ENDLICH WIEDER LEBEN

Keine Experimente« wählte die CDU als Slogan für die Bundestagswahl 1957 und erzielte mit über fünfzig Prozent das bis heute beste Ergebnis einer Partei in der Nachkriegszeit. Keine Experimente, nicht in der Politik und nicht in der Kultur, das wünschte die übergroße Mehrheit der Bundesbürger. Gleichzeitig stieg Elvis Presley mit »Jailhouse Rock« und »Heartbreak Hotel« zum King of Rock auf. Seine erotische Stimme und sein Hüftschwung versetzten Teenager in Ekstase und ihre Eltern in Schrecken. So schillerten die 1950er Jahre zwischen Restauration und Rebellion, zwischen Tradition und Aufbruch, Anstand und Krawall.

Die konservativen Mehrheitsverhältnisse waren allerdings eindeutig. Eine Untersuchung des Bielefelder Emnid-Instituts aus dem Jahr 1956 hielt das Autoritätsgefühl der 15- bis 24-Jährigen für stark ausgeprägt. 54 Prozent von ihnen antworteten auf die Frage, ob Jugendliche Vorschriften nicht kritisieren, sondern befolgen sollten, mit ja; ein Jahr zuvor waren es noch 47 Prozent gewesen. Politische Mitverantwortlichkeit wurde von 55 Prozent begrüßt, aber 41 Prozent sahen Politik bei den Politikern besser aufgehoben als bei den Bürgern. Nur 37 Prozent der Jugendlichen waren überhaupt an Politik interessiert, 62 Prozent bekundeten Desinteresse. Anders als die Medien suggerierten, konnten die Meinungsforscher auch keine verbreitete »Vergnügungssucht« feststellen. Das Tanzen war unter Jugendlichen weniger beliebt als einst bei ihren Eltern; überraschenderweise zog die junge Generation altmodische Tänze wie Walzer und Tango den neumodischen »Verrenkungen« wie beim Rock ’n’ Roll oder Boogie Woogie vor – genau wie ihre Eltern.151

Erich Kästner sprach vom »motorisierten Biedermeier«, einer kleinbürgerlichen, primär auf die eigene Häuslichkeit zurückgezogene Idylle. Mehr als zwei Drittel der Bundesbürger interessierten sich nicht für Politik. In ihrer Freizeit lasen sie Zeitung, putzten das Auto, waren im Garten beschäftigt, pflegten ihre Hobbys – der Massentourismus entwickelte sich erst langsam – und trafen sich regelmäßig mit der Familie vor dem Radio. Untersuchungen ergaben, dass abends zwischen 19 und 21 Uhr etwa die Hälfte, an Sonntagmittagen sogar vier Fünftel aller Geräte eingeschaltet waren. Man hörte neben Schlagern und Operetten auch Kabarettsendungen, sehr beliebt waren zudem Hörspiele, zu deren Autoren Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Günter Eich zählten. Später traf sich die Familie ähnlich kollektiv, oft auch mit Freunden und Verwandten, vor dem Fernseher. Zu den populärsten Sendungen zählten das von Robert Lemke moderierte Ratespiel »Was bin ich?« (1955) und die von Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff moderierten Unterhaltungsshows.

Der Wohnung kam angesichts eines stark auf Familie und Häuslichkeit bezogenen Lebensstils große Bedeutung zu. Glücklich war, wer nach Flucht und Vertreibung und Jahren in beengter Untermiete oder in Nissenhütten wieder eine eigene Bleibe erhielt, sei es – im Westen oft ermöglicht durch den Lastenausgleich – ein Eigenheim, sei es eine Wohnung im sozialen Wohnungsbau. Die engen, hellhörigen Neubauten waren begehrt, während Altbauwohnungen gemieden wurden; oft trugen sie Spuren des Krieges, hatten heruntergekommene Installationen und aus Spargründen heruntergezogene Decken. Wer es sich leisten konnte, ließ einen lichtdurchfluteten Bungalow bauen.

Vorherrschend für die Wohnzimmerausstattung blieben dunkle, schwere Möbel aus Wilhelminischer Zeit, ein großer Esstisch mit Stühlen inmitten des Raums, an der Wand ein reichverzierter Schrank mit Gläsern und Porzellanservice hinter Glasschiebetüren. Die Couchgarnitur mit dem niedrigen (Nieren-)Tisch und den Stehlampen mit trichterförmigen Schirmen (»Tütenlampen«) entsprach nur dem Geschmack einer Minderheit, war allerdings wesentlich bequemer, wenn man – was zunehmend geschah – den Fernsehapparat anschaltete.

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In den fünfziger Jahren setzten Architektur und Design auf Schwerelosigkeit, auf schräge Formen und Pastelltöne. Wer modern sein wollte, ließ das Dunkle und Schwere hinter sich – wie Franky Quade, Hausfotograf vom Nachtclub-Besitzer Rolf Eden, der sich hier mit Frau Traudchen in seinem neuen Ambiente präsentiert. Von Tütenlampen, über Ausklappsofa, Couchtisch bis zum Fernseher sind alle Insignien der neuen Wohnkultur vorhanden.

Bei den Einen, den Modernen, hing an den Wänden bunt Abstraktes, bei den Anderen, den Traditionsbewussten und Spießern, fanden sich Landschaften, Blumensträuße, Kuckucksuhren und röhrende Hirsche. Die Palette war breit, auch bei den Tapeten; mal war das Muster wild, mal gestreift, mal gepunktet, oft farbig.

Die holzvertäfelten, wuchtigen Musiktruhen verfügten über Zehnplattenwechsler, die einen mehrstündigen Musikgenuss ermöglichten. In Küche, Bad und Freibädern tauchten hingegen immer öfter Kofferradios mit Tragegurt auf, mit Kunstledereinband oder mit Bakelit, mal dezent, mal knallfarben. Manche nahmen das Transistorgerät sogar zum Sonntagsspaziergang mit der neuen Freundin mit, um mit ihr Caterina Valente zu hören.

Alltag und Sonntag, Arbeit und Ruhe waren säuberlich getrennt. Am Sonntag fuhr der Vater nicht in die Fabrik oder das Büro, die Mutter wusch keine Wäsche, und die Kinder gingen nicht in die Schule. Am Sonntag holte die ganze Familie die Sonntagskleider aus dem Schrank, »da passierte gar nichts, und es war mucksmäuschenstill«. Als kleines Mädchen hat Gitta A. die Sonntage gehasst. Denn da wurde nur abgehakt, was die Rituale vorschrieben. »Meine Eltern gingen fast nie zur Kirche. Damit aber die Familie im Souterrain der Villa keinen schlechten Eindruck von uns bekam, wurde zumindest ich zum Kirchgang verdonnert.« Danach lief das weitere Programm ab: Mittagessen mit Braten, Gurkensalat und angedickter weißer Sauce, Mittagsschlaf, danach der übliche Spaziergang. »Mein Großvater trug selbstverständlich immer Schal, Hut und Handschuhe zum Mantel. Mein Vater verzichtete schon auf Hut und Handschuhe, wenn er mit uns antrat. Ich trug das Kleid, das nach dem Entwurf meiner Mutter genäht worden war, meine Mutter einen sehr engen Rock, den linken Arm hatte sie eingehakt bei meinem Vater, den rechten Arm mit dem kleinen Handtäschchen leicht angewinkelt. Das einzig Erfreuliche des Nachmittags war für mich die italienische Eisdiele, an der die Sonntagsspaziergänge im Sommer vorbeiführten. Da durfte ich mir immer ein Eis holen.«

Auch bei der Erholung am Sonntag galt es, die Benimmregeln einzuhalten, die dem sozialen Status der Familie und der jeweiligen Rolle der Familienmitglieder entsprachen, wie denn der Wiederherstellung von konservativem Rollenverhalten insgesamt eine große Bedeutung zukam. »Eine gute Ehefrau weiß stets, wo ihr Platz ist«, lernte Rosely Schweizer, die älteste Tochter des Unternehmers Rudolf August Oetker. Sie wusste also: »Halten Sie das Abendessen bereit. Machen Sie sich chic. Seien sie fröhlich, machen Sie sich interessant für ihn. Vergessen Sie nicht, dass seine Gesprächsthemen wichtiger sind als Ihre.«

