Jerry
Craven
Der Jäger
THE
HUNTER
Dodd Crowell hatte eine frische Leiche gerochen, daher war er nicht überrascht, als er den Körper fand. Er stutzte jedoch, als er feststellte, daß der Kopf des Mannes verschwunden war. Man hatte ihn mit chirurgischer Präzision abgetrennt; weder auf dem Boden noch in dem Leichnam war ein Tropfen Blut zurückgeblieben.
Crowell umkreiste die Überreste des Indianers, der einen blauen Schurz trug. Aus den Spuren versuchte er, die Vorgehensweise des Killers zu rekonstruieren. Vermutlich hatte der Indianer auf dem Mangobaum gehockt, um Vögeln aufzulauern. Crowell bemerkte den langen Bogen und den Pfeil mit einer Spitze aus einer Geweihsprosse – diese Pfeile wurden nur bei der Jagd auf Vögel verwendet. Jemand hatte den Indianer in einem Augenblick getötet, und sein Körper war an der Stelle auf den Boden gefallen, wo er jetzt noch lag. Das zeigten die Abdrücke unter dem Baum. Zwei Leute hatten den Kopf abgeschnitten und das Blut abgezapft – zwei Personen mit ungewöhnlich kleinen Füßen. „Hexenanbeter“, sagte Crowell angeekelt.
Er hatte schon von einigen ähnlichen Vorfällen gelesen, nur daß es sich dabei um die Verstümmelung von Rindern im westlichen Teil der Vereinigten Staaten gehandelt hatte. Soweit er sich erinnerte, hatte man unterschiedliche Teile der Rinder sauber abgetrennt und ihnen alles Blut entnommen.
Obwohl niemand genau sagen konnte, wer die Rinder geschlachtet hatte und warum, war sich Crowell sicher, daß es sich um die Taten einer irren Sekte gehandelt hatte, um eine Gruppe von Leuten, die so wohlhabend war, daß sie über Hubschrauber verfügte, und so diskret, daß sie nur in entlegenen Gegenden zuschlug, wo sie sicher sein konnte, nicht überrascht zu werden. Diesmal hatte sie sich einen Indianer im Orinokobecken ausgesucht.
Crowell verfluchte die Überbevölkerung auf dem Planeten, die ihn zwang, weite Entfernungen zurückzulegen, um in ein gutes Jagdgebiet zu gelangen, um eine Gegend zu finden, die noch nicht von der Zivilisation zerstört war. Und jetzt das hier, dachte er, und neuer Ekel über die Wahnsinnssekte erfüllte ihn. Die beiden Mörder des Indianers waren offensichtlich Frauen, wenn man von der Größe ihrer Fußabdrücke ausging. Es ärgerte ihn, daß Menschen – ja, schlimmer noch, Frauen – so leicht an diesen entlegenen Fleck gelangen konnten, um dort die Ruhe der Wildnis zu stören.
Crowell untersuchte den Körper, um einen Hinweis auf die Art der Mordwaffe zu finden, aber er konnte nichts feststellen. Bis auf ein winziges, rundes Loch in einem Unterschenkel war die Leiche unversehrt. Entweder hatte man ihn in den Kopf geschossen oder einen Narkosepfeil benutzt, entschied Crowell.
Er zog den Leichnam tief ins Gebüsch, damit Brooks nicht zufällig darüber stolperte. In den letzten Jahren hatte Brooks sich verändert, und Crowell betrachtete ihn mit einiger Geringschätzung, auch wenn er ihn noch seinen Freund nannte. Zweifellos würde Brooks den Vorfall gleich den Behörden melden wollen, und damit würde er nur erreichen, daß die Jagdpartie restlos verdorben war.
Wegen der Möglichkeit, daß die Täter zurückkehren könnten, fertigte Crowell eine einfache Falle an: Er befestigte eine Nylonschlinge an einer niedergebogenen Guave direkt neben der Stelle im Unterholz, wo er den Leichnam verborgen hatte. Wenn jemand sich in der Nähe der Leiche zu schaffen machte, würde er, zur Strafe für seine Neugier, mit den Füßen voran von der Guave in die Luft gerissen werden. Er deckte die Schlinge mit Ranken und Blättern zu.
Als Crowell zum Flugzeug zurückkehrte, stellte er fest, daß Ramôn Nunez, sein Pilot und Führer, inzwischen die Zelte aufgebaut hatte und nun damit beschäftigt war, etwas am Flugzeug zu reparieren. Brooks stand am Rand des Lagers, wo die Savanne auf den Uferdschungel stieß. Sicher untersucht er wieder eine lächerliche Blume, dachte Crowell. Es war einfach nicht mehr so wie in den alten Tagen, als Eldon Ray Brooks noch ein Jäger war, der es fast mit ihm selber aufnehmen konnte. Brooks hatte sie beide mit seinen Büchern über die Jagd berühmt gemacht. Doch dann hatte er sich in ein Seelchen von einem Liberalen verwandelt, das Jagen hatte er aufgegeben, und Bücher schrieb er nur noch über so trockenes Zeug wie Sprachen und diese albernen, tropischen Blumen. Professor Brooks, dachte Crowell bitter, Linguist und Experte für Gänseblümchen. Crowell hatte gedacht, daß er ihn umkrempeln könnte, wenn er ihn noch einmal mit in den Dschungel nahm. Die rauhe Kraft der Wildnis, die unmittelbare Nähe des Gesetzes vom Überleben des Stärkeren sollten ihn wieder zu Verstand bringen. Er sollte endlich wieder Tiere jagen statt Orchideen.
