V. TEIL

Ewald Bergerow vom Deutschen Kulturzentrum in Ust-Kamenogorsk übernahm es, Weberowskys Familie zu verständigen. Er war zwei Tage nach dem Attentat im Krankenhaus erschienen und blickte erschüttert durch die große Glasscheibe in der Intensivstation auf das eingefallene Gesicht von Weberowsky. Er erkannte ihn kaum wieder. Es war ein fremdes Gesicht, zerklüftet und eingefallen, ein Kopf – so kam es Bergerow vor – der zusammengeschrumpft war, wie um die Hälfte kleiner. Der Chefchirurg, der Bergerow gerufen hatte, nachdem er von Frantzenow erfahren hatte, daß der Verletzte ein Rußlanddeutscher und Bauer in Nowo Grodnow war und die Organisation der Rußlanddeutschen helfen könnte, stand schweigend neben ihm. Frantzenow hatte ihm gesagt, daß sein Schwager in diesem Dorf wohnte, aber wo es genau lag, ob Weberowsky Telefon hatte, wie man Erna, seine Frau, benachrichtigen konnte, darauf wußte Frantzenow keine Antwort.

»Ich hatte nie Zeit, meine Schwester zu besuchen«, sagte er. »Ich habe ihr immer nur schreiben können, bis der Kontakt abriß. Ich weiß jetzt, warum.«

Bergerow dagegen war genau informiert. »Weberowsky hat kein Telefon. Es gibt im Dorf nur zwei Anschlüsse, einen bei der Post und einen bei Pfarrer Heinrichinsky. Ich halte es für besser, den Pfarrer anzurufen. Er wird den richtigen Ton treffen und kann Erna beistehen.«

Der Chefchirurg wartete, bis Bergerow sich mit zusammengekniffenen Lippen vom Fenster abwandte. »Wir haben getan, was möglich ist«, sagte er. Es klang wie eine Entschuldigung. »Bei dieser Verletzung sind uns Grenzen gesetzt.«

»Aber er wird überleben?«

»Das ist fast sicher.«

»Wie lange muß er auf der Intensivstation liegen?«

»Schwer zu sagen. Sechs, sieben, acht Wochen. Bei Querschnittgelähmten ist die Lungenfunktion immer ein Problem. Ob Weberowskys Atmung klappt, muß sich erst herausstellen. Zur Zeit wird er künstlich beatmet.«

Bergerow wischte sich über das Gesicht. »Was haben Sie da eben gesagt, Professor?«

»Querschnittgelähmt.«

»Das … das …« Bergerow rang sichtlich nach Worten. »Das heißt –«

»Ja, das heißt es. Weberowsky wird nie wieder gehen können. Es ist sogar fraglich, ob er später sitzen kann.«

»Mein Gott! Wenn Sie Wolfgang Antonowitsch vorher gesehen hätten. Ein Kraftmensch, strotzend vor Gesundheit, den nichts umwerfen konnte. Niemals krank, ein Baum, der allen Stürmen trotzte. Wenn er ins Zimmer kam, füllte er es mit seiner Vitalität aus.«

»Das ist ein für allemal vorbei.«

»Unvorstellbar!« Bergerow wandte sich um und warf noch einen Blick auf Weberowsky. »Können Sie die Beatmung nicht abstellen, Professor?«

»Jetzt fangen Sie auch damit an! Das gleiche hat mich Nurgai gefragt. Nein, auf gar keinen Fall tue ich das! Auch wenn es seine Familie wünschen würde. Ich muß als Arzt Leben erhalten, nicht abkürzen.«

»Ist das denn noch ein Leben?«

»Solange das Gehirn arbeiten und er denken kann … ja! Der Mensch lebt nicht nur mit seinem Körper, sondern vor allem mit seinem Geist. Und Weberowsky wird denken können. Davon bin ich überzeugt.«

»Denken können und unbeweglich daliegen, das ist eine Grausamkeit. Wie ich Wolfgang Antonowitsch kenne, wird er uns anklagen: Hättet ihr mich doch sterben lassen.«

»Oder auch nicht. Querschnittgelähmte haben einen ungeheuren Lebenswillen. Sie haben immer die Hoffnung, daß es besser wird. Manchmal erfüllt sich diese Hoffnung. Vom Bett in den Rollstuhl – das ist wie ein neues Leben. Da kann man zweimal Geburtstag feiern.«

»Und Weberowsky wird in einem Rollstuhl sitzen können?«

»Da fragen Sie mich zuviel. Aber ich befürchte, daß er das Bett nie verlassen wird.«

»Er wollte nach Deutschland aussiedeln. Er hat den Antrag schon gestellt. Er wollte ihn selbst nach Moskau bringen.«

»Das wird ein großer Wunsch bleiben. Was will er als bewegungsloser Körper in Deutschland?«

»Es gibt sicherlich Spezialisten, die durch eine Operation …«

»Jede weitere Operation wäre Unsinn. Wenn die Nervenstränge durchtrennt sind, gibt es keine Reparatur mehr. Der Mensch ist kein Auto, bei dem man Kabel auswechseln kann.«

Eine Stunde später rief Bergerow in Nowo Grodnow Pfarrer Heinrichinsky an, dessen Telefonnummer auf der Karteikarte stand, die das deutsche Kulturzentrum von jedem Rußlanddeutschen angelegt hatte. Während das Rufzeichen hinausging, überlegte Bergerow, wie er die Schreckensnachricht möglichst schonend mitteilen könnte. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als sich auf russisch Heinrichinsky meldete.

»Hier Bergerow«, antwortete er auf deutsch. »Deutsches Kulturzentrum und Gesellschaft der Rußlanddeutschen in Ust-Kamenogorsk.«

»Ich kenne Ihren Namen. Er steht ja oft genug in den Zeitungen, und mein Freund Weberowsky hat ihn auch erwähnt. Er war ja kürzlich bei Ihnen.«

»Wolfgang Antonowitsch ist wieder hier.«

»Ich weiß. Er sucht seinen Schwager, Professor Frantzenow.«

»Er hat ihn gefunden.«

»Wirklich? Das muß ich sofort Erna erzählen. Erna ist seine Frau und die Schwester von …«

»Ich weiß es«, unterbrach ihn Bergerow. »Die beiden sind hier in Ust-Kamenogorsk. Seit zwei Tagen.«

»Bei Ihnen? Kann ich Wolfgang sprechen? Wann kommt er zurück? Kann Professor Frantzenow ihn begleiten?« Heinrichinskys Stimme klang so fröhlich, daß Bergerow erst recht nicht wußte, wie er die Nachricht überbringen sollte. »Wir alle sind gespannt auf den Professor.«

»Er freut sich auch, nach Nowo Grodnow zu kommen.« Bergerow hüstelte nervös. »Aber da ist noch etwas, was ich vorweg sagen muß.«

»Ist Frantzenow krank?«

»Man kann es so nennen. Beide sind … krank. Sie liegen hier im Krankenhaus.«

»Gott beschütze sie. Welche Krankheit haben sie?«

Es hilft nichts, dachte Bergerow. Ich kann nicht davonlaufen, es muß jetzt gesagt werden – und so, wie es ist.

»Frantzenow hat eine Oberschenkelwunde …«

»Sind sie verunglückt?« rief Heinrichinsky sofort. »Wie ist das passiert? Wo? Mit dem Bus?«

»Wolfgang Antonowitsch hat es schlimmer erwischt, er liegt auf der Intensivstation.«

»Intensiv … das heißt –« Heinrichinskys Stimme wurde heiser. »Herr Bergerow, ist er schwer verletzt?«

»Ja.«

»Wie schwer?«

»Wolfgang Antonowitsch ist querschnittgelähmt.« Eine unheimliche Stille folgte.

»Ist … ist das sicher?« fragte Heinrichinsky mühsam nach einer Weile.

»Er hat einen Rückenmarkschuß …«

»Was hat er?!« Die Stimme des Pfarrers überschlug sich fast. »Sagten Sie Schuß?!«

»Auf Weberowsky und Frantzenow ist ein Überfall verübt worden. Der oder die Täter sind noch unbekannt. Man vermutet aufrührerische Nomaden oder Straßenräuber.« Bergerow räusperte sich wieder. »Ich bitte Sie, Herr Pfarrer, die Angehörigen zu unterrichten. Wenn möglich, soll Frau Weberowsky so schnell es geht nach Ust-Kamenogorsk kommen.«

»Ich gehe sofort zu ihr.« Heinrichinskys Stimme zitterte. »Wir … wir werden alle zu Wolfgang kommen. Ich auch.«

»Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer. Ich glaube, daß Sie jetzt ein großer Halt für Erna sein können.«

In Nowo Grodnow wurde der Hörer aufgelegt. Bergerow trank ein Glas Wodka und fühlte sich danach wohler. Wie wird Weberowsky seinen Zustand aufnehmen, wenn ihm voll zu Bewußtsein kommt, was mit ihm geschehen ist? Wenn man ihn aus dem Krankenhaus hinausträgt und in sein Haus bringt – ein denkender Kopf auf einem bewegungslosen Körper. Kann er überhaupt zu Hause leben? Hat Erna die Kraft, ihn zu pflegen? Muß er sein ganzes Leben lang an Schläuchen hängen, die seine Körperfunktionen übernehmen? Ist das überhaupt noch ein Leben?!

Am Abend fuhr er noch einmal ins Krankenhaus, um Professor Frantzenow zu sprechen. Was er von Nurgai gehört hatte, überzeugte ihn nicht. Nomaden! Niemals überfallen Nomaden nackte, badende, hilflose Männer und lassen auch noch alles zurück, was als Beute dienen könnte. Sie sind froh, wenn man sie selbst in Ruhe läßt, wenn sie durch das karge Land ziehen können, zu Weideplätzen und Quellen, an die Bäche und sauberen Flüsse, wo sie ihre Zelte aus schwarzen Schafwollplanen aufschlagen und ihre Herden das harte, von der Sonne vergilbte Gras fressen.

Frantzenow humpelte in sein Zimmer, in dem Bergerow wartete. Er kam von der Intensivstation und hatte hinter der Scheibe zu seinem Schwager gesagt: »Schlaf gut, Wolfgang. Du schaffst es. Du wirst den Ärzten schon zeigen, was du kannst. Du hast nie aufgegeben, du hast immer gekämpft, wo die anderen sagten: Es hat keinen Sinn mehr. Und du hast gesiegt. Schlaf gut, Wolfgang.«

»Wie geht es ihm?« fragte Bergerow, als sich Frantzenow auf einen Stuhl setzte, die Krücke beiseite stellte und das verletzte Bein ausstreckte.

»Sie haben es doch heute vormittag gesehen, Ewald Konstantinowitsch. Er liegt da, hat die Augen offen, aber erkennt noch nichts. Doch sein Herz ist stark. Auf dem Monitor sieht man es deutlich. Dieses Herz will leben, aber der Körper macht nicht mehr mit. Es ist furchtbar.«

»Ich weiß, daß es Ihnen zum Hals raushängt, aber ich muß Sie trotzdem fragen, was Sie der Miliz, dem Militär und dem KGB immer wieder geantwortet haben: Woher kamen die Schüsse?«

»Aus dem Wald.«

»Und Sie haben nichts gesehen?«

»Wie konnte ich denn? Ich bin doch sofort zusammengebrochen. Und dann habe ich mich um Wolfgang gekümmert, so gut ich es konnte.«

»Wer könnte der Täter sein? Die Behörden glauben immer mehr an die Nomaden-Version.«

»Unsinn! Es waren keine Nomaden. Auch keine Räuber, es wurde ja nichts geraubt. Ich kann es nicht beweisen, aber ich ahne, wer auf uns geschossen hat. Auf mich geschossen hat! Der Anschlag galt mir. Wolfgang sollte nur getötet werden, um mit ihm einen Zeugen zu beseitigen. Ganz allein auf mich hatte man es abgesehen.«

»Wer sollte an Ihrem Tod ein Interesse haben, Andrej Valentinowitsch? Eine internationale Berühmtheit –«

»Eben darum! Man hat schon einmal auf mich geschossen.«

»Was? Das hat man mir nicht erzählt.«

»Ich bin knapp einem Genickschuß entgangen. Fragen Sie in Kirenskija mal den KGB-Offizier Sliwka.«

»Sliwka ist tot.«

Frantzenows Kopf ruckte hoch. »Sliwka ist tot?« wiederholte er ungläubig.

»Er wurde an der gleichen Stelle am See erschossen, auch, wie es heißt, von Nomaden.«

»Erschossen! Sliwka. Ewald Konstantinowitsch, ich kenne mich nicht mehr aus. Ich bin sprachlos. Niemand hatte einen Grund, Sliwka umzubringen. Und was wollte er am See?«

»Seinen Jeep abholen. Man fand ihn am nächsten Morgen. Ein meisterhafter Kopfschuß. Mitten in die Stirn. Sliwka muß den Schützen gesehen haben, denn er hatte seine Pistole in der Hand.«

»Ich verstehe das nicht.« Frantzenow blickte nachdenklich zum Fenster seines Krankenzimmers. »Wider alle Logik muß ich meinen Verdacht revidieren.«

»Sie haben einen Verdacht, Professor?«

»Jetzt ist er absurd geworden. Der Mordversuch hatte politische Motive.«

»Ich verstehe nicht …«

»Über einen Mittelsmann hat mir der Iran ein Millionenangebot gemacht, wenn ich nach Teheran flüchte und dort mein Wissen zur Verfügung stelle. Der Iran will eine Nuklearmacht werden. Ich habe kategorisch abgelehnt. Die Antwort war der Mordanschlag.«

»Und der erste Anschlag war aus dem gleichen Grund?« Bergerow spürte ein Kribbeln im ganzen Körper. Er kannte das Gerücht, daß schon vier Atomwissenschaftler aus Kasachstan nach Teheran gebracht worden seien und mit ihnen sogar zwei Atomsprengköpfe. Die Behörden in Alma-Ata dementierten energisch das Gerücht, aber keiner glaubte ihnen. »Entweder den Iran, oder Sie sind tot?«

»Das habe ich auch geglaubt.«

»Und jetzt nicht mehr? Professor, Sie kennen doch den Unterhändler. Sie können ihn identifizieren. Erzählen Sie alles der Polizei. Sie kennen doch seinen Namen.«

»Ja.«

»Wer ist es?«

»War es!« Frantzenow holte mit einem Pfeifton Luft. »Sliwka.«

»Mein Gott!« Bergerow schlug die Hände zusammen. »Sie glauben, Sliwka hat auf Sie geschossen?«

»Jetzt nicht mehr. Er ist ja selbst erschossen worden. Aber er war der einzige, der einen Grund hatte, mich zu töten. Wer hat ihn umgebracht? Und warum? Ewald Konstantinowitsch, hier ist etwas ganz faul.«

Bergerow blickte Frantzenow fast herausfordernd an. »Warum gehen Sie nicht fort, Professor? Begleiten Sie Weberowsky nach Deutschland? Was hält Sie noch in Rußland?«

»Meine Liebe zu diesem Land.« Frantzenow stemmte sich mit der Krücke hoch und humpelte zum Fenster. »Verstehen Sie das?«

»Nein.«

»Ich beginne auch daran zu zweifeln. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Aber die Gespräche mit Wolfgang haben mir die Augen geöffnet. Ich bin plötzlich gespalten, bestehe aus zwei Personen: Hier der Russe, dort der Rußlanddeutsche. Und die Schüsse auf Wolfgang und auf mich überzeugten mich, daß es ganz und gar unwichtig ist, ob ich Rußland liebe. Ich scheine zu einem Objekt des Kampfes um die Weltmacht geworden zu sein. Ich weiß jetzt wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll.« Frantzenow humpelte vom Fenster zurück in das Zimmer und setzte sich auf das Bett. »Noch kann ich mich von Rußland nicht losreißen, noch nicht. Ich müßte erst Rußland hassen lernen, und das wird nie sein.« Er legte sich vorsichtig hin und hob sein linkes Bein auf das Bett. »Haben Sie Erna angerufen?«

»Den Pfarrer von Nowo Grodnow.«

»Ja, das hätte ich mir denken können. Zu einem richtigen deutschen Dorf gehört eben ein Pfarrer. Als junger Kommunist habe ich die Pfarrer und Popen für religiöse Idioten gehalten, für Himmelskomiker. Noch Jahre später habe ich nicht einen Gedanken an die Kirche verschwendet. Da sah ich nur das Atom! Und jetzt …« Frantzenow starrte an die Decke und ließ die Krücke neben sein Bett fallen. »Wie sich alles ändert! Als ich Wolfgang aus dem See zog, habe ich innerlich gebetet: Gott, mein Gott, laß ihn leben! Gott, laß nicht zu, daß er in meinen Armen stirbt. Können Sie sich das vorstellen?«

»Ja.«

»Ich nicht. Ich wundere mich über mich selbst.«

»Sie machen ein große Wandlung durch, Andrej Valentinowitsch. Sie kehren zurück.«

»Wohin?«

»Zu Ihrem Ursprung.«

»Das war die Partei.«

»Nein. Das war das Dorf, in dem die Familie Frantzenow wohnte. An der Wolga. Das Dorf mit den Sonnenblumenfeldern und den weißgrünen Birkenwäldern.«

»Ich habe kaum noch eine Erinnerung daran.«

»Sie wird wiederkommen, sie liegt in Ihrem Herzen. Und ich weiß, daß Sie sie suchen werden.«

Der Abend kam. Frantzenow hatte das Licht noch nicht eingeschaltet. Er war allein, lag noch immer auf dem Bett. Bergerow war längst gegangen, aber seine Worte wirkten nach und ließen ihn nicht mehr los.

Es liegt in meinem Herzen, dachte er. Ich werde es suchen. Aber will ich es überhaupt finden? Ich bin jetzt einundfünfzig Jahre alt … zu spät, noch umzudenken? Ein anderer Mann bin ich geworden, von heute auf morgen, durch zwei Schüsse, die mir sagen müßten, wie unwichtig – oder zu wichtig – ich für diese Welt bin. Ich will nicht mehr.

Und dann dachte er daran, daß sein Schwager Weberowsky schon sechzig Jahre alt war und dennoch nach Deutschland auswandern wollte. Daß er mit sechzig Jahren sich einen Traum erfüllte, den er ein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen hatte, ohne Hoffnung, ihn einmal zu Ende zu träumen. Und plötzlich sprangen die Tore auf, das Land seiner Sehnsucht lag frei vor ihm, eine neue Zeit hatte begonnen. Und er zögerte keine Stunde, durch die offenen Tore zu gehen.

Aber nun liegt er da, dachte Frantzenow. Bewegungslos für immer. Und er hört und sieht, wie seine Freunde, wie sein Dorf ihre Sachen packen und in das Land ihrer Vorväter ziehen, ein riesiger Menschenstrom, eine Völkerwanderung, ein Wind aus Kasachstan, der die Menschen wie reife Körner vor sich hertreibt. Und er liegt regungslos im Bett, muß gefüttert, gewaschen und versorgt werden wie ein Säugling. Nacheinander kommen sie ins Haus, treten an sein Bett, als die vertrauten Gesichter, mit denen er gelebt hat, und sie sagen: »Gott sei mit dir, Wolfgang Antonowitsch. Wir schreiben dir. Wir schicken dir eine Dose mit deutscher Erde. Vielleicht kannst du doch noch nachkommen. Mach's gut.« Und dann hört er, wie sie abfahren, und er beginnt zu weinen, das einzige, was er noch selbständig kann, wo ihm keiner zu helfen braucht.

Ich bringe dich nach Deutschland, dachte Frantzenow und fühlte sich nach diesem Gedanken befreit und leichter. Ich bringe dich und deine Familie in das Land deiner Hoffnung. Ich verspreche es dir. Ich lasse dich und Erna und die Kinder nicht allein. Du wirst dein Deutschland erreichen. Mein Gott, hilf mir dabei.

Es war selten, daß der Pfarrer Heinrichinsky als Besuch zu den Weberowskys kam. Meistens war Wolfgang zu ihm gekommen, und das war dann vor allem dienstlich als Dorfvorstand. Oder man sah sich in der Kirche, nach dem Gottesdienst. Dann stand Heinrichinsky draußen an der Tür und drückte jedem die Hand. Er lebte zurückgezogen, schrieb an einer Chronik der Geschichte der deutschen Kirche an der Wolga und in Kasachstan, aber wenn man ihn brauchte, kam er zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Nowo Grodnow wußte man: Wenn der große Umzug in den Westen erfolgen sollte, unser Pfarrer wird an der Spitze marschieren und den Jesus am Kreuz mitnehmen, den vor fünfundvierzig Jahren der Dorftischler geschnitzt hatte. Denn erst war das Kreuz da und dann die Kirche. Sie wurde um Christus herumgebaut.

Erna harkte im Gemüsegarten hinter dem Haus Unkraut aus der Erde und richtete sich mit einem Ächzen auf, die Hand gegen den Rücken gepreßt. »Peter Georgowitsch«, sagte sie und stellte die Harke an einen Baum. »Komm mit ins Haus. Ich mache dir einen Tee. Oder ein Gläschen Beerenwein?«

»Ich möchte lieber draußen bleiben. Hast du Schmerzen, Erna?«

»Das Kreuz. Alt wird man halt, und das dauernde Bücken. Und Rheuma habe ich auch. Jetzt, wo Wolfgang nicht da ist, darf ich mal seufzen. Er soll ja nicht wissen, wie schwer mir die Arbeit fällt. Er sagt immer: Arbeit macht Spaß und hält jung. Aber ich spüre schon, daß ich fünfundfünfzig bin.«

»Setzen wir uns auf die Bank, Erna?« Heinrichinskys Stimme klang belegt, als habe er eine Halsentzündung. Er zeigte auf die Bank, die unter einem hohen Birnbaum stand und die Erna als Brautgabe mit in die Ehe gebracht hatte. »Heute ist die Luft so klar und rein.«

»Es wird Herbst.« Sie kam zur Bank, setzte sich und wischte sich die Hände an der Schürze ab, gab dem Pfarrer die Hand und nahm nicht wahr, daß seine Hand etwas zitterte.

»Einen schönen Garten hast du«, sagte er, nur um etwas zu sagen. »Ein gepflegter Garten.«

»Er macht auch viel Arbeit. Aber hinterher macht er auch viel Freude.«

»Du bist zäh, Erna, nicht wahr?«

»Ich habe mein ganzes Leben lang nur gearbeitet. Ich bin daran gewöhnt. Mir würde etwas fehlen, wenn ich keine Arbeit hätte. Ich wüßte nicht, was ich den ganzen Tag über tun sollte.«

»Könntest du dir denken, weniger zu arbeiten?«

»Könntest du dir denken, Peter Georgowitsch, am Sonntag ohne Predigt auf der Kanzel zu stehen?«

»Nein. Man erwartet von mir, daß ich predige.«

»Und man erwartet von mir, daß ich meine Arbeit tue.«

Sie sah Heinrichinsky aus treuherzigen Augen an. »Wolfgang arbeitet ja auch von früh bis zum Abend.«

Jetzt muß es sein, dachte Heinrichinsky. Jetzt muß ich es ihr schonend beibringen. Sie ist eine starke, mutige Frau. Sie wird nicht ohnmächtig werden.

»Was würde sein, wenn Wolfgang plötzlich krank würde?« fragte er.

»Wolferl war nie krank.«

»Ich sage: Wir nehmen es mal an.«

»Ich würde versuchen, seine Arbeit auch noch zu machen. Einen Teil davon.«

»Und wenn das nicht geht?«

»Es muß gehen.«

»Es könnte – immer theoretisch – sein, daß du ihn pflegen mußt. Tag und Nacht. Daß er dich immer braucht, daß du immer um ihn sein mußt, daß er ohne dich hilflos ist …«

»Eine solche Krankheit wird er nie bekommen. Gibt es überhaupt so eine Krankheit? Wo ein Mensch nichts mehr tun kann?« Sie sah Heinrichinsky fragend an und schien angestrengt nachzudenken. »Vielleicht Krebs? Das fällt weg, dafür lebt Wolferl zu gesund. Was gibt es sonst noch? Ja, diese unbekannte Krankheit, die keiner heilen kann. Einen lateinischen Namen hat sie …«

»Multiple Sklerose.«

»Das ist es.« Sie dachte weiter nach. Ihr Gesicht erhellte sich plötzlich. »Da ist noch was, aber das ist keine Krankheit. Das ist ein Unfall. Die Menschen im Rollstuhl. Die Gelähmten. Die Querschnittgelähmten.«

»Das ist es, Erna.« Heinrichinsky atmete tief durch. »Wenn Wolfgang so gelähmt wäre, daß er gar nichts mehr tun kann.«

»Das würde er nicht ertragen.« Sie blickte über den Gemüsegarten und hinüber zu den Blumenrabatten. »Er würde sich das Leben nehmen.«

»Das kann er nicht. Er kann sich ja nicht rühren.«

»Dann würde er zu mir sagen: Erna, nimm die Axt und schlag mir den Schädel ein. Oder: Vergifte mich. Aber ich habe kein Gift.«

»Das könntest du tun?« fragte Heinrichinsky betroffen.

