ERINNERN GEGEN SCHWEIGEN
Manche halten es bis heute für einen moralischen Skandal, wie sich die Westdeutschen in den 1950er Jahren in Aktionismus flüchteten und den Blick zurück verweigerten. Der Publizist Ralph Giordano sprach sogar von einer zweiten Schuld, die breite Teile der Deutschen auf sich geladen hätten, als sie leugneten, abwehrten, als sie NS-Belastete wieder in Ämter kommen ließen, sich nicht zur Schuld bekannten und der Opfer deutscher Terrorherrschaft nicht gedachten.
Hannah Arendt, die Philosophin, die Deutschland wegen ihrer jüdischen Herkunft 1933 hatte verlassen müssen, konstatierte das eigenartige Amalgam von Arbeitswut, fehlender Erschütterung und Abwehr bereits bei einem Besuch in Deutschland 1949/50. »Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben, oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.«113 Es herrschten Gleichgültigkeit, Apathie, eine allgemeine Gefühllosigkeit, eine offensichtliche Herzlosigkeit. In einem Brief an ihren Mann machte Arendt ihrem Befremden Luft. »Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist«, heißt es da. »Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Letztere stinkt zum Himmel.«
Auch der Schriftsteller Paul Schallück meldete deutlich sein »Unbehagen« an der westdeutschen Gesellschaft an: Sie weiche der Vergangenheit aus, statt sie bewusst anzunehmen. »Man kennt ja die Fälle, wo Menschen verdrängen, was ihnen unbequem ist. Man kennt aber auch die Fälle, wo das Verdrängte eines Tages mit umso verderblicherer Gewalt wieder aufsteht … Ein schlechtes Gewissen und die Vergangenheit lassen sich wohl kaum auf die Dauer durch neue Fabriken, gehobenen Lebensindex, durch blühenden Export, Souveränität und materielles Wohlbefinden verdrängen … Vielleicht müssen wir erst den Taumel der materiellen Befriedigung überstehen, bevor wir hellsichtig, hellhörig werden und das Notwendige tun? Vielleicht. Aber es ist nicht mehr viel Zeit. Es ist schon sehr spät. Die Vergesslichkeit greift um sich, legt sich wie Nebel lähmend auf das Land und macht uns das Atmen schwer.«114
Den großen Durchbruch in der Debatte über die »unbewältigte Vergangenheit« brachte aber erst der Essay von Alexander und Margarete Mitscherlich über Die Unfähigkeit zu trauern im Jahre 1967.115 Wochenlang stand das Buch auf den Bestsellerlisten. Den Hauptgrund für die Abwehr der Vergangenheit sahen die Psychoanalytiker in der großen Selbstentwertung, die die Deutschen nach dem Scheitern ihres Führers erlitten hätten. Hitler war ihr Ich-Ideal, von ihm hatten sie sich leiten lassen, ihm die Verantwortung übertragen. Als dieses »innere Objekt« wegbrach, als Deutschland besiegt und der Verbrecher entlarvt wurde, gingen mit dem Führer auch die Ideale derer unter, die sich ihm verschrieben hatten. Statt aber aus dem »Rausch« aufzuwachen und sich der Realität zu stellen, so die Psychoanalytiker, würden die Deutschen in der »Haltung permanenter Kindhaftigkeit« verharren und Schuld, Scham und Trauer ebenso kollektiv verdrängen, wie sie sich zuvor kollektiv dem Führer anvertraut hätten.
Die Verdrängung beeinflusste nach Meinung von Alexander und Margarete Mitscherlich nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich; sie beeinflusste auch das aktuelle Verhalten, da es politische Apathie und Verweigerung hervorbrachte. Trauer um den geliebten »Führer« (und nicht, wie später gemeinhin interpretiert, die Trauer um die Opfer der Deutschen) war deshalb für die Psychoanalytiker notwendige Voraussetzung auch für die Überwindung des »psychosozialen Immobilismus« in der Bonner Republik.
Der Essay von Alexander und Margarete Mitscherlich erwies sich als Meilenstein in der Entwicklung dessen, was inzwischen als Vergangenheitsbewältigung firmiert. Die Psychologen fragten nicht nach der Schuld besonders exponierter Nazi-Größen, sondern in erster Linie nach der Schuld und der Verantwortung des »kleinen Mannes«, der sein Ich beim Eintritt in die große Volksgemeinschaft aufgegeben hatte und für die Folgen keine Haftung zu übernehmen bereit war.
Kurz nach Kriegsende hatte die Situation noch anders ausgesehen. In einer Umfrage von Ende 1946 hatten gut sechzig Prozent der Deutschen eine Mitschuld am Hitler-Regime eingeräumt und fast sechzig Prozent hatten auch bejaht, dass Deutschland Millionen hilfloser Europäer gefoltert und ermordet habe.116 Die Mehrheit der Deutschen stimmte anfangs auch der Entnazifizierung zu, wie sie von den Alliierten beschlossen und zügig in Angriff genommen worden war. Mehrere hunderttausend Personen verloren ihre Stellungen und Ämter, nachdem mit Hilfe eines 131 Positionen umfassenden Fragebogens ihre Verstrickung in das NS-Regime festgestellt worden war.
Mit zunehmendem Abstand zum Krieg stieg allerdings die Unzufriedenheit mit der Entnazifizierung. Selbst ehemalige Nazi-Gegner wie Martin Niemöller und Eugen Kogon sprachen sich für eine möglichst schnelle Beendigung der Verfahren vor den Spruchkammern aus. Auch außenpolitische Gründe ließen es geraten erscheinen, der Rehabilitierung von Belasteten – und das hieß auch ihrer Integration – den Vorrang vor ihrer Strafverfolgung und ihrer gesellschaftlichen Ächtung zu geben. Im beginnenden Kalten Krieg formte sich ein neues Bündnis. Die »Freiheit gegen den Bolschewismus« zu verteidigen wurde nun das einigende Band zwischen den westlichen Alliierten und Westdeutschland, und gerade »Ehemalige« konnten oft auf alte antikommunistische Positionen verweisen.
1950 wurde die Entnazifizierung offiziell beendet. Von den rund 3,6 Millionen Fällen, die vor den Spruchkammern verhandelt worden waren, war es nur bei zehn Prozent zu einem Urteil gekommen, lediglich etwa ein Prozent der Betroffenen wurde tatsächlich bestraft.
Durch die Denazifizierung sei »viel Unglück und viel Unheil« angerichtet worden, behauptete Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949. »Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden, und es wird weiter die Frage geprüft werden, auch bei den Hohen Kommissaren dahin vorstellig zu werden, dass entsprechend für von alliierten Militärgerichten verhängte Strafen Amnestie gewährt wird.«
Als eines seiner ersten Gesetze verkündete der Bundestag Ende 1949 ein Straffreiheitsgesetz, von dem auch Zehntausende nationalsozialistischer Täter profitierten. Es folgte im Mai 1951 das »131er-Gesetz« (nach Art. 131 des Grundgesetzes), das jedem aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen (einschließlich der Berufssoldaten) einen Anspruch auf Wiedereinstellung einräumte, sofern er beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldiger oder Belasteter eingestuft worden und nicht Mitglied der Gestapo, des SD oder der SS gewesen war. Schließlich amnestierte ein zweites Straffreiheitsgesetz vom Sommer 1954 Gewalt- und Tötungshandlungen im Dienste der NS-Diktatur zwischen Oktober 1944 und Juli 1945, wenn die Strafe nicht höher war als drei Jahre.117
Von den Nazi-Größen, so urteilt der Historiker Edgar Wolfrum, habe politisch keiner in der Bundesrepublik überlebt, aber die mittlere Garnitur habe durchgängig schnell ihren Platz im neuen Staat gefunden. »Jedenfalls waren es die Funktionseliten des Dritten Reiches, welche die Bundesrepublik bis in die 70er Jahre hinein gestalteten und von deren Wandlungs- und Lernfähigkeit einiges abhing.«118
Westdeutschland als Land der Kriegsverbrecher, als post- oder kryptofaschistisches Land hinzustellen, wurde denn auch eine der wichtigsten Propagandakeulen der DDR gegen den westlichen Konkurrenten. Die Sowjetisch Besetzte Zone hatte ihrerseits bis zum Ende der Entnazifizierung im Frühjahr 1948 mehr als eine halbe Million Personen aus ihren Stellungen entfernt und durch Kommunisten und Antifaschisten ersetzt.119
In der britischen Zone hingegen waren schon Mitte 1948 mehr als vier Fünftel der Richter an Landgerichten ehemalige NSDAP-Mitglieder, 1949 gab es einen entsprechend hohen Anteil unter den Richtern und Staatsanwälten in Bayern. Durch Verschleppung von Verfahren, Blockade von Untersuchungen, durch äußerst großzügige Freisprüche und schnelle Entlassungen von Kriegsverbrechern setzte dieses Personal faktisch eine Generalamnestie durch.
Einer der wenigen, die sich dagegen stemmten, war Fritz Bauer. 1903 als Sohn jüdischer Eltern in Stuttgart geboren, hatte er unter der Nazi-Diktatur acht Monate in einem Konzentrationslager gesessen, war danach in die skandinavischen Länder emigriert und 1949 nach Deutschland zurückgekehrt. Als Generalstaatsanwalt in Braunschweig übernahm er 1952 den Prozess gegen Generalmajor a. D. Otto Ernst Remer, den Kommandeur des Berliner Wachbataillons, der am 20. Juli 1944 führend an der Niederschlagung des Staatsstreichs gegen Hitler beteiligt gewesen war. Remer, in der Bundesrepublik Mitbegründer der neo-nazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP), hatte den Widerstand der Gruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg als Landesverrat diffamiert und den Überlebenden angedroht, sie würden dereinst vor ein deutsches Gericht gestellt.
Zwei Rechtsauffassungen prallten in dem Prozess aufeinander, Auffassungen, die sich durch die ganze Nachkriegsgeschichte zogen und nach dem Ende der DDR erneut debattiert werden würden. Auf der einen Seite stand die Riege jener, die sich ohne jede Einschränkung auf das Rückwirkungsverbot beriefen (Nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz): Niemand könne für eine Tat bestraft werden, die zum Zeitpunkt ihrer Ausführung nicht gegen das Gesetz verstieß. Danach war die Verurteilung der Männer des 20. Juli rechtens, da sie mit dem versuchten Tyrannenmord ihren Offizierseid gebrochen hätten. Fritz Bauer hingegen argumentierte mit dem »übergesetzlichen Recht« gegen das »gesetzliche Unrecht«. Ein »Unrechtstaat«, der täglich Zehntausende von Morden begehe, berechtige jedermann zur Notwehr. Schon der ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch hatte in einem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1946 die Meinung vertreten, Schandgesetze von Unrechtstaaten, die nicht der Gerechtigkeit und den Menschenrechten entsprächen, könnten für den Richter nicht verbindlich sein.