Bisher hatte sich der Plan als Schlag ins Wasser erwiesen. Brooks wollte auf seinen Streifzügen nicht einmal eine Pistole mitnehmen. Mitgekommen war er überhaupt nur aus Freundschaft und weil er ein paar seltene Orchideen zu finden hoffte, und diese Sucherei war offensichtlich zu seiner fixen Idee geworden.
Zur Abenddämmerung entfachte Nunez ein Feuer. Die drei Männer setzten sich um das Feuer und teilten sich ein einfaches Mahl.
„Sie haben mir im Flugzeug erzählt, daß Sie von der venezuelanischen Regierung eine Abschußerlaubnis für Böcke und Katzen haben, verdad?“ Nunez hatte einen leichten Akzent, war aber gut zu verstehen.
„Ja“, antwortete Crowell.
„Wir essen Antilopen“, sagte Nunez. „Soweit kann ich Sie verstehen. Ich habe selbst schon welche getötet, wenn ich hungrig war. Aber el tigre? Was hat man denn davon, wenn man el tigre jagt? In meinem Land lassen wir die großen Katzen in Ruhe, wenn sie keine Menschen töten. Dann allerdings jagen auch wir sie. Zwanzig, manchmal fünfzig Männer tun sich zusammen, und die Jagd kann mehrere Tage dauern. Doch wir haben keinen Spaß daran, und niemand würde etwas von el tigre essen.“ Nunez’ Englisch hatte eine angenehme, spanische Satzmelodie. Er beendete den Satz immer mit einer Hebung, so daß er wie eine Frage klang.
„Es geht doch nicht ums Essen“, erwiderte Crowell. „Ich jage aus vielen Gründen: Weil es mich herausfordert, weil ich meinen Instinkt als Raubtier ausleben will. Es liegt mir im Blut, daß ich gute Beute machen will. Das ist ein Trieb, den wir von den Affen geerbt haben, aus denen wir uns entwickelt haben.“
„Quatsch“, sagte Brooks.
„Und ich habe noch mehr gute Gründe“, fuhr Crowell fort, ohne auf Brooks einzugehen. „Ich esse meine Beutetiere, weil ich sie achte. Und wenn es ein besonders prächtiges Exemplar war, dann nehme ich seinen Kopf oder sein Geweih mit. Katzen jage ich nur zum Sport, wegen der Gefahr. Aber beide Arten von Tieren werden durch die Jäger gestärkt, denn nur die Geschicktesten entgehen dem Tod und können sich fortpflanzen, während die anderen, die von der Kugel des Jägers erwischt werden, ihre minderwertigen Gene nicht weitergeben können.“
Nunez dachte über diese Worte nach, versuchte sie zu verstehen. „Und Sie, Señor Brooks, Sie jagen nur Blumen?“
„Früher war ich genau wie mein Freund Dodd“, sagte Brooks nachdenklich. „Jagen, jagen, töten, töten! Ich habe – zu meinem Glück – aufgehört, bevor ein Tier zurückgeschlagen hat.“ Er beugte sich zu Crowell hinüber und schlug ein paarmal auf dessen linken Unterschenkel. „Während du, alter Junge, dich allmählich in Plastik verwandelst.“ Er erklärte Nunez den Sinn seiner Bemerkung: Crowell hatte das Bein bis zum Knie an ein ägyptisches Krokodil verloren. „Aber man kann es nicht sehen, wenn er geht oder jagt.“
Nunez kicherte. „Warum haben Sie die Jagd aufgegeben?“ fragte er.
„Crowell jagt wegen der alten Affen“, sagte Brooks, „ich jage nicht mehr wegen eines neuzeitlichen Affen. Wegen eines roten Brüllaffen, um es ganz genau zu sagen.“
Crowell, der die Geschichte von dem roten Brüllaffen schon mehrere Male gehört hatte, verabschiedete sich. Er hob sein Gewehr vom Boden auf und ging in Richtung des Flusses davon.
Zu Nunez gewandt, fuhr Brooks fort: „Es ist im Dschungel am Flußufer bei El Tigrito passiert. Zweimal habe ich einem großen Bock aufgelauert, und immer dann, wenn er mir ganz nahe war, begannen die roten Brüllaffen zu schreien. Beim dritten Mal bin ich stundenlang seiner Fährte gefolgt. Als ich ihn genau im Visier hatte, fingen die Brüllaffen wieder mit ihrem Geschrei an. Diesmal war ich wirklich sauer. Oben in den Mangobäumen bewegte sich etwas, und ich habe ohne nachzudenken drauf gehalten. Als ich auf die Lichtung unter den Mangobäumen kam, sah ich einen Affen auf dem Boden sitzen. Er blutete aus einem Loch, das ich ihm in die Seite geschossen hatte. Der Bursche benahm sich wie ein Kind. Er hat gejammert und seine Wunde betastet. Dann hat das arme Wesen sogar Blätter vom Boden zusammengekratzt und sie in das Loch gestopft, um das Blut aufzuhalten.“ Brooks Stimme klang jetzt gepreßt, dann verstummte er ganz.
Etwas verlegen versuchte Nunez, das Thema zu wechseln: „Señor Crowell sollte zur Nachtzeit nicht in den Dschungel gehen.“
„Es war das letzte Tier, das ich tötete“, sagte Brooks. „Ich konnte es nicht so leiden lassen. Ich zwang mich zu … äh … einem sauberen Schuß, wie Crowell sagen würde. Dann habe ich meine Büchse für immer weggestellt.“
„Morgen“, sagte Nunez unbeholfen, „werde ich den Flugzeugvergaser zu Ende reinigen.“ Er erhob sich, wollte nicht länger miterleben, wie Brooks seine Gefühle enthüllte. „Das heißt, wenn Señor Crowell mich nicht bei der Morgenjagd benötigt.“ Er ging zu seinem Einmannzelt hinüber.