Auch für die Mutter von Gitta A. war es ganz selbstverständlich, die Rolle als »Frau an seiner Seite« einzunehmen und Ausbildung und Studium Ehe und Familie unterzuordnen. »Meine Mutter wollte Modezeichnerin werden. Doch sie hat die Schule abgebrochen, um einen gut situierten Mann zu heiraten. Sie genoss den Luxus an seiner Seite – wir wohnten in einer sehr großen Wohnung in einer Villa mit Park – und partizipierte von der Rolle, die er im beruflichen und gesellschaftlichen Leben spielte. Geistreich zu sein war ein anregendes, wenn letztlich auch überflüssiges Plus, denn Esprit, Wissen und Charme fanden als Kulisse höchstens die private Teaparty. Die Partys am Ende von Vertretertagungen waren für meine Mutter Höhepunkte ihres gesellschaftlichen Lebens – sie war immer die schönste und die jüngste unter den Ehefrauen.«

Partys wurden der große Hit der Mittelschicht, mit Cocktails, in denen Oliven schwammen, und einem Buffet, das neben Fleischsalat, Spargel-Schinken-Röllchen, Käse-Igel und russischen Eiern exotische Kombinationen aus Amerika mit Toast, Ananas und Mandarinen aufwies. Man wollte sehen und gesehen werden, unverbindlichen Smalltalk halten, neue Kontakte knüpfen, Klatsch austauschen und die neuesten Cocktailkleider vorführen. »Frau Volksmann kam die Treppe herunter«, so Martin Walser in seinen Ehen in Philippsburg, »nein, sie schritt die Treppe herunter, eine Hand lose auf dem breiten Holzgeländer mitschleifend; bei jedem Schritt abwärts knickte sie in den Knien ein bisschen ein, so dass ihr Gang etwas Onduliertes, Schwebendes bekam, ein großer Vogel in weinroter Seide, der von den Gästen mit vielen Ahs und Ohs gewürdigt wurde … Jetzt also würde die Party beginnen.«152

Es war für Frauen allerdings auch anstrengend, den Anforderungen an die äußere Erscheinung gerecht zu werden. »Ich weiß noch, wie die Frauen bei gesellschaftlichen Anlässen des Öfteren mit ihren kleinen Handtäschchen in die Badezimmer verschwanden, um die Unkorrektheiten auszugleichen«, erinnert sich Gitta. »Der Lippenstift verschmierte schnell, die Augentusche verlief. Und dann der Aufwand um die Frisuren! Jede Woche zum Friseur: ›Einmal waschen und legen!‹ Die Kopftücher, die die Frisuren schützen sollten, das Haarnetz, das in der Nacht übergestreift wurde! Und die Stöckelschuhe: So sexy sie auf der einen Seite waren, so hatte man doch große Probleme mit ihnen auf dem Kopfsteinpflaster; nicht selten brach ein Absatz in irgendeinem Gitter ab. Auf Linoleum und Parkett durfte man sie gar nicht tragen. Bei den Strümpfen war ständig darauf zu achten, dass die Naht hinten richtig saß, und kaputt waren sie auch schnell und kamen dann zur Laufmaschenannahme!«

Diese Begleiterscheinungen vermochten die neu erwachte Lebensfreude an Mode, Schönheit, Verführung jedoch nicht grundsätzlich zu trüben. Der mädchenhafte »New Look« à la Dior eroberte die junge Generation: schmale Schultern, enge, oft durch Mieder geschnürte Taillen und wadenlange, weite, durch Petticoats gestützte Röcke. Ebenso weiblich, aber eleganter und eher geeignet für die erwachsene und berufstätige Frau war die »Bleistiftlinie« – enger Rock mit Schlitz und tailliertes Jäckchen. Dazu, sorgfältig abgestimmt, entsprechend farbige Handtaschen und Hüte, mal klein als Käppi, mal breitkrempig wie ein Wagenrad. Die ersten Frauen wagten sich an Hosen, höchst umstrittene dreiviertellange und eng anliegende Capri-Hosen, wie sie Audrey Hepburn im Film trug, eigentlich gedacht für die Freizeit, in existentialistischen Kreisen aber in Kombination mit schwarzem Pulli und flachen Sandalen auch als Alltagslook verwendet.

Die Modefotografie nahm einen großen Aufschwung. Die Bilder auch international erfolgreicher deutscher Modefotografen wie Regina Relang, Willy Maywald oder F. C. Gundlach schmückten die Titelblätter nicht nur von Frau im Bild und Constanze, sondern auch von Vogue, Madame und Harper’s Bazaar. Ein eigener Bilderkosmos entstand, Abbilder einer Luxuswelt, in der sich Schauspielerinnen und Mannequins in Cocktailkleidern, ausgefallenen Pepitakostümen, hauchdünnen, vielschichtigen Petticoats und nerzverbrämten Abendkleidern mit selbstverständlicher Eleganz in Szene setzten. Er sei ein Märchenerzähler gewesen, sagte der Fotograf F. C. Gundlach, die großen Seiten der Modezeitungen seien alle Traumseiten gewesen.

Wenigstens zeitweilig konnten Frauen so einem Alltag entfliehen, den sie oft als belastend und bedrückend erlebten, für den sie Rat brauchten und Rat suchten. Es gab Eheprobleme angesichts oft rücksichtsloser, auch gewalttätiger und trunksüchtiger Männer; es gab wirtschaftliche Probleme, wenn das Einkommen des Mannes nicht ausreichte, um die vielen neuen Wünsche zu erfüllen, und sich die Haushalte verschuldeten; es gab Erziehungsprobleme, wenn Alleinerziehende überfordert waren oder Eltern ihre zunehmend aufmüpfigen Kinder nicht mehr verstanden. Am populärsten wurde die Rubrik »Fragen Sie Frau Irene« in der Rundfundzeitschrift Hör zu. Hinter »Frau Irene« verbarg sich allerdings keine Frau, sondern der Schriftsteller und Drehbuchautor Walther von Hollander, ein Pfarrerssohn, keineswegs Psychologe von der Ausbildung her, sondern Philosoph. Jahrelang erteilte er Ratschläge, ohne dass seine Leserinnen ahnten, von einem Mann beraten zu werden. Frau Irene war traditionell, insofern sie Scheidungen ablehnte, zu Lösungen innerhalb der Familie riet und das Entgegenkommen in Konfliktsituationen von der »sensibleren« Frau erwartete. Frau Irene war modern, insofern sie die Gleichberechtigung der Frauen, ihre Erwerbstätigkeit und eine eher partnerschaftliche Ehe unterstützte, auch indem sie zwischen den Generationen vermittelte, sich gegen autoritäre Erziehungsmethoden wandte und der Jugend das Recht auf eine eigene Kultur zusprach. Frau Irenes Ratschläge können daher als ein typisches Beispiel gelten für die vorsichtige Öffnung, die sich in den 1950er Jahren hinter traditionellen Normen vollzog. Das alte Rollenverständnis brach auf, ohne dass der konventionelle Rahmen gesprengt worden wäre, aber die Gewichte verlagerten sich.

Von ambivalenten Tendenzen durchzogen war auch die Unterhaltungsindustrie. Einerseits existierte großer Zuspruch für die romantisch verklärten Sehnsuchtswelten von Rudi Schuricke und seinen »Capri-Fischern« oder von René Carol mit seiner Verehrung für »Rote Rosen, rote Lippen, roten Wein«; Freddy Quinn schaffte es mit seinen Liedern von Fern- und Heimweh sogar zum ersten Schallplattenmillionär der Bundesrepublik. Andererseits erlebten die Kabaretts mit ihren bissigen, ironischen, respektlosen Kommentaren eine Hoch-Zeit, etwa die »Insulaner« und die »Stachelschweine« in Berlin, das »Kom(m)ödchen« in Düsseldorf und die »Lach- und Schießgesellschaft« in München – sogar Ost-Berlin hielt sich mit der »Distel« ein (zensiertes) Kabarett.

Der deutsche Film pendelte zwischen heiler Welt und nicht vernarbten Wunden. Voraussetzungen für einen großen Publikumserfolg, so die Filmverleiherin Ilse Kubaschewski, seien sympathische Hauptfiguren, ein Happy End, dazu »viele Bilder von der Heimat, sehr viel Musik und immer wat zum Lachen«.