Der Remer-Prozess gilt als Markstein der westdeutschen Justizgeschichte, weil er das Gericht zwang, das NS-Regime als Unrechtstaat zu verwerfen120 und die Widerstandskämpfer vom Vorwurf des Hochverrats und Eidbruchs freizusprechen.121 Bundespräsident Theodor Heuss machte sich für eine Rehabilitierung der Attentäter stark. »Hier wurde in einer Zeit«, erklärte er bei einer Gedenkfeier 1954, »da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und verschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten.«
In der Bevölkerung stieß diese Auffassung noch auf erhebliche Skepsis. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach (1951) missbilligten dreißig Prozent der Befragten das Attentat auf Hitler, unter den Berufssoldaten waren es sogar 59 Prozent. Männer wie Claus Graf Schenk von Stauffenberg oder Henning von Tresckow galten, so die Meinungsforscher Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, weithin als »Hochverräter, Landesverräter, Volksverräter oder Staatsverräter. Weiter wird ihnen Feigheit vorgeworfen, gelegentlich auch Egoismus« – für die Familien der zum Tode verurteilten Widerständler oft eine bittere Erfahrung.
In der Bremer Schulklasse, in der Vera (Veruschka) von Lehndorff, Tochter des am 4. September 1944 in Plötzensee hingerichteten Heinrich Graf von Lehndorff, nach der Flucht aus Ostpreußen untergekommen war, erklärte die Lehrerin eines Tages, in dieser Klasse befände sich die Tochter eines Mörders. »Die Schülerinnen sahen sich fragend an. ›Wer sollte dieses Mädchen sein?‹ Und wie wir wieder nach vorn blickten, zeigte die Lehrerin mit dem Finger auf mich: ›Du da, du bist es!‹ Das war ein furchtbarer Schock. Alle hielten den Atem an und starrten mich an. Ich rannte hinaus, … lief, so schnell ich konnte, über den Hof, dann weinend nach Hause. Als ich meiner Mutter erzählte, was vorgefallen war, sagte sie: ›Es ist ganz anders. Dein Vater ist ein Held, aber das ist eine lange Geschichte, die ich dir erst erzählen kann, wenn du größer bist. Ich verspreche dir, du musst nie wieder diese Schule betreten.‹«122
Als Gottliebe von Lehndorff den Töchtern erstmals den Abschiedsbrief ihres Mannes vorzulesen versuchte, wurde das »zu einem einzigen Geschluchze. Sie weinte und wir weinten mit ihr. Die Zusammenhänge verstanden wir nicht. Hingerichtet? Es war alles viel zu viel. Sie schaffte es nicht, den Brief zu Ende zu lesen. Es war ein trauriger Nachmittag voller Tränen und Hilflosigkeit – und danach legte sich über alles wieder das Schweigen.«123
Um die Renten mussten einige Witwen der Hingerichteten jahrelang kämpfen. Aus dem inneren Zirkel der Nazi-Gegner gab es zwar Hilfe, beispielsweise entstand das »Hilfswerk 20. Juli 1944«, und Gottliebe von Lehndorff wurde finanziell soweit unterstützt, dass die Familie nie Hunger litt, nie wie Ausgebombte wohnen musste und sich immer ein Kindermädchen halten konnte. Andererseits war die Solidarität nicht einmal in den eigenen, den Adelskreisen ungeteilt. Als Gottliebe von Lehndorff die Bismarcks anrief, »rührten sie sich nicht. Sie hatten große Besitzungen, es wäre ein Leichtes gewesen, uns zu helfen. Doch die Vorbehalte überwogen. Meine Mutter wurde gemieden, weil man ihren Mann als Verräter betrachtete. Bei den meisten wagte sie gar nicht erst anzurufen, die hätten gleich wieder aufgelegt.«
Der Unterschied zwischen Vaterland und Diktatur existierte nicht. Hoch- und Landesverrat hatten nach Ansicht großer Teile der Bevölkerung angeblich all jene begangen, die wie die Widerstandskämpfer ihren Eid gegenüber einem Unrechtsregime gebrochen, wie das Nationalkomitee Freies Deutschland Wehrmachtssoldaten zum Desertieren aufgerufen, wie die Emigranten ihr Vaterland »im Stich gelassen« hatten oder gar wie Marlene Dietrich vor fremden (US-)Truppen aufgetreten waren. Verräter waren all jene, die gegen den Grundsatz »right or wrong – my country« verstoßen und sich nicht – treu bis in den Tod – mit in den Untergang hatten ziehen lassen. Emigration war Feigheit, Fahnenflucht war unentschuldbar. Noch 1960 erklärte Kai-Uwe von Hassel, CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, in Anspielung auf den Emigranten Willy Brandt, man könne seine »Schicksalsgemeinschaft« nicht einfach verlassen, wenn es einem persönlich gefährlich erscheine, und ihr wieder beitreten, wenn das Risiko vorüber sei.
Jene, die ihrem Land in der Zeit der Verirrung die »Treue« gehalten hatten, glaubten mehr Recht zur Neugestaltung des Landes zu besitzen als jene, die das Land angeblich im Stich gelassen hatten. Noch 1961, als der 1933 aus Deutschland geflohene Hermann Kesten die Verleihung eines Literaturpreises an Ina Seidel kritisierte, da sie sich mit einem Hitler-Gedicht kompromittiert hätte, schrieb Hans Werner Richter, Spiritus Rector der Gruppe 47, an Ina Seidels Sohn: »Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d.h. ich rechne Kesten nicht uns zugehörig (!), obwohl er es so sieht.«
Die fünfziger Jahre waren eine Dekade, in der sich die Deutschen selbst vor allem als Opfer sahen: Opfer der Konferenz von Potsdam, wodurch Deutschland gespalten wurde und die Ostdeutschen unter totalitäre sowjetische Herrschaft gerieten, Opfer der Siegerjustiz von Nürnberg, als Nicht-Deutsche über Deutsche richteten, Opfer einer dunklen, anonymen Schicksalsmacht, einer »dunklen Epoche«, die unendlich viel Leid über »die Menschheit« gebracht hatte.
Wenn sie einem Gesprächspartner erklärt habe, dass sie Jüdin sei, so Hannah Arendt bei ihrem Aufenthalt in Westdeutschland 1950, sei in der Regel keine persönliche Nachfrage gekommen, »sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten«. Oft sei der Gesprächspartner noch dazu übergegangen, »die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit (er) stillschweigend zu verstehen gibt, dass die Leidensbilanz ausgeglichen sei«.
Die Leiden der Deutschen wurden aus dem historischen Kontext gelöst, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung aufgehoben, der Unterschied zwischen Opfern und Tätern verwischt. Die Schuld an den Verbrechen trug nun eine kleine Gruppe von Verblendeten und Kriminellen mit einem Wahnsinnigen an der Spitze: Hitler, »ein aus der Tiefe hervorgegurgelter Dämon«.124 Der Normalbürger hingegen wurde zum Verführten oder ein zum Gehorsam Gezwungener, den das Leben bestraft hatte.
Eine exponierte Stellung als Opfer nahmen auch die rund acht Millionen Vertriebenen in Westdeutschland ein. Deutschland existierte auf Landkarten und in den Atlanten weiter in den Grenzen von 1937, sämtliche Parteien sprachen sich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze aus, die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa wurde zum wissenschaftlichen Großprojekt, Geschichten von Vertriebenen flimmerten über die Leinwand. Klaus von Bismarck löste auf dem evangelischen Kirchentag in Leipzig 1954 heftige Proteste aus, als er in seiner Rede erklärte: »Es ist meine persönliche Meinung – die einige von Ihnen vielleicht nicht übernehmen können –, dass wir vor Gott kein Recht darauf haben, das wieder zu erhalten, was er uns genommen hat.« Die deutschen Heimatvertriebenen verzichteten in ihrer Charta von 1950 zwar auf Rache und Vergeltung, beanspruchten für das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen aber den obersten Platz in der Opferhierarchie: »Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.«
Auch die Regierung machte Unterschiede zwischen deutschen und jüdischen Opfern. Die ehemaligen Kriegsgefangenen, die im Jahre 1955 aus der sowjetischen Haft zurückkehrten, erhielten 300 DM Entschädigung je Monat Gefangenschaft, die KZ-Insassen gerade einmal die Hälfte, und das meist nur nach langwierigen Verfahren. »Nicht, dass wir dem Heimkehrer das Seine missgönnen«, schrieben jüdische Verfolgte an den Hamburger Senat, aber »wir sehen den Unterschied gegenüber der Wiedergutmachung«.125
Die Deutschen besaßen mit den gut 100 000 Kriegerdenkmälern aus dem Ersten Weltkrieg rituelle Orte, an denen sie ihrer Toten gedenken konnten – die Namen der Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg wurden häufig hinzugefügt, und nach dreijähriger Pause wurde 1948 der Volkstrauertag in Westdeutschland wieder eingeführt. Für Juden, Zwangsarbeiter, Sinti, Roma und andere wurden nur vereinzelt Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern oder Hinrichtungsstätten geschaffen.
Für die Opfer der Deutschen fehlte fast jedes Mitgefühl. »Das kann doch kaum jemand hören!«, mokierte sich ein Schriftsteller der Gruppe 47, als der aus Czernowitz stammende jüdische Lyriker Paul Celan im Mai 1952 auf einer Sitzung seine »Todesfuge« vortrug, jenes inzwischen berühmte Gedicht, in das seine traumatischen Erlebnisse in einem Arbeitslager eingeflossen waren. »Der liest ja wie Goebbels!« , kommentierte ein anderer, und Tagungsleiter Hans Werner Richter vermeinte einen Singsang wie in einer Synagoge zu hören. Die »Todesfuge«, so schilderte es Walter Jens, war »ein Reinfall«. Trotz späterer Einladungen hat Paul Celan nie mehr an einer Sitzung der Gruppe 47 teilgenommen.
Juden, die überlebt hatten, lösten ein schlechtes Gewissen aus, weil sie auf den millionenfachen Mord verwiesen, der eine Größenordnung besaß, die nicht vorstellbar war und von dem angeblich niemand etwas gewusst hatte. Juden, die emigriert waren, lösten ein schlechtes Gewissen aus, weil sie vor Augen führten, dass das Leben in der Nazi-Diktatur nicht unausweichlich gewesen war, sondern dass es eine Alternative zum Mitmachen gegeben hatte – nicht nur für Juden, sondern auch für »arische« Deutsche.
»Verstehen Sie mich recht«, schrieb Hans Werner Richter in einem Brief an den Schriftsteller Rudolf Walther Leonhardt, »ich mag jene politisch bramarbasierenden Juden nicht, die nur aus rassischen (!) und nicht aus politischen Gründen seinerzeit Deutschland verließen. Sie haben keine Berechtigung, politisch zu verzeihen.« 126 Ein Deutscher, der sich in Hitlers Kriegsmaschinerie hatte einbinden lassen, wollte sich von einem Geschädigten, der dem Tod glücklicherweise entronnen war, nicht beurteilt sehen: »Wer kann und darf verzeihen? Nun, nach meiner Ansicht niemand, weder die Juden noch die politisch Verfolgten, noch sonst jemand, der unter dem Dritten Reich gelitten hat. Niemand kann sich dieses Recht anmaßen.«
Von den rund 100 000 Menschen, die bis 1941 aus Deutschland und Österreich in die USA emigrierten, kehrte nicht einmal jeder zwanzigste aus rassischen Gründen Verfolgte nach Europa zurück.127 Sie fühlten sich nicht willkommen in Westdeutschland.