Brooks riß sich aus seinen melancholischen Gedanken. „Ich könnte Ihnen dabei helfen!“ rief er Nunez nach. „Früher habe ich meinem Vater immer geholfen, die Erntemaschinen zu reparieren.“
Crowell ging in einem Bogen auf den Fluß zu. Dabei vermied er alle Plätze, wo er sich durch das Unterholz hätte kämpfen müssen. Der Fluß war nur fünfzehn Meter vom Lager entfernt, und das Gelände war hier sehr offen, so daß er keine Mühe hatte, mit der Taschenlampe seinen Weg zu finden. Etwas raschelte im Gebüsch. Er knipste die Lampe aus und erstarrte. Wieder hörte er das Geräusch. Es war links von ihm und kam näher. Crowell konnte in der Dunkelheit ausgezeichnet sehen, und es fiel genügend Mondlicht durch die Baumkronen, daß er Formen und Schatten erkennen konnte. Vor ihm flog etwas durch die Luft. Es blitzte auf wie ein weißer Vogel, war aber viel schneller. Er hörte, wie es in die Büsche zu seiner Rechten klatschte. Ein Geschoß, sagte er zu sich selbst; jemand hatte etwas nach ihm geworfen. Er zielte mit dem Gewehr auf die Stelle, von der der Gegenstand gekommen war. Etwas schlug gegen seinen Unterschenkel, und fast hätte er das Gleichgewicht verloren. Für einen Sekundenbruchteil erhellte das Mündungsfeuer von Crowells Gewehr die Nacht, dann zog er sich eilig zurück.
Am Rande des Lagers warteten Brooks und Nunez auf ihn, aufgeschreckt und voller Fragen. Crowell versicherte ihnen, daß alles in Ordnung sei. „Im Fluß sind ein paar Fische gesprungen. Da habe ich einmal mein Glück versucht.“
In seinem Zelt untersuchte Crowell seine Beinprothese. Ein weißer Dorn ragte aus dem Kunststoff, ein kristalliner Gegenstand, der entfernt an Quarz erinnerte, ungefähr drei Zentimeter lang. Crowell umwickelte ihn mit einem Handtuch und zog ihn vorsichtig heraus. Die Spitze war nadeldünn und glänzte vor Feuchtigkeit. Er ging hinaus und suchte Nunez auf. „Sollten wir heute nacht nicht eine Wache aufstellen?“ fragte er.
„Si, Señor“, antwortete Nunez. „Wir wechseln uns ab und bewachen auch das Flugzeug. Hier leben einige Blaurockindianer, aber sie werden uns sicher aus dem Weg gehen. Aber Ladrones, das sind Männer, die stehlen, Männer, die vor den Gesetzen geflohen sind, die kann man überall finden.“ Crowell war einverstanden und teilte die Reihenfolge der Wachen ein.
Ungefähr um Mitternacht wurde Crowell von Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Er packte sein Gewehr und kroch aus dem kleinen Zelt.
Nunez, der mit der Wache an der Reihe war, schlug mit einem Stock auf den Boden vor Brooks Zelt. Der Mond stand genau über dem Lager, so daß Crowell alles gut sehen konnte.
„Fledermäuse, Vampire!“ erklärte Nunez. „Señor Brooks, kommen Sie aus Ihrem Zelt. Es kann sein, daß Sie bluten.“ Mit schlaftrunkenen Bewegungen kroch Brooks aus seinem Zelt.
„Was ist denn los?“ fragte er. „Bin ich an der Reihe?“
„Setzen Sie sich hin“, sagte Nunez. Er knipste eine Taschenlampe an. „Ich will Sie einmal anschauen.“ Verwirrt gehorchte Brooks seiner Anweisung. „Si, si, da haben wir es ja! Der Vampir hat sich an Ihrem Bein gütlich getan – sehen Sie Señor Crowell?“
„Was?!“ stieß Brooks hervor, mit einem Male hellwach. Er starrte auf den roten Punkt unterhalb seines Knies.
„Blutsaugende Fledermäuse“, erklärte Crowell. „Nunez hat eine erschlagen. Wir wollen sie uns mal ansehen …“ Er leuchtete mit der Taschenlampe über den Boden. „Donnerwetter, drei Stück sogar! Sie sind verdammt schnell, Señor Nunez.“
„Das ist ja ein Alptraum“, sagte Brooks. „Und ich habe einfach durchgeschlafen. Ich habe überhaupt nichts gespürt.“
„Sie haben Zähne wie Nadeln“, sagte Crowell. „Sie stechen eine Ader an, und dann hocken sie sich um ihr Opfer und schlecken das Blut auf wie Hunde am Wassernapf. Die kleinen Biester sind sehr geschickt – es hätte mich überrascht, wenn du etwas gespürt hättest.“ Nunez bestrich die Wunde mit Salbe und legte einen Verband an. „Normalerweise“, fuhr Crowell fort, „überfallen sie Rinder oder Wildtiere, der ganze Schwarm immer nur ein Tier. Es scheint, daß sie sich immer das schwächste aussuchen, ein sehr altes oder junges oder ein krankes. Und sie kommen Nacht für Nacht zurück, bis das Tier verendet ist. Es ist eine schaurige Ernährungsweise … Blut zu trinken. Aber sie dienen der Tierart auch, die sie überfallen, indem sie die Schwächeren töten und so an der Vermehrung hindern.“
„Dann nehme ich also an“, versetzte Brooks, „daß ich zu den Schwachen und Unerwünschten gehöre, deren Gene besser aus dem Verkehr gezogen werden sollten. Vielleicht sollte ich ein Schild mit der Aufschrift Ich habe mich einer Vasektomie unterzogen an meinem Zelt befestigen.“ Crowell lachte; schon oft hatte ihn der überraschende Humor seines Freundes erheitert. Doch diesmal fragte er sich, ob die Fledermäuse nicht blindlings die richtige Wahl getroffen hatten.