Tatsächlich sind fast 300 Heimatfilme in jener Dekade nach diesem Muster entstanden, einschließlich jener österreichischen Sissi-Trilogie, die ins Monarchisch-Märchenhafte abhob: Eine schöne, unbekümmerte Prinzessin aus Bayern wird Kaiserin von Österreich. Mochte die Kritik die farbenprächtigen Filme auch als Kitsch verreißen, so erwiesen sie sich doch als Kassenschlager. Etwa vierzehn Millionen Zuschauer strömten in die Operettenverfilmung vom Schwarzwaldmädel mit Sonja Ziemann und Rudolf Prack (1950). Grün ist die Heide aus dem Jahre 1951, erneut mit dem Traumpaar Sonja Ziemann und Rudolf Prack, zog mit sechzehn Millionen noch mehr Menschen an: Mit zauberhaften Landschaftsaufnahmen aus der Lüneburger Heide, mit guten, nur zwischenzeitlich fehlgeleiteten Menschen, mit einem Happy End und schließlich mit des Riesengebirglers Heimatlied – »Blaue Berge, grüne Täler … Riesengebirge, deutsches Gebirge, meine liebe Heimat du« – Balsam für die Seelen vieler Millionen Deutscher, die ihre Heimat durch Flucht und Vertreibung verloren hatten.

Doch es gab angesichts der Wiederaufrüstung in Westdeutschland auch Verweise auf das Grauen des Krieges etwa in Der Arzt von Stalingrad (1958) nach dem Roman von Heinz G. Konsalik. Helmut Käutner zeigte in Die letzte Brücke (1953/54) eine deutsche Oberschwester, die sich während des Krieges auf dem Balkan auch verantwortlich für verletzte jugoslawische Partisanen fühlt. In Des Teufels General (1955) – ebenfalls von Käutner – begeht ein Luftwaffengeneral mit dem Flug in einem defekten Flugzeug Selbstmord, um einem Todesurteil wegen Sabotage zuvorzukommen. Mehrfach preisgekrönt wurde Bernhard Wickis Film Die Brücke (1959), in dem Jugendliche noch in den letzten Kriegstagen eine unwichtig gewordene Brücke in einer Kleinstadt gegen anrückende Amerikaner verteidigen sollen. Wolfgang Staudtes Rosen für den Staatsanwalt (1959) zeigte schließlich die Geschichte eines Staatsanwalts, der in Adenauers Bundesrepublik fast ungestraft davongekommen wäre, obwohl er im Krieg einen Soldaten wegen einer Nichtigkeit zum Tode verurteilt hatte.

Ausländische Produktionen mit Brigitte Bardot, Gregory Peck, Vivien Leigh, Marilyn Monroe, Grace Kelly und Regisseuren wie Fred Zinnemann, Alfred Hitchcock oder Frederico Fellini lockten allerdings noch mehr Besucher ins Kino als die deutschen Streifen; sie waren künstlerisch oft ambitionierter, härter, skandalträchtiger, raffinierter. Im Jahr 1956 wurde in Westdeutschland mit 817 Millionen Zuschauern ein Besucherrekord verzeichnet, danach verlor das Kino dramatisch aufgrund des Siegeszuges des Fernsehers.153 Amerikanische Filme waren es im Übrigen auch, die den Widerspruch der jungen Generation gegen die reglementierte heile Welt der Eltern in Deutschland verstärkten. Eines der neuen Idole hieß Marlon Brando – als Johnny, Anführer einer Motorradgang, mischte er eine kalifornische Kleinstadt auf (Der Wilde, 1955). Ein anderes Idol hieß James Dean – als unangepasster Jugendlicher geriet er in Konflikt mit den Eltern, als vermeintlicher Verräter wurde er von seiner eigenen Bande verfolgt. (… denn sie wissen nicht, was sie tun, 1955). Deutschland bot mit Karin Baal und Horst Buchholz in Die Halbstarken (1956) eine eher gemäßigte Variante des Aufbegehrens an.

Die Halbstarken wurden zum Schrecken einer Elterngeneration, auch wenn sie immer nur einen kleinen Teil der Jugend bildeten. Aber sie signalisierten die zunehmende Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zwängen und den Wunsch nach eigenen kulturellen Ausdrucksformen. Gegen Operetten, Wunschkonzerte und Volkslieder setzten die Jungen Boogie Woogie, Blues und Rock ’n’ Roll. Bill Haleys »Rock Around the Clock« wurde zur Hymne einer ganzen Generation, allein in Westdeutschland wurde der Titel über eine Million mal verkauft, der gleichnamige Film (1956) zog überall ein begeistertes Publikum an. »Halbstarke« trugen Lederjacken und Nietenhosen und stylten sich die Frisur mit Pomade. Sie lärmten auf Straßen und Plätzen mit ihren Motorrädern und entluden ihren Frust in offener Gewalt. In Dortmund und anderen Städten lieferten sich Jugendliche Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Berlin endete das Konzert von Bill Haley im Sportpalast mit einer blutigen Schlacht, ein Konzertflügel wurde kurz und klein gehackt.

Superstar der Bewegung und König des Rock ’n’ Roll wurde allerdings der einstige Lastwagenfahrer Elvis Presley. »Presley verwandelt jedes Auditorium in einen Hochdruck-Dampfkessel, dessen Sicherheitsventil zerbrochen ist«, analysierte der Journalist Eric Random in Life, »aber nicht, weil er der nette Junge von nebenan ist, sondern aus einem andern Grunde. Seit Marlon Brando ein Gentleman geworden ist und James Dean sich zu Tode gefahren hat, ist er – der beiden etwas ähnelt – das hervorstechende Symbol der Rebellion.« Wenn sie seine weiche Stimme hörten und den erotischen Hüft- und Beinbewegungen folgten, gerieten die meist weiblichen Verehrer in ekstatische Erregung. Elternverbände, Religionsgemeinschaften und Medien gaben Elvis the Pelvis (Elvis das Becken) die Schuld für Sittenverfall, Ungläubigkeit und Jugendkriminalität. Das Ziel von Jugendverderbern wie Elvis Presley, Duke Ellington und Bill Haley, so auch der Rheinische Merkur, sei die Heranbildung von »pseudomusikalischen Rowdie-Sekten, um schließlich ungestört über ein Helotenvolk reizvergifteter und süchtiger Idioten gebieten zu können«.

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Teilweise gewaltsam durchbrachen die »Halbstarken« den Comment der jungen, konservativen Republik. Sie trugen Lederkleidung und Jeans, schlossen sich in Motorradclubs zusammen und orientierten sich am Rebellentum ihrer Idole Marlon Brando und James Dean. Sie hörten andere Musik als die Eltern, richteten sich nach anderen Normen, verfolgten andere Ziele. In einer Gesellschaft, die Anpassung verlangte, musste ihr aufsässiger Lebensstil auf massiven Widerspruch stoßen.

Tatsächlich standen »süchtige« Fans am Kai, als Elvis Presley am 1. Oktober 1958 mit dem Schiff USS General Randall in Bremerhaven eintraf. In der 3. Panzerdivision im hessischen Friedberg leistete der Star-GI bis März 1960 seinen Militärdienst ab. Er gab keine Konzerte, war in der Boulevardpresse jedoch immer präsent. Und trotz Militärdienst erschienen neue Singles.

Was da an angeblicher minderwertiger Massenkultur aus Amerika nach Europa schwappte, stieß nicht nur in konservativen Kreisen auf Ablehnung. Der junge Musikjournalist und Jazzspezialist Joachim-Ernst Behrendt erklärte Jazz zwar zur originellsten und vitalsten Musikerrungenschaft des 20. Jahrhunderts und attestierte ihm einen antitotalitären Charakter. Bezeichnenderweise sei diese Musik im NS-Regime und in der DDR unterdrückt worden. Für den linken Kulturphilosophen Theodor Adorno hingegen gehörte der Jazz zu einer armseligen, auf den Konsum eingestimmten Fabrikation. 154 Diese Musik afro-amerikanischen Ursprungs spiegelte für ihn keine Authentizität mehr, sondern nur noch Vermarktung; in ihren Anhängern erkannte er kaum noch »ehrlich protestierende, nach Freiheit begierige Menschen«, sondern autoritär gesteuerte Menschen, die seelisch auf die Vergangenheit ihrer Sklavenexistenz fixiert werden sollten.155

Amerikanischer Lebensstil wurde für eine ungewöhnliche Koalition aus Konservativen und Linken zum Schreckbild der Zukunft. Das konservative Bürgertum sah die angeblich überlegene deutsche und europäische Hochkultur in Gefahr; die Linke fürchtete die primitive Vermassung; in der kommunistischen DDR stand der Kampf gegen die »amerikanische Unkultur« im Zentrum der Propaganda. 156 Indem sie Kaugummi kauten, Coca Cola tranken, Jeans trugen, nach »Negermusik« tanzten, von Fans redeten, Comics lasen und Drinks tranken, taten die Jugendlichen genau das, was die Älteren fürchteten. Mochte Amerika auch technologisch und zivilisatorisch überlegen sein, so galt es kulturell als unterlegen. Amerika war seelenlose Massenkultur, reine Konsumgesellschaft, der man in Deutschland das Etikett Warenfetischismus anheftete. Wenn Amerikaner hilfsbereit und freundlich waren, sahen deutsche Intellektuelle darin »verlogene Heiterkeit«.