Vorherrschend wurde das Schweigen.
Die Einen schwiegen, um ihre Schuld zu vertuschen. Menschen hatten Verbrechen befohlen und begangen, hatten sich in Unrecht hineinziehen lassen und zu Unrecht geschwiegen, hatten vom Elend der Verfolgten profitiert und als Pflichterfüllung ausgegeben, was Mord war. Diese Schuld reichte von den strafbaren Taten der Kriegsverbrecher, die von den Siegermächten und später der deutschen Justiz abgeurteilt wurden, bis zu der metaphysischen Schuld der »Zuschauer«,128 die die Verbrechen hatten geschehen lassen. »Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man uns vernichtete«, schrieb der Philosoph Karl Jaspers. »Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte nichts helfen können. Dass wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt.«129
Andere schwiegen, weil sie dem Grauen zu entfliehen hofften.
Viele waren traumatisiert: Insassen der Gettos, Häftlinge in den Konzentrationslagern, Juden im Versteck, Emigranten, die aus der Heimat vertrieben waren und Fremde in der Fremde blieben. Sie vergruben das Erlebte tief in der Seele, weil die Erinnerung an übermächtige Gewalt und übermächtige Umstände sie vollständig überfordert hätte. »Man darf nicht daran denken, sonst wird man verrückt«, schrieb die Mutter der Journalistin Sibylle Krause-Burger, die dank eines arischen Ehemanns überlebte.130
Jean Améry, Häftling von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, fand erst nach zwanzig Jahren Worte für das Erlebte. »Ich kann nicht sagen, dass ich in der Zeit der Stille die zwölf Jahre des deutschen und meines eigenen Schicksals vergessen oder ›verdrängt‹ hätte«, schrieb er 1966 zur Herausgabe seines Buches Jenseits von Schuld und Sühne. »Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, dass es mir schwer gewesen war, darüber zu sprechen.«131
Immerhin setzte Konrad Adenauer mit den Stimmen der SPD-Opposition eine Wiedergutmachung für die jüdischen Opfer durch gegen die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung, in der laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung im August 1952 nur elf Prozent ihre Zustimmung signalisierten. Im Luxemburger Abkommen wurden 1952 Warenlieferungen an Israel im Wert von drei Milliarden DM und die Zahlung von 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference vereinbart. Die Bundesentschädigungsgesetze von 1953 und 1956 regelten die individuellen Entschädigungen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung, und mit elf westeuropäischen Staaten schloss die Bundesrepublik zwischen 1959 und 1964 Globalabkommen ab.132
Ende der 1950er Jahre begann sich das Klima langsam zu ändern. Auslöser und Wendepunkt war der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Als der SS- und Polizeiführer Bernhard Fischer-Schweder auf Wiedereinstellung im Land Baden-Württemberg klagte, kam heraus, dass er als Polizeidirektor von Memel zwischen Juni und September 1941 an der Massenerschießung von jüdischen Kindern, Frauen und Männern im litauisch-deutschen Grenzgebiet beteiligt gewesen war. Im ersten großen Prozess gegen nationalsozialistische Täter vor einem deutschen Strafgericht wurden er und weitere neun Angeklagte in Ulm zu Zuchthausstrafen zwischen drei und fünfzehn Jahren verurteilt; Bernhard Fischer-Schweder erhielt wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 526 Fällen zehn Jahre Zuchthaus.
Das Thema der Judenvernichtung gewann große öffentliche Aufmerksamkeit. Anfang der fünfziger Jahre war das Tagebuch der Anne Frank in Deutschland erschienen, aber noch weitgehend unbeachtet geblieben; 1958 erreichte es eine Auflage von einer halben Million.
Da sich im Rahmen des Ulmer Verfahrens Hinweise auf weitere Verbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern ergaben, wurde in Ludwigsburg die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« geschaffen und mit Vorermittlungen für die Staatsanwaltschaft über Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung vor allem außerhalb von Deutschland beauftragt. Die Zahl der Ermittlungsverfahren stieg spürbar an, und die Haltung in der Bevölkerung veränderte sich. Im August 1958 sprach sich die Hälfte der Befragten gegen einen Schlussstrich und für die Bestrafung von NS-Tätern aus; und die Hälfte der Befragten gab Deutschland auch die Schuld am Ausbruch des Krieges – 1951 waren es erst 31 Prozent gewesen.133
In jener Zeit rückte der Mord an den Juden langsam in den Mittelpunkt der Erinnerung. Es war noch einmal Fritz Bauer, der, inzwischen Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main, wesentlich zu diesem Wandel beitrug. Dank seiner Hinweise wurde die Festnahme des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst in Argentinien möglich; Israel verurteilte Eichmann in einem spektakulären Prozess wegen »Verbrechen gegen die Menschheit« zum Tode. Auf Initiative Bauers leitete die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Frankfurt am Main auch Ermittlungsverfahren gegen vormalige Angehörige der SS-Besatzung von Auschwitz ein. Sechs Angeklagte wurden 1965 zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt, einer zu zehn Jahren Jugendstrafe und zehn zu Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren.
Viele Beobachter empfanden die Strafen als empörend niedrig. Die eigentliche Bedeutung des Prozesses lag aber weniger im individuellen Strafmaß als in der Tatsache, dass weit über 300 Zeugen die Gräueltaten und den Massenmord im Detail schilderten. Niemand konnte mehr sagen, er wisse nichts vom Völkermord an den Juden.
Während sich in den folgenden Jahrzehnten im kollektiven Bewusstsein der Deutschen eine eindeutige Verurteilung des Dritten Reichs vollzog, dauerte im privaten Erinnern das Schweigen teilweise noch lange an. Entweder führten pauschale Beschuldigungen der zweiten Generation zu einer Verhärtung der Eltern, so dass die Spaltung in den Familien vertieft wurde. Oder Söhne und Töchter stellten gar keine konkreten Nachfragen und Nachforschungen an, weil sie fürchteten, abgepresste Geständnisse könnten sich als unerträgliche Belastung für das Eltern-Kind-Verhältnis herausstellen.134
Die 1943 geborene Ute Althaus beispielsweise begann Haltungen und Taten ihres Vaters in der NS-Zeit erst nach seinem Tod zu rekonstruieren – Anfang der 1990er Jahre, da war sie bereits fünfzig Jahre alt. Ernst Meyer, Jahrgang 1895, war noch Ende März 1945 zum Kampfkommandanten von Ansbach ernannt worden. Nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner ließ er ein Standgericht bilden und den neunzehnjährigen Robert Limpert wegen landesverräterischer Umtriebe zum Tode verurteilen. Limpert hatte den Bürgermeister zur Übergabe der Stadt an die Amerikaner überredet und nachts Flugblätter geklebt, in denen er dazu aufrief, die weiße Fahne zu hissen. Da sich niemand bereit fand, das Todesurteil zu vollstrecken, übenahm Ernst Meyer die Aufgabe selbst, hängte Robert Limpert an einem Haken vor dem Rathaus auf und heftete ihm die Flugblätter mit einem Zettel »Ich bin der Verfasser« an die Kleider. Danach requirierte er ein Fahrrad und setzte sich aus Ansbach ab. Nach Kriegsende wurde Ernst Meyer von den Amerikanern in einem Kriegsgefangenenlager entdeckt, dem Amtsgericht Ansbach übergeben und in einem Prozess Ende 1946 zu einer Haftstrafe von zehn Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. 1952 kam er vorzeitig frei.
Dass ihr Vater im Zuchthaus saß, wusste Ute schon als Kind; allerdings war ihr der Grund nicht bekannt. Auf die Frage, wo ihr Vater sei, sollte sie antworten, »er sei in der Gefangenschaft«. Doch da Utes Mutter ihren Mann zwei Mal pro Jahr besuchen konnte, überzeugte diese Auskunft das Umfeld nicht. In jener Zeit des Nicht-Wissens legte sich die Schuld des Vaters wie ein dunkler Schatten auf Utes Leben. Sie wurde Legasthenikerin und entwickelte psychosomatische Störungen.
»Wir Kinder der Nazis«, weiß Ute Althaus inzwischen, »wurden von der braunen Vergangenheit der Eltern gezeichnet, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht … Durch eine falsche Loyalität mit den Eltern und durch den kindlichen Wunsch, die eigenen Eltern möglichst unversehrt zu erhalten, bleiben wir selbst in dem mörderischen System gefangen. Sich aus diesem Gefangensein zu befreien, ist mit großen Ängsten und Schuldgefühlen verbunden, denn dieser Schritt kommt einem Ungehorsam gegenüber den Eltern gleich.«
Ute Althaus schaffte den Schritt zum Ungehorsam nicht, solange der Vater lebte. 25 Jahre besuchte sie ihn im Altersheim. »Dass ich in all diesen Jahren auch eine liebevolle Beziehung mit ihm suchte, … wurde mir erst nach seinem Tod bewusst. Ich hatte gehofft, dass er in einem langsamen Sterbeprozess seinen Panzer ablegen würde und wir uns dann doch noch begegnen würden. – Es kam nicht so.« Ernst Meyer blieb ohne jedes Unrechtsbewusstsein.135
Im privaten Erinnern dürfte es zwischen Westdeutschland und der DDR kaum Unterschiede gegeben haben. Doch während das Verschweigen und Verdrängen im öffentlichen Raum in Westdeutschland zunehmend Widerspruch und Kritik hervorriefen, entfaltete der Antifaschismus als offizielle Staatsdoktrin der DDR erstaunliche Bindungskraft – für nicht wenige bis zu ihrem Untergang.
Die DDR, mein Vaterland,
ist sauber immerhin.
Die Wiederkehr der Nazizeit
Ist absolut nicht drin.
versicherte Wolf Biermann in Deutschland. Ein Wintermärchen in den sechziger Jahren. Mochte der Wechsel des Personals auch teilweise mit gewaltsamen Methoden durchgeführt worden sein, so hielt Biermann die Mittel durch das Ziel für gerechtfertigt.