Beim ersten Morgengrauen fuhr Crowell mit einem Ruck aus dem Schlaf: Ihm war aufgefallen, daß niemand ihn zu seiner Wache geweckt hatte. Er zog die Stiefel an und kroch aus dem Zelt, das Gewehr in der Hand. „Nunez?“ rief er. „Brooks!“ Die Überreste des Feuers glühten noch, Tautropfen auf den Zelten reflektierten den heller werdenden Himmel. Crowell liebte die würzige Luft, den kühlen Morgen und den Dschungel, der nur ein paar Meter von ihm entfernt begann. Scheinbar war alles in Ordnung – das Flugzeug stand noch am Rand der Savanne, dort wo Nunez es abgestellt hatte. Die drei Einmannzelte wiesen – militärisch exakt aufgereiht – mit den Eingängen zum Dschungel. Brooks schlief noch, Nunez war nirgendwo zu entdecken. Crowell ging zu dem Gebüsch hinüber, das die drei zur Latrine bestimmt hatten.
Dort fand er den Leichnam. Die Überreste von Nunez lagen, ohne Kopf, auf dem Rücken. Die gleichen kleinen Fußabdrücke, die er bei dem Indianer gesehen hatte, umgaben auch Nunez’ Leiche, und alles Blut war – wie es Crowell erwartet hatte – aus dem Körper abgesaugt.
Crowell brach die Untersuchung ab und weckte Brooks auf. „Zieh dir die Stiefel an und komm raus“, sagte er. „Wir haben Ärger.“ Während sich Brooks aus dem Zelt mühte, durchsuchte Crowell das Flugzeug nach seiner Pistole.
„Hier“, sagte er und hielt sie Brooks hin.
„Nein, vielen Dank“, antwortete Brooks.
„Nimm sie schon!“ bestimmte Crowell und schob sie Brooks in den Gürtel. „Du wirst froh sein, daß du sie hast, wenn du siehst, was sie mit Nunez gemacht haben.“
„Wer hat etwas gemacht?“
„Irgendwelche Wahnsinnigen. Komm mit!“ Er führte Brooks zu dem Leichnam.
Brooks warf einen schnellen Blick auf die Szene und ging ins Lager zurück. Crowell zuckte die Achseln und machte sich daran, den Körper gründlich zu untersuchen. Die einzige Wunde, die er fand, war ein kleines Loch, ein paar Zentimeter unterhalb des Knies. Crowell zog den Kristalldorn aus seiner Tasche und verglich ihn mit der Verletzung in Nunez’ Bein. Der Dorn paßte genau. Als nächstes untersuchte er die Fußspuren. Mit grimmiger Befriedigung stellte er fest, daß er ihnen leicht folgen konnte.
Als er wieder im Lager eintraf, stellte er voller Abscheu fest, daß Brooks weinte. Brooks sah hinauf in Crowells mißbilligend verzogenes Gesicht. „Er war mein Freund“, sagte er mit einem Anflug von Wut.
„Und wenn du noch über ein paar menschliche Gefühle verfügen würdest, dann würdest du gleichfalls weinen.“
„Dazu habe ich keine Zeit“, versetzte Crowell. „Steh auf und hilf mir, die Leute zu finden, die ihn ermordet haben. Sie haben eine Fährte wie eine Elefantenherde zurückgelassen, und es ist gut möglich, daß sie noch in der Nähe sind.“
„Daß wer noch in der Nähe ist?“
„Diese religiösen Irren, die unseren Piloten abgeschlachtet haben“, antwortete Crowell ungeduldig.