»Wenn er mich darum bittet.«

»Das wäre Mord, Erna!«

»Nein, das wäre Erlösung.«

»Nur Gott kann erlösen.«

»Wenn Gott zuläßt, daß ein Mensch so darnieder liegt, muß der Mensch Gott mahnen, gnädig zu sein.« Sie rieb ihre Hände wieder an der Schürze, die letzten Erdkrusten fielen ab. »Du hast noch nie so merkwürdig gesprochen, Peter Georgowitsch. Ich mag solche Gespräche nicht. Verzeihung. Willst du jetzt ein Glas Beerenwein?«

»Ich bin aus Ust-Kamenogorsk angerufen worden.«

»Wolferl hat angerufen?« Sie sprang auf. Über ihr Gesicht zogen Freude und Glück. Heinrichinsky nagte an der Unterlippe und blickte weg. Es war unerträglich. »Was hat er gesagt? Hat er meinen Bruder gefunden? Wann kommt er zurück? So sag doch was, Peter Georgowitsch …«

»Wolfgang liegt im Krankenhaus«, antwortete Heinrichinsky dumpf.

»Im … im Krankenhaus?« Ihre Augen wurden weit und plötzlich leer. »Wolferl liegt …« Und plötzlich, als habe ein Blitz sie getroffen und auf die Erde geworfen, so unfaßbar war der Schmerz, sagte sie ganz leise: »Er … er ist gelähmt …«

»Ja, Erna.«

»Ein Gehirnschlag?«

»Nein, ein Schuß in den Rücken. In die Wirbelsäule.«

Erna setzte sich wieder auf die Bank und legte die Hände in den Schoß. Sie fragte nicht weiter, sie begriff einfach nicht, was das bedeutete: Ein Schuß. Sie wußte nur eins, Wolferl ist gelähmt. Er liegt im Krankenhaus und kann sich nicht rühren. Er wird nie wieder laufen können, nie mehr auf einem Traktor sitzen, nie wieder über die Felder und die Weiden reiten, nie mehr in seiner Heimattracht beim Dorffest unter der Linde tanzen. Er wird wie ein Stück Holz daliegen und warten, bis Gott ihn erlöst.

Sie weinte nicht – sie versteinerte. Wie Heinrichinsky es geahnt hatte: Sie hatte die Kraft, auch diesen Schlag hinzunehmen und stehen zu bleiben.

Er wagte nicht, sie jetzt anzusprechen. Er blickte wie sie in den Garten, hatte die Hände gefaltet und kam sich elend vor, daß er nichts tun konnte.

Ganz langsam wandte Erna den Kopf zu ihm und sah ihn schweigend an. Er hielt diesem ins Unendliche gehenden Blick stand, aber er hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. Endlich fragte sie:

»Wie sagen wir es den Kindern?«

»Die Kinder sind erwachsene Menschen.«

»Aber sie bleiben die Kinder. Am schlimmsten wird es für Eva sein.« Sie verkrampfte die Finger in ihrem Schoß, das einzige Zeichen ihrer inneren Erregung und Verzweiflung. »Was kann ich jetzt tun, Peter Georgowitsch? Beten? Hilft Beten?«

»Wir können beten, daß er alles gut übersteht.«

»Was soll nun werden, Peter Georgowitsch?«

»Zunächst fahren wir alle nach Ust-Kamenogorsk.«

»Du auch?«

»Das fragst du noch? Wolfgang wird sich freuen, wenn wir alle an seinem Bett stehen.«

»Erkennt er uns denn?«

»Ich glaube ja.«

»Und kann er sprechen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hat er Andrej gefunden?«

»Ja. Auch er ist angeschossen. Oberschenkelschuß.«

Jetzt erst schien Erna zu begreifen, daß es kein Unfall gewesen war. In ihren großen blauen Augen stand Entsetzen. »Sie … sie haben auf Wolferl geschossen?« stammelte sie. »Wer hat geschossen?«

»Das weiß man noch nicht.«

»Was sind das für Menschen? Wolferl hat nie jemandem etwas angetan, aber sie wollten ihn töten. Warum sollte er umgebracht werden?«

»Das fragen sich alle. Man vermutet, daß es räuberische Nomaden waren.«

»Gehen wir zu dir«, sagte sie und erhob sich von der Bank. »Ich kann jetzt nicht ins Haus gehen. Alles ist so, als wenn Wolferl gleich zur Tür hereinkommt und ruft: ›Erna, ich bin da! Was macht das Mittagessen?‹ Und neben seinem Bett stehen die geputzten Stiefel. Er wird sie nie wieder anziehen können. Nein, ich kann nicht ins Haus gehen.«

Sie band die Schürze ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und zupfte ihr Kleid zurecht. Sie ist eine einmalige Frau, dachte Heinrichinsky. Ich habe so eine Frau noch nie erlebt. Sie weint nicht, sie klagt nicht. Sie stellt sich dem Schicksal mit einer Kraft, die bewundernswert ist.

Im Pfarrhaus, einem kleinen Anbau hinter der Kirche, griff Heinrichinsky zum Telefon und rief in Atbasar an. Er verlangte den Bezirkssekretär und Abgeordneten Kiwrin und war erstaunt, wie schnell dieser an den Apparat kam. Meistens hieß es, Herr Kiwrin sei außer Haus.

»Hör an, hör an«, sagte Kiwrin fröhlich. »Der Herr Pfarrer. Wenn Geistliche freiwillig anrufen, geht es um Geld. Aber wir haben keins. Wir müssen warten, bis neue Rubelscheine aus der Notenpresse kommen. Es wird fleißig gedruckt.«

»Es ist etwas anderes, Michail Sergejewitsch. Ich muß Ihnen etwas mitteilen.«

»Mit solchem Ernst? Ist Ihre Kirche abgebrannt? Auch dafür gibt es keinen Zuschuß, Ihre Dorfkirche ist Privatsache.«

»Wolfgang Antonowitsch liegt in Ust-Kamenogorsk im Krankenhaus.«

»Ha!« Kiwrin lachte auf. »Das mußte einmal so kommen! Alkoholvergiftung?«

»Nein, Querschnittlähmung.«

Einen Augenblick war es still. Kiwrin schien Mühe zu haben, die Antwort zu begreifen. Als er weitersprach, war ihm die Erschütterung deutlich anzumerken.

»Was sagen Sie da? Wolfgang Antonowitsch hat einen Unfall gehabt?«

»Nein. Auf ihn ist geschossen worden.«

»Geschossen?« Man hörte, wie Kiwrin tief Atem holte. »Wer schießt denn auf Weberowsky? Die Beljakowa war es nicht, sie hat die Sowchose nicht verlassen. Haben Sie es Erna schon gesagt?«

»Sie steht neben mir.«

»Kann ich sie sprechen?«

Heinrichinsky hielt ihr den Hörer hin. »Kiwrin«, sagte er dabei.

»Hier bin ich, Michail Sergejewitsch«, sagte sie mit fester Stimme. »Ist das nicht fürchterlich … ein Schuß in den Rücken.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich sitze hier, und der Schweiß bricht mir aus. Erna, Sie müssen jetzt ganz stark sein.«

»Ich bin stark. Wir fahren morgen nach Ust-Kamenogorsk.«

»Ihr alle?«

»Ja, und der Pfarrer auch.«

»Und ich!« Kiwrin sagte es ganz impulsiv. »Ich komme auch mit, wenn ihr mich bei euch haben wollt.«

»Wie können Sie da noch fragen, Michail Sergejewitsch.«

»Ich bin es meinem Freund Wolfgang schuldig, daß ich bei ihm bin. Ich werde einen Bus besorgen, und wir fahren über Karaganda, Semipalatinsk nach Ust-Kamenogorsk. Mit der Bahn muß man ja mehrmals umsteigen. Überlassen Sie das mir, Erna, ich organisiere alles.«

»Ich danke Ihnen, Michail Sergejewitsch.«

»Morgen früh hole ich euch ab. Erna, seien Sie tapfer.«

»Was bleibt mir anderes übrig?« Sie legte auf und wischte sich über das Gesicht. »Kiwrin besorgt einen Bus und kommt mit«, sagte sie zu dem Pfarrer.

»Das ist Perestroika in seiner reinsten Form.« Heinrichinsky schüttelte den Kopf. »Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten? Der stolze, mächtige Kiwrin, der Khan von Atbasar, fährt über 800 Kilometer zu einem Rußlanddeutschen, um an seinem Bett zu sitzen. Was mit Rußland geschehen ist, stellt die Französische Revolution in den Schatten. Damals ging es um ein Land, um die Befreiung von einer morschen Monarchie, heute geht es um das Weiterbestehen unserer Welt, um die Befreiung von der Angst vor einem Atomkrieg.« Der Pfarrer blickte zu Erna. Plötzlich wurde ihm klar, daß solche Reden gerade jetzt völlig unpassend waren. Er schämte sich. »Verzeih, Erna«, bat er und legte den Arm um ihre Schulter. »Auch ich bin nur ein dummer Mensch. Du bleibst bis zum Abend hier, und dann gehen wir hinüber zu dir.«

»Ich möchte allein sein, Peter Georgowitsch.« Sie sah ihn an, als müsse sie Abbitte tun. »Ich möchte mit den Kindern allein sein, verstehst du das?«

Heinrichinsky nickte.

»Aber wenn du mich brauchst«, sagte er, »ich bin da. Gottes Worte können den Schmerz nicht heilen, aber lindern.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und ballte plötzlich die Fäuste. »Ich kann mir selbst helfen«, antwortete sie stolz.

Am Abend ging sie hinüber ins Haus. Alle saßen sie um den Tisch, Hermann, Eva und Gottlieb, und der Tisch war leer und nicht gedeckt. Es war das erstemal, solange sie zurückdenken konnten, daß sie am Abend vor einem ungedeckten Tisch saßen.

»Da bist du ja, Mutter!« sagte Hermann. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Ich war beim Pfarrer.«

Gottlieb strich mit den Händen über den leeren Tisch. »Gibt es heute kein Abendessen?«

»Nein.«

»Soll ich rasch etwas kochen, Mutter?« fragte Eva und wollte aufspringen. Eine Handbewegung Ernas ließ sie auf die Eckbank zurücksinken.

»Nein. Wir werden heute abend nichts essen«, erwiderte sie mit einer Ruhe, die unheimlich war. Alle starrten sie an, betroffen von der Verwandlung. »Ihr werdet nichts essen können.« Sie holte mit einem Seufzer Luft und sah ihre Kinder an. »Euer Vater liegt in Ust-Kamenogorsk im Krankenhaus. Er ist querschnittgelähmt. Morgen früh fahren wir zu ihm.«

Und jetzt erst begann sie zu weinen und sank in sich zusammen und schien nicht mehr zu hören und zu sehen, wie Eva aufschrie und Gottlieb den Stuhl umwarf und Hermann die Hände vor das Gesicht schlug.

Sie brauchten zwei Tage bis Ust-Kamenogorsk.

Kiwrin hatte einen Bus von der Stadtverwaltung besorgt, ein uraltes Modell, das schnaufte und knatterte, in den Federn ächzte und in den Kurven schaukelte. Das wäre noch zu ertragen gewesen, aber Kiwrin hatte nicht gewußt, daß der Urahne der modernen Busse ein Moloch war, der sich mit Benzin vollaufen ließ wie ein Moskauer Stadtstreicher, der sich mit Wodka konservierte.

Und hier begann die Schwierigkeit. Schon die erste Tankstelle weigerte sich, den Benzintank aufzufüllen. Der Tankwart musterte den Bus mit geringschätzigen Blicken und lehnte sich dann an die Tanksäule, als müsse er sie bewachen.

»Wieviel Liter?« fragte er.

»Volltanken«, antwortete Kiwrin.

»Da gehen hundert Liter rein.«

»Mindestens.«

»Haben Sie einen Berechtigungsschein?«

»Ich brauche keinen Berechtigungsschein. Ich bin der Bezirkssekretär von Atbasar.«

»Gratuliere! Aber selbst wenn Jelzin hier vorbeikäme, müßte er mir den Berechtigungsschein zeigen, mein lieber Sekretär.«

»Ich bin nicht Ihr lieber Sekretär!« schrie Kiwrin außer sich. »Was bilden Sie sich ein, Sie Zapfhahn? Sie machen sofort den Tank voll.«

»Vollmachen? Ich kann nicht hundert Liter herbeizaubern.« Der Tankwart zog kampfeslustig das Kinn an. »Er nennt mich Zapfhahn … auch von einem Bezirkssekretär brauche ich mir eine solche Beleidigung nicht bieten zu lassen. Ich bin ein ehrlicher Bürger dieser Republik. Freundchen, die Zeit ist vorbei, wo die Partei die große Schnauze haben konnte und Bonzen wie ihr jeden zum Zittern brachten. Benzin gibt es nicht.«

»Du Mistvieh!« brüllte Kiwrin. »Anzeigen werde ich dich! In den Steinbruch kommst du, mindestens fünf Jahre!«

Der Tankwart nickte. Er wandte sich an die Weberowskys, die aus dem Bus gestiegen waren. »Wen habt ihr denn da mitgebracht, Leute?« fragte er. »Einen von vorgestern? Wo habt ihr den denn ausgegraben? Oder habt ihr ihn im Wald gefunden, wo er die Zeit verschlafen hat?«

»Wir brauchen Benzin«, antwortete Gottlieb höflich. »Wir sind auf der Fahrt zu einem Kranken.«

»Ach!« Der Tankwart zeigte auf Kiwrin. »Ihr bringt das Männlein in eine Anstalt? Zeigt mir die ärztliche Einweisung.«

»Sofort.« Gottlieb kam näher, griff in die Rocktasche, als wolle er das Papier herausziehen, aber plötzlich schnellte seine Faust vor und traf den Tankwart genau auf die Kinnspitze. Dann wartete er ruhig, bis der Umgefallene sich wieder aufrichtete und ihn mit stierem Blick vom Boden her ansah.

»Bravo!« rief Kiwrin. »Ich wollte gerade das gleiche tun.« Er ging zu der Zapfsäule, nahm den Schlauch und steckte ihn in den Tankstutzen. Rauschend schoß das Benzin in den Bus.

Der Tankwart wollte aufspringen, aber bevor er taumelnd hochkam, packte ihn Gottlieb an den Trägern des Overalls und drückte ihn gegen die Wand des Tankstellenhäuschens.

»Verhalte dich ruhig«, sagte er. »Hörst du … ganz still. Ich möchte dir ungern erst das eine und dann das andere Auge ausschlagen. Was willst du ohne Augen tun? Habe Mitleid mit dir selbst.«

»Räuber!« schrie der Tankwart. Er war sonst ein mutiger Mann, aber der Schlag auf das Kinn hatte ihn weich gemacht. Mühsam war es zu stehen, schon ganz unmöglich, die Fäuste zu heben. »Diebe! Verbrecher! KGB-Schlächter!«

An dem blubbernden Benzinschlauch zuckte Kiwrin zusammen. KGB – das war ein Wort zuviel. Ein Wort zudem, das Kiwrin nie hatte leiden können.

»Schlag ihm den Schädel ein, Gottlieb!« rief er. »Oder komm her, halt den Schlauch, dann tu' ich es!« Er blickte wild um sich. »Die Frauen zurück in den Bus! Die Augen zu! Jetzt wird ein Idiot kastriert!«

Gottlieb hielt den Tankwart fest im Griff, bis Kiwrin den Tank gefüllt hatte. Erst als er den Zapfstutzen wieder in die Säule hakte, ließ Gottlieb den Mann los und stieß ihn von sich. Er blickte auf die Anzeige, wandte sich zu seiner Mutter um und sagte, die Hand ausstreckend: »Mutter, ich brauche Geld.«

Bis auf die Kopeke genau bezahlte er die Benzinrechnung und gab dein Tankwart noch eine kräftige Ohrfeige, als dieser sich vor ihm duckte und ihn in ohnmächtiger Wut anspuckte.

»Einsteigen!« rief Kiwrin. »Ende der Vorstellung.«

Es war ein Irrtum. Es war nur eine Pause.

Im Bus sagte Erna tadelnd: »Junge, war das nötig? So brutal.«

»Wir hätten sonst nie Benzin bekommen, Mama.«

»Wo hast du das gelernt … so zuzuschlagen?«

»Von Vater.«

»Nie! Lüg nicht, Gottlieb. Dein Vater hat nie einen Menschen geschlagen.«

»Weil es keiner wagte, ihn anzugreifen. Aber er hat zu uns gesagt – auch zu Hermann, stimmt das, Bruder? – und wir mußten es ihm versprechen: ›Laßt euch nichts gefallen. Wehrt euch. Auch wenn der andere stärker ist, geht in Ehren unter. Lauft nie weg! Ein Weberowsky flüchtet nicht!‹ Und dann mußten wir boxen. In der Scheune hatte er einen Sack mit Getreide aufgehängt, gegen den mußten wir schlagen. Aber nicht nur Getreide war in dem Sack. Vater hatte die Körner mit Steinen vermischt, und wenn man gegen so einen Stein boxt, dann geht ein Zittern durch den ganzen Körper. Ich wollte aufhören, aber Vater stieß mir die Faust in den Rücken und rief: ›Du willst aufhören? Wegen eines Steinchens? Bist du eine Memme oder mein Sohn? Zeig es dem Steinchen, daß es dich nicht besiegen kann!‹ Und ich habe weitergeboxt.«

»Das … das hat Vater mit euch getan?« Ihre Stimme schwankte. »Warum habt ihr mir nie davon erzählt?«

»Das wäre Feigheit gewesen, Mama.« Hermann dachte an diese Zeit zurück und empfand keinerlei Groll gegen seinen Vater. »Diese Methode hat mir nachher auf der Ingenieurschule sehr geholfen. Dort habe ich in der Boxstaffel geboxt, und ich habe Gegner besiegt, die stärker waren als ich. Du bist der Stein, habe ich bei jedem Hieb gedacht: Du bist der verdammte Stein! Der Stein! Der Stein! Und jeder Hieb machte mich mutiger und meinen Gegner kleiner. Ich habe beim Boxen fast immer gesiegt.«

»Wie konnte euer Vater euch nur so etwas beibringen …«

»Er hat es uns erzählt, Mutter. ›Das war so‹, hat er gesagt, ›damals, 1942, als man uns gerade von der Wolga vertrieben und in Kasachstan angesiedelt hatte. Ich war noch klein, und Vater – euer Großvater Anton – baute hier in Nowo Grodnow unser erstes Holzhaus. Eine Hütte mehr, aber wir wollten raus dem Zelt, und auch in keine Baracke wollten wir, und Mutter sagte: Nehmt doch einfach Pfähle und schlagt als Dach Bretter darauf, das genügt. Ich will nicht einen zweiten Winter erleben, in dem ich nur herumlaufen kann, wenn ich zwei Decken über mich ziehe. Wir bauten also diesen Stall, mehr war es nicht, und als er fast fertig war, es fehlte nur noch die Tür, weil Vater auf der Suche nach Scharnieren war, da kam in einem Wägelchen Gennadi Witaliwitsch Kubassow, rief Brrr!, hielt die Gäule an und sprang auf die Erde. Kubassow war damals ein großer Mann, ein gefürchteter Mann, der Stalin sogar einmal die Hand gedrückt hatte. Davon erzählte er immer und jedem und schwärmte: Diese schwarzen Augen werde ich nie vergessen! Welch ein Adlerblick! Er zwingt einen in die Knie, wie ein gekrümmter Wurm kommt man sich vor. Dieser Händedruck von Stalin – den keiner kontrollieren konnte – war der Beginn von Kubassows Karriere. Rasend schnell stieg er auf. Vom dritten Buchhalter in einer Ziegelei bis zum Natschalnik der Baubehörde von Atbasar. Er war klein, aber kräftig, und wenn er brüllte, zitterte das Trommelfell. Kubassow springt also vom Wagen, kommt auf meinen Vater zu und schreit ihn an: Du baust ein Haus? Wer hat dir die Genehmigung gegeben? Woher hast du das Holz? Gestohlen, was? Und Vater hat ganz ruhig geantwortet: Nein, Genosse Kubassow, mein Nachbar hat ein Stück Wald zugeteilt bekommen, da haben wir einige zu dicht stehende Bäume gefällt. – Bäume fällt er! hat da Kubassow gebrüllt. Bäume! Ohne Genehmigung! Geht einfach in den wertvollen Wald und hackt sie um. Aber so sind die Deutschen! Alles zerstören. Jeder ein Faschist, das liegt ihnen im Blut! – Wie gesagt, es war 1942, und die deutsche Armee war schon tief in Rußland eingedrungen und marschierte auf Moskau zu. Man kann Kubassows Wut verstehen. Aber dann tat er etwas, was mich, den kleinen Jungen, sprachlos machte. Kubassow gab meinem Vater eine Ohrfeige. Nicht eine … nein drei. Dreimal hintereinander schlug er zu, und Vater stand da und wehrte sich nicht. In mir zerbrach etwas. Ein fremder Mann schlägt meinen Vater, schlägt ihm ins Gesicht, meinem großen Vater, meinem Vorbild, ihn, der für mich nach Gott kam … und er wehrte sich nicht. Da habe ich Kubassow angesprungen wie ein hungernder Wolf, hab' mit meinen kleinen Fäusten auf seine dicke Nase geschlagen, die sofort blutete, und als er mich packen und würgen wollte, habe ich mich fallen lassen und habe ihn ins Bein gebissen, immer und immer wieder, und er hat geschrien und um sich getreten. Er hat meinen Kopf getroffen, mir wurde schwindlig, aber ich habe weiter gebissen und habe erst aufgehört, als Vater in verzweifeltem Mut Kubassow die Faust auf den Kopf schlug. Dann warteten wir eine Woche lang, daß man Vater verhaften und mich in ein Partei-Erziehungsheim bringen würde. Wir hatten unsere Sachen, in zwei Säcke gestopft, zum Abmarsch bereit stehen. Aber niemand holte uns ab … und Kubassow ist nie wieder nach Nowo Grodnow gekommen. Da habe ich gelernt, daß nur der im Leben weiterkommt, der sich nicht duckt. Und ihr, meine Söhne, ihr Weberowskys werdet euch auch nie ducken!‹« Hermann holte tief Atem. »Das hat Vater uns erzählt, und wir werden es nie vergessen.«

Nach knapp hundert Kilometern raufte sich Kiwrin die Haare und hieb gegen das klappernde Armaturenbrett.

»Nein!« rief er. »Nicht schon wieder! Du altes Miststück! Seht euch das an, blickt auf die Benzinuhr. Könnt ihr das begreifen?! Schon fast wieder leer. Das Aas frißt nicht nur das Benzin, es muß es irgendwie ausspucken! Hoffentlich erreichen wir noch die nächste Tankstelle.«

Das Straßennetz in Kasachstan, an seiner Größe gemessen, ist zufriedenstellend, schon wegen des GULAG, den vielen Straflagern, die über das ganze Land verteilt, aber jetzt zum größten Teil geräumt waren, bis auf ein paar versteckte Lager, in denen Schwerverbrecher ihre Strafe abbüßten und umerzogen wurden. Man kam also überall hin. Nur, so schön die Straßen auch sein mochten, es gab zu wenig Tankstellen. Ohne Reservekanister durch Kasachstan zu fahren, ist ein kleines Abenteuer, und wenn alle Flüche zu Steinen würden, hätte man einen Turm zu Babel bauen können.

Kiwrin hatte Glück. Mit den letzten Tropfen Benzin erreichte er zwischen Golinograd und Karaganda, nicht weit von Temirtau, eine Tankstelle, die verstaubt vor sich hinträumte. Ein handgemaltes Plakat hing an der Tanksäule: Geschlossen. Kein Benzin. Nächste Tankstelle in Karaganda.

»Zum Teufel!« schrie Kiwrin. »Bis Karaganda komme ich nie!« Er sprang aus dem Bus, gab ihm zwei Fußtritte, fluchte unflätig und stapfte dann zu dem Haus. Auf einem Sofa lag ein Mann mit einem dicken Schnauzbart, eine rote Mütze mit Schirm in die Stirn gezogen und sah Kiwrin entgegen, ohne sich zu rühren.

»Hast du eine Schule besucht?« fragte er den verblüfften Kiwrin.