So gründlich haben wir geschrubbt
Mit Stalins hartem Besen,
Dass rot verschrammt der Hintern ist,
Der vorher braun gewesen.136
Die Sowjetisch Besetzte Zone und später die Deutsche Demokratische Republik schien vielen der bessere deutsche Staat. Namhafte und untadelige Künstler und Intellektuelle wie der Philosoph Ernst Bloch oder die Schriftsteller Arnold Zweig, Bertolt Brecht und Anna Seghers entschieden sich – zumindest anfangs – für das sozialistische Deutschland. Heinrich Mann ließ sich in Ost-Berlin zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste wählen, verstarb dann aber vor der Rückkehr aus Amerika. Die Entnazifizierung war umfassender als in den Westzonen. An herausgehobenen Positionen standen Genossen aus KPD und SPD, die in der Regel antifaschistischen Widerstand geleistet, im Zuchthaus und im KZ gesessen oder aus der Emigration heraus gegen Nazi-Deutschland agitiert hatten. Ministerpräsident Otto Grotewohl beispielsweise (vormals SPD) hatte einer Widerstandsgruppe in Berlin angehört, Staatspräsident Wilhelm Pieck (KPD) das Nationalkomitee Freies Deutschland in Moskau mitbegründet; unter den neun Mitgliedern des ersten Politbüros der SED besaß nur einer keine antifaschistische Vergangenheit.
Die DDR führte zu ihren Gunsten auch an, dass im Zuge der »antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung« die Produktionsmittel verstaatlicht, das »Junkerland in Bauernhand« überführt und damit, so die marxistische Theorie, der Faschismus »mit der Wurzel ausgerottet« worden sei. Im Unterschied zu Westdeutschland gab es kein »Finanzkapital« mehr, das jene monopolkapitalistische Wirtschaft hätte fortführen können, die schon einmal zum Faschismus geführt hatte. Dass im Zuge der Entnazifizierung in der DDR nicht nur ehemalige NSDAP-Mitglieder ihre Positionen verloren, sondern auch politische Gegner des neuen Systems ausgeschaltet wurden, dass rechtsstaatliche Verfahren häufig ignoriert, Parteien gleichgeschaltet und demokratische Freiheiten beschränkt wurden, erschien vielen zwar beklagenswert, aber: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.137 »Man hätte Antifaschisten bekämpfen müssen, um den Stalinismus zu bekämpfen«, erklärte der Regisseur Frank Beyer am Ende der DDR die eigentümliche Loyalität gegenüber einem Staat, der im Namen des Antifaschismus selbst totalitären – stalinistischen – Terror ausübte. Die »antifaschistische Leimrute«, so auch der Schriftsteller Günter Kunert, hätte ihn lange »flugunfähig, fluchtunfähig« gemacht. Erst 1979 nutzte er ein mehrjähriges Visum, um der DDR den Rücken zu kehren.
Sogar noch ein Teil der zweiten Generation fühlte sich gefangen durch die antifaschistische Identitätsstiftung. »Wichtig scheint mir«, schrieb die 1952 geborene Psychotherapeutin Annette Simon, Tochter von Christa Wolf, »dass die Loyalität zur DDR, die uns ja wirklich eingehämmert wurde, … irrationale, fast könnte ich sagen mystische Dimensionen hatte … Ich glaube, dass die Leiden, welche die herrschenden Antifaschisten in der Zeit des Nationalsozialismus hatten erdulden müssen, einen solchen Widerhall in mir fanden, dass ich meinte, diesen Staat niemals verlassen zu dürfen, obwohl ich ihm als eine zeitweise sogar ›konspirativ arbeitende Oppositionelle‹ unversöhnlich gegenüberstand. Erst jetzt wird mir bewusst, dass sich meine Loyalität zur DDR tatsächlich auf die tief gefühlte Solidarität mit den Opfern des Faschismus gegründet hat, auf das Erleben einer Art Erbschuld.«138
Annette Simon wurde von den Eltern regelrecht mit Antifaschismus gefüttert. Schon früh las sie Anna Seghers’ Roman Das siebte Kreuz, der die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager schildert, von denen nur einer nicht wieder eingefangen wird. Der Roman war Pflichtlektüre in der DDR. Sie las Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz, der eine Widerstandsgruppe im KZ Buchenwald schildert, die ein Kind versteckt. Auch dieser Roman war Pflichtlektüre in der DDR. »Die Geschichten von den gemordeten Antifaschisten waren die Heldensagen der DDR«, weiß Annette Simon, »(die Ermordung von Millionen Juden war dabei nur ein Nebenthema), und die Überlebenden erfüllten ein ideelles Vermächtnis – schon deshalb mussten sie im Recht sein.«
Der KPD-Führer Ernst Thälmann, den Hitler nach über elf Jahren Einzelhaft im August 1944 erschießen ließ, wurde zur herausgehobenen Identifikationsfigur. Die Jungen Pioniere wurden in ihrem Gelöbnis auf ihn verpflichtet, jede Schulkasse sah die beiden Teile des 1954 gedrehten, pathetischen historisch-dokumentarischen Defa-Films Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse, im KZ Buchenwald wurde ihm die erste Gedenktafel der Gedenkstätte gewidmet.
Indem sich die DDR als Nachfolgerin der Widerstandskräfte verstand, katapultierte sie sich auf die Seite der Sieger. »Jeder Bürger der DDR«, so der Schriftsteller Stephan Hermlin im Rückblick, »konnte sich nun als Sieger der Geschichte fühlen.« Selbst ehemalige Nazis und Mitläufer profitierten davon, zumal den nominellen NSDAP-Mitgliedern im August 1947 die bürgerlichen und politischen Rechte zurückgegeben wurden. Wenn zukünftig der Aufbau des Staates im Vordergrund stehen sollte, so Parteichef Walter Ulbricht Ende Januar 1948, »können wir nicht zu gleicher Zeit die Entnazifizierung weiterführen. Denn wir müssen an die ganze Masse der Werktätigen appellieren, auch an die nominellen Nazis, an die Masse der technischen Intelligenz, die Nazis waren. Wir werden ihnen offen sagen: Wir wissen, dass Ihr Nazis wart, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf Euch an, ehrlich mit uns mitzuarbeiten.«
Infolge dieser pauschal gewährten Entschuldung waren die Individuen von jeder kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Verhalten in der NS-Zeit befreit. »Die Strategie der Kommunisten war äußerst erfolgreich«, urteilt die Politikwissenschaftlerin Antonia Grunenberg. »Sie bestraften die oberen Nazi-Funktionäre und gewährten den Mitläufern Entlastung, indem sie sie zur Bewährung im neuen Staat aufforderten. Sie verlangten Mitarbeit am neuen Gemeinwesen, aber keine Selbstverantwortlichkeit, und kamen damit der postnazistischen Mentalität entgegen. Sie delegierten einen großen Teil der Schuld an das ›kapitalistische Wirtschaftssystem‹ und seine Führer und unterstützten damit eine von vielen gehegte Vorstellung, die Deutschen seien Opfer gewissenloser Kapitalisten geworden, die sich mit ›den Faschisten‹ verbündet hätten.«139
Nach dem Abschluss der Entnazifizierung entstand in der DDR für zwei Jahre die groteske Situation, dass Nazi-Mitläufer zur Integration in das neue Staatswesen aufgefordert wurden, während ähnlich gering oder gar nicht Belastete nach wie vor ohne Gerichtsurteil in den Internierungslagern saßen.
Nach einer parteiinternen Statistik zählte die SED Ende 1953 durchschnittlich 8,5 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, weitere sechs Prozent hatten einer nationalsozialistischen Gliederung angehört. In einigen Landesverbänden kamen Mitglieder der NSDAP und weiterer ihr angeschlossener Verbände auf bis zu 35 Prozent. Doch »persönliche Faschismusbewältigung war in der DDR seit den 50er Jahren kein erwünschtes Thema mehr, das irgendwelche öffentliche Resonanz finden konnte und sollte«, schrieb der DDR-Historiker Olaf Groehler. »Auf diese Weise konnten Millionen von Deutschen in der DDR aus dieser Verantwortung flüchten.«140
Die Rassenideologie des Nationalsozialismus fand in der kommunistischen Faschismustheorie keine Berücksichtigung beziehungsweise wurde ausschließlich als Manipulationsinstrument der Arbeiterklasse betrachtet. Dem Genozid an den Juden wurde in der DDR und den anderen kommunistischen Staaten keine besondere Bedeutung zugemessen. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung standen Widerstandskämpfer, Kommunisten und Antifaschisten. Allein dem Tod von »politischen Kämpfern« im KZ wurde ein Sinn zugesprochen, sie galten als Wegbereiter des Sozialismus. »Durch Sterben und Kämpfen zum Sieg« lautete das entsprechende Motto der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, die Ministerpräsident Otto Grotewohl am 11. September 1958 auf dem Ettersberg bei Weimar einweihte. Von der »Nacht des Faschismus« über die Station der »kämpferischen internationalen Solidarität« führte der Weg zur »Selbstbefreiung der Häftlinge« in dem »befreiten Teil Deutschlands«.
Im Unterschied zu den Kämpfern galten »Bibelforscher, Zigeuner, jüdische Leute« als »reine Opfer«, Schafe, die sich zur Schlachtbank hatten führen lassen. Entsprechend der Hierarchisierung wurden für Kämpfer, Verfolgte und Teilverfolgte verschiedene Ausweise ausgegeben und die Höhe der Renten gestaffelt. »Vom Status als ›Verfolgte des Naziregimes‹ habe auch ich noch profitiert«, schrieb Barbara Honigmann, die 1949 in eine jüdische Familie in Ost-Berlin geboren wurde, »denn diese Art der ›Wiedergutmachung‹ bezog auch die Kinder der Verfolgten mit ein und sicherte ihnen zum Beispiel während des Studiums ohne weitere materielle Kriterien das Höchststipendium von 206 Mark und den Anspruch auf eine Wohnung.«141
Allerdings war der Status eines »Verfolgten des Naziregimes« an politisches Wohlverhalten gebunden. »1951, während einer der zahlreichen Kampagnen gegen Sozialdemokratismus, Kosmopolitismus und Zionismus, sahen sich die jüdischen Genossen dann vor die Wahl gestellt, entweder Mitglied der Jüdischen Gemeinde oder der Partei zu sein, da die eine Mitgliedschaft die andere ausschließe. Und weil sie sich nicht der Verdächtigung aussetzen wollte, eine zionistische Agentin zu sein, trat meine Mutter wie die meisten ihrer Freunde … aus der Jüdischen Gemeinde aus … Diese ›Wahl‹ zwischen der Jüdischen Gemeinde und der SED war nur eine der zahlreichen Unterwerfungsgesten, die man den Genossen abverlangte, besonders, wenn sie aus dem westlichen Exil zurückgekehrt waren.«
Westemigranten standen seit Ende der vierziger Jahre im Verdacht, Kontakte mit dem amerikanischen Geheimdienst gehabt zu haben. Paul Merker, der 1946 aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt war, und weitere, auch jüdische Genossen wurden aus der Partei ausgeschlossen, andere verhaftet und zum Teil zu hohen Gefängnisstrafen beziehungsweise zu Zwangsarbeit verurteilt. Merker war zwar kein Jude, aber er hatte sich abweichend von der Linie der SED für die finanzielle Entschädigung von Juden ausgesprochen, selbst wenn sie im Ausland lebten (angeblich diente dies den jüdischen Monopolkapitalisten), er hatte die Existenz des Staates Israel verteidigt, auch als die Sowjetunion sich von ihm abgewandt hatte (angeblich bildeten die Juden keine Nation), und er hatte die besondere Verfolgung von Juden unterstrichen: Anders als die politischen Gegner des Nationalsozialismus hätten sie nicht die Wahl gehabt, sich am antifaschistischen Kampf zu beteiligen (was als Herabwürdigung des Mutes der kommunistischen Antifaschisten gedeutet wurde).142 Merker galt als Agent der USA, Israels und »zionistischer Organisationen«.
