht mit in den Keller. Er blieb in der offenen Tür stehen und hielt seinen Blick fest auf die Beine des Toten geheftet. Spillerige Kinderbeinkes, dachte er und schluckte. Der Junge war ja auch erst vierzehn gewesen.
Oben klingelte jemand an der Haustür. Van Appeldorn stieg vorsichtig über den Toten hinweg und trat näher an die Treppe heran. »Herr Rogmanns!«, rief er. »Wenn das der Arzt ist oder der Kollege vom Erkennungsdienst, schicken Sie sie bitte hinten herum.«
Klaus van Gemmern erledigte die gesamte technische Arbeit für die Polizei schon seit über einem Jahr ganz allein und war eigentlich ständig übermüdet, aber er beklagte sich selten. Er war Junggeselle und außer seiner Arbeit interessierte ihn nur seine umfangreiche Sammlung alter Hendrix- und Zappa-Platten. Vor ein paar Monaten hatte die Meinhard ihm eine junge Kollegin zur Seite gestellt, die aber schon nach drei Wochen das Handtuch geworfen hatte. Van Gemmern verlangte von einem Mitarbeiter das Gleiche wie von sich selbst: unbedingten Einsatz, schnelle, fehlerlose Arbeit und ein großes Maß an Kombinationsgabe.
Man musste ihn aus dem Tiefschlaf geklingelt haben, denn er war noch blasser und wortkarger als gewöhnlich. Nach einem knappen Gruß stellte er seinen Koffer ab und ging langsam um den Toten herum, dann hockte er sich neben ihn und betrachtete eingehend Gesicht und Hände.
»War schon ein Arzt da?«, wollte er wissen.
»Nein«, antwortete van Appeldorn. »Ich habe Bonhoeffer Bescheid geben lassen. Der besteht neuerdings drauf.«
»Gut so!« Van Gemmern holte seine Kamera aus dem Koffer und fing an zu fotografieren.
Arend Bonhoeffer, der Pathologe, war mit dem Taxi gekommen. »Wir hatten einen herrlichen Burgunder zum Abendessen und bei einer Flasche ist es nicht geblieben«, schwatzte er, als er vom Garten herunterkam, wurde dann aber sofort ernst. »Ein Kind.«
Ackermann ließ ihn vorbei und nickte. Ein »Guten Abend« wollte ihm nicht über die Lippen. Andy Kaufmann war genauso alt gewesen wie seine Jeanette.
Auch Bonhoeffer hockte sich erst einmal neben die Leiche und schaute nur. »Hilfst du mir beim Entkleiden, Klaus?« Die beiden Männer zogen Latexhandschuhe an. Ackermann kämpfte mit dem Würgen und ging nach draußen. »Ich kann dat nich’, Norbert!«
»Dann bleib eben draußen. Oder geh hoch und sprich mit den Leuten.«
»Wat soll ich denn fragen?«
»Herrgott! Ob was fehlt. Was die Einbrecher haben mitgehen lassen, wie lange Rogmanns in Urlaub waren, ob jemand einen Schlüssel hatte ... Ach, vergiss es!« Van Appeldorn wurde ungeduldig. Keiner war gern bei einer Leichenschau dabei, aber es durfte einen doch nicht dermaßen aus den Pantinen hauen, dass man nicht mehr wusste, wo oben und unten war. »Ich erledige das nachher.«
Der Tote lag jetzt nackt auf dem Rücken.
»Grüne Verfärbung der Bauchhaut, beginnend im rechten Unterbauch«, sagte Bonhoeffer. »Erste Fäulnisreaktionen, teilweise Hautablösung mit Blasenbildung. Lebende Fliegenmaden in den Augenwinkeln. Was meinst du, Klaus?«
»Vier bis acht Tage.«
»Also, dazu ...«, begann van Appeldorn, aber Bonhoeffer ließ sich nicht stören. »Wollen mal sehen ... Die Totenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken, die Totenstarre ist außer an den Gelenken gelöst. Ich würde sagen, er ist seit drei, maximal vier Tagen tot.«
»Kriegen wir das noch genauer?«, fragte van Appeldorn. »So viel wusste ich schon. Der Junge war nämlich am Freitag noch in der Schule.«
Bonhoeffer drehte sich um. »Noch genauer? Dazu muss ich ihn erst einmal auf dem Tisch haben. Aber ich glaube kaum.« Dann wandte er sich wieder dem Leichnam zu und öffnete ihm den Mund. »Erbrochenes ...«
»Platzwunde am Hinterkopf«, sagte van Gemmern. »Und das hier ist auch auffällig.« Er zeigte auf einige dunkle Stellen am Brustkorb und an der Seite.