„Das sollten wir den Behörden überlassen, Dodd, das ist nicht unsere Aufgabe.“
„Wenn die Polizei hier ankommt, dann sind diese Typen doch längst in ihren Hubschrauber oder ihr Flugzeug gestiegen und haben das Weite gesucht. Also ist es unsere Aufgabe! Was sollten wir sonst auch tun? Nunez hat die Maschine auseinandergenommen, nicht wahr? Also haben wir kein Flugzeug mehr.“
„Er hat nur den Vergaser zerlegt – den kann ich reparieren, auch wenn es eine Weile dauert. Es ist schon Jahre her, daß ich zuletzt an einem Motor herumgebastelt habe. Und ich kann uns auch hier rausfliegen – ein Start von der Savanne ist sicher nicht viel anders als ein Start von der Prärie bei der Ranch meines Vater.“
„Schön, Brooks, du reparierst also den Motor. Aber das hat Zeit. Jetzt wollen wir erst einmal diese Killer zur Strecke bringen. Genauso wie wir damals den menschenfressenden Löwen erlegt haben, erinnerst du dich daran? Du hast mir dabei geholfen, das große Weibchen zu erlegen – oder hast du das vergessen? Was wir jetzt vorhaben, ist fast dasselbe. Ich glaube, daß Nunez von Frauen ermordet wurde; sieh dir nur mal die Fußspuren an. Es macht keinen Unterschied, ob man sie tötet oder eine Löwin.“
„Es wäre Mord, Crowell.“
„Kein Mord. Rache! Und Selbstschutz. Zum Teufel, vielleicht nehmen sie demnächst uns aufs Korn. Und selbst wenn sie es nicht versuchen – wir haben die Pflicht, die Menschheit von solchen Parasiten zu befreien.“
„Ich weigere mich, Richter, Geschworener und Scharfrichter zugleich zu sein.“
„Dann halte dich aus der Sache raus“, sagte Crowell höhnisch. „Ich werde sie allein aufspüren.“
„Und du wirst es genießen, denn es wird eine tolle Jagd sein, eine gewaltige Herausforderung, bei der du der Held bist, der seine Pflicht gegenüber der Menschheit tut.“
„Genauso ist es“, stieß Crowell hitzig hervor. „Meine moralische Pflicht. Halte du dich nur an deine Bücher und Gänseblümchen. Was mich betrifft, so ziehe ich jetzt los, suche diesen menschlichen Abschaum und knalle ihn ab!“
„Könntest du das wirklich tun?“ fragte Brooks. „Ich meine, es ist leicht, das so allgemein dahinzusagen. Aber wenn du wirklich vor ihnen stehst – kannst du dann den Abzug durchziehen? Es sind Menschen, Crowell, Frauen vielleicht.“
„Meine Hände werden nicht zittern.“ Einige Sekunden lang starrte er Brooks finster an, dann ging er zum Flugzeug. Mit der Blechschere aus Nunez’ Werkzeugkasten schnitt er die Aluminiumschale von der Rückseite eines Sitzes ab. Dann setzte er sich auf den Boden und riß mehrere Hemden in Streifen.
„Mach dir keine Sorgen, Brooks“, sagte er voll Sarkasmus, „ich habe dem Flugzeug nicht weh getan.“ Er umwickelte sein gesundes Bein vom Knie bis zum Fußgelenk mit den Tuchstreifen, dann bog er das Aluminium um den dicken Verband und zog die Hose darüber. „Zum Schutz“, erläuterte er. „Diese blutgierigen Weiber schießen ihre Giftpfeile offenbar immer auf den Unterschenkel ab.“ Er stand auf und verließ das Lager, ohne noch ein Wort zu verlieren.
Es war einfach, der Fährte der Killer zu folgen. Offensichtlich rechneten sie nicht damit, daß ihnen jemand folgte. Sonst hätten sie sich doch sicher bemüht, ihre Spuren zu verwischen, sagte sich Crowell. Die Fährte führte in den Dschungel und zog sich dann nach Westen am Fluß entlang. Als Crowell bemerkte, daß er sich bis auf dreißig Meter der Stelle genähert hatte, wo er gestern den toten Indianer gefunden hatte, beschloß er, sich die Zeit zu nehmen, kurz nach seiner Falle zu schauen. Zuerst dachte Crowell, er hätte eine Art Faultier oder einen Ameisenbären gefangen. Aber als er näher heran war, sah er, daß er sich geirrt hatte: Was da vom Baum herabhing, ähnelte am ehesten noch einem menschlichen Kind, einem Zwölfjährigen etwa, der einen Anzug aus silbergrauen Schuppen trug. Das Wesen schien tot zu sein. Es hing an einem Fuß, mit dem Kopf nach unten, seine Augen waren starr und trüb.
Bevor er es auf den Boden sinken ließ, nahm Crowell dem Wesen seinen Gürtel ab, an dem vier Kristalldornen und ein Metallstab von der Länge eines Bleistiftes hingen. Als seine Beute auf dem Boden lag, beugte sich Crowell darüber, um sie genauer zu untersuchen.
Das ovale Gesicht war eindeutig menschenähnlich, abgesehen von seiner kreidigen Blässe, den fehlenden Lippen und den milchigen, glasigen Augen. Ein gelblicher Fleischklumpen hing ein kleines Stück weit aus der Gesichtsöffnung, die vermutlich als Mund diente. Während Crowell die Gesichtszüge des kleinen Killers genau betrachtete, zuckte das zungenähnliche Ding plötzlich zurück, und die Mundöffnung wurde zu einer schmalen, geraden Linie, die einer gut verheilten Narbe ähnelte. „Es lebt noch“, sagte Crowell überrascht. Die Augäpfel verschwanden unter den weißen Lidern. Crowell band ihm schnell Hände und Füße zusammen und schleppte den Körper hinüber zu einer Agave, wo er ihn an den Stamm fesselte, so daß er sich in einer sitzenden Position befand.
Die Lider flatterten und öffneten sich, und kurz waren wieder die milchig-trüben Augen zu sehen. Doch dann zog sich eine Art Membrane von den Augäpfel zurück, und der Blick des Wesens wurde klar. Es sah Crowell aufmerksam und interessiert an. „Was bist du nur für eine Mißgeburt, du widerwärtiger, mordlustiger Mistkäfer?“ fragte Crowell.
„Mistkäfer?“ wiederholte das Wesen. Eine dünne Linie gelblicher, kurzer Haare, die wie ein Paar Augenbrauen über seinen Augäpfeln verlief, verzog sich zu einer Art Stirnrunzeln, und die milchigen Nickhäutchen huschten wieder über die Augen. „Insekt, niedriges Glied in der Nahrungskette, Beutetier für eine Reihe von überlegenen Arten.“ Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. „Ich bin kein Mistkäfer“, sagte es.