In einem Geheimprozess wurde Paul Merker 1955 zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Zwar wurde das Urteil bereits zehn Monate später von denselben Richtern, die ihn verurteilt hatten, wieder aufgehoben, doch Merker hat sich nie von dem Verfahren erholt. In einer Stellungnahme zur Judenfrage bekräftigte er nach seiner Entlassung nochmals seine Auffassung: »Ich bin weder Jude noch Zionist – ein Verbrechen wäre wohl keines von beiden –, ich hatte nie die Absicht, nach Palästina zu fliehen, auch habe ich die Bestrebungen des Zionismus nicht unterstützt. Ich habe … lediglich die Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass, nachdem die Juden durch den Hitlerfaschismus ausgeplündert, auf das tiefste beleidigt, aus ihren Heimatländern vertrieben und Millionen von ihnen, nur weil sie Juden waren, ermordet worden sind, zwischen den Juden verschiedener Länder das Gefühl engster Verbundenheit und das Sehnen nach einem eigenen, jüdischen Lande entstanden ist. Und weiter, dass besonders wir Deutschen, da sich der Hitlerfaschismus unter uns herausgebildet hat und es uns nicht gelungen war, durch Aktionen der werktätigen Massen die Errichtung seiner Herrschaft und damit seine Verbrechen zu verhindern, dieses Gefühl der Juden, das der Ausdruck der aufs tiefste Beleidigten und Empörten war und das ich als Stärkung des jüdischen Nationalgefühls bezeichnete, nicht ignorieren oder bekämpfen dürfen.«143
Paul Merker starb 1969 psychisch und physisch gebrochen in Berlin. Kurz vor seinem Tod wurde er mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet – als Kompensation für erlittenes Unrecht.
Im Vergleich zur Tschechoslowakei und zur Sowjetunion ist die antijüdische Karte in der DDR nur bedingt eingesetzt worden. Es gab keinen Schauprozess à la Slánský, keine Todesurteile und keine Hinrichtungen. Im Unterschied zu Polen hat die SED-Führung Mitte der 1950er Jahre auch zu keiner antisemitischen Welle innerhalb der Partei und der Bevölkerung ermutigt. Antisemitische Vorfälle oder Äußerungen in der öffentlichen Berichterstattung wurden in der Regel unterdrückt, teils auch juristisch verfolgt. Partei- und Regierungsvertreter beteiligten sich demonstrativ an Gedenktagen, schon 1955 wurde das Kuratorium für den Aufbau der Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück berufen. Es fällt schwer zu sagen, inwieweit die Kampagne gegen Paul Merker und andere aus antisemitischen Gründen erfolgte, wie weit der Antisemitismus taktisch zur Ausschaltung der innerparteilichen Opposition eingesetzt wurde oder wie weit sich die Verfolgung der Jüdischen Gemeinde auf Druck aus Moskau und/oder auf stalinistische Gleichschaltung zurückführen lässt.
Bis Anfang der 1950er Jahre hatte es noch eine bedingte Pluralität im antifaschistischen Gedenken gegeben. Die Jüdischen Gemeinden konnten auch Gelder vom amerikanischen JOINT (American Jewish Joint Distribution Committee) annehmen und trotzdem staatliche Zuwendungen in der DDR erhalten. Ende 1952 aber wurden Büros der Gemeinden von der Staatssicherheit durchsucht und Akten beschlagnahmt.144
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins, Julius Meyer, setzte sich im Januar 1953 nach West-Berlin ab, die Gemeindebibliothek wurde aus dem Ostteil in den Westteil Berlins gebracht. Es gingen auch die Gemeindevorsteher aus Leipzig, Erfurt, Halle und Schwerin und weitere 400 Gemeindemitglieder, etwa ein Drittel der ohnehin kleinen Jüdischen Gemeinden in der DDR. Im Februar 1953 musste die Groß-Berliner Vereinigung der Verfolgten des NaziRegimes (VVN) ihre Tätigkeit einstellen; an ihre Stelle traten im Osten die linientreuen Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer.
»Die Säuberung vom Winter 1952/53 stellte die entscheidende und unumkehrbare Wende in der Behandlung jüdischer Belange und der Politik der Erinnerung in Ostdeutschland dar«, urteilt der amerikanische Historiker Jeffrey Herf, »das endgültige Ende des Einflusses von jüdischen wie nichtjüdischen Kommunisten, die sich für jüdische Interessen einsetzten, auf die ostdeutsche Politik.«145
Offizieller Antisemitismus existierte danach noch in einer als Antizionismus getarnten Israelfeindlichkeit. Als sich der neu gegründete Staat Israel dem Westen zuwandte, stellte sich der Sowjetblock einschließlich der DDR auf die Seite der arabischen Staaten. Als ein Staat, der sich nicht als Erbe des NS-Regimes verstand, verweigerte die DDR bis kurz vor ihrem Ende Wiedergutmachungsleistungen an internationale jüdische Organisationen und an Israel. Sie lehnte die Rückerstattung »arisierten« jüdischen Besitzes ab und »arisierte« Betriebe in Volkseigentum.
Erst die frei gewählte Volkskammer der DDR bekannte sich im April 1990 über alle Fraktionen hinweg zu einer Mitverantwortung der DDR für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands: »Wir bitten die Juden in aller Welt … um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.«
Zum Beispiel Rosemarie Heise
Für mich war die DDR von Anfang an das bessere Deutschland, ein antifaschistischer Staat auf der Grundlage neuer sozialistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse, wie wir ihn während der Nazi-Zeit ersehnt und für die Zukunft nach der Niederlage erhofft hatten. Hätte ich nach einem Sieg der Nazis studieren dürfen? Mein Vater war vor 1933 sozialdemokratischer Funktionär gewesen und Prokurist an der Dresdener Volkszeitung, dem Organ der Dresdener SPD. Nachdem die Redaktion 1933 von der SA besetzt worden war und dann der nationalsozialistische Freiheitskampf das Gebäude übernommen hatte, mussten wir die Dienstwohnung am Wettiner Platz räumen. Mein Vater war drei Jahre arbeitslos.
Die Übernahme der Zeitung habe ich nie vergessen. Ich lag zwar in jenen Wochen mit Herzklappenentzündung im Krankenhaus, aber am Sonntag nach der Besetzung war ich das einzige Kind, das keinen Besuch erhielt. Mein Vater hatte dank eines SPD-Genossen aus der Pförtnerloge entweichen können, in die er – geschlagen und mit zerbrochener Brille – eingesperrt worden war. Mit einem Kollegen brachte er Parteigelder in der Tschechoslowakei in Sicherheit. Meine Mutter verbrachte mit meinem Bruder einige Tage bei meiner Großmutter. Als sie mich endlich besuchte, fand sie mich im Bett sitzend beim Basteln eines Hakenkreuzfähnchens. Ich war fünf Jahre alt. Sie brach in Tränen aus, und ich hielt mich für schuldig, ohne zu wissen woran.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sich die Welt für mich einschneidend verändert. Lieder wie »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« durfte ich auf Anweisung meiner Eltern nur noch leise und zu Hause singen. Mit Männern in braunen Uniformen sollte ich mich keinesfalls in Gespräche einlassen. Nach der Einschulung verlor ich bald meine Banknachbarin; ihre Familie verließ Deutschland, sie waren Juden.
Meine Eltern hatten sich geeinigt, ihre politische Überzeugung nicht zu verhehlen und mir und meinem älteren Bruder so gut wie möglich zu erklären, wie wir uns nun verhalten mussten.
Unser Hausarzt, der Antifaschist Professor Fetscher,146 der mit meinem Vater befreundet war, schrieb mir ein Attest, das mir ermöglichte, nicht Mitglied im BDM zu werden. Ich war etwa fünfzehn, als mich die Tochter einer Nachbarin einmal drängte, mit zur Siegerehrung nach einem Sportfest des BDM zu kommen. Derartige wirkungsvoll inszenierte Großveranstaltungen übten mit ihrer Massenbegeisterung durchaus einen gewissen Reiz auf mich aus. Aber bedrückende Ereignisse bestärkten zugleich meine Abwehr. Ich war erschüttert, als zwei junge Frauen wegen »Rassenschande« auf den Stufen des Polizeipräsidiums gegenüber unserer Wohnung kahl geschoren wurden, als befreundete Juden ihre Arbeit verloren und emigrierten oder deportiert wurden und ein Freund meines Bruders wegen Befehlsverweigerung erschossen wurde. Ohne Mitgliedschaft im BDM war ich allerdings an den Rand der Klasse gedrängt, es fehlte mir sehr eine Gruppe, zu der ich hätte gehören wollen und dürfen. Also flüchtete ich in die Welt der Literatur und zu ihren Helden. Da war und blieb ich zu Hause.
Manchmal empfand ich eine Art elitärer Befriedigung darüber, inmitten lauter Verblendeter klar zu sehen. Dabei war durchaus nicht immer alles klar, und die Zukunft vor allem war ungewiss. Ich erinnere mich meiner zwiespältigen Gefühle beim Fall von Stalingrad: Wie alle Antifaschisten wünschte ich die baldige Niederlage der Wehrmacht herbei, aber würde denn die Niederlage weniger lebensbedrohlich sein, auch für meinen Bruder und seine Freunde?
Wir erlebten den Krieg in Dresden. Nach den verheerenden Luftangriffen vom 13. Februar 1945 breitete sich eine dumpfe Untergangsstimmung in der Stadt aus. Wut und Hass der Menschen richteten sich allerdings immer noch nicht, wie wir gehofft hatten, gegen die Verursacher des Krieges, gegen Hitler und die Nazis, sondern gegen die Engländer und Amerikaner. Wir selbst waren von den Angriffen verschont geblieben, wir wohnten in einem Vorort. Aber ich sah die Elendskolonnen von Ausgebombten und Flüchtlingen an unserem Haus vorbeiziehen. Im April wankte dann noch eine Schar von etwa hundert ausgemergelten Frauen in Häftlingskleidung durch unsere Straße, am Ende ein zweirädriger Tafelwagen, auf dem mehrere Frauen lagen, deren Zustand wohl hoffnungslos war. Das vernichtende Gefühl der Ohnmacht, auch der Scham, ihnen der eigenen Bedrohung wegen nicht zu helfen, habe ich nie vergessen.