»Natürlich.«

»Dann mußt du Lesen verlernt haben. Draußen steht …«

»Ich brauche Benzin.«

»Ich auch.«

»Ich komme nicht mehr bis Karaganda.«

»In dem Bus da draußen?«

»Ja.«

»So ein Fossil fährt man auch nicht mehr! Da kannst du das Benzin gleich auf die Straße schütten. Oder setz eine Trennwand vor den hinteren Teil und baue ihn als Reservetank um. Wo willst du hin?«

»Nach Ust-Kamenogorsk.«

»Das wird ein fröhliches Springen von Tankstelle zu Tankstelle. Wie kann man es wagen mit so einem Fossil durch Kasachstan zu fahren?«

»Ich muß Benzin haben!« Kiwrin wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Wir fahren zu einem Sterbenden.«

»Bis du ankommst, ist er tot«, erwiderte der Tankwart gemütlich. »Spar das Benzin.«

Es war ein glücklicher Zufall, daß Kiwrin so vor dem Schnauzbärtigen stand, daß der die Tanksäule nicht sehen konnte. Hermann hatte das Schild gelesen, den Kopf geschüttelt und zu seiner Mutter gesagt:

»Mama, nun sei nicht wieder entsetzt. Denk daran, was Vater uns erzählt hat. Hier will uns einer betrügen, wir müssen uns wehren. Komm Brüderchen.«

Hermann und Gottlieb stiegen aus dem Bus. Gottlieb zeigte auf das handgemalte Schild. »Hermann, da ist nun wirklich nichts zu machen. Du kannst einem Nackten nicht in die Tasche greifen.«

»Glaubst du, was da steht?«

»Wenn er schreibt, er hat kein Benzin, dann …«

»Brüderchen, das weiß ich nun besser.« Er legte den Arm um Gottlieb. »Das ist ein alter Trick, damit täuscht man mich nicht mehr. Der Kerl will seine Ruhe haben. Wenn er sein Schläfchen beendet hat, ist auch das Schild weg. Geh zu Kiwrin und hilf ihm. Ich tanke unterdessen.«

Gottlieb war skeptisch und wartete ab, bis wirklich Benzin durch den Schlauch floß. »So ein Stinktier!« knurrte er dann. »Ich werde mich mit ihm unterhalten.«

»Gottlieb!«

»Ganz höflich, Bruder. Von Mann zu Mann.«

»Er kann stärker sein als du.«

»Denk an Vater, der Kubassow in die Waden gebissen hat.«

Der Tankwart blinzelte Gottlieb verschlafen an, als das Glöckchen über der Eingangstür bimmelte. Er schob seine Mütze zurück in den Nacken.

»Noch einer, der nicht lesen kann«, maulte er. »Sind heute nur Analphabeten unterwegs? Fahren Sie auch ein Modell 1951?«

»Ich gehöre zu dem Bus.«

»Mutig! Mutig!«

»Ich komme, um die Tankrechnung zu bezahlen. Hermann ist gleich fertig. Ich schätze, es werden 130 Liter sein.« Und als Kiwrin ihn entgeistert anstarrte, sagte er: »Tritt mal einen Schritt zur Seite, Michail Sergejewitsch.«

Kiwrin tat es, der Blick auf die Tanksäule war frei. Mit einem dumpfen Aufschrei schoß der Tankwart hoch. Er sah gerade noch, wie Hermann den Zapfhahn wieder einklinkte. Er wollte zur Tür hinausstürzen, aber Gottlieb hielt ihm sein Bein hin, und statt sich auf Hermann zu werfen, schoß der Mann fast waagerecht ins Freie. Er kam mit einem lauten Ächzen hoch und brüllte:

»Gib das Benzin sofort wieder her!«

»Wir haben es ehrlich bezahlt. Mein Bruder hat die Rubel in der Hand.«

»Ich scheiß' auf die Rubel! Wenn auf dem Schild steht, es gibt kein Benzin, dann gibt es keins!«

»Aber der Hahn lief.« Hermann rieb sich die Hände, nickte Gottlieb zu, der mit Kiwrin die Tankstelle verließ, und ballte sie zu Fäusten. »Du schläfst ja noch!« sagte er dabei. »Sollen wir dich wachklopfen?«

Der Tankwart war ein Hüne von Mensch. Man traute ihm zu, daß er Ölfässer wie Pakete herumtragen konnte. Aber die Erfahrung des alten Weberowsky bewahrheitete sich wieder. Wer Mut und Entschlossenheit zeigt, macht den Gegner nachdenklich und vorsichtig.

Der Schnauzbart beruhigte sich sichtlich. Einer vor mir, zwei hinter mir, das ist zuviel. Man muß wissen, wann man sich in Ehren zurückziehen kann.

»Laßt uns verhandeln«, sagte er. »Ich nehme die Rubel an und lasse euch das Benzin, aber versprecht mir, keinem zu sagen, daß ich Benzin habe. Das Schild bleibt hängen.«

»Einverstanden.« Gottlieb kam um ihn herum und drückte ihm das Geld in die Hände. Es waren Tatzen wie bei einem Bären. Gegen sie hätte Gottlieb keine Chancen gehabt. »134 Liter. Überzeug dich an der Uhr.«

»Ich glaube euch. Fahrt los, damit ich euch nicht mehr sehe. Mein Magen dreht sich rum bei eurem Anblick.«

»Ich bin Bezirkssekretär!« rief Kiwrin.

»Auch das noch.« Der Tankwart verdrehte die Augen. »Ein Bus-Saurier und ein toter Funktionär. Hier wimmelt es ja von Gespenstern.«

Hermann und Gottlieb hatten Mühe, den tobenden Kiwrin zum Bus zu schleppen. Erst als sie fuhren, beruhigte er sich. »Wir müssen die Nerven behalten, meine Lieben«, gab er ahnungsvoll von sich. »Wir werden sie noch brauchen. Wenn das so weitergeht, müssen wir noch an zehn Tankstellen halten. Das Benzin war immer schon ein Problem in Rußland, dabei stehen wir in der Erdölförderung an erster Stelle in der Welt. Die arabischen Staaten sind gegen uns Zwerge. Wir fragen uns alle: Wo bleibt bloß das Benzin? Auch darum sollte sich Gorbatschow mal kümmern und nicht um den Wodka.«

Es waren nur neun Tankstellen, aber auch das genügte.

Durch diese Verzögerungen war es unmöglich, an einem Tag bis Ust-Kamenogorsk zu kommen. Kiwrin schlug vor, bis zu der kleinen Stadt Kajnar zu fahren und dort zu übernachten.

Er hätte es lieber nicht tun sollen – aber wer weiß das im voraus?

Kajnar, zwischen Karaganda und Semipalatinsk, ist eine typisch kasachische Stadt, in der man noch einen Hauch der Tatarenhorden spürt. Auch die mongolischen Reitervölker hatten Spuren hinterlassen … trotz der vergangenen Jahrhunderte sah man mehr asiatische Gesichter als Kasachen.

Es gab nur ein Hotel in Kajnar, und das war natürlich belegt, als Kiwrin seinen Bus am Abend vor dem Haus bremste.

»Ich brauche fünf Zimmer!« sagte er zu einem mürrischen Mann, der aus der Tür trat. Es mochte der Nachtwächter sein. Der Mann nickte und antwortete, noch mürrischer: »In zwei Jahren.«

»Ein Verrückter!« rief Kiwrin in den Bus. »Und so einer bedient in einem Hotel! Was sind denn das für Zustände?« Er wandte sich wieder dem Portier zu, der aus der Tasche einen Pinienkern holte und ihn knackte. »Hast du Trottel zwei Jahre gesagt?«

»Bis dahin ist der Anbau fertig. Soll er fertig sein. Baumaterial ist knapp. Kommt Sand, gibt es keinen Zement. Kommt Zement, ist die Mischmaschine kaputt. Läuft die Mischmaschine wieder, ist der Zement geklaut. Wie soll man da effektiv arbeiten?«

»Es ist kein Zimmer frei?« rief Kiwrin ungeduldig.

»Wir haben schon unsere zwei Badezimmer vermietet. Wir sind voll, bis in den letzten Winkel belegt.«

»Wo kann man sonst übernachten?«

»Nur privat. Geh von Haus zu Haus. Du wirst schon was finden. Hast du Devisen? Dollar, Deutsche Mark, Schweizer Franken?«

»Ich bin Russe!«

»Schlecht. Sehr schlecht. Nur Rubel? Was machen wir mit Rubel? Unsere Gäste zahlen in Devisen … nur die nicht, die im Badezimmer schlafen.«

Damit drehte er sich um und ging in das Hotel zurück. Kiwrin kletterte wieder in den Bus.

»Ihr habt's gehört?« fragte er. »Alles besetzt! Aber wer glaubt ihm? Nicht arbeiten wollen sie, das allein ist es. Kochen, bedienen, Zimmer putzen, Wäsche waschen – alles zuviel für sie. Die Arbeitsmoral ist dahin! Ein Partisanenkampf der Reformgegner. So wollen sie diese boykottieren. Zerfall der Wirtschaft. Stille Sabotage. Lautloser Widerstand. Aber es wird ihnen nicht gelingen.«

Nachdem Kiwrin in zehn Häusern gefragt hatte und überall hörte, man vermiete nicht an Landstreicher, nach unendlichen erregten Diskussionen und gegenseitigen Beleidigungen fuhr er vor die Stadt auf einen gewalzten Platz und sagte resignierend:

»Ihr habt es gehört. Es ist unmöglich, hier ein Zimmer zu bekommen. Und wir brauchen fünf. Es gibt nur eins: Wir schlafen im Bus.«

»Es bleibt uns ja nichts anderes übrig.« Pfarrer Heinrichinsky sah sich um. Erna und Eva hatten die Köpfe aneinandergelegt und schliefen bereits. Gottlieb, müde von den Streitereien, lag über zwei Sitze hingestreckt. Hermann hatte Mühe mit seinen langen Beinen; als er sich hinlegen wollte, ragten sie in den Gang hinein.

»Kann man das Vehikel von innen abschließen?« fragte Heinrichinsky.

Kiwrin zuckte zusammen. »Beleidige nicht meinen Bus!« rief er empört. »Hat er bis jetzt nicht treu gedient? Bis nach Kajnar hat er euch gebracht, und er wird euch auch bis Ust-Kamenogorsk bringen! Er hat es nicht verdient, daß man so über ihn spricht.« Mit Kiwrin war nicht mehr zu reden. Bei jedem ihm nicht passenden Wort explodierte er; auf das Armaturenbrett hieb er mit den Fäusten, kratzte sich über das Gesicht und benahm sich wie ein eingesperrter Tiger. »Abschließen? Warum soll man den Bus abschließen?«

»Ich möchte in der Nacht nicht überfallen werden.«

»Wer überfällt hier? Sie leben unter gesitteten Menschen, Herr Pfarrer. Kasachstan ist kein Räubernest!« Dann beruhigte er sich und kontrollierte das Schloß in der Bustür. »Kaputt. Das heißt, es ist gar kein Schloß mehr drin. Geklaut haben sie es.«

»Kasachstan ist kein Räubernest«, wiederholte Heinrichinsky hämisch.

»Werden in Deutschland keine Autos aufgebrochen?« schrie Kiwrin außer sich. »Ich protestiere, daß wir Russen immer als Wilde angesehen werden! Wir hatten schon eine Kultur, da saßen die Germanen noch auf den Bäumen!«

»Laßt uns schlafen«, meinte Heinrichinsky versöhnlich. »Wir sollten morgen sehr früh losfahren, sonst erreichen wir Ust-Kamenogorsk erst übermorgen. Wer weiß, welche Tücken die alte Mühle noch hat.«

»Die alte Mühle wird euch sicher ans Ziel bringen.« Kiwrin war tief beleidigt. »Sie wird fahren, fahren, fahren, daß es eine wahre Wonne ist! Und wenn wir angekommen sind, werdet ihr sagen: Danke, danke, liebes Wägelchen, das hast du gut gemacht.« Kiwrin legte sich lang auf die Vordersitze. »Aber so etwas kommt ja nicht über eure Lippen. Ein undankbares Pack seid ihr.«

Er gähnte, rollte sich auf die Seite und begann nach zehn Minuten fürchterlich zu schnarchen.

Sie wurden nicht überfallen.

Ust-Kamenogorsk erreichten sie am frühen Nachmittag, nachdem sie noch viermal getankt hatten und Kiwrin nur noch ein Nervenbündel war, weil jeder seinen Bus beleidigte oder über ihn lachte.

Sie fuhren sofort zum Krankenhaus und meldeten sich beim Pförtner. Weberowsky schien im ganzen Haus bekannt zu sein, denn als Kiwrin den Namen nannte, griff der Mann sofort zum Telefon. Er blickte Erna an, und Mitleid stand in seinen Augen.

Es dauerte eine Weile, bis sich der Chefchirurg meldete.

»Sie sind da?« sagte er. »Die ganze Familie? Und noch zwei andere Herren? Ich komme sofort hinunter.«

Der Pförtner legte auf und blickte Erna wieder an. »Der Chefarzt kommt sofort.«

»Wie … wie geht es meinem Mann?« Ernas Stimme war ganz klein. Hermann, der sie untergefaßt hatte, zog sie an sich.

»Das weiß ich nicht.« Der Pförtner starrte auf das Telefon. Der flehende Blick dieser Frau traf ihn tief ins Herz. »Der Chef wird es Ihnen sagen.«

»Aber er lebt noch …«

»Ja … das ist sicher.«

Wenig später öffnete sich die Lifttür. Chefchirurg Dr. Anatol Wassiljewitsch Anissimow trat hinaus und ging ohne Zögern auf Erna zu. Kiwrin wollte etwas sagen, aber Heinrichinsky stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

»Frau Weberowsky, ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Anissimow und drückte ihr die Hand. »Wie ich sehe, die ganze Familie ist versammelt. Und Freunde haben Sie auch mitgebracht?«

»Ich bin der Pfarrer von Nowo Grodnow«, sagte Heinrichinsky und trat vor. »Peter Georgowitsch. Ich habe gedacht, daß Weberowsky mich brauchen kann.«

»Michail Sergejewitsch Kiwrin.« Auch er trat einen Schritt vor und stellte sich neben den Pfarrer. »Bezirkssekretär und Deputierter des Bezirkes Atbasar. Ich bin Wolfgang Antonowitschs bester Freund …«

»Sie werden Herrn Weberowsky nicht sprechen können.« Der Chefarzt schüttelte den Kopf. »Sie können ihn durch eine Fensterscheibe sehen, mehr nicht.«

»Ist … ist es so schlimm?« Erna klammerte sich an Hermann fest. Auch Gottlieb trat an ihre Seite und legte den Arm um ihre Schultern.

»Wir sind bis jetzt mit der Entwicklung zufrieden. Seit heute morgen ist er bei Bewußtsein. Das ist ein großer Fortschritt.«

»Weiß mein Vater, wie es um ihn steht?« fragte Hermann.

»Nein. Wir haben es ihm noch nicht gesagt. Es ist zu früh. Wir wissen nicht, wie er darauf reagiert. Er könnte einen Schock bekommen, und der kann bei seinem Zustand tödlich sein.« Er sah Erna an, als er weitersprach. »Ich möchte Sie bitten, Frau Weberowsky, Ihrem Mann nicht zu sagen, daß er querschnittgelähmt ist.«

»Ich werde gar nichts sagen.« Erna löste sich aus den Armen ihrer Söhne. Ihr Blick wanderte von einem zum anderen. »Ich will allein mit ihm sein.«

»Mutter –«

»Bitte. Laßt mich mit Vater allein. Ihr hört doch, es ist zu anstrengend für ihn, wenn ihr alle um sein Bett steht. Der Herr Chefarzt verbietet es ja auch.«

»Ja. Ich verbiete es.« Dr. Anissimow trat an Ernas Seite und hakte sich bei ihr ein. So eine Vertrautheit war ihm sonst fremd, aber hier hatte er einfach das Bedürfnis, diese tapfere Frau unterzufassen und ihr damit zu sagen, wie sehr er mit ihr litt. Als Chirurg, der täglich die Leiden der Menschen sieht, muß man Abstand halten können, aber Weberowskys Tragik erschütterte sogar den sonst so routinierten Anissimow. »Sie können ihn durch das Fenster sehen«, sagte er zu den anderen. »Jede Aufregung muß vermieden werden.«

»Wolfgang Antonowitsch wird sich nicht aufregen, wenn er mich sieht!« Kiwrin, nervös bis in die Fingerspitzen, war nahe daran, wieder loszutoben. »Er wird sich freuen.«

»Die Beurteilung seines Zustandes überlassen Sie bitte mir.« Anissimows Stimme war jetzt kalt und abweisend. Er drückte Ernas Arm. »Kommen Sie, Frau Weberowsky. Es ist jetzt die beste Zeit. Nachher bekommt Ihr Mann eine Spritze für die Nacht, da wird er schlafen. Ruhe ist jetzt das wichtigste für ihn.«

»Ich werde still sein.« Sie lehnte sich beim Gehen gegen Anissimow. »Ganz still.«

Sie fuhren mit dem Lift zur Intensivstation, und als sie ausstiegen, umgab sie eine bedrückende Stille. Obwohl Schwestern und Pfleger hin und her gingen, zwei Ärzte ihnen zunickten, geschah das alles in einer Lautlosigkeit, als befinde man sich bereits in einer anderen Welt. Erna hatte noch nie ein Krankenhaus betreten. An der Wolga und in Nowo Grodnow hatte man bei einer Krankheit im Bett gelegen, und in diesem Bett starb man auch, so wie man in ihm geboren wurde.

Sie preßte sich enger an Dr. Anissimow und hielt den Atem an, als er vor einer breiten Tür stehenblieb, auf die I/II gemalt war. Ein junger Arzt kam gerade heraus, die Bügel eines Stethoskops um den Nacken geklemmt.

»Alles in Ordnung?« fragte Dr. Anissimow knapp. Der junge Arzt warf einen schnellen Blick auf Erna und nickte. »Das Magen-Ca. muß verlegt werden«, antwortete er halblaut.

»Ich sehe ihn mir gleich an.« Verlegt werden heißt in diesem Fall: Hoffnungslos. Er liegt im Sterben. Und es war eine Marotte von Dr. Anissimow, niemanden auf der Intensivstation sterben zu lassen. Er wurde vorher in einen kleinen, leeren Raum gerollt. Die meisten merkten es gar nicht mehr, sie waren ohne Besinnung, und sie starben in nackter Einsamkeit, beobachtet von einer Schwester, die dann den Arzt rief. Es gab bei Dr. Anissimow mehrere solcher Zimmer, geradezu ein Luxus, denn in vielen Krankenhäusern wurden die Sterbenden in den Badezimmern abgestellt.

»Weberowsky?« fragte der Chefchirurg.

»Ist bei Bewußtsein.« Der junge Arzt zögerte. Anissimow verstand.

»Dr. Koslow wird Ihnen jetzt einen sterilen Kittel, eine Haube und Gummischuhe geben«, sagte er zu Erna. »Das ziehen Sie alles an, und dann komme ich und bringe Sie zu Ihrem Mann.«

Er verschwand hinter der breiten Tür. Dr. Koslow führte Erna in einen Raum, in dem mehrere weiße Kittel hingen und in einem Regal weiße Gummischuhe standen, und Dr. Koslow sagte: »Das muß sein, wegen der Infektionsgefahr.« Erna nickte und zog schweigend Kittel, Gummischuhe und Häubchen an.

Und dann wartete sie, saß allein auf einem Plastikhocker. Dr. Koslow war gegangen, und sie dachte, wie es gleich sein würde, was sie zuerst sagen sollte, ob sie seine Hand nehmen oder ihm über das Gesicht streicheln sollte und ob sie überhaupt fähig war zu sprechen.

Endlich ging die Tür auf, und Dr. Anissimow kam herein. Erna starrte ihn an und wagte nicht zu atmen.

»Kommen Sie!« sagte Anissimow und hielt ihr seine Hand hin. »Er erwartet Sie.«

Sie zog sich an seiner Hand hoch und lehnte sich dann gegen ihn. Nur für einen Augenblick kam Schwäche über sie, fühlte sie sich, als müsse sie in sich zusammensinken, aber dann straffte sie sich und trat einen Schritt zurück. »Verzeihen Sie«, sagte sie mit fester Stimme. »Es ist schon vorbei.«

»Halten Sie sich ruhig an mir fest.« Dr. Anissimow hielt ihr wieder seine Hand hin. Sie schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Kitteltaschen, so wie sie es vorhin bei einer Ärztin auf dem Flur gesehen hatte.

»Ich kann allein gehen. Sie haben Wolfgang gesagt, daß ich gekommen bin?«

»Ja. Er soll sich nicht erschrecken, wenn Sie plötzlich an seinem Bett stehen. Jetzt ist er vorbereitet.«

»Kann … kann er sprechen?«

»Sie werden ihn verstehen. Sie bestimmt.«

Sie gingen hinüber zu der großen, breiten Tür, und sie nahm gar nicht wahr, daß sie geöffnet wurde. Sie sah nur einen großen, lichten Raum, Bett an Bett, in dem die Patienten, nur zugedeckt mit einem weißen Tuch, lagen; sie sah die beweglichen, mit Stoff bespannten Trennwände, die tickenden, brummenden, blubbernden Geräte; sie hörte Stöhnen und Weinen, hinter einer der Stoffwände jammerte jemand: »Laßt mich sterben. Laßt mich doch sterben! Schwester, ich will sterben. Bitte, bitte …« Und starr, als sei sie ein Stück Holz mit Beinen, ging sie weiter, sah nicht nach rechts und links, blieb stehen, als sie die letzte Trennwand erreicht hatten. In der Wand sah sie eine große, breite Scheibe, aber niemand stand dahinter und blickte hindurch.

Wo seid ihr, Hermann und Gottlieb, dachte sie verzweifelt. Warum laßt ihr mich jetzt allein? Warum steht ihr nicht am Fenster und seht zu? Ich brauche euch jetzt, ich brauche euch, ich weiß nicht, wie es hinter dieser Stoffwand aussieht, ob ich nicht umfalle, wenn ich ihn sehe.

»Kommen Sie!« hörte sie Dr. Anissimow sagen. »Zehn Minuten höchstens. Vielleicht sind es morgen fünfzehn Minuten.«

Sie nickte, schloß einen Moment die Augen und ging um die Trennwand herum.

Das erste, was sie sah, war ein Gewirr von Schläuchen, die mit Infusionsflaschen und elektrischen Geräten verbunden waren; auf zwei Bildschirmen zuckten bläuliche Streifen auf und nieder, im gleichen Rhythmus; ein saugendes Geräusch hörte sie und ein Gluckern, in eine Glasflasche tropfte eine trübe, mit Blut durchsetzte Flüssigkeit, und inmitten der Schläuche und Geräte sah sie ein schmales, eingefallenes Gesicht, umwuchert von einem Stoppelbart, und sie hatte Mühe, an diesem Gesicht zu erkennen, wer vor ihr lag. Nur die Augen waren ihr bekannt, jetzt größer als sonst, und diese Augen sahen sie starr an, und um den schmal gewordenen Mund, in den Winkeln der fahlen Lippen, erschien die Andeutung eines Lächelns.

»Mein Wolferl –«, sagte sie und setzte sich auf den weißen Plastikstuhl neben dem Bett. »Mein Wolferl, ich bin so glücklich, daß du noch lebst.«

Sie nahm seine Hand und küßte sie, diese harte, schwielige Hand, mit der er ihr Leben aufgebaut hatte, und sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf Stirn und Augen und Mund und legte dann den Kopf an seine Schulter, so wie sie Nacht für Nacht bei ihm geschlafen hatte und glücklich war in seiner Liebe.

Er bewegte die Lippen, flüsterte etwas, aber erst als sie das Ohr an seinen Mund legte, hörte sie ihn.

»Erna …«, sagte er. »Erna … liebe Frau … erschrick nicht …«

»Warum soll ich erschrecken, Wolferl?« Sie streichelte wieder sein Gesicht und die nackte Brust, die mit Kontakten übersät war. »Es geht dir doch gut. Bald wirst du nach Hause kommen.«

»Nach Hause«, flüsterte er. »Ja … Erna … hol mich nach Hause.«

Sie blickte über seinen nackten, unter dem Leinentuch liegenden Körper, aus dem die Schläuche herauskamen, und sie sah, wie die Infusionsflüssigkeiten in seine Adern tropften, und dann streichelte sie seine Beine, die nie wieder laufen würden. Bis zu seinem Ende würde er so wie jetzt daliegen, unbeweglich und kraftlos, und nur seine Augen und der Mund würden leben und sein starkes Herz, das den Kampf nicht aufgeben wollte.

»Das ganze Dorf läßt dich grüßen«, sagte sie tapfer. »Die Nachbarn werden uns helfen, wenn es nötig ist. Mach dir keine Sorgen, es geht alles weiter wie bisher. Die Hauptsache ist, daß du bald gesund bist. Der Arzt ist sehr zufrieden mit dir, sagt er.«

Sie zuckte zusammen. Dr. Anissimow klopfte leise gegen das Gestänge der Trennwand. Zehn Minuten, die Zeit ist um. Hilfesuchend blickte sie zu dem großen Fenster. Und da standen sie und starrten ins Zimmer und auf die Schläuche und Apparate und auf den Mann, der unbeweglich im Bett lag und nur den Kopf bewegen konnte. Und ausgerechnet Gottlieb, der angehende Mediziner, weinte, Gottlieb, der Revolutionär, der dauernd im Streit mit seinem Vater gelebt hatte. Er lehnte sich an die Schulter seines Bruders und schluchzte. Kiwrin fuhr sich mit seinen Händen immer wieder über das Gesicht. Heinrichinsky hatte die Hände gefaltet und betete. Hermanns Miene war versteinert, und er hielt seinen Bruder umarmt, und Eva stand am Fenster, sah ihren Vater an und spürte die Kraft, die Erna aufbrachte, und fühlte die gleiche Kraft in sich, bereit, dem Schicksal die Stirn zu bieten. In diesen Minuten war sie ein anderer Mensch geworden, stark genug, um denken zu können: Papa, das Leben geht weiter. Auch deins. Auch wenn du nicht mehr laufen kannst – ist das so wichtig? Wir sind doch bei dir, wir sind immer um dich, und ich werde dir die Zeitung vorlesen, und du wirst wieder lachen und mit uns schimpfen wie bisher, es wird alles so sein wie früher. Nur laufen kannst du nicht mehr. Papa, das Leben besteht nicht nur aus Laufen. Dein Leben sind wir, Mama und wir Kinder.