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Rock ’n’ Roll, Coca-Cola und Kaugummi eroberten die Jugend nicht nur bis weit in bürgerliche Kreise im Westen, Anhänger der »amerikanischen Unkultur« existierten auch massenweise in der DDR – in seltener Einigkeit fanden sich Konserative und Linke in ihrer Ablehnung.

Bis in die 1960er Jahre, so stellt der Historiker Axel Schildt fest, »war es in den bundesdeutschen Zeitschriften für das Bildungsbürgertum und in einschlägigen Feuilletons selbstverständlich, das wirtschaftliche, politische und militärische Bündnis mit dem Westen und eine enge Partnerschaft mit den USA zu bejahen, aber gleichzeitig die ›Amerikanisierung‹ als Aushöhlung humanistischer Kultur zu stigmatisieren.«157

Die Identifikation, die auf deutscher Seite dabei mit dem christlichen Abendland stattfand, vermittelte nicht nur das Gefühl der moralischen und ethischen Überlegenheit gegenüber dem kulturell unterlegenen Westen, sondern auch gegenüber dem bolschewistischen Osten. Dank der Parole »Freiheit statt Bolschewismus« gehörten nun auch jene wieder auf die Seite der Guten, die wenige Jahre zuvor noch selbst ein totalitäres System unterstützt hatten.

Zu den wenigen Konservativen, die ein gewisses Verständnis für die Jugendrebellion aufbrachten, gehörte erstaunlicherweise der Soziologe Helmut Schelsky. Es handele sich, schrieb er, um eine bemerkenswerte »ungeplante, aber in vitalen Bedürfnissen verwurzelte Ausbruchsreaktion der Jugendlichen gegen die manipulierte Befriedigung des modernen Lebens und gegen den unangreifbaren Konformitätsdruck der modernen Gesellschaft«. Nicht die Jugendlichen störten die Ordnung, so Schelsky, vielmehr störe die Ordnung die Jugendlichen. Er sah eine »sezessionistische« Jugendgeneration voraus, »gekennzeichnet durch eine Welle sinnloser Ausbruchsversuche aus der in die Watte manipulierter Humanität, überzeugender Sicherheit und allgemeiner Wohlfahrt gewickelten modernen Welt«.158 Zwar wollte er die Proteste nicht als Vorboten radikaler politischer oder sozialer Bewegungen deuten, tatsächlich aber prognostizierte Schelsky, was sich in den Achtundsechziger-Studentenunruhen schließlich Bahn brach.

Zum Beispiel Gudy Fichelscher

Es soll diesen Typ geben – die Jazzerbraut, die sich leidenschaftlich in einen Mann verliebt, der unkonventionell lebt und ganz und gar in seiner Musik aufgeht. Die ihn zu jedem Konzert begleitet und nach dem Konzert noch weiter mit ihm durch die Kneipen zieht. Die schließlich ihren bürgerlichen Job aufgibt, um das Boheme-Leben ganz und gar mit ihm zu teilen.

Ich jedenfalls war so eine Jazzerbraut und blieb es 34 Jahre lang.

Das erste Mal bin ich Anfang 1956 in die »Eierschale« gegangen. Da war ich gerade siebzehn. Das sei toll dort, hatte mir meine Freundin erzählt, die mehr Freiheiten genoss als ich. Dieses Studentenlokal am Breitenbachplatz war neben der »Badewanne« das bekannteste Jazzlokal in Berlin, ein Ort mit Kultstatus. Ich wusste, mein Vater würde mir den Besuch auf keinen Fall erlauben. Mit meinen Brüdern durfte ich zwar ins Kino, aber wenn der Film um 22 Uhr zu Ende war, hatte ich spätestens um 23 Uhr zu Hause zu sein. Allerdings übernachtete ich manchmal bei meiner Freundin – und die nächste Gelegenheit nutzten wir und zogen los. An jenem ersten Abend in der »Eierschale« habe ich Toby kennen gelernt, meinen späteren Mann.

Vor der Kasse stand eine Schlange. Nur wenn Gäste das Lokal verließen, wurden neue eingelassen. Hereingelassen wurde, wer sechzehn Jahre alt war, aber wer unter achtzehn war, musste den Ausweis an der Kasse abgeben und ihn wegen des Jugendschutzgesetzes bis 22 Uhr wieder abholen. Ich habe das Lokal tatsächlich pünktlich verlassen, denn es wäre mir unendlich peinlich gewesen, wenn um zehn laut durch das Mikrofon verkündet worden wäre: »Hier liegt noch der Ausweis von Fräulein Gudrun Schulz! Bitte abholen!«

Die »Spree City Stompers« spielten ihren Dixieland im Keller. Fast verschlug es mir dort den Atem. Es war feucht und heiß. Die Tanzfläche vor der Bühne war nicht größer als ein etwas größeres Wohnzimmer. An Tanzen war nicht zu denken, die Leute standen Fuß an Fuß. Deswegen war der »Rührstil« kreiert worden. Dabei blieben die Paare auf der Stelle stehen und kreisten nur mit den Händen zweimal von rechts nach links, einmal von links nach rechts. Und wieder: Zweimal von rechts nach links, einmal von links nach rechts.

Ja, und dann stand Toby auf der Bühne und sang Blues. Ein großer, schlanker Mann mit dunklen Haaren, ganz in sich versunken, die Augen geschlossen. Wie ein Drummer, der eine Riesensession macht, bei der er alles vergisst. He was absolutely in. Ich hatte keine Ahnung von Blues, aber ich war hingerissen. Später würde der Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt schreiben, eigentlich sei nicht recht zu fassen, wie ein weißer Musiker so authentisch »black« spielen könne wie Toby. Und der Posaunist Hawe Schneider, eine Art Bandleader, erklärte ganz ähnlich, Toby Fichelscher habe so gesungen, wie er es bis dahin nur von Schwarzen gehört hätte.

In der Pause wurde Toby umringt von Mädchen mit schwarz umrandeten Augen und rosa Lippen. Viele kamen nur seinetwegen; »Tobizen« nannten seine Bandkollegen diese Fans etwas verächtlich und etwas neidisch. Tja, und an jenem Abend sprach er ausgerechnet mich an: Er hätte mich hier noch nie gesehen. Und wenn er mich gesehen hätte, wäre ich ihm schon wegen der blauen Augen aufgefallen …

Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt, aber gleichzeitig befand ich mich in Abwehrhaltung. Er könne mich auch gar nicht gesehen haben, gab ich etwas schnippisch zurück, denn ich sei noch nie dagewesen, und fügte von oben herab hinzu: »Ich weiß schon, Sie sind hier der Hahn im Korb!«

Es muss ihm wohl gefallen haben, dass ich so kess war, jedenfalls lud er mich zu einem Drink nach der nächsten Session an die Bar ein. Ich bin auch hingegangen. Er kam – und die anderen haben geguckt: Was ist denn das für eine Zicke?

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Toby Fichelscher war der Star der Dixieland-Band »Spree City Stompers« – ein Weißer, der den Blues beherrschte wie ein Schwarzer. Die Mädchen erlagen reihenweise seinem Charme und seiner Stimme, wenn er in der »Eierschale« auftrat, Berlins wohl berühmtestem Jazzlokal der 1950er Jahre. Welche Entbehrungen er später auf sich nahm, um seiner Leidenschaft zum Jazz weiter nachgehen zu können, wissen nur die engsten Freunde.

Bis zu unserer nächsten Begegnung verging allerdings fast ein halbes Jahr. Die Pächterin der »Eierschale«, die den Spitznamen »Mutti« trug, hatte mich eingeladen, ihren Geburtstag nach Lokalschluss gemeinsam mit Musikern und Personal zu feiern. Da saß ich nun etwas verloren auf meinem Barhocker, vor mir ein Bier, um mich die gestärkten Röcke drapiert. »Mal sehen, ob die Strümpfe trägt!«, meldete sich hinter mir einer der jungen Musiker, denn ich hatte sehr braune Beine, und begann, an meinem Petticoat herumzufummeln. Mein Protest half nicht, auch nicht eine Drohung mit dem Bierglas. Da goss ich mit Schwung das Bier hinter mich – und bekam sofort eines retour über den Kopf. Der Gerstensaft tropfte mir aus den Haaren und lief hinunter in den Ausschnitt. Gerade drückte ich mir das Bier mit einem Küchenhandtuch aus der Bluse, als Toby erschien: »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Es ärgerte mich unglaublich, dass er mich so sah. Ich wollte nur noch weg. Da beruhigte er mich: »Ich rate Ihnen, sich einfach mal zu mir zu setzen. Da geschieht Ihnen nichts.« Und seiner Band rief er zu: »Jungs, diese Frau steht ab jetzt unter meinem Protektorat!«

Donnerwetter, dachte ich, der drückt sich aber gewählt aus! Jedenfalls ließ ich mich besänftigen, rutschte ran zu ihm, und wir unterhielten uns. Später brachte er mich nach Hause, das heißt bis an die Ecke zur Rückertstraße. Da habe ich gesagt: »Hier müssen Sie umdrehen, meine Mutter guckt bestimmt aus dem Fenster.« Es war schon weit nach elf.