Als der Krieg dann endlich vorüber war, herrschten bei uns grenzenlose Erleichterung und beflügelnde Triumphgefühle vor. Ich hatte Krieg und Nationalsozialismus überlebt, mich erhob das Gefühl aktiver Teilhabe an einer Zeitenwende, einer wirklichen Befreiung. Die zweimalige Plünderung unserer Wohnung konnte unserer Euphorie wenig anhaben; und Selbstmorde der Nazi-Größen unseres Ortes waren für uns nur die faktische Bestätigung des Endes ihrer Herrschaft. Über Berichte von Vergewaltigungen und Raub durch die sowjetischen Soldaten waren wir zwar betroffen und enttäuscht, aber unsere Hoffnungen knüpften sich an Stalins Worte, die damals auf vielen Transparenten zu lesen waren: »Die HITLER kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt.«
Sozialisten und Kommunisten bildeten allerdings nur eine kleine Minderheit in der Bevölkerung; ihre Zahl schrumpfte noch durch die Erfahrungen mit der Roten Armee. Es ging also zunächst darum, die Erzieher zu erziehen, die künftigen Lehrer. Mit großem Engagement und mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration wurde die Neulehrerbildung organisiert, angeleitet von Antifaschisten, die vielfach aus den Lagern und der Emigration zurückkehrten oder in der NS-Zeit aus politischen Gründen diskriminiert worden waren. Zu ihnen gehörte mein späterer Schwiegervater Dr. Wilhelm Heise, ein Berliner Gymnasiallehrer. Seiner jüdischen Ehefrau wegen war er zwangsemeritiert worden; nun wurde er Dekan an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität. Leider verstarb er bereits 1949.
Kurz überlegte ich, ob ich in die KPD oder in die SPD eintreten sollte. Es gab in beiden Parteien alte Vorbehalte gegen die jeweils andere – aus triftigen Gründen, aber auch aufgrund von Vorurteilen. Ich entschied mich für die Tradition des Elternhauses. Im September 1945, an meinem achtzehnten Geburtstag, wurde ich Mitglied der neu gegründeten SPD und trat auf Drängen der Partei in die alsbald gegründete FDJ ein. Zwar fand ich, mit achtzehn Jahren sollte man nicht mehr zu einer Jugendorganisation gehören. Aber ich sah ein, dass die FDJ viele Mitglieder haben musste, und zwar freiwillige. Ihre Funktionäre sollten die Hauptlast der Erziehung junger Menschen zu Antifaschisten und Demokraten tragen, zunächst allerdings deren Abkehr von noch massenhaft vorhandenen faschistischen Vorstellungen und Wertungen bewirken.
Im Dezember 1945 schickte mich die SPD-Landesleitung zu ihrem allerersten Schulungskurs nach Schloss Bieberstein bei Freiberg in Sachsen. Ich war die Jüngste dort, nahm begierig alles auf und galt als hoffnungsvoller Nachwuchs. Beherrschendes Diskussionsthema war die bevorstehende Vereinigung von KPD und SPD zur SED. Mein Vater hatte immer zum linken Flügel der SPD gehört und mir erklärt, die Spaltung der Arbeiterklasse habe zum Faschismus geführt; vereint könnten die beiden Parteien mit Sicherheit den Sozialismus erstreiten. Das hat mich überzeugt, es gab kein Argument gegen seine historische Erfahrung.
Als Kind einer nicht begüterten antifaschistischen Familie hatte ich in der Sowjetisch Besetzten Zone Aussicht auf ein Stipendium, das an gute Studienleistungen gebunden war. Zuvor holte ich in einem speziell eingerichteten Jahreskurs das Abitur nach. Meine Klassenkameraden kamen aus Lazaretten, aus der russischen Gefangenschaft, von den Flüchtlingstrecks; sie waren Kriegsversehrte, Flak-und Nachrichtenhelferinnen. Der Älteste war 27, die jüngste siebzehn Jahre alt. Einige mussten sich selbst durchbringen und betrieben Schwarzhandel: Zigaretten, Interzonenpässe, Nylonstrümpfe, alles war zu haben. Als einziges SED-Mitglied in der Klasse hatte ich allerdings wieder keine Gruppe, der ich mich zugehörig fühlte. Doch anders als zur NS-Zeit musste ich nicht mehr schweigen. Für die Wochenzeitung Start verfasste ich eine Skizze über den Freund meines Bruders, der wegen Befehlsverweigerung erschossen worden war. Nun schwiegen andere, vor allem die Männer. In ihren Augen hatte ich einen Deserteur zum Helden gemacht.
Im Oktober 1947 begann mein Studium an der Leipziger Universität. Eigentlich wollte ich Journalistik studieren, denn ich sah mich – meine Neigung für mein Talent haltend – als künftige Schriftstellerin. Aber für Journalistik hätte ich auch Betriebswirtschaft studieren müssen. Daher wechselte ich zur Germanistik, allerdings ohne pädagogische Fächer. Geschichte und Philosophie wurden meine Nebenfächer. Ich wünschte mir eine Presse- oder Verlagsarbeit.
Zu meinen Professoren zählte der Romanist Werner Krauss, der der Roten Kapelle angehört hatte und von den Nazis zum Tode verurteilt worden war. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil gehörten auch Ernst Bloch und später Hans Mayer zu meinen Lehrern.147 Ich habe die Umwandlung der alten bürgerlichen Universität in eine – wie wir später mit leisem Spott sagten – »Kaderschmiede« als äußerst positiv empfunden. Eine Reihe bekannter Wissenschaftler und Autoren ging aus ihr hervor, unter anderen die Schriftsteller Christa Wolf, Uwe Johnson und Gerhard Zwerenz, auch der Regisseur Egon Günther.
Manchmal gab es allerdings auch Fragwürdiges. Zum Beispiel wurde der Vorsitzende unseres Studentenrates und der Liberaldemokratischen Hochschulgruppe Wolfgang Natonek im November 1948 zusammen mit zwanzig weiteren Studenten vom NKWD festgenommen. Er war bei vielen Studenten sehr angesehen, vor allem unter den Juristen, die während des Krieges ihr Studium nicht hatten beenden können und nun ohne die sonst angewandten Herkunftsrestriktionen aufgenommen wurden. Damals stieß ich im Dekanat auf eine weinende Frau, die Mutter eines der verhafteten Studenten, die versuchte, etwas über ihren Sohn zu erfahren. Es war ein bedrückendes Erlebnis, aber ich beschwichtigte mich mit den Zeitungsberichten. Wenn wirklich zutraf, dass Natonek und die anderen Kommilitonen sich mit amerikanischen Offizieren getroffen und ihnen Informationen übermittelt hatten, war ihre Verhaftung in meinen Augen gerechtfertigt. Freilich wünschte ich, man hätte die Eltern nicht ohne Nachricht vom Verbleib ihrer Kinder gelassen. Aber konnte man nicht auch verstehen, dass die Sieger nach dem, was der Sowjetunion an Unrecht widerfahren war, auf vermutete Gefahren rücksichts- und gnadenlos reagierten?148
Wir waren damals geneigt, derartige Vorgänge zu verdrängen und rechtfertigten uns vor uns selbst: Es sind die Verhältnisse, die so schwierig sind. Mit denselben Leuten, die den Nazis nachgelaufen sind, müssen wir den Sozialismus aufbauen.
Anders als die Westdeutschen, so scheint mir heute, sahen wir uns mehr mitschuldig am Krieg denn als dessen Opfer und akzeptierten die Folgen wie das bleibende Misstrauen anderer Staaten, die großen Reparationsleistungen und die neue deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße. Als die Sowjetunion vom Siegerstaat mehr und mehr zu unserem stärksten Verbündeten wurde, standen wir schließlich an ihrer Seite und mutierten in dieser Rolle zu »Siegern der Geschichte«.
Doch es war die Zeit des Kalten Krieges. In der unmittelbaren Nachbarschaft zur Bundesrepublik als Bastion des Westens lebten wir im Gefühl ständiger Bedrohung und wurden immer wieder zur Wachsamkeit aufgerufen. Die traumatische Angst vor einem Auseinanderbrechen des sozialistischen »Lagers« wuchs sich dabei in verhängnisvoller Weise zu einer Schreckkulisse aus und verselbstständigte sich. Eine arglose Frage, ein sachlicher Einwand gegen eine staatliche Maßnahme oder die Verteidigung eines von der Parteispitze missbilligten Kunstwerks wurden als Abweichung, als Schützenhilfe für den Klassenfeind, als Verlassen des Klassenstandpunkts gedeutet. Die kollektive Weisheit des Politbüros anzuzweifeln, wurde als Revisionismus, Eklektizismus, Kosmopolitismus und so weiter verurteilt, das gute Prinzip der sozialistischen Kritik und Selbstkritik konnte als Instrument der Denunziation missbraucht werden. Anfangs hatte ich mehr Zuversicht besessen und eine baldige Besserung des internationalen Klimas erwartet. Nun erlebte ich, deprimiert, wie in den Versammlungen offizielle Phrasen wiederholt und Stroh gedroschen wurde.
Dann machte ich aber eine Erfahrung, die mich wieder in meiner grundsätzlichen Überzeugung von der Zukunft des Sozialismus bestärkte. Weil es noch an Lehrkräften an den Universitäten und den neu geschaffenen Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF) mangelte, wurden Studenten aus den oberen Semestern abgezogen und von der Partei als »wissenschaftlicher Nachwuchs« in Sonderkurse delegiert. Innerhalb kurzer Zeit sollten marxistische Grundlagen der deutschen Literaturgeschichte, vor allem des 18. Jahrhunderts, erarbeitet und entsprechende neue Lehrpläne entwickelt werden. So nahm ich von Herbst 1951 bis Frühjahr 1952 an dem inzwischen legendären Germanistenkurs bei Gerhard Scholz in Weimar teil.
Scholz hatte seit 1938 im schwedischen Exil gelebt. Nach seiner Rückkehr war er 1949 zum Direktor des Goethe-Schiller-Archivs149 in Weimar berufen worden. Zur Neuordnung des Archivs und zur Bewältigung der vielfältigen politischen wie ökonomischen Nachkriegshürden war der leidenschaftliche Forscher und begnadete Pädagoge wenig geeignet. Als kreativer Lehrer für vierzig junge Literaturwissenschaftler hingegen war er wunderbar. Ein Ideengeber, ein Anreger, ein unkonventioneller Kopf, der freundschaftlich und mitteilsam war. Sicher verklärt sich mir heute manches, aber der Lehrgang war damals einzigartig in der DDR, ein Beispiel für neue, unkonventionelle Formen demokratischer Forschung und Erziehung.
In der Villa »Silberblick« in der Humboldtstraße, wo Nietzsche zuletzt gelebt hatte, tagten die Arbeitsgruppen. Bis auf Nietzsches Sterbezimmer und den Salon im Erdgeschoss war das Haus geräumt worden. Die Arbeitsgruppenleiter wohnten hier, die Studenten zum Teil in einer Pension, in Privatquartieren, einige auch in notdürftig hergerichteten Räumen im Erdgeschoss des Weimarer Schlosses. Dort schliefen wir in rohen Holzgestellen mit strohsackähnlichen Matratzen, die wohl aus ehemaligen Luftschutzkellern stammten.