Erna wandte den Blick vom Fenster und beugte sich wieder über ihren Mann. Seine Augen bettelten, und sie verstand ihn, streichelte seinen Kopf und küßte ihn auf die blutleeren Lippen.

»Mein Wolferl …«, sagte sie an seinem Ohr. »Noch eine Überraschung habe ich für dich.« Sie spürte, daß er nicken wollte, und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. »Kannst du zur anderen Seite blicken? Komm, ich helfe dir.«

Sie drehte vorsichtig seinen Kopf zum Fenster und legte ihr Gesicht an seine Wange. Lange sagte Weberowsky nichts. Er starrte auf die große Glasscheibe und die Gesichter hinter ihr. Hermann hatte Gottlieb losgelassen und barsch zu ihm gesagt: »Beherrsch dich. Verdammt noch mal, Vater soll nicht sehen, daß wir weinen! Lächeln müssen wir. Es geht ihm doch gut …« Dann brach seine Stimme ab, und ein Zittern lief durch seinen Körper.

Weberowsky drehte den Kopf wieder zu Erna. Seine Lippen bewegten sich, und sie hielt wieder ihr Ohr an seinen Mund.

»Hermann …«, flüsterte er. »Gottlieb. Eva. Peter. Kiwrin. Wie schön ist das.«

»Am liebsten wäre das ganze Dorf mitgekommen, Wolferl.«

»Laß sie kommen … alle, alle.«

»Ich werde es ihnen sagen.«

An das Gestänge der Trennwand klopfte wieder Dr. Anissimow. Diesmal ungeduldiger, fordernder. Schluß jetzt! Es sind bereits fünfzehn Minuten! Es strengt ihn zu sehr an. Erna erhob sich von dem weißen Plastikstuhl und strich ihrem Mann wieder über das Gesicht. »Schlaf gut, Wolferl«, sagte sie dabei. »Morgen komme ich wieder.«

Er versuchte ein Nicken, aber plötzlich – und Erna zuckte zusammen und auch Dr. Anissimow begriff es nicht – sagte Weberowsky laut und klar:

»Bleib! Erna, bleib bei mir. Geh nicht weg.«

Es war, als habe er seine letzte Kraft hinausgeschrien. Sein Kopf sank zur Seite, und er verlor das Bewußtsein.

Dr. Anissimow zog Erna weg. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen und nicht loszubrüllen. »Ganz ruhig verhalten, habe ich geraten«, sagte er hart. »Und was tun Sie? Sie regen ihn nur auf! Ich bezweifle, daß ich Ihnen morgen noch einen Besuch erlauben kann.« Dr. Koslow rannte an ihnen vorbei, gefolgt von einer Schwester. Dr. Anissimow ließ Erna los. »Sie entschuldigen mich. Ich muß zu Ihrem Mann. Gehen Sie in die Kabine und ziehen Sie sich um … und verlassen Sie die Intensivstation! Rufen Sie mich morgen gegen zehn Uhr an. So eine Unvernunft!«

Ohne Gruß verschwand er um die Trennwand. Hinter dem Fenster rasselte eine Jalousie herunter. Ende des Besuches. Kiwrin lehnte den Kopf an die Scheibe. »Es ist fürchterlich«, stammelte er. »Man kann es nicht mit ansehen. Ich habe ein Loch im Herzen, und das Blut läuft heraus, so elend fühle ich mich.«

»Wir sollten jetzt nicht jammern, sondern Mama zur Seite stehen!« erwiderte Eva mit starrem Gesicht. »Wenn wir alle herumstehen und heulen, hat auch sie keine Kraft mehr. Kommt, wir müssen zu ihr.«

Erna verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer des Elends und der Schmerzen. Hinter der Stoffwand jammerte noch immer der Mann. Seine Stimme war leiser und schwächer geworden. »Schwester«, röchelte er. »Schwester, komm her. Laßt mich sterben … bitte, bitte … sterben …«

In der sterilen Kabine zog sich Erna um, hängte den weißen Kittel an den Haken, stellte die Gummischuhe in das Regal und streifte die Gazemütze von den Haaren.

Er hat sich doch so gefreut, dachte sie. Er war doch so glücklich. Warum schimpft der Doktor mit mir? Hat er nicht gehört, daß er gerufen hat: Bleib, bleib! Geh nicht weg. Ich müßte die ganze Nacht bei ihm bleiben, hörst du, Doktor? Heute und morgen und immer, solange, bis man sagt: jetzt darf er nach Hause. Er wird schneller gesund, wenn ich bei ihm bin. Das weiß ich besser als du, Doktor. Du hast deine Erfahrungen mit deinen Krankheiten, ich hab' meine Erfahrung mit meinem Wolferl. Ich komme morgen wieder. Und wenn du mich nicht zu Wolferl läßt, schreie ich das ganze Krankenhaus zusammen. Ich werde schreien, schreien.

Sie verließ die Station durch die große Glastür und sah auf dem Vorplatz ihre Familie stehen. Eva lief ihr entgegen und umarmte sie.

»Du warst so tapfer, Mama, so tapfer!« sagte sie.

»Eine heulende Frau nützt Vater gar nichts.« Sie sah hinüber zu Gottlieb. »Warum hast du geweint?«

»Ich konnte nicht anders, Mama. Wie er dalag, mit einem so kleinen Kopf … und dann diese Augen, wie aus Glas.«

»Du mußt lernen, dich zu beherrschen.«

»Gottlieb konnte sich noch nie beherrschen«, sagte Hermann. »Das ist ein Fremdwort für ihn.«

»Keinen Streit! Wir müssen jetzt zusammenhalten.«

»Was hat Wolfgang gesagt?« fragte Heinrichinsky.

»Als er euch am Fenster sah, hat er gesagt: Wie schön!«

»Hat er alle von uns erkannt?«

»Er hat eure Namen genannt.«

»Mich hat er lange angesehen.« Kiwrin nagte an seiner Unterlippe. »Ich werde mich sofort um einen Rollstuhl kümmern.«

»Damit hat es noch lange Zeit.«

»Wißt ihr, wie schwer es ist, nach Atbasar einen Rollstuhl zu bekommen? Ich werde einen Händler bestechen müssen, sonst bekommen wir nie einen Rollstuhl. In Karaganda gibt es ein Sanitätshaus, die können einen besorgen. Aber ohne Rubelscheinchen in der Tasche geht gar nichts. Und wenn wir hundert Jelzins hätten und hundert Reformen … da ändert sich nichts!«

»Wolfgang wird nie einen Rollstuhl gebrauchen«, sagte Erna.

»Wer behauptet das?«

»Der Chefarzt.«

»Ist er ein Wahrsager?« Kiwrin hob den Zeigefinger. »Ich sage euch: Wolfgang Antonowitsch wird in einem Rollstuhl sitzen und mit seinem Rollstuhl tanzen. Ich habe da im Fernsehen einen Film gesehen, sogar Handball haben die Rollstuhlfahrer gespielt. Einige, man hält es nicht für möglich, haben mit ihren Rollstühlen ein Wettrennen gemacht.«

»Es kommt immer auf die Art der Lähmung an, welche Nerven zerstört sind. Es gibt eine Menge von Abstufungen.« Gottlieb schüttelte den Kopf. »Aber wenn Dr. Anissimow die Prognose stellt, daß Vater nur noch liegen kann …«

»Jetzt quatscht er schon wie ein Mediziner!« rief Hermann. »Ich sage, es ist alles nur eine Frage der Zeit.«

»Das sage ich auch!« Kiwrin hob wieder den Zeigefinger. »In einem Jahr rollt Wolfgang Antonowitsch durch Atbasar, und die Beljakowa schiebt den Stuhl!«

Er lachte, wurde aber sofort still, als Erna sagte: »Wir wollen glücklich sein, wenn er die nächsten Tage überlebt. Weiter denke ich noch nicht. Dazu bleibt später noch viel Zeit.«

Sie verließen das Krankenhaus, stiegen in den klapprigen Bus und fuhren zum deutschen Kulturzentrum und dem Büro der Organisation der Rußlanddeutschen. Bergerow wollte gerade sein Büro verlassen, als der Bus knirschend hielt. Erna klammerte sich an ihrem Sitz fest, und erst jetzt, durch diesen Ruck, schien sie an andere Dinge zu denken als an Wolferl.

»Mein Gott!« sagte sie. »Mein Gott!«

»Die Bremsen sind verrückt!« rief Kiwrin. »Mal packen sie und mal sagen sie gar nichts. Jetzt haben sie gepackt.«

»Ich habe was vergessen.« Erna fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich habe meinen Bruder vergessen. Er ist ja auch im Krankenhaus. Ich habe ihn einfach vergessen. Ich habe nur noch an Vater gedacht.«

»Fahren wir zurück!« sagte Hermann. »Aber sie werden uns nicht mehr hereinlassen.«

»Nein.« Erna schüttelte den Kopf. Sie legte ihn gegen die Lehne des Sitzes. »Ich gehe heute in kein Krankenhaus mehr. Ich bin müde, ich kann nicht mehr.«

»Wir werden Onkel Andrej morgen sehen.« Gottlieb sprang aus dem Bus. »Das ist früh genug. Seht ihr denn nicht, daß Mama jetzt Ruhe braucht?«

Bergerow, der gerade aus dem Haus kam, blieb stehen und musterte fast entsetzt das uralte Fahrzeug. Daß so etwas überhaupt noch fahren darf, dachte er. Wer wagt es denn, sich in solch ein Ungeheuer zu setzen? Aber tatsächlich, es sind Menschen drin. Sogar Frauen.

Er ging auf Gottlieb zu, während Kiwrin den schnaufenden Motor abstellte. Auch Heinrichinsky verließ jetzt den Bus. »Wo kommt ihr her?« fragte Bergerow auf russisch. Gottlieb blickte auf das Haus. Ein Schild in deutscher Sprache war neben der Tür befestigt. Deutsches Kulturzentrum. Der Mann war aus diesem Haus gekommen, also konnte er Deutsch.

»Aus Atbasar«, antwortete er auf deutsch. »Genauer aus Nowo Grodnow.«

»Nowo Grodnow!« Bergerow streckte ihm beide Hände hin. »Dann sind Sie ein Sohn von Wolfgang Antonowitsch.«

»Ja, wir kommen gerade von meinem Vater.«

»Es ist furchtbar.« Bergerow ging zum Bus, aus dem jetzt Erna ausstieg. Hermann stützte sie. »Frau Weberowsky? Es ist schön, daß Sie gekommen sind, den langen Weg. Und dann mit diesem schrecklichen Klapperkasten.«

Kiwrin, noch hinter dem Steuer sitzend, zuckte wieder zusammen. »Alle beleidigen meinen Bus!« schrie er. »Treu gedient hat er uns! Ein großes Maul kann jeder haben! Leihen Sie mir einen besseren Bus, ha? Können Sie das? Nichts können Sie. Noch nicht mal ein Fahrrad haben Sie und gehen zu Fuß! Aber die Schnauze aufreißen, das können Sie!«

»Wer ist denn das?« fragte Bergerow erstaunt. »Wo habt ihr den denn aufgesammelt?«

»Das ist Michail Sergejewitsch Kiwrin, der Bezirkssekretär von Atbasar.« Gottlieb winkte ihm zu. »Steig aus!« Und zu Bergerow: »Ich nehme an, Sie sind der Leiter des Institutes, Herr Bergerow.«

»Verzeihen Sie. Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Ja. Ich bin Ewald Konstantinowitsch Bergerow. Ich war von dem Bus so fasziniert, daß ich an meinen Namen nicht mehr gedacht habe.«

»Er fängt schon wieder an!« knurrte Kiwrin.

Bergerow drückte Erna an sich, gab ihr, nach russischer Sitte, drei Wangenküsse und blickte dann wieder hinauf zu Kiwrin. »Für die Familie Weberowsky und den Pfarrer –«, erblickte zu Heinrichinsky, »ich nehme an, das sind Sie …«

»Ja, wir haben miteinander telefoniert.«

»… für sie sind Zimmer bestellt. Der Herr Bezirkssekretär wird sicherlich bei seinen Genossen schlafen wollen. Das Parteihaus liegt ungefähr 500 Meter von hier. Sie können es nicht verfehlen, die rote Fahne weht noch auf dem Dach.«

Kiwrin sprang aus dem Bus, ohne die Stufen zu benutzen, und kam auf Bergerow zu. Gottlieb wollte sich ihm in den Weg stellen, aber Hermann hielt ihn zurück.

»Wo soll ich schlafen?« knirschte Kiwrin.

»Bei Ihren Genossen.«

»Ich lasse das Haus beschlagnahmen!«

»Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, oder hat man in Atbasar noch nichts von Gorbatschow und Jelzin gehört?«

»So ein deutscher Oberlehrer!« Er stellte sich neben Erna und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bleibe bei Erna Emilowna.«

»Hör auf zu schreien, Michail Sergejewitsch«, sagte sie. Ihre Lider flatterten, sie hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. »Ich bin müde. Ich will Ruhe haben.«

»Sie ist müde!« schrie Kiwrin den beleidigten Bergerow an. »Sie braucht Ruhe! Was stehen Sie hier noch herum? Zeigen Sie die Zimmer!«

Bergerow ließ Kiwrin stehen und begrüßte Eva, die als letzte aus dem Bus kletterte. »Wie kann man es nur mit diesem Menschen aushalten?« fragte er dabei. »Die Fahrt muß doch eine Tortur gewesen sein, oder wie Ihre Generation es ausdrückt: Ein Horrortrip.«

»Es war eher lustig.« Eva lachte und wischte ihr blondes, jetzt verschwitztes Haar aus der Stirn. Sie machte keineswegs den Eindruck, von ihrem todkranken Vater zu kommen und von seinem Anblick erschüttert zu sein. »Der Bus hat uns viel Freude gemacht.«

»Unglaublich.«

»An jeder Tankstelle bekam Kiwrin Streit. Das hätten Sie hören müssen. Es ist ein Erlebnis, Kiwrin toben zu sehen. Diese Ausdrücke. Dabei hat er ein weiches Herz, wie Butter in der Sonne.«

»Noch unglaublicher.«

»Er ist Papas bester Freund.«

»Das ist das Unglaublichste! Ein Parteifunktionär in Kasachstan Freund eines Deutschen? Das paßt doch nicht zusammen.«

»In Atbasar ist vieles anders als in anderen Bezirken. Schon Kiwrins Vater war Bezirksvorsitzender und hat Opa Anton beim Bau des Dorfes unterstützt, gegen den Willen der Baubehörde.«

»Das habe ich nicht wissen können.« Bergerow ging zurück zu Kiwrin. Erna hatte sich auf Hermann gestützt und die Augen geschlossen.

»Mutter kann nicht mehr stehen.« Hermanns Stimme war voll Sorge. »Zeigen Sie uns die Zimmer. Sie haben den ganzen Abend Zeit, sich mit Kiwrin zu streiten, von mir aus die ganze Nacht. Mutter muß sich hinlegen.«

»Ich spreche nicht mehr mit diesem Besserwisser!« sagte Kiwrin verächtlich. »Geht ins Haus, bezieht eure Zimmer und gute Nacht! Ich finde schon ein Quartier. Ust-Kamenogorsk ist nicht Kajnar. Morgen um zehn hole ich euch ab. Ihr könnt ja nichts dafür, daß gerade die Widerlinge immer die besten Posten haben!«

Er wollte zum Bus gehen, aber Bergerow rief ihn zurück.

»Sie kommen auch mit, Michail Sergejewitsch.«

»Nein.«

»Und wenn ich Sie bitte?«

»Das sind ja ganz neue Töne!«

»Ich wußte nicht, daß Sie Wolfgangs bester Freund sind. Sie sind natürlich auch unser Gast.«

Kiwrin zögerte. Soll ich nachgeben? dachte er. Verliere ich nicht mein Gesicht? Aber dann sah er die im Stehen schlafende Erna, die ihre ganze Energie in den fünfzehn Minuten am Krankenbett ihres Mannes verbraucht hatte.

»Nur meinen Freunden zuliebe«, sagte Kiwrin stolz. »Ich will keine Dissonanzen.«

»Das haben Sie gut gesagt.« Bergerow konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich werde ein Bett ins Musikzimmer stellen lassen.«

Erna zog sich nicht aus, als sie endlich in ihrem Zimmer war. Sie saß auf dem Bett, starrte ins Leere, kippte dann um und schlief auf dem Rücken liegend sofort ein. Eva, die ihr Bett auf der anderen Seite des Zimmers hatte, kam zu ihr, schob ihre Beine auf das Bett, knöpfte drei Knöpfe des Kleides auf, damit sie besser atmen konnte, hob ihren Kopf und legte ein Kissen darunter. Dann ging sie zurück zu ihrem Lager.

Sie starrte vor sich hin, sah wieder diese nackte Gestalt zwischen den Schläuchen und Monitoren, diesen kleinen Kopf mit den Bartstoppeln, der so gar nicht wie Weberowsky aussah, und sah ihre Mutter, wie sie sich über diesen Kopf beugte und seine Lippen küßte.

»O Papa … Papa …«, murmelte sie halblaut. Dann brach ihr die Stimme. Sie warf sich mit dem Gesicht in das Kissen, und endlich konnte sie weinen und alle Beherrschung von sich abstreifen und das sein, was sie noch war: Ein junges, hilfloses Mädchen, das so tapfer sein wollte wie ihre Mutter.

Das Wiedersehen zwischen Erna und ihrem Bruder Andreas war kurz. Sie waren nicht allein. Nurgai war schon früher gekommen und saß an Frantzenows Bett. Er hatte einige Bücher mitgebracht, keine Fachbücher über Atomwissenschaft, sondern Romane von Bulgakow, Pasternak und Solschenizyn. Obwohl er ahnte, wer die Frau war, die hereinkam und Frantzenow umarmte und küßte und einige Tränen der Freude vergoß, blieb er auf seinem Stuhl sitzen. Frantzenow warf ihm einen bittenden Blick zu, aber Nurgai reagierte nicht darauf.

»Das ist Kusma Borisowitsch Nurgai«, stellte Frantzenow ihn endlich vor. »Meine Schwester Erna Emilowna.«

»Das habe ich mir gleich gedacht, als Sie ins Zimmer kamen.« Nurgai erhob sich leicht und deutete eine Verbeugung an. »Es ist schrecklich, unfaßbar, was hier passiert ist. Wir alle leiden mit Ihrem Mann und Andrej Valentinowitsch. Übrigens, morgen will General Wechajew einen Besuch bei Ihnen machen. Oder ist es noch zu früh?«

»Nein. Ich fühle mich gut. Und Wolfgang, habe ich gehört von der Schwester, ist wieder bei Bewußtsein.« Er sah Erna an und nickte zu Nurgai hin. »Kusma Borisowitsch ist der Leiter von Kirenskija.«

»Ich freue mich, daß Sie meinen Bruder besuchen.«

»Das hat seinen Grund.« Frantzenow lachte, aber es klang wie einstudiert. »Ich kämpfe mit ihm …«

»Du kämpfst?« Sie drehte den Kopf zu Nurgai. »Warum denn?«

»Der Schuß hat nicht nur sein Bein getroffen, sondern auch sein Hirn! Ich wußte bis jetzt nicht, daß der Verstand im Oberschenkel steckt. Schreibt er mir doch einen Brief, können Sie das glauben? Einen Brief! Und was steht drin? Ich bitte um meine Entlassung. Ich will meinen Schwager Weberowsky nach Deutschland begleiten.«

Erna fuhr herum. Frantzenow nickte. »Du willst wirklich …« Sie ergriff seine Hände und drückte sie. Sie spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen.

»Ja.«

»Ich danke dir, Andrej. Aber …« Sie holte tief Luft, um ihr Herz zu beruhigen. »Keiner weiß, ob Wolferl diese Reise machen kann. Wenn er für immer im Bett liegenbleiben muß …«

»Wir können ihn auf einer Bahre hinüberfliegen.«

»Was erwartet ihn in Deutschland? Ein Zimmer oder eine Baracke, wo er nur die Decke anstarren kann. In Nowo Grodnow kann er im Garten liegen, sieht die Sonnenblumen und die Apfelbäume, sieht den Mähdrescher vom Feld zurückkommen, hört die Kühe und die Hühner und die Enten. Auch wenn er sich nicht rühren kann, er ist mittendrin im Leben. Und die Freunde besuchen ihn, und wir werden ihn bei den Dorffesten hinausrollen, er wird überall dabei sein. Was soll er in Deutschland?«

»Es ist sein großer Traum, Erna. Das weißt du. Er hat in letzter Zeit nichts anderes im Kopf gehabt als die Hoffnung, umsiedeln zu können. Für ihn ist Deutschland das gelobte Land.«

»Hör einer an, wie er spricht!« Nurgai klatschte sich auf die Oberschenkel. »Vor zwei Wochen hat er noch gesagt: Ich bin ein Russe! Der Iran wollte ihn abwerben. Für Millionen Dollar! Und was hat er geantwortet? Nein, ich bin ein Russe! Und auf einmal will er ein Deutscher sein.«

»Die Schüsse auf mich und Wolfgang haben meine Welt verändert. Ich habe eine neue Aufgabe bekommen. Ich weiß jetzt, wo ich hingehöre.«

»Nach Moskau, als Präsident der russischen Atomforschung.«

»Ich will nichts mehr mit Atom zu tun haben.«

»Hören Sie das, Erna Emilowna, hören Sie das?« rief Nurgai aufgebracht. »Rußlands Starwissenschaftler gibt Moskau einen Korb! Ignoriert die höchste Ehre, die man erhalten kann. Will in Deutschland in einem Gärtchen sitzen und den Bienen zusehen, wie sie in die Blüten krabbeln! Wahnsinn ist das doch. Wahnsinn!«

»Noch sind wir nicht in Deutschland, Kusma Borisowitsch.« Erna blickte an ihm vorbei zum Fenster. Es stand offen, ein warmer Wind wehte ins Zimmer. Hier ist noch Sommer, dachte sie. In Nowo Grodnow spürt man schon den Herbst. Und dann ist schnell der Winter da mit seinen heftigen Stürmen, die von allen Seiten kommen, vom Altai und vom Ural. Die Bäume werden sich biegen, und ein Heulen wird um das Haus sein. Wie kann man da einen Gelähmten transportieren? »Es wird vielleicht ein Jahr dauern, bis wir aussiedeln können.«

»Auch in einem Jahr ändert sich mein Entschluß nicht!« sagte Frantzenow. »Ich bleibe bei Wolfgang. Wir sollten zusammen sterben – jetzt werden wir zusammen leben. Das ist mein letztes Wort.«

»Ich höre es nicht. Ich habe nichts gehört.« Nurgai sprang vom Stuhl auf und wanderte im Zimmer hin und her. Ab und zu blieb er stehen und hieb mit der Faust gegen die Wand. »Ich weigere mich, das Entlassungsgesuch anzunehmen!«

»Ich kann auch an Minister Viktor Michailow direkt schreiben.«

»In ein Irrenhaus wird er Sie einsperren lassen!«

»Ich weiß, das war die bevorzugte Methode, unliebsame Personen verschwinden zu lassen. Denken wir an Sacharow. Verurteilt zu einem Tod auf Raten. Aber das gibt es nicht mehr, Kusma Borisowitsch. Der KGB ist nicht mehr der heimliche Regent des Staates. Das tut manchen ungemein weh, Ihnen vielleicht auch, aber diese Zeiten werden nie wiederkommen. Endlich kann ein Mensch über sich selbst verfügen.«

»Was in das Chaos führt!« Nurgai blieb vor dem Bett stehen. »Da ist ein Sträfling, der über siebzig Jahre an Ketten hängt, in einem dunklen Kerker, und plötzlich geht die Tür auf, jemand kommt herein, schließt die Ketten auf und führt ihn ins Freie. Glauben Sie, der Mann könnte sofort laufen, könnte in die Sonne sehen, ohne geblendet zu werden? Genauso geht es Rußland. Es ist frei, aber es kann nicht laufen. Andrej Valentinowitsch, Sie haben es doch in den Zeitungen gelesen: Die Kriminalität ist um 200 Prozent gestiegen. Heroin und Kokain kommen ins Land, eine neue Mafia verdient daran Millionen. Aids, bisher kaum relevant, breitet sich aus. Der Schwarzmarkt verhindert jede vernünftige Wirtschaftsplanung, in den großen Städten nimmt die Prostitution überhand. Sabotage, Diebstahl, Unterschlagung, Bandenverbrechen, Mord, Betrug, Faulheit … Rußland ist das größte Agrarland der Welt, aber die Getreideernte ist so mies, daß wir Weizen, Roggen und Hafer von Amerika kaufen müssen. Nichts klappt mehr, die Menschen stehen weiterhin in Schlangen vor den leeren Geschäften, und im Winter hungern sie. Der Westen muß Millionen Pakete schicken, damit sie überleben! Sie haben es gut, Frantzenow. Für Sie sind die Türen geöffnet, ja … aber anstatt diesem hilflosen Volk zu helfen, ein geistiger Arbeiter des Aufbaus zu sein, wollen Sie in den fetten Westen flüchten, lassen Sie Ihr Rußland allein und verraten ihre Heimat.«

»Heimat?« fragte Frantzenow gedehnt.