Danach trafen wir uns auch am Tage; oft waren wir im Museum Dahlem oder bei Freunden von Toby. Wir wollten nicht gesehen werden, Bekannte sollten meinen Eltern nichts verraten. Im Sommer fuhren wir nach seinem Auftritt auch oft mit Freunden an die Krumme Lanke, einen langgestreckten See in Berlin-Zehlendorf. Wir schwammen alle nackt, und irgendwer hatte immer was zum Trinken organisiert. Damals beschloss ich, die vorgegebenen Zeiten meines Vaters zu boykottieren. Wenn die Anderen mit ihren Autos zurückfuhren, blieben wir im Wald in irgendeiner Schonung. Das war romantisch, gegen Morgen allerdings auch ziemlich kühl. Aber was machte das schon, wir waren sehr verliebt.

Ich war fasziniert von diesem Mann, der so anders war als alle anderen, die ich kannte. Er trug Jacketts mit großen gelb-schwarzen Karos wie Marlon Brando, hielt in der einen Hand meistens eine Zigarette und in der anderen ein Glas mit Whiskey. Jazz sei nicht nur eine Musikrichtung, sagte er immer, sondern auch eine Lebenseinstellung. Als wir einmal im »Wienerwald« saßen, bat er sofort um eine Kerze. Und der Kellner: »Na watt denn, iss Ihnen det nich hell jenuch hier?« Es war nämlich Sommer. »Doch«, sagte Toby, »aber ich habe heute Geburtstag.« So hatte er immer Geburtstag.

Selbst dem Schweren verstand er, etwas von seiner Schwere zu nehmen. Als die erste Frau von dem DDR-Musikwissenschaftler und Jazzliebhaber Josh Sellhorn starb, erklärte sich Toby sofort einverstanden, am Grab ihr Lieblingslied zu singen: »Nobody knows the trouble I’ve seen«. Allerdings musste er der kommunalen Friedhofsleitung in Ost-Berlin erst überzeugend vorlügen, dass es sich um ein altes schottisches Volkslied handele, da offensichtlich sogar Spirituals als amerikanische Unkultur galten.

Toby brauchte kein Geld für ein besonderes Leben. Er kaufte auf dem Rummel einfach eine Wundertüte für zehn Pfennig mit einem ganz kleinen Kinderring – und ich habe mich riesig gefreut. Er kam auch nie ohne Blume, selbst wenn er sie irgendwo wegborgen musste. Seine Schwester sagte mir, das habe er von seiner Mutter geerbt. Beide Eltern waren ja Künstler. Der Vater leitete verschiedene Theater in Potsdam und Berlin und schrieb Stücke und Drehbücher; die Mutter arbeitete als Modezeichnerin bei der mondänen Zeitschrift Silberspiegel. Leider ist diese ungewöhnliche Frau sehr früh verstorben. Als ihr Haus gegen Kriegsende von einer Bombe getroffen wurde, konnten sich ihre beiden Kinder gerade noch in den Luftschutzraum im Keller retten. Sie selbst wurde auf der Kellertreppe von einer einstürzenden Wand getroffen. 1948 ist sie an den Folgen des offenen Rückens gestorben.

Toby hat sehr unter dem Tod der Mutter gelitten. Er hatte sein Zuhause verloren, denn der Vater war viel beschäftigt. Irgendwie schlug er sich durch, zeitweilig verdiente er sein Geld als Übersetzer bei den Amis. Auf diese Weise kam er in die Clubs der amerikanischen Soldaten, wo die neuesten Hits von Ella Fitzgerald, Louis Armstrong oder Big Joe Turner gespielt wurden und amerikanische Bands mit Swing und Blues auftraten. Toby war schon damals ein großer Jazzfan. In der Nazi-Zeit hatte er amerikanische Platten gehört, die Freunde seiner Eltern aus Frankreich geschmuggelt hatten, auch die Jazzsendungen vom Landessender Beromünster aus der Schweiz – unter der Bettdecke, damit der Nachbar es nicht mitbekam. Nach dem Krieg hörte er AFN, den amerikanischen Rundfunk in Berlin, der zuerst von einer mobilen Sendestation auf einem Lkw sendete.

Toby hatte als Kind zwar Klavierunterricht erhalten. Seine Leidenschaft für das Piano entstand allerdings erst, als er merkte, wie gut er mit diesem Instrument jene Musik umsetzen konnte, die ihm lag und die er liebte. Eine Zeitlang spielte er mit Rafi Lüderitz vierhändig Boogie Woogie, davon erzählen manche Leute noch heute. Auch Rafi hatte die Musik im Blut. Er stammte aus einer Zigeunerfamilie und hatte den Krieg zusammen mit seinem Vater in einem Versteck überlebt. Die beiden sahen verwegen aus bei ihren Auftritten, vollständig im Ami-Look – in bunten Hawaii-Hemden und mit Crew Cut.

Rafi stieg später auf Schlagzeug um und ging nach Paris und dann in die USA. Toby war und blieb in Berlin. Er spielte in der »Kajüte«, einem Kellerlokal in einer Ruine am Rathaus Schöneberg. Als dieser Ort wegen Einsturzgefahr und Lärmbelästigung aufgegeben wurde, zog er mit den anderen Jazzern in die »Eierschale«. Bei den »Spree City Stompers« trat er vor allem als Sänger auf, Mitte der fünfziger Jahre gewann er auf den Jazzfestivals in Frankfurt zweimal einen Preis. In der eigenen Blues Combo spielte er auch Piano, Schlagzeug und Bongo – aus Verehrung für Chano Pozo, den kubanischen Kongaspieler, der 1948 erschossen worden war. Toby gehörte außerdem zu den ganz wenigen, die das schwierige blue blowing beherrschten. Dabei wird so in die Hände vor dem Mund geblasen, dass es klingt wie eine Trompete. Als er diese Fähigkeit einmal einem Jazzliebhaber in einem vornehmen Speiselokal am Alex vorführte, sind den Gästen vor Schreck die Messer und Gabeln aus den Händen gefallen.

Tobys ganzes Leben war Rhythmus. Er konnte mit seinen kleinen Kindern keine Treppen rauf oder runter gehen, ohne dass er ihnen nicht unterschiedliche Rhythmen vorführte. Der jüngere Sohn Daniel ist später tatsächlich Schlagzeuger geworden. Alles war bei ihm Musik und Bewegung, und alles musste swingen. Wir konnten auch ungeheuer gut Jazz tanzen.

Mir gefiel das Milieu. Viele der jungen Leute, die in die »Eierschale« kamen, waren Kunststudenten, ziemlich exzentrisch. Die Typen trugen Bärte, abenteuerliche Hüte und die Hemden locker über die Hosen. Sie hielten sich alle für Existentialisten, man hatte immer den Eindruck, sie wären gerade vom Montmartre gekommen. Der eigentliche »Existentialist« jedoch war Toby. Er musste mit der geringen Gage eine Familie unterhalten, viele Studenten hingegen erhielten einen schönen monatlichen Scheck von Papa.

Vor der Tür standen die tollsten Autos. Man nannte sie Dixis. Es waren oft flache, kleine Sportwagen mit offenem Verdeck, toll geschmückt und bemalt. Ich selbst habe drei Autos bemalt, nachdem sich rumgesprochen hatte, dass ich gut malen konnte. Einige Autos waren auch mit Blumenkästen behängt. Alle Mädchen wollten gern mit so einer Karre die Havelchaussee langbrausen.