Für die braven und noch kriegsverstörten Einwohner von Weimar waren wir eine wilde Kommunistenbande, nicht nur, weil wir direkt neben den wertvollen Handschriften von Goethe und Schiller frühstückten und Papirossy rauchten, sondern auch andere Regeln eines geziemenden Wohlverhaltens brachen. Wir waren zur Hälfte Frauen und genossen unsere neue Freiheit, die damals übrigens größer als später war. In der Frauenemanzipation waren wir Westdeutschland voraus. Wer verheiratet war, war verheiratet, aber ein Seitensprung war kein Verbrechen. Wir haben nicht viel geschlafen, standen morgens aber trotzdem früh auf der Matte und arbeiteten den ganzen Tag mit Lust und Eifer. Sowjetische Sekundärliteratur und die Parteipresse waren Pflichtlektüre. Im Übrigen aber fühlten wir uns frei zu selbstständigem Erkunden. Wir waren kreativ, lasen auch wenig bekannte Quellen, übrigens auch »bürgerliche« Sekundärliteratur, denn marxistische war ja kaum vorhanden. Franz Mehrings Lessing – Legende, ein 1948 erschienener dicker Band mit ausgewählten Texten von Marx und Engels über Kunst und Literatur, und Schriften des ungarischen Philosophen Georg Lukács waren unsere Grundversorgung.
Unser Kurs gefiel den Auftraggebern nicht. Bei den Prüfungen ließ man uns auflaufen. Wir wurden über Dinge befragt, über die wir gar nicht gearbeitet hatten. Ich sollte Kubas (Kurt Barthels) »Gedicht vom Menschen« interpretieren, das ich zwar gelesen hatte, aber wirklich beschäftigt hatte ich mich mit Heinrich Heine und Friedrich Hölderlin. Ich schnitt also schlecht ab. Wo seien die neuen Lehrpläne für die marxistische Literaturwissenschaft und wo bleibe die proletarische Literatur, wurde uns vorgehalten. Außerdem waren zwei Kursteilnehmer nach den Weihnachtsfeiertagen nicht aus West-Berlin zurückgekehrt und hatten ihre Kritik, dass Literatur im Sozialismus nur als Exempel für Thesen dienen solle, die von politischen Instanzen diktiert würden, in der Kulturzeitschrift Frankfurter Hefte veröffentlicht.
Ursprünglich sollte der Kurs noch ein Jahr in Potsdam weitergeführt werden. Es blieb aber bei wenigen Wochen, da Scholz nicht den Erwartungen der leitenden Instanzen entsprach. Ich habe allerdings in dem halben Jahr bei Scholz mehr gelernt als in der weit längeren Studienzeit. Der Kurs in Weimar war für mich der euphorische Höhepunkt meiner Jugend. Hier fühlte ich mich endlich einer Gruppe zugehörig und anerkannt.
Bis zum Herbst 1952 legte ich dann in Leipzig ein glanzloses Staatsexamen ab. Danach wies mir eine Berufslenkungskommission den Dietz-Verlag in Berlin als Arbeitsplatz zu. Nach den Prüfungsenttäuschungen war ich schon deprimiert, nun sollte ich auch noch in dem wenig attraktiven Dietz-Verlag arbeiten, der vor allem politische Literatur veröffentlichte! Ich wagte jedoch nicht zu sagen, dass ich mich lieber mit Belletristik beschäftigen wolle, und wurde schon als neue Genossin von Abteilung zu Abteilung geführt. Zufällig traf ich danach jedoch einen Genossen vom Kurs in Weimar. Er war in der Abteilung Wissenschaft beim Zentralkomitee gelandet und bot mir an, mich an die Akademie der Wissenschaften zu vermitteln. Die Arbeit am dort geplanten Marx-Engels-Wörterbuch war zwar inhaltlich nicht weit entfernt von der im Dietz-Verlag, aber sie erforderte wissenschaftliche Weiterbildung, und von einem gründlichen Studium der Werke von Marx und Engels erhoffte ich mir mehr Klarheit für meine Fragen und Zweifel. Es dauerte allerdings eine Weile, bis der Dietz-Verlag auf seinen Anspruch verzichtete. Wovon sollte ich in dieser Zeit leben?
Ich hatte ein leeres Zimmer in Treptow gemietet, das zu bezahlen und einzurichten war. Als ich dort ankam, standen drei Männer mit einem Lkw vor der Haustür, Möbelpacker, die drohten, mit meiner Couch und meinem Schreibtisch nach Dresden zurückzufahren, wenn ich nicht sofort 280 Mark zahlen würde. Genau in diesem Augenblick kam wie ein Deus ex Machina Wolfgang Heise des Wegs, ein Assistent von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Er hatte mit einer Gruppe junger Studenten des Defa-Filmstudios einmal unseren Kurs in Weimar besucht; da hatte ich ihn kennengelernt. Jedenfalls schilderte ich ihm meine Lage, und er veränderte sie aus dem Stand – und zwar für immer. Er bezahlte nicht nur die Möbelpacker und schleppte die Möbel – nach gerade einmal fünf Monaten waren wir verheiratet.
Freunde hatten ihn mir als bindungsscheu geschildert. Doch nach ein paar Tagen lud er mich ins Theater ein und fragte gleich anschließend: »Wir bleiben doch zusammen?« Ich war vollkommen verblüfft. Irgendwie realisierte ich den Ernst der Lage nicht gleich, glaubte noch nicht an ein dauerhaftes Zusammenleben. Auf jeden Fall wollte ich mein Zimmer in Treptow behalten. Doch Anfang 1953 forderte die SED ihre noch in West-Berlin wohnenden, aber im sowjetisch besetzten Osten arbeitenden Genossen auf, in den Ostsektor zu ziehen. Auch Wolfgang wohnte im Westen. Nach dem frühen Tod des Vaters war er zu seiner Mutter zurückgezogen. Als jüdische Frau eines »Ariers« hatte sie Berufsverbot und während des Krieges Zwangsarbeit leisten müssen; sechzehn Mitglieder ihrer Wiener Familie waren in Konzentrationslagern umgekommen, andere waren emigriert; ihre Söhne hatten in einem Arbeitslager überlebt. Diese Erlebnisse prägten sie bis zu ihrem Tod.
Da sich Wolfgang und seine Mutter sowieso der DDR zugehörig fühlten, zogen sie im Februar 1953 in den Osten um. Auch ein Abenteuer: Die West-Berliner Behörden verlangten eine genaue Inventarliste des Umzugsguts samt bibliographischer Angaben aller Bücher – Wolfgang besaß etwa 8000. Nach mehreren durchschriebenen Nächten kapitulierten wir und schafften einen Teil der Bücher nach und nach kofferweise mit der S-Bahn in den Osten. Wir heirateten. Ein Paar bekam unverheiratet nicht einmal ein gemeinsames Hotelzimmer. Ich musste meine Treptower Bleibe aufgeben.
Zuerst zogen wir in ein kleines Einfamilienhaus nach Berlin-Wilhelmshagen. Oben wohnte meine Schwiegermutter, unten wohnten wir, das Wohnzimmer war gemeinsam. Es gab zunehmend Schwierigkeiten. Ich habe sehr lange gebraucht, um halbwegs – halbwegs! – das Vertrauen meiner Schwiegermutter zu gewinnen. Damals begriff ich nicht, dass ihr Sohn für diese traumatisierte Frau in der neuen Umgebung die einzige Bezugsperson war, und auf einmal nahm ich ihn ihr weg. Unsere Ehe hat eigentlich erst richtig begonnen, als meine Schwiegermutter eine eigene Wohnung bekam.
Zu den innerfamiliären Problemen kamen die politischen. Als ich etwa im fünften Monat schwanger war, klingelte es eines Tages an der Haustür. Da stand eine Frau, die unter Schluchzen und Weinen anfing, mich zu beschimpfen und das Kind in meinem Bauch zu verfluchen. Es handelte sich um die ehemalige Hausbesitzerin, eine Schneiderin. Sie hatte das Haus räumen müssen, als Genossen wie Wolfgang plötzlich von West-Berlin umzogen. Weil noch große Wohnungsnot herrschte, war das Problem fehlenden Wohnraums teilweise kurzerhand durch Enteignungen so genannter Wirtschaftsverbrecher gelöst worden. Solche gab es natürlich. Meist handelte es sich bei den Enteigneten aber einfach um Leute, die ihre Steuer hinterzogen hatten. Wir, die wir nichtsahnend eingezogen waren, beschlossen, so schnell wie möglich wieder auszuziehen. Als wir 1954 durch einen Zufall eine neue Wohnung fanden, konnte die Schneiderin zurück in ihr Haus. Aufgrund des »Neuen Kurses« nach dem 17. Juni 1953 erhielten enteignete Bürger, wenn nichts Ernstes gegen sie vorlag, ihr Grundeigentum zurück.
Ende 1952 hatte die Verfolgung jüdischer Ärzte in der UdSSR begonnen, angeblichen Spionen des amerikanischen Geheimdienstes, denen unterstellt wurde, die Vergiftung von führenden Politikern und Militärs geplant zu haben. Hunderte wurden entlassen, verhaftet, in Lager geschickt oder hingerichtet. Als Rudolf Slánský im Dezember 1952 in Prag erhängt wurde, waren wir gerade zu Besuch bei einer Freundin in Weimar. Ich sah, wie sie bei der Zeitungslektüre am Frühstückstisch erschrak. Sie war Jüdin. Und mein Mann hatte eine jüdische Mutter. »Ich bin ›Mampe halb und halb‹«, pflegte er zu sagen, und meinte damit: er sei Deutscher und Halbjude. Wir waren alle drei sehr bedrückt und hatten große Mühe, unsere Betroffenheit mit dem üblichen Trost zu unterdrücken, dass sich bald alles aufklären werde.
Ja, es gab eine dumpfe Angst, dass auch in der DDR solche Prozesse stattfinden könnten. In unserem Alltag spielte das Jüdische zwar keine Rolle. Bei uns und anderen jüdischen Genossen und Nicht-Genossen, die wir kannten, wurden weder der Sabbat noch die jüdischen Festtage gefeiert. Außer bei der Anerkennung als Verfolgter des Nazi-Regimes war die jüdische Abstammung administrativ bedeutungslos. Diese Betrachtungsweise fand ich überzeugend. Ich hatte Marx in der Judenfrage so verstanden, dass der Antisemitismus verschwinden würde, wenn für eine aufgeklärte Menschheit Rasse, Religion, Hautfarbe und Herkunft keine Geltung als diskriminierende oder privilegierende Kriterien mehr haben würden.
Die Intellektuellen aus jüdischer Tradition in der DDR waren häufig links. Misstrauen und Abneigung gegen Juden waren jahrhundertelang im handfesten Interesse der staatlichen wie kirchlichen Institutionen erfolgreich geschürt und genutzt worden, man hatte sie als die Schuldigen an gesellschaftlichen Missständen, Armut, Krankheit, Bränden und Nöten aller Art hingestellt. Die tiefen Wurzeln dieser Tradition wirkten oft unbewusst noch fort; die Angst vor der Möglichkeit eines neuen Antisemitismus war auch bei Wolfgang nicht gebannt. Dazu hatte er auch persönlich zu viel erlebt. Die Trauer seiner Mutter – eine Schwester hatte noch vom Transport eine Karte geschrieben und war dann in Theresienstadt umgekommen. Seine eigene Diskriminierung – er und sein Bruder waren als »jüdische Mischlinge« im letzten Kriegsjahr in einem Arbeitslager der Organisation Todt in Zerbst interniert gewesen. Beide hatten an einem Militärflugplatz mitgebaut, der immer, wenn er fast fertig war, wieder zerbombt wurde.