»Ja. Heimat. Sind Sie nicht an der Wolga geboren worden?«

»Es werden Kinder auf dem Schiff, im Flugzeug oder sonstwo geboren. Ist das Flugzeug ihre Heimat?«

»Welch ein dummer Vergleich! Auf die Abstammung kommt es an.«

»Das wollte ich hören. Ich stamme nicht von russischen Eltern ab, sondern von deutschen. Was bin ich also?«

»Wortklauberei ist das! Seit dem zehnten Lebensjahr sind sie russisch erzogen worden, Sie sprechen russisch wie ihre Muttersprache, dagegen ist ihr Deutsch miserabel, Sie haben russische Verdienstorden bekommen, Rußland hat Sie mit staatlichen Stipendien studieren lassen, alles an Ihnen ist russisch. Und durch einen dummen Schuß entdecken Sie plötzlich deutsche Ahnen!«

»Er ist mein Bruder«, mischte sich Erna ein. »Und ich war nie eine Russin. Die Frantzenows waren immer Deutsche.« Sie legte die Hand auf den Arm ihres Bruders, es sah aus, als halte sie sich daran fest, oder als klammere sie sich fest, damit er nicht wegging. »Ich bin so glücklich, daß er zurückgekommen ist.«

»Und ich bleibe auch. Mich kann keiner mehr zwingen.«

»Wenn das nur kein Irrtum ist!« erwiderte Nurgai trocken. »Ich nehme Ihr Gesuch nicht an, nicht mit dieser Begründung! Wenn Sie schreiben, ich habe bei mir eine Geisteskrankheit festgestellt, dann – vielleicht – würde ich mich damit beschäftigen.«

»Sobald die Wunde verheilt ist und ich wieder richtig gehen kann, werde ich nach Kirenskija kommen, meine Sachen packen und Sie für immer verlassen. Sie können mich nicht aufhalten, Kusma Borisowitsch!«

»Ich nicht, aber vielleicht General Wechajew.«

»Was hat Wechajew mit mir zu tun? Er ist Soldat, ich bin Zivilist.«

»Er kann sie als Sicherheitsrisiko verhaften.«

»Dazu hat er keinen Grund.«

»Er hat ihn!« Nurgai kostete seinen Triumph aus und wippte auf den Schuhspitzen auf und ab. »Wir werden nach Moskau melden, daß Sie mit iranischen Aufkäufern verhandelt haben und daß auch die USA ein Angebot unterbreitet haben.«

»Sie sind ein Lügner, Nurgai!« erwiderte Frantzenow dumpf. »Nur die Gegenwart meiner Schwester hindert mich, vor Ihnen auszuspucken.«

»Laß dich nicht abhalten, Andrej.«

Nurgai erstarrte. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seinen Augen. »Wie ihr wollt«, sagte er. »Ich wollte es gütlich lösen, immerhin haben wir neun Jahre gut zusammengearbeitet, aber jetzt werde ich gezwungen sein, mit allen Mitteln, auch wenn sie nicht erlaubt sind, Andrej Valentinowitsch daran zu hindern, Rußland zu verlassen.«

»Ich werde nach Moskau fliegen und mit Viktor Michailow sprechen.«

»Tun Sie das. Auch der Minister kann Sie nicht schützen. Sie werden statt in einem Hotel in der Lubjanka übernachten. Der KGB wird sie am Flughafen erwarten. Das verspreche ich Ihnen.«

Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne, warf sie über die Schulter und verließ das Krankenzimmer. Mit einem Knall schlug er die Tür hinter sich zu.

»Ein widerlicher Mensch«, meinte Erna und erhob sich von der Bettkante. »Er wird uns allen Schwierigkeiten machen.«

»Ich habe gute Verbindungen zu Moskau, Erna. Mach dir keine Sorgen. Kümmere dich ausschließlich um Wolfgang. Gehst du jetzt zu ihm?«

»Ja. Kommst du mit?«

»Das ist doch selbstverständlich.«

»Hoffentlich können wir Wolferl sehen.«

»Warum nicht? Es geht ihm doch besser.«

»Dr. Anissimow will mich nicht mehr zu ihm lassen. Er hat mich angebrüllt, gestern, weil ich länger als zehn Minuten bei Wolferl geblieben bin.«

»Er hat dich angebrüllt?«

»Gedroht hat er, daß ich Wolferl nicht mehr sehen werde. Das kann er doch nicht tun, Andrej, nicht wahr, das kann er doch nicht tun.«

»Wir werden sehen.« Frantzenow schob sich aus dem Bett und griff nach seiner Krücke. Er trug einen gestreiften Schlafanzug, ein wahrer Luxusartikel. Als man ihm den Schlafanzug gab, mußte er an Sotschi denken, dem vornehmen Seebad am Schwarzen Meer. Zweimal war er zur Erholung dort gewesen und hatte gesehen, daß viele russische Kurgäste in ihren gestreiften Pyjamas nicht nur am Strand, sondern auch auf der Strandpromenade herumwandelten, auf den weißen Bänken saßen oder der Kurmusik zuhörten. Es war etwas Besonderes, solch einen Schlafanzug zu besitzen, also mußte man ihn auch zeigen. »Anissimow wird nicht wagen, dich in meiner Gegenwart anzuschreien.«

»Warten wir es ab, Andrej.« Sie ging voraus und öffnete die Tür. »Ich bin wirklich zu lange geblieben. Aber kann man das nicht verstehen, wenn eine Frau bei ihrem Mann ist, von dem sie nicht weiß, ob er weiterleben kann?«

Auf der Intensivstation trafen sie auf Dr. Koslow. Er hob beide Hände, als müsse er ein Gespenst abwehren und stellte sich ihnen in den Weg. »Ohne Erlaubnis von Dr. Anissimow ist kein Besuch erlaubt. Auch für Sie nicht, Herr Professor.«

»Dann rufen Sie Anissimow an!«

»Ich weiß nicht, ob der Chef im Hause ist.«

»Das werden Sie ja sehen, wenn er nicht ans Telefon kommt.«

»Ich habe gestern gehört …«

»Was Sie gehört haben, ist unwichtig!« herrschte Frantzenow den jungen Arzt an. »Gestern ist vorbei, und heute ist ein anderer Tag!«

Dr. Koslow ging zum Wandtelefon auf dem Flur und rief Dr. Anissimow an. Er betete innerlich, daß er nicht da sein möge, aber Anissimow war in seinem Zimmer, saß vor einem Lichtkasten und betrachtete das Röntgenbild. Da schellte das Telefon.

»Ich habe gesagt, ich will nicht gestört werden!« schrie er in den Apparat. »Hört denn hier gar keiner mehr zu?«

»Hier Intensiv 11. Koslow.«

»Was ist?«

»Professor Frantzenow ist hier … und Frau Weberowsky.«

»Rausschmeißen!«

»Den Professor?«

»Die Frau!«

»Sagen Sie ihr das selbst.«

»Sie Memme! Sie werden nie Chefarzt!« Anissimow knipste den Lichtkasten aus, zog seinen weißen Kittel an und fuhr mit dem Lift hinauf zur Intensivstation. Wie ein Berserker stürmte er durch die große Glastür.

»Herr Weberowsky kann keinen Besuch empfangen!« rief er noch im Laufen. »Ich habe angeordnet …«

»Schreien Sie nicht!« sagte Frantzenow, fast ebenso laut wie Anissimow. »Und benehmen Sie sich wie ein gesitteter Mensch. Wenn Sie schon kein Herz haben, dann haben Sie wenigstens Anstand!«

Einen Moment sprachlos, starrte Anissimow ihn an. So hatte noch keiner gewagt, mit ihm zu sprechen. Er war Herr in diesem Haus und gewohnt, ohne Widerspruch seine Anordnungen zu geben. Jeder Patient duckte sich vor ihm, die Ärzte und die Schwestern und Pfleger sowieso, denn jeder hatte Angst, Anissimows Wohlwollen zu verlieren. Sie waren auf ihn angewiesen, er herrschte unumschränkt.

»Wer ist hier der Arzt?« fragte er endlich, etwas leiser.

»Sie. Welche Frage.«

»Wer hat die Verantwortung für die Kranken?«

»Sie.«

»Und da wagen Sie es, mir mangelnden Anstand vorzuwerfen, wenn ich die Kranken beschütze?«

»Ich gehe schon.« Erna wandte sich ab. Ihre Schultern sanken zusammen. »Ich habe einen Fehler gemacht, ja … aber die Strafe ist zu hart.«

»Du bleibst, Erna. Wir gehen gleich zu Wolfgang.«

»Nein!« Dr. Anissimow stieß den Kopf vor wie eine Viper. »Ich verbiete es!«

Sie zuckten beide zusammen. Erna hatte einen hellen, sich überschlagenden Schrei ausgestoßen. Der Schrei alarmierte die Station. Schwestern und Ärzte stürzten auf den Flur. »Ich will meinen Mann wiederhaben!« schrie Erna. In ihren Augen sah man, daß sie gar nicht wußte, was sie tat. Sie hörte sich selbst schreien, und es war für sie eine fremde Stimme. »Er gehört mir und nicht den Ärzten! Ich will ihn wiederhaben. Ich will ihn mitnehmen!«

Dr. Anissimow wollte etwas sagen, aber Frantzenow hatte seine Krücke genommen und hielt sie wie eine Schranke vor Anissimows Bauch. »Keinen Schritt weiter!« sagte er in einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß. »Anissimow, ich schlage Ihnen die Krücke über den Schädel, das schwöre ich Ihnen!«

Im Flur standen die Ärzte, Schwestern und Pfleger und waren wie erstarrt. Sie warteten. Schlug Frantzenow wirklich zu? Es war keiner unter ihnen, der Anissimow diese Prügel nicht gönnte. Endlich jemand, der sich nicht vor ihm duckte. Schlag zu, Professor, wir warten alle darauf.

»Wenn das so ist.« Anissimow war bleich geworden. Diese Beleidigung wirkte wie Gift in ihm. »Da steht er wieder, der deutsche Held! Schlägt alles nieder, weil es für ihn keine Moral gibt! Nur erobern, immer nur erobern! Gehen Sie hinein zu Weberowsky. Wenn ihn die Aufregung zurückwirft und er stirbt … ich kann's nicht mehr ändern. Ein Deutscher weniger, das ist wohl der richtige Standpunkt!«

Niemand hinderte sie jetzt, die Intensivstation zu betreten. Die Stille, in die sie eintraten, ließ ihren Atem schwerer machen. Nur ein paar Apparate tickten leise. Der Mann, der gestern um seinen Tod gebettelt hatte, war nicht mehr da. Man hatte ihn sterben lassen.

Weberowsky mußte die Schritte gehört haben. Er hatte den Kopf zur Trennwand gedreht und lächelte, als Erna an sein Bett trat. Er wollte die Hand heben, aber er war scheinbar noch zu schwach dazu.

»Wie gut, daß du kommst«, sagte er mühsam, aber verständlich. »Ich habe auf dich gewartet. Geh nicht so schnell wieder fort. Bleib bei mir. Ich brauche dich.«

Es war das erstemal in den vielen Jahren ihrer Ehe, daß er zugab, sie zu brauchen.

»Ich bleibe bei dir«, erwiderte Erna und küßte ihn auf die Stirn. »Ich lass' dich nicht allein, Wolferl. Werd wieder gesund, alle warten auf dich.«

Bis zu den Schultern ist er gelähmt. Ob er die Arme bewegen kann, wissen sie noch nicht. Kann er es nicht, werden wir ihn füttern wie einen jungen Vogel. Aber er wird leben und glücklich sein, wenn wir ihn unter die Sonnenblumen schieben oder an den Stall, wo er den Hühnern zusehen kann und die Enten schnatternd um ihn herumwatscheln. »Es wird alles gut werden, Wolferl«, sagte sie und legte ihren Kopf auf seine Hand. »Wir müssen nur Geduld haben. Viel Geduld!«

»Ich weiß, Erna.« In seinen Augen lag eine unendliche Liebe. Sie hatte einen solchen Blick noch nie bei ihm gesehen. Auch nicht, wenn sie sich geliebt hatten – da war er wie ein Bär, der, satt vom Honig, sich auf die Seite rollt und zufrieden einschläft. »Ich war immer ein ungeduldiger Mensch.«

»Ja, das warst du, Wolferl.«

»Ich habe kein Gefühl in den Beinen.«

»Hast du das dem Arzt gesagt?« fragte sie vorsichtig.

»Ja.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Dasselbe wie du: ›Geduld, das wird schon wieder. Denken Sie an Ihren Hof. Auch dort braucht es eine Zeit, bis aus einem Saatkorn eine reife Ähre wird.‹«

»Das hat Dr. Anissimow gesagt?«

»Ja. Er machte mir Hoffnung.« Seine Augen wanderten zur Seite. »Da steht doch jemand hinter der Trennwand.«

»Ich bin es.« Frantzenow kam um die Bespannung herum. Er bemühte sich krampfhaft, fröhlich zu erscheinen. »Guten Morgen, Schwager. Von Tag zu Tag siehst du besser aus. Übrigens, so ein Bart steht dir gut. Er macht dich so würdevoll.«

Weberowsky versuchte ein Grinsen. »Erna, du hast einen Bruder, den man umarmen könnte. Leider ist er ein Russe.«

»Er kommt mit uns nach Deutschland, Wolferl.«

»Ist das wahr?« Weberowsky riß die Augen auf. »Du hast über unser Gespräch nachgedacht?«

»Nein. Eine Kugel hat mich überzeugt.«

»Ja, so ist das, Erna.« Er wandte den Kopf wieder seiner Frau zu. »Da muß man erst fast ermordet werden. Wann fahren wir, Schwager?«

»Sobald du wieder gehen kannst.«

»Ich werde den Ärzten zeigen, was ein Weberowsky kann. Paßt auf, ich werde schneller auf den Beinen sein, als alle glauben.«

»Das hoffen wir alle.« Erna drückte die Stirn gegen seinen Hals. Nicht weinen, befahl sie sich. Du darfst nicht weinen. Bleib stark. Aber ihr grauste vor dem Augenblick, in dem er die Wahrheit erfahren mußte. »Nächstes Jahr will Hermann heiraten, da mußt du wieder tanzen können.« Sie blickte hinauf zu Frantzenow, ein flehender, verzweifelter Blick. »Wolferl ist ein guter Tänzer. Nicht müde wird er. Bei jedem Tanz ist er dabei.«

Es war zu Ende mit ihrer Beherrschung. Sie sprang auf, lief hinter die Trennwand und drückte beide Hände auf ihren Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken. Weberowsky wurde unruhig.

»Was hat sie?« fragte er. Seine Stimme war leiser geworden, er war noch zu schwach, um länger sprechen zu können.

»Erna hat einen Schnupfen und will dich nicht anstecken«, antwortete Frantzenow geistesgegenwärtig.

»Weiß das der Arzt?«

»Natürlich nicht. Er hätte uns sonst nicht zu dir gelassen. Infektionsgefahr.«

»Ihr habt ja gar keine sterile Kleidung an. Gestern sah Erna aus wie die Arbeiterinnen in der Wurstfabrik von Atbasar.« Er gähnte und schloß dann die Augen. »Wo sind Hermann, Eva, Gottlieb, der Pfarrer und Kiwrin?« Er hielt die Augen geschlossen und spürte, wie er langsam wegglitt. Er stemmte sich dagegen und verlor dadurch nur noch mehr Kraft.

Die Erschöpfung war stärker als sein Wille. Sein Kopf fiel zur Seite. Besorgt blickte Frantzenow auf die Monitore an der Wand. Erna kam um die Trennwand herum.

»Schläft er?« flüsterte sie.

»Ja, es hat ihn doch sehr angestrengt. Er hat viel zuviel gesprochen. Aber er hat das Schlimmste überstanden. Es kann jetzt nur aufwärtsgehen.«

Erna verabschiedete sich von ihrem Mann mit einem Kuß auf die Lippen. Er spürte es nicht, die Erschöpfung hatte ihn in die Tiefe gezogen.

Dr. Anissimow wartete auf dem Flur und sah sie mit verkniffenem Mund an, als sie aus der Station kamen. Drei Schwestern und Dr. Koslow liefen an ihnen vorbei. Anissimow hatte sie bis jetzt zurückgehalten. »Sie gehen nicht hinein!« hatte er befohlen. »Wenn Weberowsky kollabiert, sind Sie Zeugen, daß es die Schuld dieser beiden ist.«

»Wie geht es dem Patienten?« fragte er jetzt.

»Er schläft«, antwortete Erna, bevor Frantzenow sie daran hindern konnte.

Wie erwartet, hob Anissimow drohend die Stimme: »So, er schläft?! Schläft ohne Injektion, schläft am Vormittag, wo er eigentlich wach sein sollte! Ist das normal? Sie haben ihn an den Rand des Grabes gebracht. Jetzt müssen wir ihn wieder zurückholen. Er schläft nicht, er ist besinnungslos geworden!«

Aus der Station kam Dr. Koslow. Wie ein Geier stürzte Anissimow auf ihn zu.

»Was ist?« rief er. »Komplikationen?«

»Er schläft tief und fest. Das Herz arbeitet kräftiger, der Blutdruck ist stabil. Ich hätte nicht gedacht …«

Dr. Anissimow gab keinen Laut von sich. Er drehte sich um, stieß die Glastür auf und verließ grußlos die Intensivstation. Dr. Koslow wartete, bis sie wieder zugeschwungen war.

»Ihr Mann hat sich wesentlich zum Guten verändert«, sagte er irritiert. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Ich habe ihn geküßt«, antwortete sie und lächelte wie verträumt. »Ich habe ihn nur geküßt.«

Sie blieben eine Woche in Ust-Kamenogorsk und besuchten jeden Tag den immer lebendiger werdenden Weberowsky. Dr. Anissimow verhinderte die Besuche nicht mehr, aber er ließ sich auch nicht blicken, solange die Familie am Bett saß. Er stellte nur fest, ohne mit den anderen Ärzten darüber zu sprechen, das war unter seiner Würde, daß es Weberowsky von Tag zu Tag besser ging, daß die Schwächeanfälle nachließen und daß sein eingefallenes Gesicht wieder aufblühte. Auch die Augen bekamen ein neues Leben, sie nahmen wieder teil am Geschehen um ihn herum.

Der Besuch von Pfarrer Heinrichinsky, der am fünften Tag zu Weberowsky durfte – so hatte es Erna bestimmt –, heiterte ihn noch mehr auf.

»Peter Georgowitsch«, sagte er, schon mit viel kräftigerer Stimme, »hast du fleißig für mich gebetet?«

»Nur ab und zu«, antwortete Heinrichinsky.

»Aha, darum bleibt das Wunder an mir aus!«

»Gott hat dich nicht sterben lassen. Das war der Anfang deines neuen Lebens. Jetzt mußt du selbst etwas daraus machen.«

»Ich bin dabei. Sobald ich aus dem Krankenhaus heraus bin, fliegen wir nach Moskau zur deutschen Botschaft und geben unsere Ausreiseanträge ab. Andrej Valentinowitsch wird auch dabeisein.«

»Ich weiß es.« Heinrichinsky behielt seine fröhliche Haltung. Er dachte nur: Wie bringt man ihm eines Tages bei, daß er nie wieder gehen kann? Wer sagt es ihm? Es wird ein Schock sein. »Vielleicht kann dein Schwager durch seinen internationalen Ruf das Verfahren beschleunigen. Vor einem großen Namen öffnen sich viele Türen.«

»Hast du schon Pläne? Hast du überlegt, was du machen willst?«

»Einen Pfarrer kann man immer brauchen.«

»Das stimmt. Ich kenne keinen arbeitslosen Pfarrer. Du bist versorgt. Aber ich und die anderen? Ob sie uns ein Stück Land geben? Haben sie überhaupt Land? Ich kann auch in einer Fabrik arbeiten, noch drei Jahre, dann bekomme ich Rente.«

»Warum jetzt darüber sprechen, Wolferl?« sagte Erna. Jeden Tag saß sie bei ihm am Bett, hielt seine Hand und hatte Angst, daß er entdecken könnte: Ich kann ja die Beine nicht mehr bewegen. Ich kann keine Faust mehr ballen. Ich kann mich nicht einmal auf die Seite drehen. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Erna, was ist los mit mir? Erna, sag mir die Wahrheit. Was sollte sie dann sagen? »Darüber nachzudenken haben wir noch viel Zeit. Laß uns erst in Deutschland sein.«

»Ich will mit einem festen Plan hinüberkommen. Ich will nicht warten, bis sich ein Beamter an mich erinnert. Ich will arbeiten.«

Es war schrecklich, ihm zuzuhören und ihm Mut zu machen. »Es wird noch genug Arbeit geben«, erwiderte Heinrichinsky. »Sie lassen uns doch nicht umsiedeln, wenn in den Bonner Ministerien nicht genaue Pläne vorliegen.«

Am sechsten Tag durfte endlich Kiwrin zu Weberowsky. Er war tief beleidigt, daß alle schon Wolfgang Antonowitsch gesprochen hatten. Ihn hatte man mit der Ausrede, er ist noch zu schwach für dich, immer wieder vertröstet. Aber nun war es soweit. Kiwrin begleitete Erna ins Krankenhaus.

Weberowsky war vorbereitet. Er hatte den Kopf zur Trennwand gedreht. Als Kiwrin um sie herum kam und an das Bett trat, sagte er mit großer Freude:

»Da bist du endlich, du Stinktier.«

Und Kiwrin antwortete, ebenso freudig: »Du mußtest erst kräftiger werden, du Bauerntrottel! Jetzt geht's dir gut, wie ich sehe.«

Und dann erzählte er. Von Atbasar, wo es in einer Metzgerei gebrannt hatte, und die Feuerwehr kam angerast und merkte erst am Brandort, daß der Tankwagen ohne Wasser war. Als aber der Brand endlich gelöscht war und die Feuerwehr abrückte, fehlten dem Metzger aus dem unversehrten Kühlhaus drei Schweinehälften und zwei Rinderfilets. Zwei Tage später gab es auf der Feuerwache hinter verriegelten Türen ein großes Fressen mit Schweine- und Rinderbraten und Wodka, und es war ein Glück, daß an diesem Abend nirgendwo ein Feuer ausbrach … es hätte keiner mehr eine Spritze halten können. Und die Beljakowa verzichtete auf ein neues Flugblatt, nachdem man ihr von dem Attentat auf Weberowsky erzählt hatte. Sie hatte noch immer nicht den Fleischbeschau-Stempel abwaschen können, es mußte eine besondere Farbe sein, die in die Haut eindrang, und der Arzt von Atbasar hatte zu ihr gesagt, daß sie wohl bis an ihr Lebensende mit diesem Stempel herumlaufen würde, es sei denn, man würde ihn herausschneiden. Da habe sie einen Schrei ausgestoßen und sei aus der Praxis geflohen.

Weberowsky lachte in einem fort, auch wenn das Lachen jedesmal Stiche in seiner Brust auslöste. Dann mußte er husten, und ein krampfartiges Zucken durchzog seine Schultern. Nur sein Körper regte sich nicht, so als sei er gar nicht vorhanden. Es lebte nur sein Kopf.

»Jetzt ist es genug«, sagte Erna, als Kiwrin begann, von einem Liebespaar aus Atbasar zu erzählen, das sich am Waldrand in ein Ameisennest legte. »Wolferl hat genug gelacht. Er hustet schon wieder! Es strengt ihn zu sehr an. Mach Schluß, Michail Sergejewitsch.«

Kiwrin sah das ein, leistete keinen Widerstand, klopfte Weberowsky auf die Schulter und sagte: »Das war's, du Fleischstempler. Ich komme morgen wieder. Verdammt will ich sein, wenn wir dich nicht bald aus diesem Stall hier abholen können! Da können die Mediziner noch so gelehrte Vorträge halten, die beste Therapie ist das Lachen. Weiter so, Wolfgang Antonowitsch!«

»Komm morgen bestimmt wieder, du Halunke!« erwiderte Weberowsky. Und als Kiwrin um die Trennwand verschwunden war, sah er Erna strahlend an. »Kiwrin ist ein fabelhafter Mensch. Er hat recht, ich fühle mich viel wohler. Seine Frechheiten stecken an.«

Erna nickte. So ist es, dachte sie. Ich sitze hier am Bett und küsse ihn und wische ihm den Schweiß von der Stirn, und er nimmt es dankbar hin. Er erwartet nichts anderes. Aber dann kommt ein Kumpel wie Kiwrin, erzählt erfundene Geschichten, über die man lachen kann, und dann heißt es: Ich fühle mich gleich wohler.