Auch die Mädchen sahen total frankophil und existentialistisch aus: enge Hosen – ich war mit Jeans in die Badewanne gestiegen und hatte sie am Körper trocknen lassen, so dass sie hauteng saßen –, möglichst schwarze, flache Schuhe, enge oder umgekehrt völlig ausgeleierte große Pullover, die möglichst noch über die Hände reichten. Und unter dem Arm Bonjour tristesse, den Bestsellerroman von Françoise Sagan, der einen Skandal ausgelöst hatte, weil eine Siebzehnjährige schilderte, wie sie frei und ohne Schuldgefühle ihre Sexualität auslebte.

Auf allen Ebenen suchten wir nach Identität, nach Selbstständigkeit, einfach nach uns selbst. Wir wollten Freiheit, aber auch Romantik. Chiantiflaschen mit möglichst viel abgetropftem Kerzenwachs waren so ein Zeichen dieser Mischung, ein Souvenir, das bessergestellte Eltern von ihrem ersten Urlaub in Italien mitbrachten.

Für mich und meine beiden Brüder hatte die allgemeine Aufbruchsstimmung noch eine besondere Bedeutung. Wir waren 1953 mit sechs Personen und nur einem Koffer bei Nacht und hohem Schnee aus der DDR geflüchtet und hatten einen neuen Haushalt gegründet von der Nagelschere bis zum Klavier. Wir Kinder hatten mit dem neuen Schulsystem klarkommen und drei Jahre Englisch nachholen müssen – unser Russisch konnten wir vergessen. Nach nur drei Jahren hatten wir es geschafft. Und wir Heranwachsenden, die so die Freiheit geschnuppert hatten, wollten nun richtig loslegen. Ich wollte mich nicht von den Verboten meiner Eltern abhalten lassen. Was immer nur den sechziger Jahren zugeschrieben wird – diese Aufmüpfigkeit, dieses Den-Staub-Abschütteln –, das begann schon in den fünfziger Jahren.

Beide Elternteile haben sich allerdings sehr schwer damit getan, dass ich erwachsen werde. Für sie war ich immer Kind. Weil ich so klein und zierlich war, musste ich noch in Kinderkleidern herumlaufen, als andere schon kleine Absätze und schwingende Kleider trugen. Die erste Schminke bekam ich von meiner Freundin. Ihr Vater war Apotheker, in seinem Laden haben wir uns heimlich mit Cremes und Lippenstiften eingedeckt. Meine Mutter schimpfte: »Wenn wir kein Geld dafür haben, brauchst du das auch nicht von deiner Freundin zu nehmen!« Als ich das erste Mal ankam mit einem Rock bis zur Wade und kleinen Pumps, ist mein Vater fast umgefallen.

Mein Vater wollte die Übersicht und Kontrolle behalten. Wir drei Kinder sollten unsere Freunde möglichst immer mit nach Hause bringen. Sie wurden den Eltern vorgestellt und geschickt ausgefragt: »Was ist denn der Papa, oder was macht die Mutter?« Hätte ich mich an diese Regeln gehalten, hätte es keine Probleme gegeben. Doch weil ich ausbrach, engagierte mein Vater meinen Cousin, meine beiden Brüder und den Freund eines Bruders und zahlte ihnen Hunderte von Mark, damit sie abends nach mir suchten. Die Jungens wussten natürlich, wo ich war, haben das Geld aber genommen  – angeblich, um mit dem Taxi die Jazzbuden in der ganzen Umgebung abzuklappern, die »Badewanne«, die »Hajo-Bar« und »Storyville« in der Martin-Luther-Straße. Manchmal bin ich mit Toby tatsächlich noch in eines dieser Lokale gefahren, weil die »Eierschale« ja bereits um 24 Uhr dichtmachte.

Mein Vater, der Staatsanwalt, wollte sich nicht damit abfinden, dass seine Tochter mit einem Jazzmusiker enger befreundet war. Er hat Recherchen angestellt und sehr schnell herausgekriegt: Toby hat ein Haus in Zehlendorf, ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Scheidung. Und – das war das Schlimmste – Toby ist zwölf Jahre älter als seine Tochter. Darum ging es ständig: »Was will der Mann, der so viel älter ist und eigentlich eine Familie hat, von meiner Tochter?«

Mein Vater gab uns keine Chance. Das war es, was ich – oder besser – was wir ihm vorwarfen. Viel später, als sich meine Eltern trennten, wurden Toby und mein Vater die besten Freunde. Sie spielten zusammen Schach, hörten Klassik und musizierten zusammen auf dem Cembalo. Denn auch das gehörte zu Tobys Leidenschaft: Er liebte Bach und italienische Barockkomponisten wie Corelli und Vivaldi. Mein Vater hat sich damals bei Toby für seine Borniertheit entschuldigt, aber welchen Kummer und wie viel Leid hätten wir uns alle ersparen können, wenn er zuvor ein wenig Weitsicht und Großzügigkeit gezeigt hätte.

Ich habe damals fast schizophren gelebt.

Mein Vater war Mitglied einer schlagenden Verbindung. Einmal im Jahr hieß es »Wir gehen aufs Haus«. Am Anfang der Saison wurde ein riesengroßer Ball mit vielleicht 600 Personen in den Räumen der Landesloge in der Nähe vom Nollendorfplatz veranstaltet. Meinen Zwillingsbruder hat das nicht interessiert, ich aber war neugierig. Mit siebzehn oder achtzehn wurde ich Couleurdame, das heißt, ich wurde eingeführt in die Gesellschaft und erhielt eine Schleife in den Farben der Verbindung.

Meine Eltern hätten gern gesehen, wenn ich einen der Leibfüchse als Freund gehabt hätte, also einen jener Studenten, die frisch in die Verbindung aufgenommen waren und sich bei derartigen Bällen um uns Frauen zu kümmern hatten. Dann knallten sie zackig die Hacken zusammen: »Gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen etwas zum Trinken bringen?« Und ich huldvoll: »Ja gern, einen Eierlikör.«

Ich hatte dort ein paar Verehrer, weil ich fröhlich war und nicht steif. Außerdem tanzte ich gern. Vor allem nach Mitternacht, wenn die Kapelle auch mal einen Rock ’n’ Roll oder Boogie spielte. Auf den Bällen konnte ich zudem die modischen, ganz weiten Röcke tragen und darunter möglichst drei rüschenbesetzte Petticoats, die ich immer durch einen Eimer mit Hoffmanns Stärke zog und an einer Leine im Badezimmer trocknen ließ. Einmal trug ich unter meinem türkisfarbenen Kleid einen dicken, gestärkten Leinen-Petticoat von meiner Freundin. Unten war ein Fischbeinring eingezogen, so dass er sich spreizte wie eine Krinoline. Dann passierte das Malheur. Beim Walzer oder Foxtrott schob mein Tanzherr sein rechtes Bein zwischen meine Beine, drückte dabei den Petticoat samt Fischbeinring nach hinten und nach oben – und alle konnten unter meinen Rock sehen. Beim nächsten Schritt senkte sich die Krinoline zwar, doch beim übernächsten hob sie sich wieder. So ging das vier, fünf Mal. Bis sich der Knopf löste, der den schweren Leinenunterrock in der Taille hielt und die ganze Pracht nach unten sank. Meine Mutter war immer unheimlich cool, sie gab mir nur ein Zeichen mit dem Finger: Nimm das Ding wieder hoch. Ich stieg also aus dem Petticoat, nahm ihn über den rechten Arm, und mein Tanzherr führte mich galant hinaus zur Garderobe, wo eine Frau saß, die Nähzeug hatte und mir den Knopf annähte. Damals war mir der Vorfall unheimlich peinlich, heute kann ich darüber lachen.

So manches hat mich an der Verbindung befremdet. Etwa dass Mensuren gefochten wurden – auch mein Vater hatte einen Schmiss im Gesicht. Oder dass am Tage nach dem Ball beim sogenannten Abtrunk »Salamander gerieben« wurde. Dazu standen alle Bundesbrüder auf, erhoben ihre riesigen Biergläser, und sobald das Kommando »Ad exercitium salamandri« ertönte, setzten sie an und tranken den Liter möglichst in einem Zug. Danach wurden die leeren Gläser lautstark auf den Tischen gerieben und schließlich – wieder auf Kommando – mit großem Krach abgestellt. Die rauen Lieder und die vertonten Wirtinnen-Verse wurden glücklicherweise nicht gesungen, wenn Damen dabei waren. Aber die kannte ich von den Studenten. Das war schon sehr heftig, was da losging.