Bonhoeffer nickte nachdenklich und stand auf. »Der Bestatter kann jetzt kommen und ihn in die Pathologie bringen. Und ich rufe mir mal ein Taxi.«
»Kannst du ihn dir morgen schon vornehmen?«, wollte van Appeldorn wissen.
Bonhoeffer hatte die Handschuhe ausgezogen und sein Handy aus dem Regenmantel geholt. »Ja«, antwortete er. »Morgen früh gleich als Erstes. Im Augenblick habe ich nicht viel zu tun, Sommerloch.« Dann drehte er sich zur Wand und führte seine beiden Telefongespräche.
Van Gemmern war dabei, Plastiktüten über die Hände des Toten zu ziehen. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er sich wünschte, endlich in Ruhe arbeiten zu können.
»Wir gehen jetzt zu den Rogmanns hoch, Klaus«, sagte van Appeldorn. »Oben am Anfang der Treppe liegt ein Hundehaufen, in den jemand reingetreten ist. Vielleicht ist der Junge ja darauf ausgerutscht. Schau’s dir mal an.«
Van Gemmern antwortete nicht. Er nahm die Kleidung des Jungen, betrachtete sie und packte sie dann in einen Plastikbeutel.
Ackermann lehnte an einem Stapel Kaminholz, der an der Garagenwand aufgeschichtet war. »’n Abend, Doktor! Tut mir Leid, dat ich schlappgemacht hab.«
Bonhoeffer lachte leise. »Für Sie war es das erste Mal, nicht wahr? Ich kenne einige, denen auch nach Jahren noch ganz schön flau dabei wird.«
Sie gingen durch die Garage am Wohnmobil vorbei zur Straße. »Lasst euch nicht aufhalten«, meinte Bonhoeffer. »Vermutlich wollt ihr auch irgendwann mal wieder ins Bett. Das Taxi muss gleich da sein. Ach ja, und sagt dem Bestatter, er soll vorsichtig sein beim Einpacken.«
Herr Rogmanns öffnete ihnen die Haustür. »Es tut mir Leid, aber wird es noch sehr lange dauern? Ich habe eine zwölfstündige Autofahrt hinter mir, wir sind seit über dreißig Stunden auf den Beinen ...«
»Norbert!«, rief van Gemmern aus dem Wohnzimmer.
»Entschuldigung, Herr Rogmanns«, meinte van Appeldorn und warf Ackermann einen strengen Blick zu. »Mein Kollege wird sich schon mal mit Ihnen unterhalten. Ich komme gleich hinzu.«
Van Gemmern hatte sich inzwischen einen Überblick verschafft. »Wie schnell brauchst du die Ergebnisse?«
»Vorgestern«, antwortete van Appeldorn, »wie immer. Das kennst du doch.«
Der ED-Mann legte seine Kamera zurück in den Koffer und ließ die Schlösser zuschnappen. »Aber sicher doch. Hör zu, dies sieht nach einer komplexen Geschichte aus und ohne anständiges Licht läuft hier gar nichts. Ich könnte natürlich alles ankarren lassen, aber das dauert. Außerdem arbeite ich grundsätzlich lieber bei Tageslicht, das weißt du. Also, Vorschlag: Ihr bringt die Leute bei Verwandten oder im Hotel unter, möglichst bis übermorgen, dann versiegelt ihr die Bude und stellt bis morgen früh eine Wache davor. Und wenn du schnelle Ergebnisse haben willst, brauche ich einen zweiten Mann.«
»Na wunderbar! Soll ich dir einen backen, oder was?«
»Sorge dafür, dass die Meinhard mir für morgen den Schumacher abstellt.«
»Den Schumacher?« Van Appeldorn war sicher, dass er sich verhört hatte. »Du meinst doch nicht diesen Schnulli aus Düsseldorf!«
Van Gemmern verzog für den Bruchteil einer Sekunde spöttisch den Mund. »Genau den Schumacher«, sagte er dann nur. »Ach ja, und noch was: Es sieht nicht so aus, als sei der Junge auf der Hundescheiße ausgerutscht. An seinen Schuhen habe ich nichts finden können. Zumindest nicht auf den ersten Blick.«
»Norbert, hör ma’«, Ackermann kam hinzu. »Die Leutchen sind völlig fertig. Die müssen bloß noch in ’t Bett. Da is’ nix mit Befragung.«
Van Gemmern nahm seinen Koffer, tippte sich an einen imaginären Mützenschirm und ging.