Und wieder grauste es ihr vor der Stunde, in der sie zu ihm sagen mußte: Wolferl, du wirst nie wieder gehen können. Du kannst das Bett nie mehr verlassen, aber wir werden dich überall hinbringen, wohin du willst.

Auch nach Deutschland? dachte sie.

Sie sah Wolfgang in das entspannte Gesicht. Kiwrins Geschichten wirkten in ihm nach. Sie kniff die Lippen entschlossen zusammen.

Nein! Nicht mehr nach Deutschland.

Acht Wochen lag Weberowsky im Krankenhaus von Ust-Kamenogorsk. Erna, die Kinder, der Pfarrer und Kiwrin waren zurück nach Atbasar gefahren, und sie brauchten diesmal drei Tage, weil der Bus den Auspuff verlor, ein Reifen sich in Fetzen auflöste und zweimal das Kühlwasser kochte. An der vierten Tankstelle kam es zu einer Schlägerei. Als der Tankwart den Bus halten sah, stürzte er aus seinem Häuschen, eine Eisenstange in der Hand. Da zeigte Hermann, was er in der Boxstaffel der Universität gelernt hatte. Mit fünf Hieben legte er den rabiaten Tankwart auf den Boden, aber vorher erhielt Kiwrin am Kopf noch eine Beule, weil er, Hermann zu Hilfe eilend, in die schwingenden Fäuste des Tankwartes geriet.

Aber sie erreichten Atbasar in bester Gesundheit. Kiwrin fuhr sie noch nach Nowo Grodnow, kehrte dann zum Fuhrpark der Stadt Atbasar zurück, stellte den Bus mitten auf dem Parkplatz ab und wartete, bis der Fahrzeugmeister zu ihm kam.

»Da sind Sie ja wieder«, meinte der erfreut. »Na, wie war die Fahrt? Wie sieht es da unten aus? Waren Sie auch an der chinesischen Grenze?«

»Ich brauche zehn Stangen Dynamit«, antwortete Kiwrin finster.

»Dynamit? Wozu denn?«

»Ich muß dieses Aas von Bus in die Luft sprengen!«

Der Wagenmeister starrte Kiwrin voll Entsetzen an. »Michail Sergejewitsch«, rief er, »was hat Ihnen mein Adlerchen getan?«

»Adlerchen?! Ein blinder Uhu ist er! Dynamit her!«

»Adlerchen mag alt sein, alt werden wir alle. Kann ich Sie in die Luft sprengen, wenn Sie klappernd am Stock gehen? Besorgen Sie mir einen besseren Bus! Dann stelle ich Adlerchen als Laube in meinen Garten. Von Atbasar nach Ust-Kamenogorsk und zurück … so einen weiten Weg ist er noch nie gefahren! Immer nur durch die Stadt. Bus Nummer 1 war er. Darauf war er stolz. Und nun, auf einmal, im geruhsamen Alter, diese irre Strecke. Man muß das psychologisch sehen –«

Kiwrin ließ ihn stehen und ging wortlos davon.

Es gibt mehr Verrückte, als wir ahnen, dachte er. Eines Tages ist die ganze Welt meschugge … wird das ein Leben! Und er freute sich, daß er so normal war.

In Ust-Kamenogorsk blieb Professor Frantzenow zurück. Dr. Anissimow entließ ihn so früh wie möglich aus dem Krankenhaus. Weberowsky hatte den Schuß überstanden, die Wunde hatte sich geschlossen, sie näßte nicht mehr und brauchte nicht mehr ausgesaugt zu werden. Ein Teil der Schläuche wurde entfernt, nur die Monitore blieben angeschlossen; die Infusionen wurden reduziert, und dann kam der Tag, an dem Anissimow an Weberowskys Bett saß, eine Schwester eine lauwarme Suppe brachte und Anissimow sagte:

»So, und jetzt wollen mir mal sehen, wie es mit dem Schlucken ist.«

Die Schwester hob Weberowskys Kopf an, und Anissimow selbst hielt ihm die Schnabeltasse an die Lippen und schob den Stutzen in seinen Mund. Vorsichtig kippte er die Tasse, ein wenig Suppe lief in den Mund.

»Schlucken«, sagte Anissimow.

Und Weberowsky schluckte. Es ging mühelos, er trank die ganze Tasse Suppe aus. Anissimow atmete auf und klopfte Weberowsky erfreut auf die Schulter.

»Hervorragend! Fabelhaft!« sagte er. »Ab heute essen Sie normal. Die Ernährungssonde können wir vergessen. Schwester Larissa wird Sie füttern.«

»Warum kann ich nicht allein essen? Warum kann ich meine Arme noch nicht heben?« Weberowsky sah Anissimow mit plötzlicher Angst an. »Das ist doch nicht normal.«

»Es hängt mit den Nerven zusammen«, erklärte Anissimow ausweichend. Und er sagte damit noch nicht einmal die Unwahrheit. Es waren ja wirklich die Nerven, nur waren sie zerrissen. »Alles muß seine Zeit haben. Nerven sind das Empfindlichste, was wir im Körper haben. Sie dürfen nicht ungeduldig werden, Wolfgang Antonowitsch.«

Weberowsky gab sich zunächst mit dieser Vertröstung zufrieden. Aber er grübelte nach, versuchte, die Arme zu heben, wollte das Tuch, das seinen Körper bedeckte, etwas tiefer treten, versuchte, die Beine zu bewegen, bemühte sich, im Bett höher zu rücken und sich aufzurichten … es bewegte sich nichts. Sein Körper gehorchte nicht mehr seinem Willen. Er blieb unbeweglich.

Aber er fragte Dr. Anissimow nicht mehr. Er wurde wortkarg, ließ sich von Schwester Larissa, einer hübschen Kasachin mit langen, schwarzen Haaren und feurigen Augen, füttern wie ein Säugling, und in seinem zerknitterten Gesicht vertieften sich die Falten.

In der sechsten Woche, als Frantzenow wieder an seinem Bett saß und ihm berichtete, daß das Ministerium in Moskau ihn beurlaubt hatte, trotz eines Protestes von Nurgai, fragte Weberowsky ihn:

»Andrej, bist du ehrlich gegen mich?«

»Ich habe dich noch nie belogen, Schwager.«

»Du bist beurlaubt worden, weil du geschrieben hast, du müßtest mich pflegen.«

Frantzenow nickte. »Ja, Wolfgang. Ich will Erna dabei helfen. Sie fühlt sich stark genug, aber ich glaube nicht, daß sie es durchhält.«

»Du weißt es, Andrej. Ich höre es aus deinen Worten. Sag mir die Wahrheit! Ich kann die Arme nicht bewegen, die Beine nicht, den ganzen Körper nicht … bin ich querschnittgelähmt?«

Frantzenow atmete tief durch. Nun ist es soweit. Wie gut, daß ich ihm es sagen muß und nicht Erna. Er beugte sich vor, legte seine Hand auf Weberowskys rechte Wange und küßte ihn auf die linke.

»Ja.«

Weberowsky schloß die Augen. Frantzenow streichelte sein Gesicht, seine Hand zitterte dabei. Es waren die schrecklichsten Minuten seines Lebens. Als Weberowsky die Augen wieder aufschlug, lag keine Panik, keine Angst, keine Verzweiflung in ihnen.

»Weiß Erna es?« fragte er leise.

»Ja.«

»Wie … wie hat sie es aufgenommen?«

»Tapfer. Sehr tapfer. Sie baut jetzt euer Haus um. Breitere Türen, ein Durchbruch zum Garten. Kiwrin hat aus Karaganda ein Spezialbett herangeschafft, mit dem man dich überall hinrollen kann; Hermann hat an allen Türen Sensoren angebracht, die eine Tür automatisch öffnen, wenn du dich ihr näherst. Er ist dafür extra nach Kiew geflogen, wo eine Spezialfabrik diese Sensoren herstellt, und Eva hat einen Kochkurs in Karaganda mitgemacht und wird zur Diätköchin ausgebildet. Ja, und Gottlieb, es ist nicht zu fassen, versorgt den Hof, pflügt die Äcker um, sät die Saat aus, als habe er nie etwas anderes getan. Du kannst stolz auf deine Kinder sein. Und du hast eine Frau, vor der man den Hut ziehen kann. Alle warten auf dich.«

»Ich werde nie wieder laufen können?« fragte Weberowsky und starrte an die Decke.

»Nein, Schwager.«

»Mich nie mehr hinsetzen können?«

»Nein.«

»Ich muß für immer im Bett liegen?«

»Ja.«

»Ich werde nie mehr einen Traktor fahren?«

»Nie mehr.«

»Nie mehr reiten?«

»Das macht die Welt nicht aus.«

»Ich bleibe für immer ein Krüppel?«

»So darfst du das nicht nennen. Das ist ein böses Wort.«

»Ich bin ein sechzigjähriger Säugling, der trockengelegt, gewickelt und gefüttert wird – Andrej!«

Es sollte ein Hilfeschrei sein, aber er erstickte in einem Gurgeln. Frantzenow umklammerte Weberowskys Kopf. Das ist der Schock, durchfuhr es ihn und ließ ihn frieren. Gott, laß ihn darüber hinwegkommen. Laß ihn leben!

Und dann sah er, wie sich aus den geschlossenen Lidern zwei dicke Tropfen lösten und über die eingefallenen Wangen liefen, und wie noch weitere Tropfen hervorquollen und in einer Faltenrinne zum Kinn flossen.

Weberowsky weinte … lautlos, starr und sein Schicksal begreifend.

Nach acht Wochen Intensivstation entschied Dr. Anissimow, daß Weberowsky nach Hause gebracht werden konnte. Er untersuchte ihn noch einmal gründlich, prüfte die Reflexe an Beinen und Rumpf, obwohl er wußte, daß es keine mehr gab. Er stach Nadeln in die Beine, den Oberschenkel, den Leib, in den Bauch … Weberowskys Körper reagierte nicht mehr, er spürte keinerlei Schmerz mehr, die Nerven waren durchtrennt. Man hätte einen brennenden Lappen auf ihn legen können, er würde nichts spüren. Nicht die geringste Sensibilität war mehr in diesem Körper. Ein Haufen Fleisch und Knochen, nur die inneren Organe arbeiteten wie bisher.

»Ich bin zufrieden mit Ihnen«, sagte Dr. Anissimow und klopfte Weberowsky auf die Brust. Auch diesmal log er nicht. Man mußte mit dem zufrieden sein, wie es war. Mehr konnte man nicht erwarten. »Sie können nach Hause.«

Dreimal in diesen acht Wochen hatte Weberowsky Besuch von General Wechajew erhalten. Er brachte Kuchen mit, süß, mit einer rosa gefärbten Zuckerglasur, und beim drittenmal eine Art Osterkuchen, wie ihn die Bauern backen und in der Osternacht zur Kirche bringen, um einen Teil den Popen zu schenken und den anderen Teil segnen zu lassen.

Wechajew berichtete, daß man die Nomaden nicht gefunden hatte und auch den Mörder von Sliwka nicht. Man wußte nur, daß er mit einer fremden Waffe erschossen worden war, aber die Experten waren sich nicht einig, ob es sich um eine amerikanische oder israelische Waffe handelte. Die amerikanische Kommission hatte vor einer Woche Kirenskija verlassen, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß alle Atomsprengköpfe nach Rußland abtransportiert worden waren, wo sie vernichtet werden sollten.

»Was nun aus Kirenskija wird, weiß niemand«, fuhr Wechajew fort. »Atomare Versuche finden nicht mehr statt. Und wir als Truppe sind völlig überflüssig geworden, es gibt nichts mehr zu bewachen und abzuschirmen. Auch über eine neue Verwendung gibt es nur Spekulationen. In Alma-Ata will man, daß alle russischen Verbände Kasachstan verlassen. Man will als unabhängiger Staat auch eine eigene Armee haben. Unser Präsident träumt von einer Großmacht, keiner weiß, wieviel Atombomben und Atomraketen er versteckt hat. Jelzin wird es schwer haben mit seinen Reformen, auch wenn er jetzt, nach dem mißlungenen Putsch gegen Gorbatschow, fast alle Macht auf sich vereinigt. Die Ukraine macht ebenfalls Sorgen. Leonid Krawtschuk hat den durch das START-Abkommen notwendig gewordenen Abtransport der taktischen Atomwaffen zur Vernichtung in Rußland eingestellt. Außerdem beansprucht er das Kommando über die Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert ist. Auch er phantasiert von einer Großmacht Ukraine. Jelzin hat dem amerikanischen Präsidenten Bush versprochen, daß alle russischen Republiken bis 1994 atomwaffenfrei sind, aber viele zweifeln daran, daß er das Versprechen einhalten kann. Die Lage in Rußland ist zur Zeit chaotisch. Das wirkt sich natürlich auch auf die Rußlanddeutschen aus. Kasachstan möchte sie aus dem Land haben, an der Wolga protestieren die Bauern gegen eine rußlanddeutsche Republik, und Ihre Heimat, Deutschland, redet zwar viel von der Heimkehr ihrer Brüder, aber sie tut alles, um die Aussiedlung zu erschweren.«

»Ich weiß es, General.« Weberowsky blickte ins Leere. »Bergerow hat mir alles erklärt. Aber vielleicht ändert sich das mit der Zeit. Bergerow ist dabei, Zeitungen, Illustrierte, Fernsehen und Funk, die uns bisher nur am Rande erwähnten, von den Problemen zu unterrichten. Eine breite öffentliche Meinung wird Bonn bewegen, schneller zu arbeiten.«

»Wenn ich Ihnen bei der Ausreise helfen kann, werde ich das gerne tun«, versprach General Wechajew zum Abschied beim dritten Besuch. Von Dr. Anissimow hatte er erfahren, daß Weberowsky nie mehr sein Bett verlassen konnte. »Der Anschlag ist in meinem Befehlsgebiet erfolgt. Ich bin verpflichtet, Ihnen beizustehen. Das fordert meine Ehre als Offizier.«

Nun, da Weberowsky nach Nowo Grodnow entlassen werden sollte und man überlegte, wie der weite Transport stattfinden könnte, löste General Wechajew sein Ehrenwort ein.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Ewald Konstantinowitsch«, sagte er am Telefon zu Bergerow. »Weberowsky schwebt auf Schwingen nach Hause. Ich stelle einen Hubschrauber zur Verfügung. Morgen früh landet er bei Ihnen auf der Wiese hinter dem Haus. Ich werde den Transport dem Oberkommandierenden gegenüber verantworten.« Bergerow rief sofort in Nowo Grodnow bei Pfarrer Heinrichinsky an: »Morgen kommt er.«

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Wolfgang Antonowitsch kommt zurück. Auch Kiwrin wurde benachrichtigt. Er probierte sofort seinen Festanzug mit den Orden an, ob er noch paßte. Er war ein wenig enger geworden, aber saß jetzt, als sei er nach Maß gemacht. »Vater kommt morgen!« rief Erna, als Heinrichinsky ihr die Nachricht überbrachte. Sie lief durch das umgebaute Haus und rang die Hände. »Und nichts ist fertig! Überall noch Bauschutt! Eine Wand muß noch gestrichen werden! Wie soll ich das schaffen? Morgen kommt Vater zurück.«

»Wir schaffen es, Mama«, sagte Hermann beruhigend. »Wir haben noch einen halben Tag und eine ganze Nacht vor uns.« Er zögerte: »Ich will dich etwas fragen.«

»Dann frag, aber mach schnell! Ich will die Wand streichen.«

»Iwetta Petrowna möchte auch helfen.«

»Deine Braut? Sie hat sich über ein Jahr nicht blicken lassen. Ich denke, sie will nichts mit uns zu tun haben?«

»Vaters Schicksal hat sie tief erschüttert. ›Ich weiß jetzt‹, hat sie gesagt, ›ich gehöre zu euch. Ich war dumm. Meinen Großvater haben die Deutschen erschossen, das konnte ich nicht vergessen. Ob deine Eltern mich hinauswerfen, wenn ich jetzt komme?‹ Das hat sie gesagt.« Hermann blickte seine Mutter fragend an. »Darf sie kommen, Mama?«

»Ich hab' nichts dagegen.«

»Sie ist Arbeit gewöhnt. Wir werden zusammen den Bauschutt wegbringen und alles saubermachen. Und die Wand wird nachher Gottlieb streichen, wenn er vom Pflügen zurückkommt. Eva wird Hühner schlachten. Papas Heimkehr soll ein kleines Fest werden.«

»Und was soll ich tun?« fragte Erna und setzte sich auf die Eckbank. »Alle Arbeit nehmt ihr mir weg. Bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen?«

»Mama, du hast die Oberaufsicht.«

»Aber wer befiehlt hier? Du!«

»Das ist das Vorrecht des ältesten Sohnes, wenn er den Vater ersetzen muß.« Er lachte und nahm seine Mutter in die Arme. »Ich weiß, für dich ist Vater unersetzbar. Auch für uns. Ich weiß, was du tun kannst, Mama.«

»Was bitte?«

»Du gehst zum Friseur und läßt dir eine tolle Frisur machen. So eine moderne, weißt du. Mit Löckchen in der Stirn und hinten kurz.«

»Du bist verrückt, Hermann! In meinem Alter.«

»Du bist doch nicht alt, Mama. Mit fünfundfünfzig ist eine Frau von heute doch nicht alt! Zeig Papa, wie schön du sein kannst. Es wird ihm Mut geben, das schwere Leben zu ertragen. Eine schöne Frau kann da viel tun.«

Und Erna ging zum Friseur.

»Ludwig Viktorowitsch«, sagte sie zu ihm, »kannst du mehr als diese Einheitsfrisuren machen?«

»Es wird ja nichts anderes verlangt, Erna Emilowna. Natürlich kann ich mehr.«

»Löckchen in die Stirn und hinten modisch kurz?«

»Kann man machen.«

»Blondieren?«

»Auch. Ich weiß nur nicht, ob ich noch Farbe habe. Das letztemal hat sich Lore die Haare färben lassen. Das war vor drei Jahren. Seitdem hat keiner mehr nach Farbe verlangt. Wenn wir Glück haben, liegt noch eine Tube herum.«

»Und hast du Puder da? Und so einen Stift für Lidstriche?«

»O Gott, was verlangst du? Was hast du vor, Erna? Was ist mit dir los?«

»Wolferl kommt morgen nach Hause, das weißt du doch.«

»Und da willst du aussehen wie eine Filmdiva!«

Film, Schauspiel – das ist es! »Wir haben alles, was wir brauchen, Ludwig. Puder, Make-up, Lidstrich, Augenbrauenstift …«, rief sie. »Unsere Theatergruppe, die hat doch alles!«

Friseur Ludwig Viktorowitsch rannte los zum Leiter des Nowo Grodnower Laienspieltheaters und kam mit einem Korb voll Döschen und Tiegeln und Kästchen zurück. »Einen schönen Gruß von Emil Lukanowitsch!« rief er. »Und wir sollen nicht zuviel nehmen, er braucht die Schminke für das nächste Theaterstück. Es heißt ›Der Förster vom Schwarzen Wald‹, und sie müssen viel dabei weinen. Das kostet Schminke. Die Tochter vom Förster bekommt ein uneheliches Kind, und …«

»Ludwig, fang an!« unterbrach ihn Erna energisch. »Wir spielen jetzt nicht Theater.«

Es dauerte drei Stunden, dann war die neue Frisur fertig und das Gesicht behandelt. Lidstrich, Augenbrauen, Makeup, rote Lippen. Ludwig Viktorowitsch war stolz auf sein Werk.

»Du bist schöner als die Loren«, sagte er. »Attraktiver als Rachel Welsh.« Er hatte beide im Kino von Atbasar gesehen und hatte sich ein Filmplakat erbettelt. Sie hingen im Friseurgeschäft an der Wand. »Ich würde dich glattweg für eine Hauptrolle engagieren.«

Mit gemischten Gefühlen ging Erna nach Hause. Je näher sie ihrem Haus kam, um so langsamer wurde ihr Schritt. Sie hörte Hämmern und das Tuckern des Traktors, dann sah sie, wie Hermann und seine Braut Iwetta den Bauschutt auf den Anhänger schaufelten. Sie schlich sich durch den neuen Garteneingang ins Haus und stieß auf Gottlieb, der auf einer Leiter stand und die Wand hellgelb strich. Er starrte seine Mutter an, der Pinsel fiel aus seiner Hand, und einen Augenblick war er sprachlos.

»Ein schönes, warmes Gelb«, lobte Erna. »Hast du etwas Ocker zugemischt?«

»Mama –«

»Ja?«

»Wie siehst du denn aus?«

»Wie soll ich aussehen?«

»Bist du verrückt geworden?! Wer hat das gemacht?«

»Ludwig Viktorowitsch, wer sonst?«

»Ich drehe ihm den Hals um!«

»Warum denn?«

»Guck doch mal in einen Spiegel! Du bist nicht mehr du! Du bist nicht mehr meine Mutter. Du siehst aus wie ein Revuegirl! Was wird Vater sagen?!«

»Für ihn habe ich es doch getan. Hermann hat mich auf den Gedanken gebracht.«

Gottlieb klammerte sich an der Leiter fest. »Hermann!« schrie er. »Hermann, Mutter ist da! Komm her!«

Hermann unterbrach das Schuttschaufeln und kam ins Haus. Erna sah ihm gespannt entgegen. Zuerst stutzte er, aber dann rief er:

»Mama, du siehst fabelhaft aus! Zwanzig Jahre jünger! Dir glaubt keiner die fünfundfünfzig. Was sagst du dazu, Gottlieb?«

»Ich möchte dir in den Hintern treten, jetzt sofort. Ist das noch Mama?«

»Verjüngt. Ich könnte mich in sie verlieben. Was hast du zu meckern, Brüderchen? Wenn sie so durch Moskau geht, laufen ihr alle Männer nach.«

»Und Vater liegt steif im Bett, ein Fleischklumpen mit einem Kopf drauf. Glaubst du, es freut ihn, wenn Mama immer jünger wird und er immer elender? Jedesmal, wenn er Mama sehen wird, ist es eine Ohrfeige für ihn, wird ihm wieder vorgeführt, wie nutzlos er da herumliegt.«

»Gottlieb hat recht«, sagte Erna. Ihre Stimme war so klein wie damals, als sie die Wahrheit über Wolferls Zustand erfahren hatte. »Es war gut gemeint.«

Sie ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. »Komm von der Leiter!« knirschte Hermann. Gottlieb schüttelte den Kopf.

»Warum? Die Wand muß fertig werden.«

»Komm freiwillig, oder ich hole dich runter!« Hermann trat an die Leiter und rüttelte sie. Oben hielt sich Gottlieb an der Wand fest.

»Soll ich mir das Genick brechen?« rief er. »Laß das, Hermann.«

»Wenn du nicht runterkommst, brichst du dir das Genick!«

»Haben wir mit einem Querschnittgelähmten nicht genug?«

Von draußen kam Iwetta Petrowna herein, erfaßte sofort die Situation und riß Hermann von der Leiter fort. »Mein Schatz«, sagte sie mit ihrer warmen Stimme. »Reg dich nicht auf. Was auch ist, man kann doch darüber sprechen.« Hermann wurde ruhiger. Iwettas Nähe, ihre Stimme, ihre Anschmiegsamkeit und Schönheit verzauberten ihn jedesmal. Sie hatte eine große Macht über ihn, die sie, wenn nötig, klug einsetzte. Auch jetzt wirkten ihre Worte und ihr warmer Ton.

»Wir reden noch miteinander«, sagte er zu Gottlieb hinauf. »Du hast Mama sehr weh getan.«

»Und du hast einen Popanz aus ihr gemacht! Mama als Kapitalistenmäuschen!«

»Hör auf mit deinen dämlichen Parteiparolen! Das ist überholt. Das ist leeres Stroh von gestern.«

»Die Partei ist stärker als je zuvor!«

»Idiot! Trottel!«

»Pfui!« sagte Iwetta und zog Hermann aus dem Haus.

»Verzeih, mein Liebling.« Er küßte sie auf die von Staub gepuderten Lippen. »Aber einmal muß es heraus. Gottlieb ist ein Problem. Wie ein Schizophrener ist er mal so, mal anders. Er hat geweint, als er Vater im Krankenhaus sah, aber draußen hat er dann gesagt: ›Der Alte ist es selbst schuld. Was brauchte er nach Ust-Kamenogorsk zu fahren?‹ Ich hätte ihn da zusammenschlagen können, aber Mutter war dabei.«

Sie arbeiteten bis tief in die Nacht, und das Haus war sauber und wie neu. Die Nachbarn waren am Abend gekommen und hatten Blumen gebracht, Gebäck und eingelegtes Obst, der Theaterverein brachte eine lange Blumengirlande, die jetzt über der Tür hing. Ein Schild wurde angebracht: Herzlich willkommen, Wolfgang Antonowitsch. Im einzigen Wirtshaus des Dorfes übte die Blasmusikkapelle deutsche Märsche, die Weberowsky so sehr liebte, vor allem den Reitermarsch des alten Dessauer. Der Kranke würde begeistert sein.