Mein Traum war es, Goldschmiedin zu werden. Ich habe mich bei der Hochschule für Bildende Künste beworben und die Aufnahmeprüfung auch glänzend bestanden. Als Tochter eines Staatsanwalts erhielt ich allerdings kein Stipendium. Meinem Vater wäre es lieber gewesen, ich hätte Abitur gemacht, Medizin studiert und einen Mediziner geheiratet. Gegen »das Künstlerische« erhob er nach bestandener Aufnahmeprüfung allerdings keine prinzipiellen Einwände mehr, machte seine finanzielle Unterstützung allerdings von zwei Bedingungen abhängig. Erstens: Du triffst dich nicht mehr mit diesem Sänger. Zweitens: Du bleibst, solange du nicht volljährig bist, zu Hause wohnen!

Da habe ich gesagt: »Ich fange nicht mit einer Lüge an. Ich weiß schon jetzt, dass ich weder das Eine noch das Andere einhalten werde.«

Ich wollte Toby unbedingt weiter sehen, er war meine große Liebe geworden. Außerdem hatte ich eine süße Mansardenwohnung in Aussicht. Da wohnte ein Student, der nach Zeuthen zurückgehen wollte – noch waren ja Ostdeutsche in West-Berlin zum Studium. Die Mansarde wäre frei geworden und hätte nur 35 Mark gekostet.

Da ich ohne das Geld meines Vaters die Ausbildung zur Goldschmiedin nicht beginnen konnte, entschied ich mich für einen ganz anderen Weg. Ich ging nach der mittleren Reife von der Schule ab und machte nach Zwischenstationen in einer Handelsschule und dem Pestalozzi-Fröbel-Haus eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin. Wenn auch mit großem Stress lebte ich immer noch bei meinen Eltern.

Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Wieder einmal hatte ich gesagt, ich würde bei meiner Freundin übernachten. Die war inzwischen verheiratet und lebte ohne Telefon in Wannsee. Am nächsten Tag fragte mein Vater: »Also du meinst, du seiest bei deiner Freundin gewesen?« Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er sich auf den Weg macht und bis Wannsee fährt! Das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte nur noch einen Wunsch: Schluss jetzt. Damals gab es rote Coca-Cola-Taschen, so groß wie kleine Reisetaschen. Die habe ich gepackt, etwas Unterwäsche, etwas zum Wechseln und eine Strickjacke. Im Portemonnaie zählte ich noch dreißig Mark. Mein Vater war im Gericht, meine Mutter bügelte im Balkonzimmer und rief mir manchmal ein paar Sätze zu. Irgendwann machte ich mich einfach durch den Hintereingang aus dem Staub und haute durch die Gärten ab.

Wohin, war mir völlig unklar. Ich lief zum »Old Vienna«, einem Lokal am oberen Ku’damm, wo ich einen Fotografen zu treffen hoffte, einen guten Freund, der fast jeden Nachmittag dort saß, Zeitungen las und Pfeife rauchte. Ausgerechnet an jenem Tag war er nicht da. Stattdessen stieß ich auf einen ehemaligen Klassenkameraden, einen Kellner im benachbarten Restaurant »Kopenhagen«. Ich sei eben von Zuhause abgehauen, erklärte ich, hätte aber noch keine Bleibe. Er starrte mich ungläubig an: »Du spinnst!«

Es stellte sich heraus, dass der Klassenkamerad in der Uhlandstraße ein Zimmer hatte, in dem er schlief, wenn er Spätdienst hatte. Das konnte er mir für die Nacht zur Verfügung stellen. Die Wohnung gehörte einem Rechtsanwalt, der die Zimmer einzeln untervermietete. Statt der 35 Mark, die der Kellner bezahlte, verlangte der Vermieter von mir allerdings 120 Mark Miete für den Monat. Das lag außerhalb meiner Möglichkeiten.

Wie es der Zufall wollte, stieß ich am nächsten Abend im »Riverboat« am Fehrbelliner Platz auf ein paar Mädchen, die alle nicht mehr zu Hause wohnten. Wie sie das bewerkstelligt hatten? Sie lebten und arbeiteten bei den Amis. Jede Familie von den amerikanischen Besatzungssoldaten hatte nämlich das Recht, sich eine Babysitterin zu nehmen, die mietfrei wohnen konnte, wenn sie die Kinder fünfzehn Stunden in der Woche betreute. Die einzige Voraussetzung war, dass man Englisch konnte.

Ich bekam eine Stelle bei einer verrückten Familie aus Alabama mit sechs Kindern. Mein Zimmer lag im Dachgeschoss eines langgestreckten Hauses in der Taylorstraße. Zu dem Wohntrakt gab es drei Eingänge, die im Keller und oberen Stockwerk miteinander verbunden waren. Toby betrat also das Gebäude mit hochgeschlagenem Kragen in Eingang 3, lief unten den Keller entlang und kam in der Mitte zu mir hoch unter das Dach. Die anderen Mädchen sollten nicht wissen, dass er da war. Und da Toby Roth-Händle rauchte, musste auch ich anfangen, Roth-Händle zu rauchen. Irgendwann hat eine Studentin dann doch etwas bemerkt und mich bei meiner Misses verpfiffen. Die kam hoch, Toby lag im Bett, die Füße guckten ein Stück unter der Decke hervor. »Who is this man?«, erregte sich die Frau und holte sofort die Military Police, denn die ganze Mädchenetage war off limits, absolut verboten für jeden Besuch.

Es gab mächtig Stunk. Na ja, da flog ich raus. Aber ich bin wieder zur Vermittlungszentrale gegangen und habe mir eine neue Arbeit geben lassen.

An der Sundgauer Straße waren gerade neue Hochhäuser für die Amerikaner gebaut worden. Da lag mein Zimmer auf ebener Erde. Die Häuser waren wie ein Kleeblatt gebaut, so dass man sie von verschiedenen Seiten betreten konnte. Das fand ich natürlich toll. Im äußersten Fall hätte Toby so aus dem Fenster springen können. Aber auch in der Sundgauer Straße gab ich nur ein kurzes Gastspiel. Wieder flog ich wegen Toby raus. Das war alles völlig absurd. Denn meine Misses dort war erst achtzehn Jahre alt, noch jünger als ich. Aber eben verheiratet.

Wenn Toby den Vorstellungen meines Vaters entsprochen hätte, hätte er zu uns nach Hause kommen können. Dann hätten wir uns verlobt und wären den bürgerlichen Weg gegangen. Allerdings fanden wir verloben schrecklich langweilig. Wer hat sich denn verlobt? Die Spießer.

Ich fand das toll, wie wir zusammenlebten. Ich wollte nicht heiraten. Bevor wir 1968 dann doch noch geheiratet haben, hat Toby mindestens drei Mal unter Zeugen um meine Hand angehalten. Und drei Mal habe ich nein gesagt. Wir zahlten allerdings dafür, dass wir die Normen nicht einhielten. Erst 1960 erhielten wir die Gelegenheit, gemeinsam in eine große Altbauwohnung in der Rankestraße zu ziehen. Von da an haben wir uns bis zu seinem Tod 1992 nicht mehr getrennt.

Der Begriff Wohngemeinschaft existierte noch nicht, aber faktisch haben wir eine der ersten Wohngemeinschaften gebildet. Toby und ich erhielten das Berliner Zimmer, neben uns wohnte der Sohn eines Ledergrossisten, ein anderes Zimmer hatte ein junger Mann gemietet, der gerade sein Abitur gemacht hatte. Und hinten lebte Jimmy Jimson, Sohn einer Puerto-Ricanerin und eines deutschen Seemannes, ein verrückter Sänger, der mit Swing in der »Badewanne« auftrat.

Endlich wurde ich 21.

Doch nun hatten wir ein anderes Problem. Tobys Boheme-Leben und meine MTA-Ausbildung ließen sich überhaupt nicht mehr miteinander vereinbaren. Schon vorher war es immer wieder zu Konflikten gekommen. Wenn ich nach meiner Arbeit zu Tobys Auftritten ging, kam ich immer erst gegen Morgen nach Hause und hatte auch was getrunken. Eine Weile lief das gut, dann ging es schief.

Einmal hatte ich etwa zwanzig Patienten zum Blutabnehmen bestellt. Am Abend zuvor war ich mit Toby nach seinem Auftritt aber noch in das »Recreation Center« für amerikanische Offiziere gefahren, eine große Villa mit Bootsanlegestelle am Wannsee. Toby hatte gesungen und an einem wunderschönen großen Flügel in der Halle gespielt, die Offiziere waren begeistert gewesen, die Kellner hatten die wahnsinnigsten Getränke ausgeschenkt – alles vom Feinsten  –, und ich hatte »Four Roses« getrunken, einen Bourbon-Whiskey, den ich damals sehr gern mochte. Zu sehr später Stunde war uns ein Dienstzimmer zum Übernachten zur Verfügung gestellt worden, doch ohne Wecker hatten wir voll verschlafen. Zwanzig Patienten warteten vergeblich in der Praxis. Ich machte, was fast alle in ähnlichen Situationen machen: Ich spielte krank.