„Ein Goliath bist du aber auch nicht gerade“, versetzte Crowell. „Warum hast du den Blaurock umgebracht?“ Er deutete auf das Gebüsch, in das er den Körper des Indianers geschleppt hatte. „Und warum haben deine Spießgesellen meinen Piloten umgebracht? Warum habt ihr ihnen die Köpfe abgeschnitten? Was habt ihr mit ihrem Blut angestellt?“
Die Kreatur schüttelte mit fasziniert gehobenen Brauen den Kopf. „Du verlangst Informationen von mir?“ fragte sie. „Wäre es möglich, daß bei dir rudimentäre Ansätze zu bewußtem Handeln vorhanden sind?“
„Ich stelle hier die Fragen“, schnappte Crowell. „Warum hast du den Indianer ermordet?“
„Den im Baum?“ Die Stimme war hoch wie die eines Kindes, und das Wesen sprach alle Silben sehr sorgfältig aus; soweit Crowell feststellen konnte, hatte es jedoch keinen ausländischen Akzent. „So wie die graue Eule Mäuse jagt, hat der im Baum graue Eulen gejagt.“
„Und mich?“ fragte Crowell, „mich habt ihr auch gejagt?“
„Ja, letzte Nacht dachte ich, ich hätte dich erwischt, aber anscheinend habe ich dich doch verfehlt.“
„Was für eine Art Perverser bist du eigentlich?“ schnaubte Crowell. „Wo kommst du her, du Mißgeburt?“ Crowell war zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei dem kleinen Kerl um einen Fehltritt der Natur handeln mußte. Wahrscheinlich war er von seinen Eltern verwöhnt worden. Offenbar waren diese so wohlhabend, daß sie ihn mit dem Geld für seine mörderischen Abenteuer versorgen konnten. Der Bursche litt sicher unter seinem entstellten Äußeren, und jetzt ließ er seinen Haß an den normalen Menschen aus, indem er sie tötete und verstümmelte. Dann waren es also doch keine religiösen Fanatiker, die für die Rinderverstümmelüngen in den Vereinigten Staaten verantwortlich waren: Es war diese wahnsinnige Mißgeburt.
„Ich komme von einem Sonnensystem, das weiter entfernt ist, als du dir vorstellen kannst“, sagte die Mißgeburt. „Warum verhörst du mich? Warum hast du mich noch nicht getötet?“
„Sonnensystem?“ fragte Crowell verdutzt. Er dachte kurz über diese Möglichkeit nach, verwarf sie aber sofort wieder. „Dann hast du wohl an den Rindern in den Staaten geübt, und jetzt willst du hier mal echtes Menschenblut probieren.“ Crowell sprach mehr zu sich selbst als zu dem Fremden. „Deine Eltern hätten dir besser einen guten Psychiater suchen sollen, als dir das Geld für deine perversen Vergnügen zu geben. Wer Menschen jagt und tötet ist krank. Krank!“
„Wir sind gekommen, um euch einen Dienst zu erweisen“, sagte die Mißgeburt. „Ihr habt die optimale Bevölkerungsdichte für eure Welt überschritten, und ihr seid ganz oben in der Nahrungskette. Wir übernehmen eine Funktion, die auf eurem Planeten fehlt: Eure Art benötigt ein überlegenes Raubtier, das eure Bevölkerungszahl in Grenzen hält. Natürlich kommen wir auch wegen des Abenteuers, das in der Sache liegt. Ganz so wie der Mann, der hier auf dem Baum gesessen hat.“
„Ich werde jetzt die anderen suchen“, entschied Crowell. „Ihr Wahnsinnigen habt meinen Piloten ermordet. Ich werde mir später überlegen, was ich mit dir mache.“ Er prüfte die Fesselknoten, um sicherzustellen, daß ihm die Mißgeburt nicht entwischte. „Sind deine Spießgesellen bewaffnet?“ fragte er. „Ich meine mit richtigen Schießeisen und nicht nur mit deinen komischen Giftpfeilen?“
„Ja, aber geh ihnen nicht nach. Sie werden dich töten.“
„Hast du das nicht letzte Nacht auch versucht?“ fragte Crowell höhnisch.
„Ja. Aber da hatte ich noch nicht mit einem Wesen von deiner Art kommuniziert. Deine Bewußtseinsebene läßt darauf schließen, daß du über Ansätze zu einem Moralgefühl verfügst. Es scheint auf bewußtem Denken aufzubauen. Wenn das tatsächlich so ist, sollten wir dir vielleicht das Leben lassen.“
Crowell lachte. „Du bist noch verrückter, als ich dachte.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zu der Spur zurück, die Nunez’ Mörder hinterlassen hatten. Ihre Fährte führte über mehrere Kilometer etwa parallel am Fluß entlang. Als Crowell auf ältere Spuren stieß, die sich mit den neuen vermischten, wurde er vorsichtiger. Er wußte, daß ihr Lager ganz in der Nähe sein mußte. Die ganze Zeit über hatte er gehofft, auch einmal größere Fußabdrücke zu finden, aber es waren immer die gleichen, kleinen Spuren. Crowell schloß daraus, daß die Mißgeburt für das Unternehmen nur Frauen angeheuert hatte. Vielleicht waren es auch Männer, die die gleiche Statur hatten wie der kleine Bursche selber, und er hatte sie ausgewählt, damit er sich nicht unterlegen fühlte.
Als die Häufigkeit der Fußspuren darauf schließen ließ, daß sich das Lager unmittelbar vor ihm befand, machte Crowell einen Bogen und ging mit äußerster Vorsicht weiter. Als er den Rand einer Lichtung erreichte, sah er das Schiff.