Erna hatte das Make-up abgewaschen, nur die Frisur war nicht mehr zu ändern, den neuen Schnitt konnte man nicht rückgängig machen.

»Das ist ein Kompromiß, den ich gelten lasse«, meinte Gottlieb zufrieden. »Gegen die Frisur habe ich nichts. Sie steht dir wirklich fabelhaft. Nur Lidstrich, Schminke, Puder, Lidschatten, knallrote Lippen – Mama, das ist nichts für dich. So wie du bist, bist du sowieso die schönste Frau im ganzen Bezirk.« Er blickte hinüber zu Hermann, der mit Iwetta am anderen Ende des Tisches saß. »Gib zu, Bruder, daß ich recht habe.«

»Es war mal etwas anderes«, wich Hermann aus.

»Ja, das falsche.« Gottlieb lehnte sich zurück. Im Haus roch es nach frischer Farbe, man würde die ganze Nacht lüften müssen. Im Schlafzimmer war das von Kiwrin besorgte Spezialbett bezogen, ein Kipp- und Hebebett mit lautlosen Gummirollen. Es war ein älteres Modell aus dem Abstellkeller des Krankenhauses von Karaganda, trotzdem hatte Kiwrin 1.000 Rubel Schmiergeld zahlen müssen, um es zu bekommen. Alles war vorbereitet für den großen Empfang. »Wann landet Vater morgen?«

»Bergerow wird Peter Georgowitsch anrufen, sobald sie in der Luft sind.«

»Und wie lange braucht so ein Hubschrauber bis zu uns? Das mußt du doch wissen, Hermann, als Ingenieur.«

»Es kommt auf den Typ an. Es kann vier bis fünf Stunden dauern, wenn sie zwischenlanden müssen. Ich glaube nicht, daß sie für tausend Kilometer Sprit im Tank haben.«

»Hoffentlich geht es ihnen nicht wie uns mit dem Bus.«

»Keine Sorge, das ist Militär. Die tanken auf eigenen Flugplätzen.«

In der Nacht fand Erna keinen Schlaf, so müde sie auch war. Sie blickte auf das eiserne, weiß lackierte Hebebett und stellte sich ihren Wolferl darin vor, lang ausgestreckt, auf dem Rücken, unbeweglich bis auf den Kopf. Und in der Nacht würde er rufen: »Ich habe Durst, Erna!«, und sie würde ihm Tee einflößen. Und dann mußte sie all das lernen, was man für die Pflege eines Querschnittgelähmten brauchte und was ihr Dr. Anissimow erklärt hatte. Seine Sachlichkeit dabei hatte ihr viel geholfen, ihre Verlegenheit zu überwinden. Es würden schwere Wochen sein, diese ersten Wochen zu Hause. Und aufpassen mußte man, daß er sich nicht wund lag, daß sich keine Druckstellen bildeten, die Dr. Anissimow Dekubitus nannte, Druckgeschwüre, die das Gewebe durchfraßen. Erna hatte sich alles notiert und auch die Stellen, wo der Dekubitus am meisten auftrat: Am Kreuzbein und an den Fersen, vornehmlich da, wo die Knochen unmittelbar an der Haut anliegen. Und Anissimow schickte vier große aufblasbare Gummiringe mit, auf denen Weberowsky liegen mußte, um das Durchliegen zu vermeiden.

Das alles ging Erna im Kopf herum, was es ihr unmöglich machte, einzuschlafen. Erst gegen Morgen fiel sie in einen Dämmerschlaf, aber zuvor hörte sie sich noch einmal sagen: »Heute kommt er. Heute kommt Wolferl nach Hause. Heute.«

Um sieben Uhr früh rief Bergerow aus Ust-Kamenogorsk bei Pfarrer Heinrichinsky an.

»Sie starten!« rief er ins Telefon. »Ein Militärarzt und Frantzenow fliegen mit. Es ist ein großer Hubschrauber. Sie rechnen mit vier Stunden Flugdauer.«

»Dann können sie um elf Uhr hier sein«, rechnete Hermann aus. »Peter Georgowitsch, rufen Sie Kiwrin an?«

Der Pfarrer nickte. »Das werde ich gleich tun.«

Es dauerte eine Weile, bis Kiwrin ans Telefon kam. Er lag um diese Zeit noch im Bett – und nicht allein. Jana Sabarowskaja leistete ihm Gesellschaft. Sie war Angestellte der Stadtverwaltung, ein kleines, achtundzwanzigjähriges Biest, das sich zum Ziel gesetzt hatte, Kiwrin zu heiraten. Nur Kiwrin wußte nichts davon.

Heinrichinsky sagte nur zwei Worte, sie genügten:

»Er kommt.«

Kiwrin sprang aus dem Bett und rannte ins Badezimmer. Die schöne Jana starrte ihm verständnislos nach.

»Was ist?« rief sie. »Wer hat da angerufen? Was ist passiert?«

»Schlaf weiter!« rief er zurück. »Ich muß weg! Ein wichtiger Staatsakt.«

»So plötzlich?«

»Aktuelle Dinge sind immer plötzlich. Aber das verstehst du nicht.«

Innerhalb von zehn Minuten war er fertig angezogen und warf sich in seinen Dienstwagen, einen alten Moskwitsch. Auf der Straße, die auch an der Sowchose vorbeiführte, überholte er Katja Beljakowa. Sie saß auf einem Wagen mit einem Maulesel davor. Kiwrin hupte und hielt an, als er sie winken sah.

»Übst du für ein Autorennen?« rief sie ihm zu. »Du machst sogar den Esel wild.«

»Ich muß nach Nowo Grodnow.«

»So eilig? Gibt's dort eine Revolution?«

»Wolfgang Antonowitsch kommt zurück. Mit einem Hubschrauber.«

»Ist er noch immer gelähmt?«

»Er wird es immer bleiben. Er liegt stocksteif da. Kann nur noch den Kopf bewegen.«

Die Beljakowa ruckte ihr Kopftuch zurecht und wischte sich über die Augen. »Nimmst du mich mit?«

»Wohin?« fragte Kiwrin dumm.

»Nach Nowo Grodnow.«

»Bist du verrückt?«

»Ich will dabei sein, wenn er kommt.«

»Soll er bei deinem Anblick einen Herzschlag bekommen?«

»Er wird sich freuen. – Nimm mich mit, Michail Sergejewitsch, oder ich erzähle in Atbasar, daß Jana Sabarowskaja in deinem Bett liegt.«

Kiwrin sträubten sich die Haare. »Woher weißt du das?« schrie er.

»Ich weiß alles.« Die Beljakowa stieg vom Wagen, band den Maulesel an einen dürren Baum und kam zu Kiwrin an den Moskwitsch. »Nimmst du mich jetzt mit?«

»Ich lasse mich nicht erpressen!«

»Noch eine Information … kann ich dann einsteigen?«

»Es kommt auf den Inhalt an.«

»Deine Jana schläft auch mit dem Buchhalter und dem Straßenreferenten der Verwaltung. Ein fleißiges Mädchen.«

Kiwrin stieß die Tür auf. »Komm rein!« sagte er heiser. Die Beljakowa stieg in das Auto. Als sie sich in das Polster fallen ließ, ächzte der ganze Wagen. Die Federn knirschten.

Seufzend fuhr Kiwrin wieder an und überlegte, wie er die Beljakowa los wurde, bevor er Nowo Grodnow erreichte. Aber er wußte keine Lösung, zumal sie ihre Drohung wahrmachen würde. Der Verlust an Ansehen war nie wieder gutzumachen.

Kiwrin hielt den Wagen vor Weberowskys Haus an. Einige Nachbarn bauten in der Scheune Tische und Bänke auf, denn man erwartete ein richtiges Fest. Alle trugen ihre Tracht, die Frauen lange, weite Röcke, die beim Tanz einen Kreis um sie bildeten.

»Schön«, sagte die Beljakowa und zeigte auf die Girlanden und das Schild über der Tür. »Wolfgang Antonowitsch hat es verdient.«

»Ich bin sprachlos.« Kiwrin blieb noch im Auto sitzen. Solange er im Wagen blieb, stieg auch die Beljakowa nicht aus. »Erst willst du ihn erschießen, dann druckst du Flugblätter gegen ihn, führst einen Prozeß gegen ihn, schreist überall herum, ich hasse ihn, und jetzt redest du, als sei nichts gewesen.«

»Er ist gelähmt.« Die Beljakowa legte die Hände in den Schoß. »Er kann mir nichts mehr tun. Ich habe Ruhe vor ihm. Das ist doch wert, gefeiert zu werden.«

»Du bist das größte Luder unter der Sonne!« antwortete Kiwrin aus voller Brust. »Ich rühre keinen Finger, wenn sie dich verprügeln.«

»Sie werden es nicht tun. Solche Gedanken hast nur du.«

Sie stieg ächzend aus dem Wagen, reckte sich, ordnete ihr Kleid und wartete auf Kiwrin, der zögernd seinen Moskwitsch verließ. Die Nachbarn starrten die Beljakowa verwundert an. Auch Hermann, der gerade aus dem Haus kam, blieb bei ihrem Anblick wie vom Blitz getroffen stehen.

»Das darf nicht wahr sein«, sagte er halblaut. »So was gibt es nicht.«

Er wirbelte herum und rannte ins Haus zurück.

»Jetzt gibt es Alarm«, sagte Kiwrin gemütlich. »Ich habe dich gewarnt, Katja.«

»Eine Heldin der Sowjetunion hat keine Angst.«

»Und ein deutscher Bauer auch nicht.«

Im Haus hielt Hermann seine Mutter fest, die gerade hinausgehen wollte. »Mama, bleib hier! Draußen vor der Tür steht ein Ungeheuer.«

»Was erzählst du da?« Erna lachte und schüttelte Hermanns Griff ab. »Was für ein Ungeheuer?«

»Kiwrin hat es mitgebracht.«

»Dann ist es harmlos! Was ist es denn?«

»Katja Beljakowa.«

Einen Augenblick schwieg Erna. Wie ist so was möglich, dachte sie. Was will sie hier? Zu Wolfgangs Begrüßung einen Skandal? Wie konnte Kiwrin sie bloß mitnehmen? Sie straffte sich und ging kampfeslustig zur Tür.

»Ich habe keine Angst vor ihr«, sagte sie. »Ich werde verhindern, daß sie Vater zu nahe kommt. Zusehen kann sie, das kann ihr niemand verwehren. Wenn nicht die Nachbarn es verhindern.«

Draußen vor dem Haus stand die Beljakowa und hielt mutig den bösen Blicken der Leute von Nowo Grodnow stand. Kiwrin, in seinem Sonntagsanzug mit den Orden auf der Brust, sah würdevoll aus, eine Respektperson für alle, die ihn nicht kannten. Er begrüßte einige Leute, umarmte Eva und hob schnuppernd die Nase.

»Das riecht gut!« sagte er. »Du brätst Hühner?«

»Ja. Unsere besten haben dran glauben müssen. Und dann gibt es Schinken und Blut- und Leberwurst. Selbstgemacht.«

»Mir läuft das Wasser im Mund schon jetzt zusammen.«

Die Beljakowa sah Erna aus dem Haus kommen und bereitete sich auf den Zusammenstoß vor. Aber es kam ganz anders, als sie befürchtet hatte. Erna kam zu ihr und streckte die Hand aus.

»Das ist eine wirkliche Überraschung, daß du gekommen bist, Katja«, sagte sie.

Und die Beljakowa antwortete, überrumpelt: »Das bin ich Wolfgang Antonowitsch schuldig. Wir haben uns immer gut verstanden.«

»Ja, das habt ihr … auf eure Art. Wolfgang wird sich freuen.«

»Das soll er auch.« Sie blickte sich um. »Kann ich dir helfen?«

»Es ist schon alles getan. Setz dich an einen Tisch und laß dir ein Glas Johannisbeerwein bringen.«

Kiwrin, der die Begegnung mit Herzklopfen verfolgt hatte, stürzte auf Erna zu.

»Wann wird er landen?«

»Wenn alles glattgeht, in einer Stunde.«

Vom Wirtshaus her marschierte die Musikkapelle heran. Sie spielte einen zackigen Marsch, der in die Beine ging. Im Gleichschritt marschierten die Bläser durch das Dorf. Ihnen folgte der Schützenverein in grünen Uniformen, geführt vom Kommandeur, der einen Federbusch auf dem breitkrempigen Hut trug. Die von den Frauen gestickte und gestiftete Fahne wehte leicht im Wind.

»Wenn die Deutschen marschieren, wackelt die Erde«, sagte die Beljakowa zu Kiwrin und wippte im Takt der Musik auf den Zehen. »So wollten sie auch durch Rußland marschieren, aber das ist ihnen schlecht bekommen. Müssen die Deutschen eigentlich immer marschieren?«

»Es gehört angeblich zu ihnen.« Kiwrin hob die Schultern. »Jedes Volk hat doch seine Eigenheiten – wir haben den Wodka.«

Und dann war es soweit: Zuerst hörte man das Knattern, dann erschien am wolkenlosen Himmel wie ein dunkler Punkt der Hubschrauber, wurde größer und größer und dröhnte über Nowo Grodnow hinweg. Er umkreiste die Kirche, machte einen Höllenlärm, und in der Sonne glänzte der rote Stern auf der olivgrünen Verkleidung auf.

Der große Hubschrauber landete auf der Wiese vor Weberowskys Haus. Der Wind, den die Rotorblätter erzeugten, blies dem Schützenkommandanten den Federhut vom Kopf. Staub wirbelte auf und hüllte die Blaskapelle ein. Der Kapellmeister hob den Taktstock.

Die Bläser blähten die Backen. Am Hubschrauber öffnete sich eine Tür, eine Treppe wurde heruntergeklappt.

Hermann und Gottlieb standen links und rechts von ihrer Mutter und hatten sie untergefaßt. Eva stand hinter ihnen, neben sich Iwetta Petrowna, die ihre Hand hielt.

»Ganz ruhig, Mama«, sagte Hermann und drückte ihren Arm. »Ganz ruhig.«

»Ich bin ruhig! Nur ihr benehmt euch wie kleine Kinder! Ich weiß, was ich zu tun habe.«

Zuerst stieg Frantzenow aus dem Hubschrauber und wurde mit Applaus begrüßt. Die Schützen standen in Zweierreihe; laute Kommandos ertönten, sie standen stramm und präsentierten die Gewehre.

Zwei Soldaten hoben jetzt die zugedeckte Trage aus dem Hubschrauber, ihnen folgten der Militärarzt und ein Sanitäter. Man hatte Weberowsky auf der Bahre festgeschnallt, damit er nicht beim Ausladen herunterrollte. Vorsichtig wurde er auf den Boden gelassen, Frantzenow sprach mit ihm, und dann stützte er seinen Kopf auf, damit er alles übersehen konnte.

Der Schützenkommandant trat vor seine Truppe und grüßte durch Handanlegen an den Federhut. Der Marsch des alten Dessauer dröhnte über den Platz.

»Das gibt es doch nicht«, stammelte Weberowsky. Er tastete nach Frantzenows Hand. Ein Zucken lief über sein Gesicht.

Der Marsch brach ab, die Schützen präsentierten noch immer, Frantzenow trat einen Schritt zurück und Erna kam zu ihnen.

Sie zögerte nur einen Augenblick, dann beugte sie sich hinab, umfaßte Weberowskys Kopf mit beiden Händen und küßte ihn auf die Lippen.

»Willkommen zu Hause, Wolferl«, sagte sie, und ihre Stimme schwankte nicht, wie sie befürchtet hatte. »Ich bin so glücklich, daß du wieder da bist.«

Und er sah sie mit strahlenden Augen an, hob mühsam den Handrücken, und sie schob ihre Hand zwischen seine Finger und drückte sie und preßte ihr Gesicht darauf. »Ihr seid verrückt geworden«, sagte er leise und spürte, wie die Tränen über seine Wangen liefen. »Was das alles kostet.«

»Wir feiern deine zweite Geburt, Wolferl, das ist es wert.« Er nickte, und sie wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht und küßte ihn auf die zuckenden Augen.

»Das stimmt, Erna. Ich bin wieder ein Säugling und werde es für immer bleiben. Daran muß ich mich erst gewöhnen.«

»Wir alle helfen dir dabei, Wolferl.«

Der Kapellmeister hob wieder den Taktstock, der Schützenkommandant brüllte, und die Blasmusik trompetete los.

Die Soldaten hoben die Trage wieder an. Weberowsky sah die Girlanden, das Schild, seine Kinder, Kiwrin mit seinen Orden auf der Brust, und die Beljakowa. Er konnte nicht glauben, was er da sah: Die Beljakowa war die einzige, die haltlos weinte, während sie sich an den konsternierten Kiwrin lehnte.

»Ist das wirklich …«, fragte Weberowsky und brach ab, weil seine Stimme zu zittern begann.

»Ja, sie ist es, Wolferl.«

»Dreht sich die Welt andersrum?«

»Ich glaube, jetzt dreht sie sich richtig.«

Als er an der Beljakowa vorbeigetragen wurde, rief er »Halt!« und drehte den Kopf zu ihr. Sie sahen sich an. Ihr dickes Gesicht war gerötet und naß vom Weinen, und ihr riesiger Busen bebte gefährlich und drohte das Kleid zu sprengen.

»Hast du dich nicht verlaufen, du Hexe?« sagte Weberowsky, aber seine Augen lachten dabei. »Hier ist kein Veteranentreffen.«

»Ich wollte nur sehen, ob du wirklich auf dem Rücken liegst!« antwortete sie und schluchzte dabei. »Jetzt bin ich zufrieden.«

Weberowsky blickte zur Seite zu Erna. »Hast du das gehört?« Seine Stimme hob sich. »Es ist wie früher! Ich bin wirklich zu Hause.«

Bis tief in die Nacht feierte man. Weberowsky war längst eingeschlafen, nachdem Pfarrer Heinrichinsky mit ihm das Abendgebet gesprochen hatte. Frantzenow war durch das Haus gegangen und setzte sich dann in die Küche.

»Ich werde versuchen, auf dem Hof mitzuarbeiten«, sagte er zu seiner Schwester. »Man kann alles lernen. Und außerdem helfe ich dir, wenn Wolfgang versorgt werden muß.«

»Du willst bei uns bleiben, Andrej?«

»Wenn ihr mich ertragen könnt.«

»Du versuchst nicht, nach Deutschland zu kommen?«

»Nicht ohne euch. Wir haben Zeit, es wirft uns ja keiner hinaus. Und vielleicht wird Wolfgang eines Tages doch sitzen können und seinen Traum wahr werden lassen.«

»Glaubst du daran, Andrej?«

»Ohne Hoffnung ist das Leben sinnlos.«

»Es wäre ein Wunder.«

»Auch Wunder geschehen immer wieder. Wer weiß, was Gott denkt?«

»Du sprichst von Gott?«

»Ich habe gelernt, ihn zu akzeptieren.« Er lächelte. »Auch ich habe mich umgestellt. Es ist nie zu spät dazu.«

In der Nacht brachte Kiwrin mit größter Mühe die Beljakowa nach Hause. Sie war so betrunken, daß sie kaum noch stehen konnte, aber im Auto sang sie dann sowjetische Kampflieder aus den Tagen ihrer Scharfschützenzeit.

Elf Monate später.

Hart war der Winter gewesen, mit Stürmen und ungewöhnlicher Kälte, die in die Stämme der Bäume eindrang und sie zersprengte. Frantzenow hatte die Fenster verklebt, denn so dicht ist kein Fensterrahmen, daß sich der Wind nicht eine Ritze suchen kann und dann pfeifend ins Zimmer fährt.

Zu Weihnachten gab es im Hause ein besonderes Fest: Hermann und Iwetta Petrowna heirateten. Pfarrer Heinrichinsky traute sie unter einem bunt geschmückten Tannenbaum, und Weberowsky sagte: »So schnell geht das. Jetzt habe ich zwei Töchter. Und beeilt euch, ich will noch erleben, daß ihr mir meinen Enkel auf die Brust legt.«

Voll Ungeduld wartete Gottlieb auf den Bescheid, wann und wo er sein Medizinstudium antreten konnte. Mehrmals schrieb er nach Moskau an die zuständigen Stellen, aber eine Antwort erhielt er nie.

»Alles nur leere Versprechungen!« sagte Weberowsky. »Deine Partei pfeift dir was.«

»Meine Genossen werden mich auch jetzt nicht im Stich lassen, ich vertraue ihnen.«

»Seit dem Putsch habt ihr keinen Einfluß mehr. Ich würde nicht warten, Gottlieb. Denke um.«

»Die Partei muß sich wieder durchsetzen. Ohne sie gibt es kein Rußland.«

Und dann hörten sie eines Abends im Rundfunk: Jelzin hatte die kommunistische Partei verboten! Es gab sie nicht mehr. Der russische Kommunismus war zur Historie geworden. Die Welt hatte sich verändert, über Nacht.

Wie erstarrt saß Gottlieb vor dem Radio und hörte sich den Untergang der Partei an. »Er ist wahnsinnig geworden«, sagte er dumpf. »Jelzin ist ein gefährlicher Irrer. Den Kommunismus verbieten, das ist doch gar nicht möglich. Was hundert Jahre bestanden hat, kann man doch nicht einfach wegfegen! Ich sage euch: Das ist Jelzins Ende. Er wird abtreten müssen. Das lassen sich die alten Genossen nicht mehr gefallen! Es wird eine neue Revolution geben!« Doch sie kam nicht. Immer mehr Generäle und Minister wurden ausgewechselt, der KGB verlor seine unheimliche Macht, notgedrungen öffnete sich Rußland immer weiter dem Westen, und die Feinde von ehemals wurden Freunde. An einem Februartag brachte der Briefträger aus Atbasar einen Brief für Gottlieb Weberowsky. Aus Moskau.

»Leute, jetzt geht es los! Ich habe meine Zulassung bekommen!« rief er und schwenkte den Brief. »Ich hab' euch ja gesagt: Man hat mich nicht vergessen!«

»Welche Universität hat man dir zugewiesen?« Hermann hatte eine Flasche Wodka geholt und goß die Gläser voll.

»Unser Kleiner als angehender Arzt. Wenn er so berühmt wird wie Onkel Andrej Valentinowitsch, kommt der Name Weberowsky noch ins Lexikon. Das muß begossen werden.«

»Erst sehen, wo ich hinkomme.«

Gottlieb riß das Kuvert auf und holte den Briefbogen heraus. Nur wenige Zeilen waren es, die man ihm geschrieben hatte:

»Die Zusage der aufgelösten kommunistischen Partei, Sie auf deren Kosten Medizin studieren zu lassen, wird hiermit rückgängig gemacht. Die Partei verfügt über kein Vermögen. Eine Beschwerde gegen diesen Bescheid ist nicht möglich …« Gottlieb zerknüllte das Schreiben und schleuderte es gegen die Wand. Erna war blaß geworden, Frantzenow blickte auf seine Hände, Hermann trank mit einem Zug seinen Wodka, und Eva preßte die Lippen zusammen.

»Das gibt es nicht«, sagte Gottlieb tonlos. »Das können sie nicht tun! Das ist ein Verbrechen.«

»Es gibt Schlimmeres, Gottlieb.« Hermann versuchte ihn zu trösten.

»Schlimmeres? Sie haben meine Zukunft vernichtet.« Und plötzlich schrie er, als würde er gefoltert: »Jelzin muß weg! Und wenn man ihn töten muß. Er muß weg! Er ist der Totengräber Rußlands!«

»Werde nicht hysterisch!« Hermann goß sich noch einen Wodka ein. »Laß uns lieber gemeinsam überlegen, was nun zu tun ist.«

»Da gibt es nichts zu überlegen. Ich kenne meinen Weg!«

Am Abend packte Gottlieb einen Koffer mit dem Nötigsten, was man für eine Reise braucht. »Du willst weg?« fragte Erna, als er mit dem Koffer in das Wohnzimmer kam.

»Ja, Mama.«

»Wohin denn?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich schließe mich einer Gruppe an, die gegen Jelzin kämpft.«

»Das ist doch Irrsinn!« rief Hermann. »Du willst in den Untergrund?«

»Ja. Ich werde ein Partisan der Partei sein. Bis wir gesiegt haben und es den Kommunismus wieder gibt.«

»Oder bis man dich irgendwo erwischt und erschießt«, sagte Frantzenow.

»Oder auch das. Dann sterbe ich für eine gerechte Sache.«

»Du wirst für eine verlorene Sache sterben!«

Erna saß starr auf der Eckbank. Zwischen ihren Fingern zerknüllte sie ein Handtuch. Sie war aus der Küche gekommen, wo sie das Abendgeschirr gespült hatte.