»Die Frau is’ bloß noch am Weinen«, meinte Ackermann hilflos.
Aus dem Badezimmer drang mehrstimmiges Hundegeheul.
Van Appeldorn fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und seufzte müde. Dann folgte er Ackermann ins Esszimmer. »Herr Rogmanns«, begann er. »Haben Sie Verwandte oder Freunde, bei denen Sie unterkommen könnten?«
Der Mann schaute ihn verwirrt an.
»Sehen Sie, wir haben noch eine ganze Weile hier zu tun und Sie brauchen Ihren Schlaf. Wir werden Ihr Haus heute Nacht versiegeln müssen und die Spurensicherung muss morgen noch hier arbeiten. Es wäre also gut, wenn Sie für ein, zwei Tage zu Freunden ziehen würden.«
»Wir haben eine Tochter«, sagte Herr Rogmanns, »aber, mein Gott, es ist vier Uhr morgens.«
Vor dem Haus bremste ein Auto. Das waren vermutlich die Leichenbestatter.
»Wir können doch im Wohnmobil schlafen«, meinte Frau Rogmanns matt.
»Das halte ich für keine gute Idee«, wehrte van Appeldorn ab.
Es klingelte.
»Nur bis morgen früh. Bis wir unsere Tochter anrufen können.«
»In Gottes Namen. Ackermann, mach die Tür auf!«
Die Bestatter hatten den Sarg gleich mitgebracht. »Warten Sie hier«, rief van Appeldorn und wandte sich dann wieder an das Ehepaar. »Sie nehmen doch die Hunde mit? Brauchen Sie sonst noch etwas aus dem Haus?«
»Nein, wir haben doch noch gar nicht ausgepackt ...«
»Dann versuchen Sie jetzt zu schlafen. Und denken Sie daran: So lange unser Siegel an Ihrer Tür ist, dürfen Sie nicht hinein.«
Die beiden nickten und liefen zum Badezimmer.
»Stopp!«, rief van Appeldorn. »Ackermann, mach die Tür zum Wohnzimmer zu!«
Es dauerte ein paar Minuten, bis man gemeinsam das Gewusel aus fünf überdrehten Hunden, drei davon Welpen, sortiert, eingefangen und im Wohnmobil verfrachtet hatte.
Nur die beiden Männer vom Bestattungsunternehmen rührten keinen Finger.
»Na, wo liegt er denn jetzt?«, meinte der ältere, als endlich Ruhe eingekehrt war.
Ackermann zeigte auf den Sarg. »Ihr müsst mit dem Teil da wieder raus, durch de Garage un’ hintenrum. Der Junge liegt im Keller. Un’ wir rufen jetz’ ’ne Wache, oder?«, fragte er dann van Appeldorn. »Hasse Sachen zum Versiegeln mit?«
»Ich regele das alles. Sag du den beiden Sargträgern Bescheid, Bonhoeffer will, dass sie vorsichtig sind.«
Ackermann stieß die Wohnzimmertür auf und lief zur Kellertreppe. Noch Jahre später wünschte er sich, er hätte es nicht getan.
»Verdammte Sauerei!«, motzte der Bestatter. »Hätte man uns doch sagen müssen, dass der schon hinüber ist.« Er hielt Andy Kaufmanns kompletten Skalp in der Hand.
Ackermann schaffte es so gerade eben noch bis zur Kloschüssel.
»Morgen geh ich zu Charly«, krächzte er eine Weile später. »Die soll mich sofort abziehen. Ich hab kein’ Bock mehr auf Libero bei eurer Truppe. So wat muss ich nich’ haben.«
Van Appeldorn hielt ihm ein Handtuch hin. »Jetzt komm mal wieder runter, Jupp. So was passiert uns auch nicht jeden Tag. Komm, jetzt lass uns den Laden hier dichtmachen. Die Wache ist schon da.«
Als sie aus dem Haus kamen, begrüßte sie ein Blitzlichtgewitter.
»Ah, die Geier sind auch schon da.« Van Appeldorn knuffte Ackermann in die Seite. »Halt dich gerade!«
Es waren erstaunlich viele Reporter für Klever Verhältnisse.
»Lass mich versiegeln«, raunte Ackermann. »Reden kann ich nämlich no’ nich.«
»Kein Kommentar«, sagte van Appeldorn in bester Krimimanier. »Kein einziger Satz zu diesem Zeitpunkt. Wir treffen uns alle morgen zur Pressekonferenz um 17 Uhr.«