Es war ein matter Metallzylinder mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. So etwas hatte Crowell noch nie zuvor gesehen. Aber er war sich sofort sicher, daß es sich um ein Schiff handeln mußte. Die beiden Wesen, die er verfolgt hatte, machten sich an einem kleinen Tisch auf dem Boden direkt neben dem Zylinder zu schaffen. Zu seinem Schrecken stellte Crowell fest, daß sie dem Burschen, den er an die Agave gefesselt hatte, aufs Haar glichen. Dann mußten es tatsächlich Außerirdische sein. Eine solche Mißgeburt konnte auf der Erde zur Welt kommen, aber nicht drei von ihnen. Und dann war da noch dieser Zylinder, eindeutig ein Raumschiff oder vielleicht eine Art Raumfähre, mit der sie ihr eigentliches Schiff erreichen konnten. Wie dem auch sei, dachte Crowell grimmig, dies waren die Ungeheuer, die seinen Piloten getötet hatten.
Er zielte sorgfältig und feuerte schnell hintereinander zwei Schüsse ab. Die Kreaturen fielen ohne einen Laut zu Boden. Er wartete ab, ob weitere Wesen aus dem Schiff herauskommen würden, doch dann entschied er, daß außer den beiden niemand mehr hier war, und er wagte sich hinaus auf die Lichtung.
Zunächst untersuchte er die beiden Kreaturen und stellte mit grimmigem Kopfnicken fest, daß seine Kugeln ihnen den größten Teil der Köpfe weggerissen hatten. Dann ging er zum Tisch hinüber.
„Nunez!“ sagte er laut und sprang unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Außerirdischen hatten an zwei menschlichen Köpfen hantiert. Einer gehörte offensichtlich zu dem Indianer, und den anderen hatte man seinem Piloten abgeschnitten.
Crowell versuchte ins Schiff zu steigen, aber er konnte nirgends eine Tür finden. Neben dem Tisch entdeckte er einen Gegenstand, der ihm wie ein Werkzeugkasten vorkam. Er hob ihn hoch, warf noch einen schnellen Blick auf die Köpfe auf der Tischplatte und trat dann den Rückweg ins Lager an.
Die Köpfe, sagte er zu sich selbst, sind Trophäen, und das Blut … Bei dem Gedanken zuckte er zusammen und blieb stehen. Vielleicht tranken sie das Blut, so wie Jäger manchmal das Fleisch ihrer Beutetiere verzehren.
Anders als Brooks war Crowell kein introvertierter Mensch. Und er war auch nicht dumm. Brooks hatte ihm einmal vorgehalten, daß er sein Leben so aktiv gestaltete, weil er dem Nachdenken entgehen wollte. Das war in einem Streit geschehen, und daher hatte Crowell ihm schnell verziehen. Doch später, bei seinen seltenen Augenblicken der Selbstanalyse, mußte er sich eingestehen, daß ein gut Teil Wahrheit in diesen Worten lag. Während er mit der Aufgabe beschäftigt war, den Tod des Piloten zu rächen, hatte er kaum nachgedacht. Er hatte sich lieber auf Annahmen und vorgefaßte Meinungen verlassen. Doch jetzt, da das gesteckte Ziel erreicht war, setzten ihm die Tatsachen zu, und die Tatsachen sprachen eher gegen seine Vermutungen.
Die Mißgeburt und er selbst hatten viel miteinander gemein. Dieser Gedanke verursachte Crowell einen bitteren Geschmack im Mund. War ihm nicht gestern noch selbst die Überbevölkerung auf der Erde wieder einmal bewußt geworden? Er hatte sich über die Menschen beklagt, die sich bis in die Wildnis hinein ausbreiteten, so daß er einen anderen Kontinent aufsuchen mußte, wenn er noch gute Jagdgründe vorfinden wollte. Der sonderbare Fremdling hatte nur Crowells eigene Logik erweitert, mit der er seine Jagdlust zu verteidigen pflegte. Wenn er wirklich so sehr mit dem Fremden übereinstimmte, sagte sich Crowell, dann hätte er den Außerirdischen ja gleich seine Dienste bei der Menschenjagd anbieten können, anstatt sie zu töten.
Crowell seufzte voller Selbstzweifel und setzte seinen Weg zum Lager fort. Es war noch lange nicht das gleiche, ob man Tiere oder Menschen tötete, entschied er. Aber er war sich bewußt, daß in dieser Entscheidung nicht seine ganze Überzeugung lag.
In der Nähe des Lagers verließ er seinen Pfad, um nach dem Außerirdischen zu sehen, den er an die Agave gebunden hatte.
Aber die Lichtung war leer. Crowell sah sich nervös um, dann besann er sich darauf, daß er den Fremdling entwaffnet hatte, und er trat hinaus auf die Lichtung, um die Stelle zu untersuchen, wo er gesessen hatte.
Die Nylonschnur war noch da, aber sie war mehrfach zerstückelt. Sie war nicht zerschnitten, sondern an mehreren Stellen durchgeschmolzen.
Im Lager hörte sich Brooks Crowells Geschichte kommentarlos an. Seine Miene war skeptisch, aber statt seine Zweifel auszusprechen, wandte er sich lieber dem Werkzeugkasten zu. „Diese nachgiebigen Stellen hier am Rand sind vermutlich eine Art Schloß“, sagte Brooks. Er versuchte sie – ohne Ergebnis – einzeln einzudrücken, dann betätigte er sie gleichzeitig. Doch anstatt aufzuspringen, begann der silberne Kasten in einer melodiösen, unglaublich fremden Sprache zu reden.