In unserer unmittelbaren Umgebung erlebten wir nun, wie etwa Bruno Goldhammer, der Intendant vom Berliner Rundfunk, wegen »Agententätigkeit« zu Zuchthaus verurteilt wurde. Es gab keine Beschuldigung wegen speziell jüdischer Agententätigkeit, ein rassistischer Zusammenhang wurde in diesem Fall nicht hergestellt. Aber die Verurteilungen des Zionismus, der in den Lexika der DDR als vor allem von den imperialistischen USA geförderte internationale Bewegung des jüdischen Nationalismus gebrandmarkt wurde, legten zumindest in ihrer Wirkung den Verdacht eines unterschwelligen Antisemitismus nahe.
Ich finde es allerdings falsch, wenn der noch oder wieder virulente Antisemitismus in der DDR als offiziell geduldet bezeichnet wird. Es wurde viel Mühe darauf verwandt, Wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus an Juden und Kommunisten zu verbreiten; überlebende Opfer des Faschismus erzählten vor Schulklassen von ihren Verfolgungen in Konzentrations- und Arbeitslagern. Soviel ich weiß, haben alle Schüler in der DDR einmal ein KZ besucht. Jüdische Religion und jüdisch-kulturelle Traditionen waren zwar weitgehend unbekannt und öffentlich kaum wahrnehmbar – nur versehentlich geriet ich in einem Hotel einmal in die Chanukka-Feier einer Jüdischen Gemeinde –, aber sie waren nicht verboten wie etwa die der Zeugen Jehovas. Und ich erinnere mich an zwei Gastspiele jüdischer Theater, einmal aus Rumänien, ein anderes Mal aus Warschau mit Ida Kaminska, deren ausverkaufte Vorstellungen vom Publikum wohlwollend aufgenommen wurden, obwohl die wenigsten die jiddischen Texte verstehen konnten.
Staatliche Organe in der DDR haben hohe Nazi-Funktionäre und Verbrecher nicht gedeckt oder sogar gefördert, wie es im Westen etwa mit Hans Globke geschah, dem engsten Vertrauten von Konrad Adenauer, und mit Theodor Oberländer, dem Vertriebenenminister in Adenauers Kabinett. Anders als in der BRD war die Entnazifizierung in der DDR schnell und konsequent durchgeführt worden. In Westdeutschland hingegen wurde sie wie eine Art Beichte begriffen, nach der man aller Sünden ledig war und frohgemut das Wirtschaftswunder kreieren konnte. Die Schuld am Krieg blieb zwar bestehen, aber mit dem Triumph der neuen Entwicklung schrumpfte sie zu der einiger Böser. Die Bundesbürger konnten sich mit altem und neuem Stolz an der Seite der Westmächte als Verteidiger des Abendlandes gegen das bedrohliche Lager des Kommunismus fühlen.
Für mich und noch mehr für Wolfgang als Juden war es unmöglich, die unbedingte Identifikation mit der von uns so inständig bejahten sozialistischen Alternative in Frage zu stellen. Wir fuhren nicht einmal nach West-Berlin, obwohl das noch jederzeit möglich war. Genossen hatten ja oft Verwandte dort, ein Besuch war nicht verboten, wenn auch nicht gern gesehen. Aber was sollte ich mir da ansehen? Die vollen Schaufenster? Dolce Vita, ja, diesen Film von Federico Fellini mit Marcello Mastroianni und Anita Ekberg habe ich gesehen. Still und heimlich. Und einmal besuchten wir gemeinsam eine Ausstellung des Malers Karl Hofer, den Wolfgang schätzte und mir zeigen wollte.
Nach West-Berlin fuhr ich nur, wenn wir zu Agitationseinsätzen geschickt wurden und an den Wohnungstüren klingelten, um zum Beispiel Unterschriften für die Ächtung der Atombombe zu sammeln. Ich erinnere mich an keinen Erfolg, aber viele zugeknallte Türen und kläffende Hunde. Ein Einsatz in Westdeutschland blieb mir erspart. Wir sollten quasi als Touristen getarnt über die noch durchlässige Grenze in das rheinische Industriegebiet fahren und morgens in der Nähe eines Fabriktors Agitationsmaterial an die Arbeiter verteilen beziehungsweise sie ansprechen. Da ich zum zweiten Trupp gehörte, blieb mir diese Blamage erspart, denn der erste Trupp war schon im Zug samt seinem Material von der bundesdeutschen Polizei in Empfang genommen worden. Diesen Unfug erlebte ich halb belustigt, halb verärgert, aber es fiel mir damals nicht ein, ihn öffentlich zu kritisieren, es wurde auch nicht darüber diskutiert.
Die politische Entwicklung nahm 1953 einen unguten Verlauf. In der Bevölkerung herrschte zu Recht große Unzufriedenheit. Am 17. Juni erreichten die Proteste, die ich selbst nicht aus eigener Beobachtung erlebte, ihren Höhepunkt; als Ergebnis erhoffte ich einen Neuanfang und Verbesserungen. Die anfangs heftig geführten Debatten verstummten jedoch sehr bald wieder und machten einem wenig veränderten Alltag Platz. Ich fühlte mich müde und ging möglichen Konflikten aus dem Weg. Ich wollte auch Wolfgangs Optimismus nicht dämpfen und konzentrierte mich auf meine Arbeit, das von uns reichlich genutzte Berliner Kulturleben und den großen Freundes- und Bekanntenkreis, der oft und zahlreich bei uns aus-und einging. Nach der Geburt meiner beiden Söhne 1954 und 1955 bin ich nicht an die Akademie zurückgekehrt, denn Krippenplätze waren noch selten. Mein reflektierendes Tagebuch legte ich beiseite bis zu Wolfgangs Tod 34 Jahre später, nach dem es mir wieder den Dialogpartner ersetzen musste und zu einem nicht endenden, buchdicken Brief an ihn wurde. Seine Antworten musste ich mir freilich vorstellen. Ich blieb damals also zu Hause und begann, im Rahmen einer langfristigen, antireligiösen Kampagne die beiden französischen Philosophen Paul Thiry d’Holbach und Denis Diderot zu übersetzen.
Die nächste, nun weltpolitisch folgenreiche Zäsur nach dem 17. Juni war der 20. Parteitag der KPdSU 1956. Die Geheimrede, in der Parteichef Nikita Chruschtschow die Verbrechen Stalins enthüllte, war in der DDR nicht veröffentlicht worden, aber viele, auch wir, hatten sie sich irgendwie beschafft. Wir waren alle erschüttert und hatten trotzdem das Gefühl, man hätte es geahnt. Die Sache selbst, die sozialistische Idee, sah ich durch Stalins Verbrechen nicht diskreditiert, aber beschädigt. Es war eben kein Sozialismus, was bisher praktiziert worden war. Wir meinten, in der DDR werde es möglich sein, den Weg vom Schlamm aus den vergangenen Zeiten zu säubern und neue Fehlentwicklungen mit demokratischen Kontrollinstanzen auszuschließen. Wir hofften wieder auf Veränderungen von innen, eine Selbstreinigung.
Nachdem ich meine Kinder 1957 in den Kindergarten bringen konnte, ging ich als Redakteurin an die Junge Kunst.150 Die Zeitschrift sollte das von Ulbricht verkündete Ziel der »gebildeten Nation« mit guten Beiträgen propagieren, eine Aufgabe, bei der ich mich in meinem Element fühlen konnte. Als Dolmetscherin für Französisch begleitete ich im Jahr darauf eine DDR-Delegation einige Wochen zu einem Erfahrungsaustausch über Fragen sozialistischer Erziehung und Bildung nach Nordvietnam. Mit einem Vietnamesen und zwei DDR-Pädagogen fuhr ich im Jeep durch das Land, den Dschungel, durch Städte und ganz entlegene Orte, um – wenige Jahre nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft – Bildungseinrichtungen aller Art vom Kindergarten bis zur Universität zu besuchen und mit den Verantwortlichen Gespräche zu führen. Das war für mich die unschätzbare Erfahrung eines exotischen Landes und seiner Bewohner, zugleich auch ein starker Eindruck von der praktischen internationalen Solidarität unseres Staates mit dem tapferen Volk, das als Sieger aus einem grausamen Krieg hervorgegangen war – und dem der schlimmere damals noch bevorstand.
Gegen Ende des Jahrzehnts war mir mehr und mehr klar geworden, dass wir nur ein kleiner Satellitenstaat waren und allein gar nichts ausrichten konnten, wenn die Sowjetunion nicht zustimmte. Der Spielraum war klein. Wolfgang hat aber immer gesagt: »Wir müssen unser Bäumchen pflanzen, wo wir können. Man soll Möglichkeiten des Produktiv-Seins suchen – es gibt sie immer und überall. Vieles ist zwar nicht gut, aber wir können aus eigener Kraft erreichen, dass es besser wird.«
Wolfgangs Student Wolf Biermann, der noch mit uns befreundet war, hat immer kritisiert, dass wir nicht weit genug in unserer Kritik an der DDR gingen. Wir müssten ein bisschen zu weit gehen, hat Biermann gesagt, allein schon deshalb, weil all die Feiglinge immer viel zu kurz gingen. Das war nicht Wolfgangs Denkweise. Er hielt dagegen: »Gewiss zu weit, aber nicht zu weit zu weit!«
Wir waren überzeugt, es geht nur mit der Partei voran. In den Enttäuschungen, die wir mit dem von uns als Kinder aus antifaschistischer und jüdischer Familie herbeigesehnten Staat erlebten, sahen wir zu keiner Zeit einen Grund, ihn zu verlassen.
Ich sah die DDR im Prinzip und der Verfassung nach als den zukunftsweisenden deutschen Staat. Bis heute halte ich die Kernsubstanz der marxistischen Theorie für nicht widerlegt und nicht überholt. Bei Vielem jedoch, was ich hier über meine frühen Jahre berichte und zu erklären versuche, bleiben Widersprüche und Fragen, das ständige Gefühl, etwas berichtigen zu müssen – ein Zeichen dafür, dass ich mit dieser Vergangenheit nicht »fertig« bin, dass sie nicht »bewältigt« ist, wie es immer so schön heißt. Aber ist das überhaupt möglich?
Und ob es die in immer höherem Tempo ablaufenden historischen Prozesse erlauben werden, das Ziel einer sozial gerechten, friedlichen Zivilgesellschaft neu anzusteuern und dabei alle ständigen, kaum berechenbaren Risiken zu berücksichtigen, bleibt fraglich.