Meine Internistin mochte mich, und sie schätzte mich. Beim ersten Mal hat sie nichts gesagt, als ich nicht kam. Beim zweiten Mal hat sie es nicht mehr hingenommen. Als ich am Nachmittag auftauchte, erklärte sie: »Ich bedaure es auf das Äußerste, aber wenn Ihnen das Boheme-Leben so viel bedeutet, ist das unvereinbar mit der Arbeit in meiner Praxis.« Sie stellte mir noch ein Superzeugnis aus und weinte sogar, als ich ging. Aber für mich war endgültig klar geworden: Ich suche keine neue Arbeit als medizinisch-technische Assistentin mehr.

Stattdessen stieg auch ich ins Nachtleben ein.

Gemeinsam begannen wir in dem legendären Nachtclub »Old Eden« in der Damaschkestraße. Rolf Eden, der Besitzer des Nachtclubs, war bei Hitlers Machtantritt mit seinen Eltern nach Palästina ausgewandert, hatte dort im israelischen Unabhängigkeitskampf in der Palmach gekämpft und war 1957 nach Berlin zurückgekehrt. Toby spielte und sang bei ihm Jazz und Blues, ich arbeitete an einer kleinen Dreiecksbar.

Eden hatte ein tolles Konzept: Mädchen, die allein kamen, erhielten ihre Getränke umsonst. So war die Hütte immer voll mit Mädchen. Nach dem Krieg gebe es so viele Witwen, sagte Shimon – wir sagten damals alle Shimon zu ihm, das war sein zweiter Vorname –, irgendjemand müsse ihnen doch helfen, neue Partner zu finden. Er war ein irrer Typ. Jeden der sechs Räume vom »Old Eden« hatte er anders gestaltet. In einem gab es Jazz, im anderen wurden Dias vom Playboy gezeigt, in einer Cocktail Lounge Cocktails und Champagner für die Betuchteren gereicht. Hier stand auch ein Flügel, auf dem zu vorgerückter Stunde dieses oder jenes Filmsternchen tanzte.

Ins »Old Eden« kamen auch die Neureichen aus Westdeutschland. Einmal tauchte ein Sugardaddy aus Bayern auf, der in Berlin seine Mieze oder Dauerfreundin ausführte. Er knallte Toby einen Hunderter aufs Piano: »Sei’n Se doch mal so nett und spiel’n Se für meine Süße die ›Rose vom Wörthersee‹.« Und Toby: »Dann sei’n Se doch mal so nett und verschwinden mit Ihrem Hunderter. Hier gibt es nämlich nur Jazz.« Der Typ beschwerte sich sofort bei Eden, und Rolf Shimon Eden, der ja viele Jahre als Pianist in Bars gespielt hatte, setzte sich selbst ans Klavier – und spielte die »Rose vom Wörthersee«. So war er.

Anfang der sechziger Jahre kam allerdings die Zeit, wo Jazz nicht mehr so gefragt war. Da schwappte die Beat-Welle aus Amerika rüber. Manche Lokale stellten ihr Programm völlig um. Toby konnte vom Jazz nicht mehr leben. Für so einen Vollblutjazzer wie ihn war es unerträglich, irgendwelche lasche Unterhaltungsmusik zu spielen. Viele Musiker, die nebenbei noch ihr Studium absolviert hatten, zogen sich damals zurück und widmeten sich ihren Berufen. Andere ernährten sich von dem, was Toby strippen nannte. Sie wurden für Hochzeiten, Betriebsfeiern, Veranstaltungen gebucht und spielten, was gefiel. Da hat Toby immer gesagt: »Nee, Biba, da mache ich nicht mit.« Er nannte mich doch Biba – von »Be-Bop-A-Lula – She’s my baby«, dem Song, den erst Gene Vincent gesungen hat und danach Elvis Presley und viele andere. Die einzige Konzession, die Toby je an den Kommerz machte, war eine Singleaufnahme bei Bertelsmann  – aus Geldnot nahm er den Titel »Tutti Frutti« von Little Richard auf. Später war ihm das regelrecht peinlich, und er hat mir von diesem »Fehltritt« erst kurz vor seinem Tod erzählt.

Die Frage war damals, wovon wir uns ernähren. Am wichtigsten für uns war, dass wir zusammenbleiben wollten, auch tagsüber, egal, womit wir unsere Brötchen verdienten, und dass Toby weiter seine Musik machen konnte, wann und mit wem er wollte.

Da lasen wir eines Tages, dass eine Fahnenfabrik in Wedding Kräfte zur Ausbildung als Stoffdrucker suchte. Die machten Siebdruck, alles in Handarbeit. Toby akzeptierten sie sofort, einen kräftigen Mann, mich wollten sie nicht. Ich wog damals 47 Kilo. »Könnten Sie mich nicht wenigstens mal vier Wochen zur Probe anstellen?«, habe ich gefragt. Sie stellten mich zur Probe an und übernahmen mich. Wir wurden das Druckerteam der Firma: Die Kleene mit dem Langen. Nach zweieinhalb Jahren Ausbildung durften wir uns Stoffdrucker nennen. Nach fünf Jahren mussten wir die Siebdruckerei allerdings aufgeben, denn Toby reagierte allergisch auf die Hoechst-Farben. An den Handgelenken bildeten sich Blasen, die wie verrückt juckten.

1970 haben wir deshalb bei der Post angefangen, wieder gemeinsam. Zunächst nur als Aushilfe zu Weihnachten. Aber als die Personalabteilung bei der Einstellung die Papiere sah, war sie verwundert: Der Mann hat Abitur, die Frau hat mittlere Reife, warum arbeiten die als Aushilfe? Sie boten uns eine feste Stelle an und verführten uns mit der Versicherung: »Sie können jederzeit wieder gehen. Die Kündigungsfrist beträgt drei Monate.«

Wir führten ein Doppelleben. In der Woche lebten wir für den Broterwerb, an den Wochenenden für den Jazz. Es begann am Freitagabend. Entweder war unsere Wohnung voll mit Freunden oder wir waren irgendwo unterwegs. Am Sonntag gab es regelmäßig ein Frühstück bei uns, und dann gingen wir mit unseren Gästen zum Jazz.

Eines Tages Anfang der 1990er Jahre bekam Toby Schmerzen auf der linken Seite zwischen Ohr und Mandel. Sehr bald stellte sich heraus, dass es sich um einen bösartigen Tumor handelte. Wir bekamen die Chance, einen kurzen Urlaub auf Ibiza zu verbringen. Danach folgte eine große, neunstündige Operation in einem Wilmersdorfer Krankenhaus. Als die lange Bestrahlungszeit vorbei war, fuhren wir für sechs Wochen an die Ostsee. Kaum zurück in Berlin, musste Toby wieder in die Klinik. Nach einem Luftröhrenschnitt konnte er nicht mehr sprechen und folgerichtig auch nicht mehr singen.

Er ließ sich nicht entmutigen. Wir entwickelten unseren eigenen Klopfcode. So konnten wir telefonieren. Er konnte auch noch Klavier, Schlagzeug und Bongos spielen. Also schrieb er mir auf: »I feel like playing a happy blues, bring die Babys mit (das waren die Bongos). Ich muss Musik auftanken. Wir gehen am Sonntag zum Frühstück mit Jazz in die ›Blisse 14‹.« Dieses Behindertencafé wurde von seinem Freund geführt. Sie schoben das Piano nach vorn und schon begann die Session mit der ganzen Band.

Seinen 65. birthday feierte Toby zu Hause. Mit vielen Freunden und gutem Jazz. Nach einigen Stunden schrieb er mir auf, ich möchte ihn mit dem Taxi in die Klinik bringen. Die folgenden zwei Monate verbrachte er nachts in der Klinik und tags mit mir. Er bestand noch darauf, mir Werder und Potsdam zu zeigen. Es war eine wichtige, schöne Zeit in tiefer Verbundenheit.

Nach seinem Tod habe ich mich von allem abgewandt. Aber mit Hilfe einiger guter Jazzfreunde wurde ich langsam wieder zurückgeholt. Heute bin ich immer noch in der Musikszene zu Hause. Zu Tobys 80. birthday lud ich zu einer Session in die Wilmersdorfer Kneipe »Aue« von seinem Freund Pep. 26 heute noch aktive Jazzer gaben Toby die Ehre.