Crowell sprang zurück. „Das ist die Stimme von dieser außerirdischen Mißgeburt“, stieß er hervor. „Das Ding muß eine Art Funksprechgerät sein.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Brooks. Er drückte auf eine Seite des Kastens, und die Stimme verstummte, dann setzte sie wieder ein, diesmal in einer anderen Sprache. „Russisch“, kommentierte Brooks. Er drückte wieder auf das elastische Material, und die Sprache änderte sich erneut. „Diesmal ist es Spanisch.“ Er hörte ein paar Sekunden lang zu. „Dodd, das muß ein Aufnahmegerät sein. Ich habe keine Ahnung, wozu es sonst noch gut sein kann – im Augenblick gibt es jedenfalls gerade eine Lektion in Spanisch. Das gleiche hat es vermutlich auch auf Russisch getan, aber in dieser Sprache sind meine Kenntnisse ein wenig eingerostet, deshalb war ich mir nicht sicher. Du sagtest, der Fremde hat dir erzählt, daß sie hierher gekommen sind, um Menschen zu jagen?“
„Dann glaubst du mir wohl endlich?“ fragte Crowell mit einiger Befriedigung in der Stimme.
„Du versuchst doch auch immer soviel wie möglich über deine Beutetiere in Erfahrung zu bringen“, erwiderte Brooks. „So verminderst du das Risiko bei der Jagd und erhöhst deine Chance, erfolgreich zum Schluß zu kommen. Es ergibt durchaus einen Sinn, wenn sich diese Jäger in bezug auf ihre Beute genauso verhalten.“ In schneller Folge drückte er zweimal auf beide Seiten des Kastens gleichzeitig, und das Gerät verstummte, wie er es erwartet hatte.
„Was hältst du hiervon?“ Crowell hielt ihm den bleistiftähnlichen Metallstab entgegen, den er dem Außerirdischen abgenommen hatte.
„Vermutlich eine Waffe oder ein Werkzeug. Also, Dodd, wir müssen uns jetzt diesen Kasten ins Flugzeug laden und uns aus dem Staube machen, bevor das Wesen hierher kommt. Wenn wir das Aufnahmegerät vorzeigen können, dann haben wir einen ausreichenden Beweis, um jedermann davon zu überzeugen, daß eine große Gefahr auf die Menschheit zukommt.“
„Eine Waffe?“ Crowell hielt sich den Metallgegenstand dicht unter die Augen. „Sieh mal, hier ist ein winziger Knopf. Was sagst du dazu? Ein Lichtstrahl, vielleicht vierzig Zentimeter lang.“ Er nahm einen Stock vom Boden auf und schnitt ihn mit dem Strahl in der Mitte durch. „Ein Laserskalpell. Ich wette, mit dem Ding haben sie die Köpfe abgeschnitten.“
„Dodd, hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Man braucht doch mindestens zwei Megawatt Energie, um ein solches Gerät zu versorgen.“ Er zerlegte den Stock in weitere kleine Stücke. „Was meinst du – wie bringen sie soviel Energie auf diesem kleinen Raum unter? Und wieso ist der Strahl genau auf diese kurze Reichweite begrenzt?“
„Dodd Crowell, kannst du das Ding jetzt mal weglegen und mir zuhören? Wir haben es hier mit einer ernsten Bedrohung für die Menschheit zu tun. Wir müssen fort von hier, damit wir die Menschen warnen können.“
„Ich habe alles gehört, was du gesagt hast.“ Crowell schaltete den winzigen Laser aus und verstaute ihn in seiner Tasche. Er sah Brooks scharf an und bemerkte, daß dessen Hände ölverschmiert waren. „Du hast geschuftet wie ein Sklave, um den Motor wieder zusammenzubekommen, damit du von hier abhauen kannst, damit du Nunez’ Mördern entwischst. Und jetzt, wo du weißt, wer ihn umgebracht hat, hast du noch mehr Angst und willst türmen wie ein aufgescheuchtes Kaninchen. Ist die Maschine startklar?“
„Nun werde nicht unsachlich! Nein, der Motor funktioniert noch nicht, ich werde ungefähr noch eine Stunde brauchen. Aber uns bleibt keine Stunde mehr, Dodd.“
„Kein Grund zur Eile. Wir können die Menschheit auch noch morgen warnen, wenn wir es wirklich wollen.“
„Wenn, Dodd, wenn? Begreifst du denn nicht, wie ernst diese Bedrohung ist?“
„Für die Kaninchen in der Welt, für die Angsthasen, schon, aber wir sind keine Kaninchen. Wir werden überleben. Diese Killer erwischen doch nur die Arglosen und die Schwachen, genau wie ich, wenn ich auf Jagd gehe.“ Crowell sah Brooks verächtlich an. Diese Fledermäuse haben sich schon das richtige Opfer ausgesucht, dachte er, als sie Brooks Zelt auswählten.
„Wenn das wirklich so ist“, entgegnete Brooks, „wieso suchst du dir dann immer die kapitalsten Böcke aus, die mit dem prächtigsten Geweih? Du suchst nach den Stärksten, nicht den Schwächsten, und so schadest du der Art, statt ihr zu nützen.“
Crowell ging auf Brooks’ Argument nicht ein. „Worauf du wirklich hinaus willst, ist folgendes: Du willst dich in Sicherheit bringen, damit du überlebst. Die Welt zu warnen ist für dich zweitrangig. Aber solange ich in der Nähe bin, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Vergiß bitte nicht, daß ich schon zwei von ihnen erledigt habe.“