»Bleib hier, Junge«, sagte sie. »Schon um Vaters willen.«

»Vater kann mir nicht helfen. Er will ja sowieso nach Deutschland … ich nicht. Ob jetzt oder später, unsere Wege trennen sich.«

»Willst du nicht mit ihm sprechen?«

»Nein, Mutter.«

»Keinen Abschied?«

»Sag ihm, ich konnte es nicht.« Er blickte von einem zum anderen und schluckte krampfhaft. »Viel Glück euch allen. Ich wünsche euch, daß Deutschland euch nicht enttäuscht. Vielleicht kehrt ihr doch zur Wolga zurück, dann hört ihr sicherlich von mir.«

Er drehte sich schroff um, griff nach seinem Koffer und rannte aus dem Haus.

Erna fuhr von der Eckbank hoch. »Gottlieb!« rief sie, und ihre Stimme klang fremd und heiser. »Gottlieb … bleib! Gottlieb –«

»Es hat keinen Sinn, Mama.« Hermann legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Er läßt sich nichts sagen. Er stand immer außerhalb von uns.«

»Aber im Krankenhaus, als er Vater sah, hat er geweint.«

»Das hat er sich auch selbst übelgenommen. Um sein Gleichgewicht wiederzufinden, hat er dann gesagt: Er ist es selbst schuld! Da war er wieder zufrieden.«

Erna senkte den Kopf. »Und wer sagt es Vater?«

»Du, Mama. Wenn jemand die richtigen Worte findet, bist du es.« Hermann trank den dritten Wodka. »Wie kommt er überhaupt von hier weg?«

»Mit einem Auto aus Atbasar«, antwortete Iwetta Petrowna Weberowsky. »Ich habe es gesehen. Es stand vor dem Theatersaal und hat Kulissen für das neue Stück gebracht.«

»Ein bühnenreifer Abgang.«

Auch diesen Schlag überstand Weberowsky besser, als jeder geglaubt hatte. Er blickte an die Decke, eine ganze Zeit lang, und sagte dann endlich: »Gottlieb war immer ein Außenseiter. Mich wundert, daß er seinen Namen nicht gewechselt hat. Gottlieb, das paßt doch gar nicht zu einem Kommunisten.«

Damit war für ihn das Thema Gottlieb beendet. Er sprach nie mehr darüber.

Aber das Wunder, an das keiner geglaubt hatte, vollzog sich in kleinen Schritten. Jeden Tag machte Erna mit ihrem Mann eine Therapie, für die sich Kiwrin die Anleitung aus einer Moskauer Rehabilitationsklinik besorgt hatte. Weberowsky wurde massiert und in einem Spezialstreckgerät aufgehängt. Mit unendlicher Geduld bewegte Erna immer wieder seine Finger und Arme, dreimal flog Kiwrin nach Moskau, bis er ein neues Gerät, das elektrische Reize ausstrahlte, bekommen konnte. Mit diesen Impulsen fuhr Frantzenow den Rücken auf und nieder, vor allem immer gründlich an der Einschußstelle und an den Armen.

»Das Phänomen ist bekannt«, sagte er, »daß Nerven sich wiederfinden. Sie suchen sich und stellen dann einen neuen Kontakt zum Gehirn her. Warum sollen Wolfgangs Nerven für immer tot sein? Ich glaube an eine Besserung.« Im fünften Monat seiner Lähmung geschah das erste Wunder: Ganz langsam konnte Weberowsky die Hand heben. Im sechsten Monat war es schon der Arm. Nach acht Monaten richtete Erna ihn auf, und er blieb sitzen, er kippte nicht mehr um. Seine Beine blieben schlaff, Anhängsel eines Körpers, der um jeden Millimeter Bewegung kämpfte, der sich Schritt um Schritt erholte.

Als die Sommersonne wieder begann, die Felder auszudörren, und das Korn sich golden färbte, hoben Frantzenow und Kiwrin zum erstenmal Weberowsky in den Rollstuhl. Sie mußten ihn festbinden, damit er nicht wegrutschte. Aber er saß, atmete schwer und blickte herausfordernd um sich. In der Zimmerecke, unter dem ewigen Licht und dem einfachen Kruzifix, stand Erna, die Hände gefaltet und betete stumm.

»Erna«, sagte er laut. Seine Stimme hatte die alte Kraft wiedererlangt. »Sieh dir das an!«

»Ich sehe es, Wolferl.«

»Ich sitze.«

»Ja, du kannst sitzen.«

»Und dieser Dr. Anissimow, der Esel, hat behauptet, ich würde für immer auf dem Rücken liegen! Dem werd' ich es zeigen! In zwei Jahren spiele ich Fußball vor seinem Krankenhaus!«

»Wir wollen froh sein, wenn du im Rollstuhl herumfahren kannst und deine Hände greifen können. Wenn wir das erreichen, ist es wirklich ein Wunder.«

Ab und zu rief Bergerow an und berichtete Neues über das Aussiedlerproblem.

»Jetzt kommt Bewegung in die träge Bürokratie. Horst Waffenschmidt, der Aussiedlerbeauftragte der Bundesrepublik, ist nach Moskau gekommen und hat vor 700 Rußlanddeutschen einen Vortrag gehalten. Ich war auch dabei. Und was sagt er? Er singt ein Loblied auf die Bemühungen in Bonn, deutsche Siedlungsgebiete in den GUS-Staaten zu schaffen. Dann legte er Pläne vor, die ihm die russische und ukrainische Regierung zugeschickt hatten. Neues Siedlungsland, in ehemaligen, verseuchten Militärgebieten, Schlamm- und Steinwüsten, Land, vor dem jeder Russe wegläuft. Das soll durch uns ein neuer Wolgastaat werden! Ausgelacht haben ihn die Delegierten. Aber damit nicht genug: Waffenschmidt beschwor uns, vom geöffneten Tor nach Deutschland keinen Gebrauch zu machen, sondern in der ehemaligen Sowjetunion zu bleiben. Wir haben vor Empörung geschrien. Doch das ist nicht alles: Ein Sprecher des Bonner Innenministers gab bekannt: ›Wir wollen die Rußlanddeutschen nicht in Containern auf Fußballplätzen abstellen. Sie sollen sofort integriert werden, mit vernünftigen Wohnungen, mit Jobs. Aber das funktioniert nur, wenn nicht eine Million auf einmal kommen.‹ Mit anderen Worten: Uns soll die Aussiedlung so schwer wie möglich gemacht werden, und sie soll Jahre dauern! Alle, die nicht auf Jelzins und Krawtschuks Pläne eingehen und in die Wüste an der Wolga ziehen, werden so indirekt bestraft. Wir haben protestiert, aber das blieb bloß ein Wisch Papier.«

Er schwieg einen Moment. Weberowsky, den man zu Heinrichinsky ans Telefon gerollt hatte, knurrte leise vor sich hin.

»Ich nehme an«, fuhr Bergerow fort, »daß ihr Wolfgang ans Telefon geholt habt. Wolfgang, du hast es besser. Die Bürokraten in Bonn haben eine neue Bewertung der Ausreiseanträge entdeckt. In ihrem Sprachgebrauch – so etwas kann nur ein Beamter erfinden – gibt es jetzt zwei Kategorien, die Erfolg haben könnten: Die Erlebnisgeneration und die Kriegsfolgeschicksale! Zur Erlebnisgeneration gehört jeder, der den Krieg miterlebt und von Stalin vertrieben worden ist – dazu gehörst auch du. Ein Kriegsfolgeschicksal ist, wenn jemand nach dem Krieg wegen seines Deutschtums bekämpft worden ist, wesentliche Nachteile hatte und sein Leben in der Sowjetunion erschwert sah. Allein, das nachzuweisen ist nahezu unmöglich. Die größten Aussichten hast du demnach als Erlebnisgeneration. Das ist Ernst, Wolfgang, und keine Waschmittelreklame. Du darfst demnach vielleicht nach Deutschland.«

Weberowsky hob den Kopf. Er sah Frantzenow an, Pfarrer Heinrichinsky, seinen Sohn Hermann, Erna, die hinter dem Rollstuhl stand, und Kiwrin, der jetzt nach der Auflösung der Partei viel Zeit hatte und jeden zweiten Tag Weberowsky besuchte und alles besorgte, was man für eine gezielte Therapie brauchte. Seine alten Verbindungen waren nicht abgerissen.

»Wann fahren wir?« fragte Weberowsky.

»Wohin, Vater?«

»Nach Moskau! Zur deutschen Botschaft. Ich werde in das Zimmer des Botschafters rollen und zu ihm sagen: Sehen Sie mich an! Das hat Rußland aus mir gemacht. Lassen Sie mich nach Deutschland. Er wird nicht zögern, er kann nicht zögern. Oder alles, was aus Bonn kommt, ist Lüge!«

»Auch das stecken sie weg«, sagte Hermann bitter. »Es geht nicht um einen alten Mann im Rollstuhl, sondern um Milliarden, die man nicht hat.«

Frantzenow ging mit langen Schritten auf und ab. »Natürlich berufen sie sich auf Gesetze. Aber auch Gesetze können Unsinn sein. Gesetze sollen einen Staat schützen, sie können ihn aber auch lächerlich machen und zugrunde richten. Wir haben ein Recht auf Heimat … nicht in der Ukraine und in Kasachstan, sondern in Deutschland!«

»Das sagst ausgerechnet du, ein Russe?« Weberowsky schüttelte den Kopf.

»Vergiß, was war.« Frantzenow legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich komme mit euch.«

»Und wann fliegen wir?« wiederholte Weberowsky.

»So schnell wie möglich«, antwortete Pfarrer Heinrichinsky.

»Es ist möglich!« Weberowsky hob den Arm. Er hatte jetzt keine Mühe mehr damit. »Ich fühle mich stark genug, nach Moskau zu fliegen.«

Die deutsche Botschaft in Moskau glich einem Taubenschlag. Wo früher Wachen standen und der KGB heimlich jeden fotografierte, der das Gebäude betrat, stand jetzt nur ein Milizionär herum und interessierte sich wenig für die Menschen, die dichtgedrängt auf den Fluren standen und ihre Anträge abgeben wollten. Botschaftsrat Gregor von Baltenheim und seine Mitarbeiter taten ihr Bestes, aber wenn hundert auf den Treppen drängelten und klagten, daß es so lange dauerte, bis sie in das Zimmer kommen konnten, war es verzeihlich, wenn er die Nerven verlor.

»Ich kann nicht zaubern!« rief er in die Menge. »Mehr als zwei Augen und zwei Hände habe ich nicht.«

»Dann stellt mehr Leute ein!« rief einer von hinten.

Von Baltenheim resignierte und ging in sein Zimmer zurück. Es hatte keinen Sinn, zu antworten, er hatte keine Argumente. Er sagte nur zu einem seiner Referenten: »Wenn sich alle zwei Millionen Rußlanddeutschen in Marsch setzen, dann gnade uns Gott. Seien wir glücklich, daß sie noch tröpfchenweise kommen.«

Die Delegation aus Nowo Grodnow war in Scheremetjewo gelandet. Auch hier hatte Kiwrin alles organisiert. Ein Kleinbus stand bereit, Weberowsky und seinen Anhang in die Stadt zu bringen.

Sie fuhren direkt zur deutschen Botschaft, luden dort den Rollstuhl aus und trugen Weberowsky aus dem Bus. Der Portier empfing sie in der Eingangshalle, blickte auf den Gelähmten und fragte:

»Wohin?«

»Zur Aussiedlungsbehörde.«

»Sie wollen aussiedeln?«

»Ist das ein Verbrechen?« Weberowsky hob die Stimme. »Haben Krüppel kein Recht auf Heimat?«

»So war das nicht gemeint.« Der Portier, er hieß Ludwig Hämmerle und stammte aus Bietigheim, warf einen Blick auf Frantzenow und Heinrichinsky. »Sie auch?«

»Wir stehen hier im Namen von 673 Bewohnern des Dorfes Nowo Grodnow in Kasachstan. Wir möchten den maßgebenden Herrn sprechen.«

»Das möchten alle. Sehen Sie mal die Treppe rauf. Die stehen seit heute morgen sieben Uhr. Auch wenn Sie …« Er blickte wieder auf den Rollstuhl und verkniff sich weitere Worte. »Wir können keine Ausnahme machen.«

»Wir wollen auch keine Ausnahme sein.« Frantzenow legte begütigend seine Hand auf Weberowskys Arm. »Trotzdem wäre es angebracht, den leitenden Herrn zu informieren, daß Professor Frantzenow ihn unbedingt sprechen möchte.«

»Sie wollen Herrn von Baltenheim sprechen?«

»Ich kenne seinen Namen nicht. Aber wenn Sie meinen Namen nennen, werde ich sofort vorgelassen.«

»Ich will's versuchen.« Hämmerle verschwand in seiner Portiersloge, bediente das Telefon und streckte dann den Kopf aus dem Fenster.

»Wie war Ihr Name?«

»Frantzenow.«

Es dauerte keine Minute, da überzog grenzenloses Staunen sein Gesicht. Er legte auf und kam aus der Loge herausgelaufen.

»Zimmer 201, zweiter Stock!« sagte er. »Der Herr Botschaftsrat bittet Sie in sein Privatbüro.«

Mit dem Lift fuhren sie hinauf, sahen beim Vorbeigleiten die Menschen auf der Treppe stehen, eine Schlange der Hoffnung, die jetzt in die Mühlen der Behörden geriet.

Von Baltenheim erwartete sie bereits vor seinem Zimmer. Nach einem kurzen Blick entschloß er sich, den weißhaarigen Herrn als Professor Frantzenow anzusehen.

»Ich heiße Sie bei uns willkommen«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Ich habe soeben auch den Herrn Botschafter informiert, der es sich nicht nehmen lassen wird, Sie persönlich zu begrüßen.« Er wandte sich an Weberowsky. »Sie sind als Begleitung gekommen?«

»Umgekehrt. Andrej Valentinowitsch begleitet mich! Ich heiße Wolfgang Antonowitsch Weberowsky.«

»Weberowsky?« Von Baltenheim traute seinen Ohren nicht. »Aus Nowo Grodnow?«

»Ja«, antwortete Weberowsky erstaunt.

»Ihre Frau heißt Erna, geborene Frantzenow?«

»Ja. Sie ist meine Schwester«, antwortete Frantzenow anstelle von Weberowsky. »Wieso kennen Sie Erna?«

»Haben Sie einen Neffen, der Karl Köllner heißt?«

»Ja. Im Bonner Außenministerium!«

»Über Sie –«, Baltenheim machte eine alles umfassende Handbewegung, »gibt es eine Akte. Der Herr Botschafter wird Ihnen das erklären. Wir haben nie gehofft, Sie in Moskau zu sehen.«

Im Zimmer des Botschaftsrates saßen sie dann in schweren Sesseln, tranken ein Glas Pfälzer Wein und erhoben sich, als der Botschafter eintrat. Ein Beamter des BND, der in Moskau offiziell als Kulturattaché galt, und der Militärattaché begleiteten ihn.

»Das ist wirklich eine Überraschung«, sagte der Botschafter bei der Begrüßung zu Professor Frantzenow. »Ich dachte erst, von Baltenheim mache einen Witz.«

»Ich wäre auch nie gekommen, hätte mein Schwager mich nicht gebeten, ihn zu begleiten. Darf ich ihn Ihnen vorstellen: Herr Wolfgang Weberowsky.«

Der Botschafter ergriff die schlaffe Hand und drückte sie vorsichtig. Danach stellte ihm Frantzenow den Pfarrer vor. »Wir sind gekommen, unsere Aussiedlung zu beantragen.«

Weberowsky unterbrach die Zeremonie: »Pfarrer, pack die Papiere aus!«

Heinrichinsky legte den Packen Anträge auf den Tisch. Von Baltenheim warf keinen Blick darauf, für ihn war das Vorgehen der Behörde klar.

Was nun begann, war kaum eine Unterhaltung zu nennen. Es glich eher einem höflichen, aber in der Sache harten Verhör. Der BND-Beamte hatte eine Akte mitgebracht und blätterte darin herum.

»Wann haben Sie das letzte Mal von Herrn Köllner gehört?« fragte er.

Weberowsky dachte nach. »Zu den Festtagen schrieb er immer. Doch letztes Weihnachten haben wir vergeblich auf sein Lebenszeichen gewartet.«

»Hat er je die Absicht geäußert, nach Kasachstan zu kommen? Für immer?«

»Karl? Nie! Er hat doch seine gute Stelle im Außenministerium. Es ist umgekehrt: Wir wollen, wenn wir nach Deutschland kommen, zuerst bei Karl wohnen, bis wir eine eigene Wohnung haben.«

»Weiß er das?«

»Erna hat es ihm geschrieben. Aber bis jetzt ist noch keine Antwort gekommen.«

»Er wird auch nicht antworten.« Der BND-Mann senkte die Stimme. »Er ist flüchtig.«

»Was ist er?« rief Frantzenow. »Was heißt flüchtig?«

»Kurz vor seiner Enttarnung, das heißt, vor seiner Verhaftung, gelang ihm die Flucht.«

»Enttarnung?« fragte Weberowsky gedehnt.

»Er war einer der Topspione des KGB.«

»Du lieber Himmel!« Frantzenow sah Weberowsky verwirrt an. »Karl ein Spion? Unglaublich!«

»Die Suche nach ihm verlief ergebnislos. Wir hatten angenommen, er taucht bei Ihnen in Kasachstan auf.«

»Und Sie haben uns verdächtigt, mit ihm zusammenzuarbeiten?«

Der BND-Beamte zögerte, aber dann nickte er. »Ja. Es lag nahe, und es war logisch, daß er sich soweit wie möglich absetzt. Wo wäre er besser aufgehoben als bei seinen Verwandten? Aufgrund dieser Überlegungen sind Sie nun bei uns aktenkundig. Sie werden bei uns in der Zentrale in Pullach noch eingehender von Herrn Kallmeier befragt werden.« Er vermied das Wort verhört. Es klang so nach Verbrechen. »Herr Professor Frantzenow, Sie werden in Bonn vom Bundesforschungsminister empfangen – wenn Sie wollen, natürlich.«

»Erst muß ich in Deutschland sein. Ich weiß, daß man jeden Schritt von mir verfolgt. Der Iran, Irak, Libyen, Syrien sind hinter mir her. Die USA sowieso. Das ist Grund genug: Ich bitte um politisches Asyl.«

»Das ist keine Frage unter uns.« Der Botschafter machte die Andeutung einer Verbeugung. »Darf ich Sie als Gast der deutschen Botschaft betrachten? Wir werden eine Möglichkeit finden, Sie aus Moskau hinauszuschleusen. Die Herren vom BND werden das in die Hand nehmen.«

»Und was wird aus uns?« fragte Weberowsky. »Aus meinem Dorf? Ich habe alle Anträge mitgebracht.«

»Wir werden sie bevorzugt prüfen. Es kann aber vier Monate dauern.«

»Dann haben wir wieder Winter und müssen uns in die Häuser verkriechen.«

»Ich sprach von den allgemeinen Anträgen.« Der Botschafter bewunderte den Mut dieses Mannes. Gelähmt bis zur Brust, saß er im Rollstuhl und ließ sich von seiner Sehnsucht nach Deutschland hinreißen. »Der Antrag von Ihnen und Ihrer Familie wird sofort bearbeitet. Ihre Aussagen im Fall Köllner sind sehr wichtig. Vor allem, was Ihre Frau von ihm weiß.«

»Lassen Sie Erna aus dem schmutzigen Spiel!« sagte Weberowsky grob. »Sie weiß gar nichts.«

Von Baltenheim ging nicht darauf ein. Er blätterte in einem Taschenkalender.

»Wie lange brauchen Sie zur Auflösung Ihres Haushaltes?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Was wir mitnehmen können, ist schnell gepackt. Aber ich muß den Hof und das Land erst verkaufen. Ich weiß, es gibt genug Russen, die beides kaufen wollen, aber ich will einen guten Preis haben. Es stecken jetzt mehr als fünfzig Jahre Arbeit drin … vom Zelt und der Baracke 1941 bis zum Musterhof.«

»Und trotzdem wollen Sie weg?« fragte der Botschafter.

»Ja. Ich habe von Kind an davon geträumt. Jetzt wird dieser Traum Wahrheit. Jetzt, wo ich nicht mehr laufen kann. Gerade darum will ich nach Deutschland. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Es war übrigens eine russische Kugel, die mich zum Krüppel gemacht hat.«

»Wir werden sofort das Bundesverwaltungsamt in Köln verständigen. Es ist die Behörde, die alle Anträge überprüft und letztendlich entscheidet. Rufen Sie uns an, wann Sie ausreisen können. Die Genehmigung wird dann bei uns liegen.«

Am Abend saßen sie in der Halle des Hotels Metropol, das von Baltenheim ihnen empfohlen hatte. Frantzenow reichte seinem Schwager ein Glas Wein. Pfarrer Heinrichinsky kaute an einem etwas zähen Braten.

»Man sieht es. Es geht alles, wenn man nur will«, sagte er.

»Ja, wenn man Frantzenow heißt!« Weberowsky lachte. Aber Frantzenow fiel nicht in das Lachen ein.

»Irrtum! Man hat uns nur so gut behandelt, weil wir Teil eines Spionagefalls sind. Man muß erst einen Neffen haben, der ein Spion ist, dann läuft die Behördenmaschinerie wie geschmiert.«

Der Abschied von Nowo Grodnow wurde wieder zum festlichen Ereignis. Das ganze Dorf nahm Anteil. Kiwrin war mit einem Lastwagen gekommen, um das Gepäck zum Flugplatz Karaganda zu bringen. Auf dem Lastwagen saß auch die Beljakowa und heulte wieder.

Weberowsky hatte seinen Hof an einen Russen verkauft, der aus Orenburg kam und für die russische Behörde als Umsiedler galt. Er hatte für den Kauf des Weberowsky-Hauses einen Kredit aufgenommen, den er nie im Leben abzahlen konnte. Aber wer denkt so weit voraus? Er hatte den schönsten Hof im Bezirk, das allein war ihm wichtig. Die Nachbarn hoben Weberowsky mit seinem Rollstuhl in den Lastwagen. Auf einer Bank saßen Eva, Frantzenow und Hermann. An seiner Seite weinte Iwetta Petrowna. Sie verließ ihre Heimat aus Liebe zu ihrem Mann, so wie auch Erna nicht mehr fragte, was in Deutschland aus ihnen werden sollte. Wolferl wollte in das Land seiner Väter, und sie folgte ihm, weil sie zu ihm gehörte, bis in den Tod.

Unter den Auf-Wiedersehen-Rufen der Nachbarn fuhren sie weg. Sie blickten sich nicht um, aber sie hörten die kleine Glocke der Kirche, an der sie alle gebaut hatten. Pfarrer Heinrichinsky hatte sich entschieden, in Nowo Grodnow zu bleiben, bis das letzte seiner Schäfchen das Dorf verlassen hatte. »Ich bin wie ein Kapitän«, verkündete er von der Kanzel am Sonntag vor Weberowskys Abfahrt. »Ich werde als letzter unser Schiff verlassen. Gott helfe uns. Amen.«

Am schlimmsten war der Abschied von Kiwrin und der Beljakowa am Flugplatz von Karaganda. Weinend fiel Kiwrin Erna um den Hals, kniete neben dem Rollstuhl nieder und küßte Weberowskys Hände, und als dieser rief: »Laß das sein, du Ziegenbock!« schluchzte er:

»Ich werde mich nie wieder mit jemandem so streiten können wie mit dir, du Stinksack.«

Die Beljakowa lehnte an dem Lastwagen und konnte nicht aufhören zu weinen. Es war unheimlich, welche Tränenbäche aus ihr herausstürzten, und als Weberowsky ihr über den Arm streichelte und sagte: »Leb wohl, du Luder. Jetzt hast du Ruhe vor mir!«, heulte sie auf wie ein junger Wolf, lief hinter den Wagen und drückte das Gesicht gegen die Plane.

Erst als das Flugzeug in der Luft war und eintauchte in den unendlichen Himmel über der Steppe von Kasachstan, sagte sie zu Kiwrin:

»Er war der einzige Mensch, den ich wirklich bewunderte; darum habe ich ihn so gehaßt.«

In Berlin empfing die Familie das Rote Kreuz, ein Abgeordneter des Bundestages, ein Arzt und die Kriminalpolizei.

»Die Heimat grüßt Sie!« sagte der Abgeordnete pathetisch. »Sie sind ein Symbol der Heimatliebe und des Deutschtums! Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja. Ich möchte ein Bier!« antwortete Weberowsky mit glänzenden Augen. »Ein echtes deutsches Bier. Ich habe immer nur chinesisches getrunken.«

Eine Rote-Kreuz-Schwester rannte los und brachte ein Glas Pils. Erna half ihm, das Glas zum Mund zu führen. Er blies den Schaum weg und nickte.

Dann nahm er einen kräftigen Schluck, stieß genußvoll auf und sagte überwältigt:

»Herrlich. Wie herrlich das schmeckt. Deutsches Bier. Wir sind in ein Paradies gekommen.«

Er sollte sich noch wundern.